5

Es war kurz vor fünf, als ich das Zimmer von Susanne Böhnisch Entlein verließ und mit weichen Knien und warmem Bauch die Treppe hinunter auf die Straße segelte. Ich wollte immer noch mit Hanna Hecht sprechen. Löff konnte warten. Ich lief zurück zum Auto und holte die Parabellum. Nochmal sollte mich der Schnurrbart nicht auf die Straße begleiten.

Bei Hanna Hechts Wohnungstür angelangt, hing ich mit dem Ohr am Schlüsselloch, bis ich wußte, er ist da. Dann hämmerte ich gegen die Tür und brüllte: »Telegramm!« Die Parabellum lag kalt in meiner rechten Hand. Schnurrbart kam aus der Küche, polterte »gibt doch ’ne Klingel« und öffnete die Tür.

Der magere Mann schaute im ersten Moment verblüfft, dann angewidert auf das Schießeisen. Mich schien er nicht zu bemerken. Früh genug sah ich, wie seine Hand zur Schulter schlich.

»Pfoten weg von der Kanone. Diesmal ist mein Finger am Abzug. Dreh dich um und leg die Arme hinter den Kopf.«

Er verzog das Gesicht, als hätte er sich mit saurer Milch bekleckert.

»Das hast du im Fernsehen gelernt, nicht wahr, mein Freund?«

Stimmt, dachte ich, sagte es aber nicht.

»Keine langen Reden, es wird sich umgedreht und losmarschiert!«

Er machte es wie befohlen. Ich bohrte ihm mein schwarzes Rohr ins Rückenmark, drückte ihn gegen die Wand und fummelte seine Kanone aus dem Schulterhalfter. »Ganz ruhig. Wir gehen jetzt durch die Tür da, und ich wünsch dir, deine Partnerin macht keine Dummheiten.«

Er brummte irgendwas und ging los. Als wir das Zimmer mit den Pferdeplakaten betraten, stand Hanna Hecht hinter dem Kühlschrank. Ihre Hände umklammerten eine kleine, braune Automatic.

»Schwester, leg das Gerät weg, ich hab so was auch.«

Um dem Nachdruck zu verleihen, schwang ich die Parabellum für einen Moment durch die Luft. Es war ein Fehler. Der Schnurrbart schaltete schnell und rammte mir seinen Ellbogen in die Rippen. Hätte er meinen Magen getroffen, wäre ich wie ein nasser Sack aufs Linoleum geplumpst. Doch er traf nicht. Ich stolperte einen Schritt zurück, während er sich umdrehte. Dann holte ich aus und hackte ihm die Parabellum in die Fassade. Einen Moment stand er noch, schaute an mir vorbei ins Leere, dann schwammen seine Augen weg, und er rutschte krachend an einem Regal auf den Boden. Ich drehte mich zu Hanna Hecht. Immer noch hielt sie sich an der Automatic fest und schaute mit großen Augen und zitternden Lippen zu mir herüber.

»Schwester, leg das Ding weg, oder ich baller deinem Freund das Hirn raus.«

Langsam, wie unter Hypnose, ließ sie die Automatic los. Sie fiel auf den Boden.

»In Ordnung. Es macht mir keinen Spaß, den wilden Mann zu spielen, aber anders kommt man mit dir nicht ins Gespräch.«

Ich zeigte auf die Ikea-Küchensitzecke.

»Setzen wir uns, und du erzählst mir ein bißchen von Ahmed Hamul.«

Sie schob ihre flatternden Hände in die Jeans und lehnte sich an den Fensterrahmen.

»Ich bleibe lieber stehn.«

Ihre starre Grimasse bekam mit der Zeit einen dämlichen Zug.

»Na gut.«

Ich zündete mir eine Zigarette an, ließ ein bißchen Nikotin in die Lunge rutschen und überlegte, was ich wissen wollte.

»Wie lange kanntest du Ahmed schon?«

Sie knabberte auf ihrer blutleeren Unterlippe herum und sagte nichts.

»Hör zu, mein Liebes, wenn du’s Maul nicht aufkriegst, sind wir flott bei der nächsten Polizeiwache. Dort interessiert man sich auch für den toten Ahmed. Ich bringe dich nicht gerne hin. Ich mag die Jungs auch nicht, aber wenn du vorhast, weiter stumm deine Lippen zu kauen, dann…«

»Ja, ja, is ja gut.«

Sie schluckte irgendwas runter und meinte, »ich kannte Ahmed etwa seit drei Jahren.«

»Hat er damals schon mit Stoff gehandelt?«

»Sicher.«

Es klang bitter.

»Du warst mit ihm zusammen, weil er was zum Drükken hatte?«

»So fings an.«

Ich deutete auf den halbtoten Schnurrbart.

»Und was ist mit dem da?«

»Er hat manchmal für Ahmed verkauft.«

»Is ’n flotter Dreier gewesen.«

»Mhmm, kann man so sagen.«

»War zwischen dir und Ahmed ein bißchen mehr los als nur Geschäft?«

»Ich mochte ihn gern.«

»Und der da?«

»Nur Geschäft.«

»Die Möglichkeit, daß er ihn über das Geschäft hinaus verdammt wenig leiden konnte und ihm deshalb ein Messer in den Rücken gejagt hat, gibt es nicht?«

»Gibt es nicht.«

Ich glaubte ihr.

»Woher bekam Ahmed den Stoff?«

»Keine Ahnung.«

»Ich habe gefragt, woher er den Stoff bekam?«

»Und ich habe gesagt, keine Ahnung.«

»Schwester, wenn du mir nicht die Wahrheit erzählst, bring ich dich mit deinem Freund schnurstracks auf die Wache, klar?«

Sie ließ ihre Zunge über die Lippen spielen und schlug die Augen nieder. Ich überlegte, ob sie versuchen würde, mich mit feuchtwarmen Gebärden zu überrumpeln. Statt dessen leierte sie gelangweilt: »Du müßtest eigentlich wissen, das Geschäft läuft nur, wenn sich niemand kennt. Ahmed und ich haben uns gut verstanden, doch er hätte mir nie seine Quelle verraten. Wär auch schön blöd gewesen. Je weniger man weiß, desto weniger kann man erzählen.«

Leider hatte sie recht. Ich glaubte ihr trotzdem nicht.

»Kanntest du seine Familie?«

»Er hat nicht oft von ihr gesprochen.«

»Wußtest du, daß die kleine Schwester seiner Frau an der Fixe hängt?«

»Ja.«

»Wußtest du auch, daß er sie dran gebracht hat?«

Ich hatte keine Ahnung, ob das stimmte oder nicht, aber es war eine Möglichkeit. Sie zögerte. Ihr »Ja« kam dann kurz, halb verschluckt. Ich klopfte mir auf die Schulter und dachte an die Verhältnisse bei der Familie Ergün.

»Aber er wollte sie auch wieder rausholen, aus…«

Sie stockte. Ihre Augen starrten ohne Ziel, versunken in Gedanken, oder Erinnerungen. Es machte sicher keinen Spaß, über das Rauskommen zu sprechen, wenn man selber tief drin saß.

»Wie wollte er sie rausholen?«

»Mit so ’nem Sanatorium, er hatte da ’nen Platz für sie gefunden. Irgend so was jedenfalls.«

Einen ganz neuen Gedanken braute mein Gehirn zusammen.

»Wollte Ahmed aus dem Geschäft aussteigen?«

»Mhmm. Wollte er.«

»Was hat er vorgehabt?«

»Mit der Familie wegziehen. Er hatte ein bißchen Geld und wollte ein Haus kaufen. Weiter weg oder so.«

»Wußte die Familie davon?«

»Glaub nich.«

Ich mußte endlich rausbringen, mit wem Ahmed Hamul den verdammten Stoffhandel gemacht hatte.

»Am Tag seines Todes - war Ahmed hier?«

»Mhmm.«

Sie schaute durch das graue Glas hinaus auf die immer noch sonnige Straße. Ich betrachtete ihren schmalen Rükken. Die Schulterblätter stachen spitz aus dem ausgemergelten Körper heraus.

»Wann war er da?«

»Nachmittags.«

»Genau?«

Sie drehte sich um, drückte die Hände noch tiefer in die Hosentaschen und hatte das erste Mal etwas Klares im Gesicht. Sie war sauer.

»Du blöder Schnüffler, ist das denn so wichtig?«

»Isses.«

Sie kam an den Tisch und riß sich eine Zigarette aus der Schachtel.

»Er kam so um vier und ist um halb sechs wieder weg.«

»Hat er gesagt, wohin er gehen wollte?«

»Nee. Irgendwas abchecken.«

»Stoff?«

»Nee, Gummibärchen.«

»Ich denke, er wollte aussteigen?«

»Dazu braucht man Kleingeld.«

»Mhm. Hat vorher irgend jemand angerufen?«

»Nur so ’n Kumpel von ihm.«

»’n Kumpel?«

»Na ja, ’n Landsmann. Ahmed hat das wenigstens gesagt.«

»Du hast es nicht geglaubt?«

»Weiß nicht. Ich hab den Hörer abgenommen, und der Typ hat ’n ganz normales Deutsch gesprochen, vielleicht ’n bißchen Akzent, aber nich viel.«

»Könnte ein gespielter Akzent gewesen sein?«

»Keine Ahnung.«

»Die Stimme, wie war die?«

»Wie so ’ne Stimme halt is.«

»Tief? Hoch? Verschnupft? Irgendwas besonderes?«

»Eyh, ich hab ’nen halben Satz mit dem gewechselt, ob er Kopfschmerzen oder Fußpilz hat, hab ich dabei nicht rausgekriegt.«

»Ahmed hat deutsch mit ihm gesprochen?«

»Der hat die ganze Zeit nur ›ja‹ gesagt.«

»Wann war der Anruf?«

»Kurz bevor Ahmed gegangen is.«

Ich kratzte mir einen Fingernagel voll Schmalz aus dem Ohr, zerrieb es langsam in der Hand und wartete auf zündende Ideen. Hanna Hecht knabberte an ihren Fingern und betrachtete mich wie einen Staubsaugervertreter.

Irgendwie mußte es einen Zusammenhang geben. Irgendwo mußte der Mensch sitzen, der Ahmed Hamul den Stoff geliefert hatte, und der mich mit einem Fiat zu Matsch fahren wollte oder wenigstens so getan hatte.

Wahrscheinlich war es derselbe, der Ahmed Hamul umgebracht hatte.

»Besitzt du irgendeine Tageszeitung?«

»Hast du vor, länger hier zu bleiben?«

»Solange, bis mir keine Fragen mehr einfallen. Hast du irgendeine Tageszeitung?«

»Nee.«

Ich hob die Parabellum über die Tischkante.

»Laß uns nach nebenan gehen, vielleicht findet sich da was.«

»Was willste denn mit ’ner verdammten Tageszeitung?«

»Wissen, wie die Eintracht gespielt hat. Auf gehts!« Widerwillig kam sie durch die Küche und ging vor mir her durch Tür und Flur ins andere Zimmer. Schnurrbart schlief immer noch selig.

Das Arbeitszimmer von Hanna Hecht bestand aus zwei mal zwei Meter Bett mit einer himmelblau glänzenden Decke, einem Kleiderschrank und vielen kleinen Kästen mit noch mehr Schubladen. Auf einem weißen Plastiktisch lagen abgegriffene Pornobände. Ich nahm einen und blätterte drin.

»Kann der Kunde sich aus dem Katalog ’ne Übung aussuchen?«

»Er kann sich auch einen runterholen, wenn er will.« Ich legte das Buch zurück auf den Tisch.

»Also gut, wenn Zeitungen hier sind, gib sie mir.«

»Sind aber keine da.«

Ich zog die Tür vom Kleiderschrank auf und begann, ihre Klamotten durch das Zimmer zu schmeißen. Hanna Hecht wurde weiß. Ihre Augen funkelten mich an; eine Katze, bereit zum Sprung.

Nach einer Weile zog ich den letzten Strumpf raus, und der Schrank war leer. Der Boden sah aus wie ein Wühltisch bei Herde.

»Scheint nichts drin zu sein, was?« Hanna Hecht sagte nichts.

Ich begann, die Schubladen aus den Holzkästen auf den Boden zu schütten. Lippenstifte, Haarklammern, Tampons, Briefe, Nähzeug, alles mögliche purzelte durcheinander. Nichts von Interesse.

Eigentlich konnten die zerschnittenen Tageszeitungen nicht hier sein. Aber vielleicht was anderes. Irgendwas, das mich weiterbrachte. Sie kenne keinen Geschäftspartner von Ahmed Hamul, das glaubte ich Hanna Hecht nicht, und ich hoffte, etwas zu finden, das mir recht gab.

Schublade auf Schublade verteilte sich über den weinroten Fusselteppich. Danach nahm ich mir einen Stapel Briefe und schaute die Poststempel an. Alle älteren Datums. Die meisten Absender stammten aus der Kleinstadt Ommersbach. Wahrscheinlich der Geburtsort Hanna Hechts. Überbleibsel aus einer Zeit, in der sie noch Pickelprobleme mit Jugendfreundinnen besprochen hatte.

Ich kam mir vor wie ein Leichenfledderer. Ich legte die Briefe beiseite.

»Immer noch nichts.«

Sie öffnete den Mund, bis sie sehr ruhig und beherrscht sagte: »Wenn sich eine Möglichkeit bietet, dir den Schwanz abzuschneiden, dann schneid ich ihn dir ab!« Ich glaubte ihr.

In der Küche bewegte sich etwas. Ich nahm die Parabellum und Hanna Hecht und ging hinüber zum Kellner. Ich zog ihm noch mal die Kanone über das Ohr, und wir gingen zurück. Ihrem Gesicht nach zu urteilen, war es ihr egal, wie oft ich auf ihrem langen Freund rumklopfte.

Ich nahm das himmelblaue Bettzeug und schmiß es zu dem anderen Kram auf den Boden. Es reichte ihr immer noch nicht. Sie blieb eisern und stumm. Da ich nicht die Mauern einreißen konnte, nahm ich mir den Papierkorb vor. Zerrissenes Papier schaute heraus. Das hatte ich schon bemerkt.

Ich drehte ihn um. Zigarettenkippen, Pariser, eine leere Colabüchse, eine Illustrierte für Sommerstrickmoden, rausgekämmte Haarbüschel und mittendrin ein Haufen zerfledderter Tageszeitungen. Sie waren größtenteils zerschnitten. Ich blies die Asche ab und stand mit dem bedruckten Papier in der Hand auf.

»Fräulein, da hat wer was vergessen.«

Für heute hatte sie beschlossen, den Mund zu zu lassen.

Ich breitete die Tageszeitungen auf dem abgezogenen Bett aus und holte Notizblock und Stift aus der Tasche. Es war mühselig. In der einen Hand die Kanone, in der anderen den Kugelschreiber. Viele Buchstaben waren unsauber ausgeschnitten, und ich mußte mehrere Möglichkeiten aufschreiben. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis ich alle Lücken als Buchstaben definiert in meinem Block stehen hatte. Das sah so aus:

WLNEITFMRUCKWRDTLENIOLOUDLINEOTSNMENILAHADNEBIILERTSJERTSIEBILDABRE

Im Moment konnte ich damit nichts anfangen. Der Brief an mich war jedenfalls nicht mit diesen Buchstaben geklebt worden. Ich faltete die Zeitungen zusammen und steckte sie in meine Jackettasche.

»Schwester, ich bin sicher, du weißt, wer den Deal mit Ahmed gemacht hat, und willst dafür kassieren. Aufpassen, könnte dir genauso gehen wie ihm.«

Ihre Augenlider hingen müde über den Pupillen.

»Nich ’ne blasse Ahnung, von was du redest, du Wichser.«

»In Ordnung. Mach, was du willst, viel kannst du nicht mehr verlieren.«

Es war zwecklos. Sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

»Der, der deinen geklebten Brief bekommt, wird sich melden. Ich schreib dir meine Adresse auf, vielleicht kannst du meine Hilfe gebrauchen.«

Ich kritzelte die Telefonnummer auf die Tapete über dem Bett. So konnte sie sie nicht sofort zerreißen.

»Zeitverschwendung!«

»Kann sein. Zeitverschwendung wird auch alles sein, was ich demnächst mache. Ich sollte hier sitzen bleiben und warten, bis du auspackst.«

»Mach, is mir scheißegal, Wichser.«

»Krieg ich auch anders raus. Spätestens, wenn du draufgehst, werde ich es wissen. Mörder erpressen ist ’ne Nummer zu groß für ’ne kleine Nutte und ihren Zuhälter. Ist nicht gerade der wildeste Hengst.«

Ich schaute auf die Uhr. Es war kurz vor sechs. Ich mußte Löff anrufen.

»Wenn du merkst, dir wächst da was über den Kopf, melde dich. Ist das letzte, was ich dir sage.«

Ich steckte die Parabellum in die Hosentasche und ging an ihr vorbei zur Wohnungstür. Ein kurzer Blick in die Küche, der Kellner schlief immer noch.

»Schönen Gruß an deinen Freund, wenn er aufwacht. Bis dann.«

Ich zog die Tür langsam zu. Hanna Hecht sagte nichts mehr.

»Pünktlichkeit ist eine unerläßliche Voraussetzung, um als Kriminalbeamter erfolgreich arbeiten zu können. Lassen Sie sich das gesagt sein.«

Am liebsten hätte ich aufgelegt.

»Hören Sie, Herr Löff, es war wichtig. Ich erkläre das später. Erzählen Sie, was Sie auf der Polizeiwache rausgekriegt haben, ich muß es dringend wissen.«

»Ich dachte, Sie wollten rauskommen, damit wir das zusammen durchgehen?«

»Hab jetzt keine Zeit. Können wir morgen machen.«

»Wichtig in diesem Beruf ist gründliche Kenntnis der vorliegenden Tatsachen. Unbedachte Eile schadet nur und führt zu voreiligen Schlüssen!«

»In Ordnung, Herr Löff. Wollen Sie mir nun erzählen, was in den Akten steht, oder nicht?«

Er machte eine Pause. Ich bekam Angst, er würde auf meinem Besuch bestehen.

»Warten Sie.«

Er ließ sich Zeit. Die Akten lagen sicher direkt neben dem Telefon. Ein aufgeregter Mann mit ledernem Köfferchen klopfte an die Zelle und ließ seine Hand durch die Luft flattern. Nach seiner Meinung hatte ich genug telefoniert. Löff kam nicht. Ich verfluchte ihn.

Der Mann schob die Zellentür auf.

»Gehört Ihnen das Telefon?«

»Hauen Sie ab, Mann.«

»Wie bitte?!«

»Wie bitte?«

Löff und der Mann gleichzeitig.

»Herr Löff, es tut mir leid, hier stört jemand.«

»Suchen Sie sich ’ne andere Zelle, gibt doch genug!« Der Mann knallte die Tür zu und schwang die Faust.

»Hätten sich mal ein bißchen beeilen können.«

»Ich habe auch noch was anderes zu tun, Herr Kayankaya, als Ihre Arbeit zu machen.« Das war gelogen.

»Okay, was steht in den Akten?«

»Ich habe nur etwas über die Unfälle gefunden. Dem Rauschgiftdezernat sind Ihre beiden Kandidaten nicht bekannt.«

»Noch nicht einmal die Namen? Mit wem haben Sie da gesprochen, war das so ein verkatert aussehender Brillenträger?«

»Georg Hosch, wenn Sie den meinen.«

»Mein ich wahrscheinlich. Na gut, was gibts über die Unfälle?«

»Der erste Unfall war am neunzehnten Februar neunzehnhundertneunundsiebzig, Niddastraße, Ecke Ludwigstraße. Beteiligte waren Vasif Ergün und ein gewisser Albert Schönbaum.«

»Hat der eine Adresse?«

»Warten Sie es doch ab! Albert Schönbaum wohnte damals Schumannstraße dreiundzwanzig; Telefonnummer ist einundsiebzig achtundfünfzig vierzig. Der Unfallver…«

»Moment, ich muß den Kram auch aufschreiben.«

Den Hörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt, schrieb ich ins Notizbuch. Die Muschel roch nach verschwitzten Händen.

»Weiter.«

»Der Unfallverlauf ist nur ungenau festgehalten. Raus kommt jedenfalls, Albert Schönbaum hat durch überhöhte Fahrgeschwindigkeit und mangelhaften Fahrzeugzustand den Unfall verschuldet. Wie es genau dazu gekommen ist, läßt sich der Akte nicht entnehmen.«

»Ach was! Da steht wirklich drin, der andere war schuld? Gibts doch nicht. Wer hat denn den Unfall aufgenommen?«

Löff machte eine Pause. Ich hörte Papier knistern.

»Passen Sie auf, jetzt kommts!«

Ich argwöhnte, der Alte wolle sich wichtig machen.

»Kommt was?«

»Auf Streife waren Harry Eiler und Georg Hosch. Sie kümmerten sich um den Unfall. Georg Hosch hat das Protokoll aufgesetzt, und Roland Futt war diensthabender Vorgesetzter. Er unterschrieb das Ganze.«

Ich preßte den Hörer ans Ohr.

»Ach… nee…!«

»Tja, iss’n Ding. Ob Sie das nun als Zufall betrachten wollen oder lieber bißchen drin rumwühlen, ist Ihre Sache. Ich persönlich glaube, da besteht keinerlei Zusammenhang zum Mord, um den Sie sich zu kümmern haben. Ich weiß, Sie mögen Futt nicht, aber verbeißen Sie sich nicht in eine verwegene Theorie. Es könnte Ihnen schlecht bekommen. Futt ist inzwischen angesehener Kripokommissar.«

Im Augenblick hatte ich überhaupt keine Theorie, weder eine verwegene noch eine andere.

»Ja… ja, was gibts zu dem zweiten Unfall?«

»Ich sag’s Ihnen nochmal, laufen Sie nicht ins offene Messer. Es gibt manchmal solche Zufälle.« Wieder eine Pause.

»Es kommt noch dicker. Das Datum des zweiten Unfalls haben sie. Er ereignete sich auf der B vierzehn, Frankfurt Richtung Kronberg, kurz vor Kronberg, bei Kilometerstein sechsunddreißig. Nach dem Protokoll ist Vasif Ergün gegen einen Betonpfeiler gefahren. Das Auto hat sich überschlagen, ist explodiert und anschließend in einen Graben gestürzt. Ärztliche Hilfe kam zu spät.«

»Was Sie nicht sagen. Wer ist hier der Protokollant?«

»Streife waren Erwin Schöller und Harry Eiler. Harry Eiler hat das Protokoll geschrieben.«

»Bißchen viel Zufälle. Meinen Sie nicht auch?«

»Denken Sie, was Sie wollen, Herr Kayankaya. Nur, seien Sie vorsichtig.«

»Wer ist Erwin Schöller?«

»Dachte ich mir, daß Sie das wissen wollen. Erwin Schöller war bis neunzehnhunderteinundachtzig normale Streife in Frankfurt und hat sich dann nach Pfungstadt versetzen lassen.«

»Adresse hat er?«

»Pfungstadt, Ladenstraße drei, Telefonnummer fünfundneunzig zehn dreiunddreißig.«

Ich schrieb das auf. Die Gedanken schossen mir kreuz und quer durchs Gehirn.

Bisher hatte ich wirklich nicht gewußt, wo ich weitermachen mußte. Jetzt wußte ich nicht, wo anfangen.

»Hatten die vier, Futt, Eiler, Schöller und Hosch, früher schon einmal etwas miteinander zu tun gehabt?«

»Futt war neunzehnhundertfünfundsiebzig Ausbilder von Harry Eiler und Georg Hosch. Futt ist dann zum Rauschgiftdezernat gegangen und hat sich später Hosch als festen Mitarbeiter geholt.«

»Wird immer schöner. Der Zufall will es, und die drei kommen überhaupt nicht mehr voneinander los! So ’n kleiner Verein ist die Polizei doch nicht, die müssen doch nicht ständig übereinander stolpern. Schicksal in allen Ehren, Herr Löff, aber…«

»Ich weiß, was Sie sagen wollen, Herr Kayankaya. Aber lassen Sie sich von einem erfahrenen Polizisten sagen, wenn da was faul gewesen wäre, man hätte es herausgefunden. Auch bei der Polizei mag es die eine oder andere nicht ganz saubere Sache geben, aber keine wirklichen Schweinereien. Sie müssen mir glauben, ich kenne den Laden besser.«

Ich las mir meine Notizen durch. Futts Karriere war musterhaft.

»Beim ersten Unfall war Futt diensthabender Vorgesetzter und gleichzeitig im Rauschgiftdezernat. Was hatte er da auf der Wache zu suchen?«

Löff bemühte sich um einen anderen Ausdruck für Zufall. Er fand ihn nicht.

»Keine Ahnung. Vielleicht zu Besuch.«

»Klar, vielleicht war er hinterm Bahnhof spazieren und mußte plötzlich auf die Toilette: Dann ging er auf die Wache pinkeln, und weil er schon mal da war, hat er sämtliche Protokolle unterschrieben. Tschuldigung, Herr Löff, aber ich dachte, die Polizei hielte was auf Disziplin und Ordnung.«

»Auf jeden Fall hatte Futt durch seinen Dienstgrad die Berechtigung zu unterschreiben.«

»Da bin ich beruhigt.«

Löff konnte mir nicht mehr weiterhelfen. Ich mußte mit anderen Leuten telefonieren. Er brummelte beleidigt und wollte mich nur ungern vom Telefon entlassen. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag. Das besänftigte ihn, und ich legte auf.