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LASS DEINE FINGER VON AHMED HAMUL, TÜRKE!
ERSTE UND LETZTE WARNUNG!!

Ich hielt den Zettel gegen die Lampe. Kein Wasserzeichen, ganz normales, weißes Schreibmaschinenpapier. Was anderes hätte mich auch gewundert. Es mußten schnelle Jungs sein, die mir den Lappen an den Briefkasten geheftet hatten. Besonders einfallsreich war der Text nicht. Vielleicht sollte er das auch gar nicht sein.

Ich holte einen Reißnagel und pinnte den Zettel über den Herd. Gut sichtbar. Dann fummelte ich die Buletten aus dem Wachspapier, warf sie in die Pfanne, öffnete eine Büchse Erbsen und schüttete sie dazu. Die Buchstaben waren aus Zeitungen ausgeschnitten und aufgeklebt. Ich hatte nie gedacht, daß es solche Post wirklich gibt, konnte mich auch jetzt nicht recht entscheiden, ob ich lachen sollte oder nicht. Ich nahm den Wohnungsschlüssel, lief die Treppe hinunter auf die Straße, um die Ecke zu einer Trinkhalle und kaufte einen Satz auflagenstärkerer Tageszeitungen. Auf dem Rückweg überflog ich zwei Titelseiten. Das F von Finger und das U von Warnung standen in der gleichen Zeile, dicht beieinander. Als ich die Tür aufschloß, roch es verdächtig nach angebrannten Buletten. Ich riß die Pfanne vom Herd, gab alles auf einen Teller, öffnete eine Flasche Bier, legte die Zeitungen neben mich, las und kaute. Zwei Zeitungen reichten, um alle Buchstaben bis auf die i-Pünktchen beisammen zu haben. Den ›Türken‹ hatte man bei der rasanten Überschrift ›Türke peitschte Dackel bis zum Herzinfarkt‹ gefunden. Sechs Stunden beschäftigte ich mich gerade mit der ehemaligen Existenz Ahmed Hamuls, und nur die Familie Ergün und Futt und wahrscheinlich noch einige seiner Mitarbeiter wußten das. War in der stummen Familie doch ein redseliges Mitglied, oder hatte die Polizei keine Lust, sich die Arbeit wegnehmen zu lassen? Da war noch eine Möglichkeit. Wenn ich durch Zufall als türkischer Abgesandter ins Schwarze getroffen hätte? Bestimmt hatte Futt nach Empfang meiner Visitenkarte die Botschaft angerufen, um nachzufragen. Wenn nun die Türkische Botschaft, anstatt in orientalisches Gelächter auszubrechen, hellhörig geworden wäre? Vielleicht störte sie, daß ein hergelaufener Landsmann mit Sachen um sich warf, mit denen sie selber werfen wollte. Vielleicht kam den Vertretern der türkischen Diktatur der Tod von Ahmed Hamul auch ganz gelegen, und sie wollten nun in diesem Zusammenhang nicht gern genannt werden.

So langsam fielen mir die Fragen ein, die ich der Familie Ergün stellen mußte. Hatte Ahmed Hamul eine politische Vergangenheit? Bekam er viel Post aus der Heimat? War er in Deutschland vielleicht Mitglied eines Kegelclubs, der sich intensiv mit der Abschaffung der türkischen Regierung befaßte?

Ich pulte mir einen Rest Hackfleisch aus den Zähnen, holte das Bastelwerk von der Wand und betrachtete es.

Ob die Türkische Botschaft mich mit ›Türke‹ anreden würde? Warum nicht? Ich zündete mir eine Zigarette an und suchte im Telefonbuch die Nummer der Botschaft. Achtmal klingelte es. Die Telefonistin hatte Feierabend. Ich legte auf.

Weihnachten, Ostern und Pfingsten sind Zeiten, zu denen ganz Deutschland Päckchen für die Verwandtschaft packt. Es sind die Zeiten, für die die Post Sondertrupps anheuert, um den Berg eingeschnürter Plätzchen und Schlafanzüge abzutragen. Umschlagplatz ist der Bahnhof. Wenn ich etwas über den Gelegenheitsarbeiter Ahmed Hamul erfahren wollte, mußte ich dort nachfragen. Ich trank das zweite Bier. Nebenan in der Wohnung des haarigen Sozialpädagogen wütete die Stimme eines Westernhelden.

Ich hätte mir auch lieber Indianerschlachten angesehen. Statt dessen schlurfte ich hinaus in den hellblauen Augustabend.

Die Vögel flöteten in den schläfrigen Strahlen der untergehenden Sonne. Es war angenehm warm.

Der Opel stand immer noch beim Büro. Ich steuerte die nächste U-Bahn-Station an. Die Rolltreppe zog mich unter das Pflaster in die stickigen Hallen. Zwei Typen, rosa glänzende Haare, jede Menge Werkzeug im Gesicht, torkelten mir entgegen. Ich zog ein Ticket und setzte mich auf eine Bank. Neben mir erzählten sich drei Alte Abenteuer aus dem Altersheim.

Der Zug donnerte herein. Die drei erhoben sich vorsichtig und staksten zur Schiebetür. Ich hatte keine Lust auf mehr Geklapper von dritten Zähnen, setzte mich in die andere Ecke des Waggons und las Reklameschilder.

›Schleck dir einen!‹ Das Schild zeigte einen länglichen Plastikzylinder mit Vanilleeisrohr. Wenn man lecken wollte, konnte man das Rohr rausschieben, danach wieder zurückziehen, und immer hin und her, bis die milchige Creme alle war. Wieso hatte ich es eigentlich nicht bei der Werbung versucht? Eine Dose, oben drauf eine Schuhbürste, und wenn man dran kitzelt, blubbert es roten Himbeersaft.

Der Zug hielt, und ich stürzte mich ins Bahnhofsdurcheinander. Ein blumenschwenkender Junge rannte mich fast über den Haufen. Zwei schlitzäugige Minoltas erkundigten sich, wo die Frauen seien. Schließlich lehnte ich an einem der zehn Postschalter und musterte den Rücken vor mir.

»’n Abend. Sagen Sie, an wen müßte ich mich wenden, wenn ich Lust hätte, Postsäcke durch die Gegend zu schleppen?«

»Hhm?«

»Hab ’ne Menge Muskeln, aber keinen Job.«

»Hhm?«

»Okay, ich will wissen, wo die Männer zu finden sind, die Pakete und Päckchen verladen.«

Immerhin, er drehte sich um und deutete mit dem Daumen die Treppe runter.

»Gleis eins is ’ne Tür, steht Post drauf.«

»Danke.«

»Hhm.«

Ich fand die Tür und stieß sie auf. Wieder ein Schalter, wieder ein Rücken, wieder ein längeres Hin und Her. Er wies mich zur nächsten Tür. Dahinter müsse irgendwo der Personalchef sitzen. Irgendwo dahinter war eine vergitterte Halle mit Eingepacktem, dann eine Art Umkleidekabine und endlich das Schild PERSONALBÜRO. Ich klopfte an. Ohne Antwort zu bekommen, ging ich hinein.

»Noch nie was von Warten gehört?« kam es säuerlich aus der Ecke.

Dort saß Schwabbel. Schwabbel hatte einen roten Seemannsbart, der die Oberlippe frei ließ, eine picklige Stirn und zurückgekämmtes fettiges Haar.

Das Büro war ein Büro wie hundert andere auch. Billige Preßspanmöbel, grauer Linoleumfußboden, Autokalender, Klolampe.

Die Flasche Bier lugte miserabel versteckt hinter einem Haufen Akten hervor.

»Tut mir leid, hab ein paar Mal geklopft.«

»Un was wolln Se?« polterte er.

»Ich will wissen, ob hier ein gewisser Ahmed Hamul zeitweise als Packer gearbeitet hat.«

»Schon möglich. Hier arbeiten viele.«

»Ich muß es aber genau wissen. Es wird doch irgendwo eine Akte geben, wo das drin steht.«

»Wozu wolln Se das denn so genau wissen?« Ich kramte meine Lizenz raus.

»Na und?«

»Der Junge ist tot, und ich soll rauskriegen, was er gemacht hat, als er noch laufen konnte.«

Schwabbel zog die Stirn hoch.

»Na ja, werd ich wohl mal nachsehen. Wann soll er denn hier gearbeitet haben?«

»So in den letzten zwei, drei Jahren.« Schwabbel furzte.

»Tschuldijung.«

Dann stand er auf und schlurfte zu einem Regal mit Aktenordnern.

»Die letzten zwei, drei Jahre, ha?«

»Ja, das müßte hinkommen.«

Mit zwei Ordnern unterm Arm ließ er sich wieder in den Sessel fallen.

»Arbeiten viele nur kurz hier… so… wie nennt er sich?«

»Ahmed Hamul, wie man’s spricht.«

»Hhm… Ihr Brüder habt doch alle dieselben Namen… naja… Hamul… Ha… Ham…«, er blätterte, »… Ha… Hamu… Hamul! Da isser! Hat öfters ’n paar Wochen hier gearbeitet, hammse recht.«

»Wann?«

»Och, sehn Se sich’s doch selber an«, muffelte er und schob den Ordner zu mir rüber.

Ahmed Hamul, 14. 4. 1981 bis 2. 7. 1981, war die erste Eintragung. Es folgten weitere, die immer kürzere Zeiträume umfaßten, bis zur letzten, 20. 12. 1982 bis 3. 1. 1983.

Ich klappte den speckigen Ordner zu und fragte: »Gibts hier vielleicht jemanden, der sich an ihn erinnern könnte?«

»Warum nich, fragen Se halt vorne nach. Wird schon jemand wissen.«

»Mach ich. Schönen Abend noch.«

»Von mir aus.«

Ich verließ Schwabbel und lief zurück zum Schalter. Wieder der Rücken. Ich klopfte gegen die Glasscheibe, und er drehte sich um.

»Na, Sie schon wieder. Chef gefunden?«

»Chef gefunden«, bestätigte ich. »Erinnern Sie sich zufällig an einen Packer mit dem Namen Ahmed Hamul? Hat öfter hier gearbeitet.«

»Ach wissen Se, da fragen Se mal besser die Jungs aufm Bahnsteig. Die hatten ja schließlich mit ihm zu tun.«

Ich ging wieder hinaus in die dröhnende Bahnhofshalle. Auf Gleis drei stand ein Postwaggon zum Entladen. Ich schlenderte hin und sah den Muskelmännern bei der Arbeit zu.

Einer machte Zigarettenpause. Ich ging auf die zwei Meter Fleisch zu und versuchte ein kumpelhaftes »Guten Abend«.

»Gleichfalls«, brummte er, drehte sich um, sprang auf den Wagen und fuhr fort, Säcke zu wuchten. Als er kurz an der Rampe auftauchte, brüllte ich durch den Lärm: »He, Meister, kennst du einen Kollegen namens Ahmed Hamul?« Er verschwand im Waggon, kam dann mit noch mehr Säcken zurück und donnerte: »Hat ’ne Zeit lang hier gearbeitet.«

»Gibts hier jemand, der mehr mit ihm zu tun hatte?«

Es dauerte eine Weile, bis er wieder zum Vorschein kam.

»Frag mal da vorne in dem Häuschen nach, die haben Pause.«

Er zeigte auf ein Wellblechdach und war weg, ehe ich ein ›Danke‹ schreien konnte.

Also ließ ich es.

Die Tür war ebenfalls aus Wellblech und quietschte unangenehm. Dunst von abgestandenem Bier und Zigarettenrauch schlug mir entgegen.

Drei Mann spielten auf einer umgedrehten Henninger- Kiste Skat. Einer saß in der Ecke und sah trübe in den Flaschenhals. Alle vier hatten speckige, ärmellose Unterhemden an, aus denen regelrechte Muskelkugeln heraushingen. Die Kartenspieler sahen kurz auf, als ich eintrat, drehten sich aber gleich wieder weg und reizten weiter.

»Wo war’n mer?«

»Sibbe?«

»Mhm!«

»Dreisisch?«

»Scheise verdammte! Läßt dei Aal disch net mer ran? Gehert ja vebodde, so e Glick!«

»Alles Köppsche, sach isch der!«

Er grapschte nach dem Skat und kniff die Augen zusammen. Der dritte kramte gelangweilt zwischen seinen Beinen.

»Un wie hast se?«

Der mit ›Köppsche‹ schmiß zwei Karten zurück auf den Tisch.

»Was dei Fraa vorm Bobbes hat!«

»Karo mit dreidreisisch? Schpritz aus!«

Sie begannen die Karten zu dreschen und ließen sich nicht stören. Ich setzte mich zu dem stummen Trinker. Er musterte immer noch reglos seine Bierflasche.

»’n schönen Abend.«

Er drehte seinen Kopf ein wenig, und ich schaute in triefende Augen. Zwischen den Haaren auf seinem linken Arm tanzte eine tätowierte Seejungfrau.

»Was ’n los?« hauchte er mit winziger Stimme.

Die kurzatmigen Postmenschen gingen mir auf die Nerven.

»Kannste dich zufällig an ’nen Mann erinnern, der Ahmed Hamul hieß? Hat hier Säcke geschleppt.«

Er triefte mich noch eine Weile an, schaute dann wieder auf die Flasche.

»Ich arbeit nich mit Ausländern.«

Nur seine Muskeln hielten mich davor zurück, ihm aufs Hirn zu hauen. Es langte mir. Ich stand auf, ging auf die Skatspieler zu, sparte mir das ›Guten Abend‹ und knurrte: »Hört mal zu, Freunde, kennt hier jemand Ahmed Hamul? Wenn ja, soll er die Hand heben und ›ich‹ brüllen!«

Sie glotzten mich an. Ich kam in Fahrt.

»Ja, mein Gott, ist das so schwer? Schwarzhaariger Türke mit Schnurrbart und Segelohren, hat vergangene Weihnachten das letzte Mal hier gearbeitet. Ganz kurz ›ja‹ oder ›nein‹. Ob ihr eure Ferien nicht am Schwarzen Meer verbringen wollt, oder ein Türke ’n Rattenschwanz in der Unterhose hat, interessiert mich nicht im geringsten! Alles klar?«

Einer, mit nach hinten gekämmten, öligen Haaren, legte langsam die Karten weg und erhob sich.

»Bubsche, isch waas net, wer du bist, gell, abber dein Ton gefällt mer net. Besser du machst disch ab, kabiert?«

Er unterstrich seine Rede, indem er mehrmals die zur Faust geballte rechte Hand auf die linke Handfläche klatschen ließ.

Mit schnellem Blick auf die Tür pumpte ich ein bißchen mehr Luft in die Brust und zischte: »Hör mal zu, Briefträger, ob dir mein Ton gefällt oder nicht, will hier niemand wissen, ich hab dir ja auch noch nicht erklärt, was ’n Stück Seife ist. Alles, was mich interessiert, ist, ob du schon mal den Namen Ahmed Hamul gehört hast.«

Ich versuchte, ihn gefährlich anzusehen. Die anderen beiden warteten gespannt, was passieren würde, belustigt über meine Grimasse. Auf einmal schien die Hütte verdammt eng und still. Nur entfernte Pfiffe von abfahrenden Zügen sickerten durch das Blech. Das Monster vor mir sah auf den Boden, kratzte sich kurz am Bart, ging drei Schritte vor und rammte mir mehrere Pfund in den Bauch. Kleine, weiße Pünktchen segelten durch die Dunkelheit, tanzten dann wild durcheinander, beschrieben Kreise und Linien. Kirchturmglocken schlugen einen unregelmäßigen Takt dazu. Irgend jemand hatte seinen Güterzug auf meinem Nabel geparkt. Wahrscheinlich war es der, dessen schallende Lache in meinem Schädel dröhnte. Aus der Ferne grölte es: »Seife, ha? Abber kozze wie e Sau!«

Vorsichtig öffnete ich die Augen, sah ein Stuhlbein und eine Pfütze dicht neben mir. Oben drauf ruderten halbverdaute Erbsen. Saures lag auf meiner Zunge. Immerhin, er konnte mir den Magen nicht vollständig rausgerissen haben. Ich versuchte mich zu bewegen. Nach mehreren Versuchen saß ich gegen die Wand gelehnt und erbrach mich von neuem. Dann wühlte ich, immer noch sitzend, nach meinen Zigaretten und steckte mir eine an. Langsam floß das Nikotin in die Adern. Ich genoß es.

Die vier Mammuts sahen mitleidig auf mich herunter.

»Net so Schprüsch, gell! Des möchte mer net!« Nach einer Pause: »Dei Ahmed hat hier geschafft, is aber schon länger här.«

Ich machte den Mund auf, brachte aber nur ein Röcheln zustande.

Nach zwei, drei Anläufen krächzte ich: »Kannte ihn jemand näher… oder weiß einer, wer ihn näher kannte?«

»Hier kannde den niemand. Aamal kam e Mädsche vorbei, todal ferdisch, un hat gekrische, wo dann de Ahmed war. Hunnert zu aans, des wa e Nutt, abber wisse tu ischs aach net. Is aach schoh länger här gewese.«

Ich zog mich am Stuhl hoch, schwankte und stolperte dann grußlos zur Tür hinaus. Kühle Luft wehte durch die Halle. Ich schleppte mich zu einer Bank und atmete tief durch. Es dauerte eine weitere Zigarette, bis ich einigermaßen hergestellt war. Zehn nach acht.

Ich beschloß, nach Hause zu fahren, unter die Dusche.

Unterwegs kaufte ich meinem Magen eine Flasche Whisky.