16. Kapitel

 
 

Denn ihre Augen sind wie Pfeile auf die Liebe der Frau gerichtet, wenn sie sie sehen; ihr Gehör ist wie ein sehr heftiger Wind, wenn sie sie hören, und ihre Gedanken sind wie ein Sturmwind, der nicht daran gehindert werden kann, auf die Erde herabzufallen.

 

Als Emma zum Schulgebäude zurückkehrte, teilte der Sekretär ihres Vaters mit sorgenvoller Miene mit, dass die Besprechung noch nicht beendet sei. Emma beschloss zu warten, ließ sich neben der Bürotür ihres Vaters auf einer einfachen Holzbank nieder und startete ihren Laptop. Doch kaum war er hochgefahren, öffnete sich die Tür neben ihr, und Gerhard Lehmann verabschiedete seinen Besuch, eine finster dreinblickende Dame im dunkelgrauen Anzug und mit sorgfältig ondulierten Haaren.

Emma freute sich ehrlich, ihn zu sehen. Ihr Vater bat sie herein und war sichtlich zerknirscht, dass sie so lange hatte warten müssen. Emma steuerte die Besucherecke seines Büros an und ließ sich in den bequemen Ledersessel fallen, der nach ihrer Erinnerung schon immer dort gestanden hatte. Sie blickte sich um und fand, dass sich in den vergangenen zehn Jahren, seit ihr Vater Rektor dieser Schule war, in diesem Raum nichts verändert hatte. Es war ein großzügig geschnittenes Büro, mit einem Schreibtisch, an dem bereits mehrere Schulleiter die Zeugnisse ihrer Schüler unterschrieben hatten, raumhohen Bücherregalen und einer ledernen Sitzgruppe mit Couchtisch. Früher hatte Emma immer geglaubt, so müsste die Bibliothek eines englischen Landsitzes aussehen.

»Es ist schön, dass du hier bist«, sagte ihr Vater und setzte sich in die rechte Ecke der Couch, seinem Lieblingsplatz. Emma lächelte ihm zu und betrachtete ihn in Ruhe. Sie hatten sich Weihnachten das letzte Mal gesehen, und sie fand, er sah gut aus wie immer. Die dunklen Locken hatte Emma von ihm geerbt, Andrea den klassischen Schnitt seiner Nase. Graue Strähnen durchzogen sein dichtes und kurzgeschnittenes Haar. Er war gut in Form, hatte kaum Bauch angesetzt und seine Muskeln verrieten, dass er regelmäßig trainierte. Emma wusste, dass er gern Rad fuhr und ins Fitnessstudio ging. Als sie seinem Blick begegnete, spürte sie, dass er nervös war. Sie wechselten ein paar belanglose Sätze, dann wies ihr Vater auf einen Ordner, der auf dem Tisch vor ihr lag.

»Da sind die Zeitungsausschnitte von damals gesammelt. Ich dachte, das würde dich interessieren«, sagte er.

Emma nickte und zog den Ordner zu sich her. »Was ist damals genau vorgefallen?«

Gerhard Lehmann seufzte und strich sich die Haare aus der Stirn. »Das meiste weißt du«, begann er. »Ich war damals stellvertretender Schulleiter. Meine Aufgabe bestand darin, ein Auge darauf zu haben, was die Lehrer und Lehrerinnen im Unterricht machen.«

Er stand auf und begann, nervös hin und her zu laufen, während er weitererzählte.

»Die Eltern von mehreren Schülern hatten sich damals bei mir beschwert, dass Pater Benedikt dem Lehrplan hinterherhinkte. Er hielt viel zu oft Vorträge über Hildegard von Bingen, als mit dem Unterrichtsstoff weiterzumachen.«

»Ich denke, es gab eine Hildegard-AG«, warf Emma ein.

Gerhard Lehmann blieb stehen und betrachtete sie stirnrunzelnd. Dann nahm er seine Wanderung von einer Ecke des Büros zur anderen wieder auf.

»Ja«, fuhr er fort, »aber er hat auch im Unterricht unentwegt von ihr erzählt. So dass die Eltern sich beschwert haben.«

Er kam wieder herüber zu ihr und setzte sich auf das Sofa.

»Ich habe ihn zurechtgewiesen«, sagte er und verschränkte seine Arme vor der Brust, »mehrfach. In der Woche vor Palmsonntag habe ich ihm ein Ultimatum gestellt. Entweder er zieht jetzt den Unterrichtsstoff konsequent durch, oder ich spreche mit dem Oberschulamt über eine Abmahnung.«

Ihr Vater atmete tief durch. Sein Gesicht war düster.

»Und dann der Selbstmord an Ostersonntag«, sagte er und sah Emma an. Sie spürte seine Trauer. »Einige Kollegen glaubten, dass ich ihn zu sehr unter Druck gesetzt habe. Dass er dem nicht gewachsen war.«

»Und was glaubst du?«, fragte Emma.

Er erwiderte ihren Blick, dann zuckte er mit den Achseln und erhob sich, um seinen unruhigen Gang wieder aufzunehmen.

»Ich denke nicht, dass meine Zurechtweisung irgendetwas mit seinem Tod zu tun hatte. Das Problem war nur, dass einige Kollegen das so sahen. Damals hat es mir sehr zugesetzt.«

Ihr Vater blieb mitten im Zimmer stehen und hob die Hände.

»Das war das Ende der Geschichte«, sagte er.

»Wie meinst du das?«, fragte Emma verblüfft.

»Ich war damals angespannt, es kam zwischen eurer Mutter und mir deshalb zu einigen Auseinandersetzungen, und am Ende ging sie. Das war’s.«

»Aber es ging doch immer um diesen Mönch«, wandte Emma ein und versuchte sich zu erinnern, was ihre Mutter damals gesagt hatte.

»Deine Mutter glaubte den Gerüchten, dass meine Drohung mit einer Abmahnung die Ursache für den Selbstmord war. Irgendwie hat sie die Partei von Pater Benedikt ergriffen und hatte das Gefühl …« Ihr Vater blieb stehen, suchte nach Worten. Schließlich kam er wieder zu ihr herüber und setzte sich. »Ich glaube, sie hat sich mit ihm identifiziert. Sie hat sich oft von mir gemaßregelt gefühlt, und ich war vielleicht auch ein bisschen lehrerhaft, auch zu Hause.« Er verzog das Gesicht zu einem gequälten Lächeln. »Aber das war’s. Die Ursache für unsere Trennung war immer so, wie ich es euch gesagt habe. Wir hatten uns auseinander gelebt, und deine Mutter hat in Heidelberg nie Fuß gefasst. Sie war unglücklich hier und hat gehofft, nach Hamburg in ihr altes Leben zurückkehren zu können.«

»Aber das hat nicht funktioniert«, sagte Emma leise.

Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er düster. »Das hat nicht funktioniert. Ich muss dir noch etwas anderes sagen.«. Nervös fuhr er sich durch die Haare. Emma runzelte die Stirn und sah ihn fragend an. So unruhig hatte sie ihn das letzte Mal vor ihrer Abi-Prüfung erlebt.

»Sie hat mich eingeladen«, sagte er rasch.

»Wer?«, fragte Emma und sah ihn verblüfft an.

»Schwester Lioba, die Äbtissin vom Rupertsberg«, sagte ihr Vater. »Sie wollte unbedingt, dass ich zu ihrer Weihe komme. Ich habe erst abgelehnt. Sie ist zwar eine Schülerin von mir gewesen, aber wir hatten all die Jahre keinen Kontakt. Doch ihr war es sehr wichtig, sie hat deshalb mehrfach bei mir angerufen und mich regelrecht überredet.«

»Und warum bist du dann doch nicht bei der Weihe gewesen?«

»Ich war dort«, antwortete ihr Vater.

»Du warst dort?«, fragte Emma erschüttert.

»Ich kam nur zu spät«, sagte ihr Vater. »Stau auf der Autobahn. Als ich das Kloster endlich erreichte, war die Weihe schon vorbei, und die Gäste saßen beim Essen. Aber das war eigentlich egal.«

»Wieso?« Auf einmal spürte Emma, wie trocken ihr Mund war. Sie griff nach der Wasserflasche, die immer für Besuch bereitstand, und schenkte sich ein. Sie hielt ihrem Vater die Flasche hin, doch der schüttelte nur den Kopf und nahm seine unruhige Wanderung wieder auf.

»Mir wurde schnell klar, dass Schwester Lioba mich nicht in erster Linie wegen ihrer Weihe eingeladen hat. Sie wollte, dass ich mit Miriam Schürmann spreche.«

»Und?«, fragte Emma.

»Das habe ich gemacht«, sagte ihr Vater. Wieder blieb er vor ihr stehen, mit beiden Händen in den Hosentaschen, die Schultern hochgezogen.

»Wann?« Emma zog ihre Handtasche zu sich her. Sie kramte nach einem Stück Papier und einem Stift und machte sich Notizen.

»Am Samstag kurz vor dem Abendessen. Ich wollte dann gleich wieder zurück, weil ich zum Geburtstag eines Kollegen eingeladen war. Ich wollte Kerstin, ich meine Schwester Lioba, wenigstens noch persönlich gratulieren, wenn ich schon zu spät war. Als sie mich um den Gefallen bat, konnte ich schlecht nein sagen. Also sprach ich mit ihr.«

»Worüber?«, fragte Emma. Sie notierte sich die Angaben ihres Vaters und hob nur kurz den Blick. Gerhard Lehmann zögerte. Dann blieb sein Blick an ihren Notizen hängen.

»Wirst du das veröffentlichen?«, fragte er zweifelnd.

Emma zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht.«

Auf einmal wurde ihr klar, dass es längst nicht mehr um einen Artikel ging. Sie wollte die Wahrheit.

»Ich möchte nicht in Zusammenhang mit diesem Mord in der Zeitung auftauchen.«

»Die Frau ist ermordet worden, die Polizei muss den Fall aufklären«, sagte Emma ausweichend. »Sie wird ein Interesse daran haben, was du zu erzählen hast. Schließlich hast du am Abend ihres Todes mit ihr gesprochen.«

»Ich weiß ja erst seit deinem Anruf davon«, sagte ihr Vater und runzelte die Stirn. »Gestern war schon ein Polizist hier und wollte mit mir sprechen. Der wird heute sicher wiederkommen.«

»Was wollte denn die Äbtissin von dir? Worüber solltest du mit Miriam Schürmann sprechen?«

»Schwester Lioba wollte von ihr eine alte Handschrift haben, die Miriam Schürmann vor zwanzig Jahren von Bruder Benedikt bekommen hat.« Ihr Vater atmete tief durch. »Doch Miriam wollte sie nicht herausgeben. Die Handschrift war wohl so eine Art Pfand für sie. Schwester Lioba hat anscheinend gedacht, ich könnte da was ausrichten. Was natürlich vollkommener Quatsch war. Ich wusste ja noch nicht mal, warum sie eigentlich die Handschrift hatte und warum sie sie nicht herausgeben wollte.«

»Ich habe mich gestern mit einem ehemaligen Schulkameraden von ihr unterhalten«, sagte Emma. »Der hat auch über eine Handschrift gesprochen.«

»Es gab damals an der Schule ein paar Gerüchte, der Pater hätte eine wertvolle Handschrift der Hildegard von Bingen und würde sie übersetzen. Später hieß es, er hätte sie vor seinem Tod einer Schülerin gegeben. Aber daran habe ich nie geglaubt. Und Miriam Schürmann hat mich einfach nur ausgelacht. Sie hat noch nicht einmal zugegeben, ob sie die Handschrift wirklich hat.«

»Und dann?«, fragte Emma.

»Bin ich nach Heidelberg gefahren und habe wie geplant mit Jochen und seinen Gästen in seinen sechzigsten Geburtstag hinein gefeiert.«

Emma nickte und musterte ihren Vater. Sie hatte den Eindruck, dass er mehr wusste, als er zugab. Am liebsten hätte sie ihm noch weitere Fragen gestellt. Emma zog den Ordner zu sich her und steckte ihn ein. Erst wollte sie noch mehr über die alte Geschichte wissen, bevor sie ihm weitere Fragen stellte. Als sie sich erhob, fiel ihr Blick auf einen alten Glasschaukasten in der hinteren Büroecke neben dem Schreibtisch ihres Vaters. Sie kannte den Schaukasten, hatte ihn schon oft gesehen. Nachdenklich ging Emma hinüber und warf einen Blick auf das Modell aus Hartschaum, das mindestens schon zwanzig Jahre alt sein musste. Schon als stellvertretender Schulleiter hatte ihr Vater davon geträumt, das Internat eines Tages zu erweitern und eine Tagesschule für begabte finanzschwache Kinder der Region zu eröffnen.

»Ob du jemals das Geld zusammen bekommst, um die Tagesschule bauen zu können?«, fragte sie und wandte sich um.

Ihr Vater stand noch immer neben seinem Lieblingssessel und beobachtete sie. Seine Wangen hatten sich gerötet.

 

Grieser fädelte sich auf den Zubringer zur Autobahn ein und bog auf die Autobahn Richtung Mannheim ab. Dann reihte er sich in den stetig dahinfließenden Verkehr ein. Er blickte auf die Uhr. In spätestens einer Stunde sollte er bei Lehmann im Internat sein, sonst würde er ihn nicht mehr erwischen. Das zumindest hatte sein Sekretär behauptet. Er dachte darüber nach, ob er sich wieder bei Paul melden sollte. Die Versuchung war groß. Er sehnte sich nach seiner Stimme, seinen Händen, seinem Geruch. Er wünschte sich nichts sehnlicher als eine Beziehung. Doch Paul hatte offen von seinen sexuellen Eskapaden der vergangenen Monate erzählt. Er machte keinen Hehl daraus, dass er Spaß daran fand. Und den würde er sicher auch weiterhin haben wollen.

Ein dunkler Mercedes überholte und quetschte sich in die Lücke zwischen ihm und einem Hyundai. Der Hauptkommissar nahm den Fuß vom Gas und wartete, bis sich der Abstand wieder vergrößerte. Er hatte vor seiner Fahrt noch einen kurzen Abstecher nach Mainz gemacht, hatte sich mit frischer Wäsche eingedeckt und war dann zum Präsidium gefahren, um einen Dienstwagen zu holen.

Der dunkle Mercedes vor ihm wurde langsamer. Grieser drückte das Gaspedal durch und zog nach links. Er überholte beide Wagen und kehrte dann auf die rechte Spur zurück. Die Fahrbahn vor ihm war frei.

Grieser schob die quälenden Gedanken beiseite und zwang sich, über die Befragung von Hertl nachzudenken. Irgendwas stimmte an seinen Aussagen nicht. Sie erzählten alle, es sei am Samstag nichts Besonderes vorgefallen. Die ehemaligen Klassenkameraden hatten sich nach langer Zeit das erste Mal wiedergesehen. Eingeladen von Schwester Lioba zu ihrer Weihe. Doch die Äbtissin hatte sich zwei Wochen zuvor heftig mit dem Mordopfer gestritten. Hertl wiederum bedrohte Schürmann per Mail, wollte aber nicht sagen, warum. Und was war mit Pfarrer Windisch und Thomas Kern? Grieser hatte das Gefühl, die beide wussten etwas, genau wie die Oberin. Aber keiner machte den Mund auf.

Der Hauptkommissar sah auf die Uhr. Dreizehn Uhr. Er überlegte, ob er sich in der Raststätte etwas zu essen besorgen sollte. Doch was er in den vergangenen Tagen von dort gegessen hatte, war mies gewesen. Also warten bis Heidelberg, trotz Hunger. Grieser griff zur Freisprechanlage und wählte Sabine Baums Nummer.

»Ja, Chef?« Ihre Stimme klang blechern.

»Ich will, dass du noch mal mit der Äbtissin sprichst. Ich will wissen, warum sie sich mit Miriam Schürmann gestritten hat.«

»Ey, ey, Chef«, erwiderte Baum undeutlich. Sie kaute.

»Außerdem solltest du mit Pfarrer Windisch und auch noch mal mit Kern sprechen. Irgendwas läuft da zwischen den ehemaligen Klassenkameraden.«

»Irgendeine Idee?«, fragte Baum und hustete.

»Erkältet?«, erwiderte Grieser. Hoffentlich fiel sie nicht ausgerechnet jetzt aus. Er schätzte ihre zuverlässige Arbeit und ihre unaufdringliche Art. Er und Baum kannten sich seit ihrer Ausbildung. Sie war erst vor kurzem nach einer fünfjährigen Familienphase in den Dienst zurückgekehrt. Als sie ihm zugeteilt wurde, hatte sie sich ehrlich gefreut. Ihre beiden Söhne versorgte jetzt ihr Mann, ein Finanzbeamter, der sich vorgenommen hatte, die nächsten fünf Jahre zu übernehmen.

»Nö«, erwiderte sie gelassen.

Grieser brummte. »Nein, keine Idee«, antwortete er dann.

»Kramer hat erzählt, in der Wohnung der Schürmann lagen jede Menge Bücher und Unterlagen über Hildegard von Bingen. Sieht so aus, als hätte sie damit gearbeitet. Viele Stellen waren angestrichen. Sie hat sich auch Notizen gemacht.«

»Und?«, fragte Grieser.

»Keine Ahnung, ob uns das weiterbringt«, sagte Baum und seufzte.

Grieser blinkte und überholte einen LKW mit Baumstämmen auf der Ladefläche. Mehrere Rindenstückchen prallten von seiner Windschutzscheibe ab. »Frag Kramer, ob er aus ihren Aufzeichnungen zu Hildegard von Bingen schlau wird«, sagte er und scherte vor dem Holztransporter wieder ein.

»Okay, ich werde sehen, was heute noch geht. Ansonsten mache ich morgen weiter«, erwiderte Baum.

Zwanzig Minuten später rollte Grieser auf den Parkplatz des Internats. Er machte sich sofort auf den Weg zum Haupteingang. Als er den Fuß auf die unterste Stufe der Außentreppe setzte, öffnete sich die Tür.

Grieser blickte auf und zog die Augenbrauen zusammen. Emma Prinz trat aus dem Halbdämmer des Gebäudes und strebte der Treppe entgegen. Verärgert blieb Grieser stehen. Er fragte sich, woher die Journalistin davon wusste, dass die Spur im Bingerbrücker Mord nach Heidelberg in dieses Internat führte. Darüber hatte er mit Paul nicht gesprochen. Dann fiel ihm ein, dass Paul neben ihm im Auto saß, als Baum ihn gestern angerufen hatte.

Die Journalistin nickte ihm im Vorübergehen flüchtig zu und ging eilig Richtung Parkplatz. Grieser blickte ihr nachdenklich hinterher. Darüber musste er mit Paul sprechen. Heute noch. In die Enttäuschung über den Verrat mischte sich ganz unauffällig Freude über ein unverhofftes Wiedersehen.

 

Die Schwester an der Pforte hatte eine klassisch geschnittene Nase, auf der eine überdimensionale silberfarbene Brille saß. Sie protestierte, als Sabine Baum darauf bestand, mit der Äbtissin zu sprechen. Es sei die Zeit der Rekreation, erklärte sie, die Freizeit der Schwestern. Doch am Ende gab sie nach und holte die ehrwürdige Mutter aus dem Gemeinschaftsraum.

Wenige Minuten später stand Schwester Lioba vor ihr und musterte sie grimmig. Die Oberkommissarin entschuldigte sich für die Störung um diese Zeit.

»Die Rekreation ist neben den gemeinsamen Mahlzeiten die einzige Zeit des Tages, die wir nutzen können, um das soziale Gefüge der Gemeinschaft zu pflegen«, erklärte die Äbtissin. Sie stand aufrecht in der Eingangstür des Klosters.

»Es tut mir leid«, wiederholte Baum gelassen. »Aber wenn wir ein schweres Verbrechen aufklären, befinden wir uns im Ausnahmezustand und arbeiten durch. Je mehr Zeit nach einer Tat vergangen ist, desto geringer die Chance, dass wir den Täter zu fassen kriegen.«

Schwester Lioba nickte. »Kommen Sie mit in mein Büro«, sagte sie und wandte sich um.

Baum folgte ihr. Sie musste sich beeilen, damit der Abstand zwischen ihnen nicht zu groß wurde. Sie fand, im Dämmerlicht wirkte das alte Gebäude, als hätte es das Mittelalter gerade erst hinter sich gelassen. Die Steinfliesen auf dem Boden waren ausgetreten. Die dicken Mauern strahlten noch die Kälte des Winters aus, und die Oberkommissarin war sicher, dass sie die Wärme langer Sonnentage ebenso speicherten. Schwester Lioba blieb vor ihrem Büro sehen.

»Kommen Sie«, sagte sie, und ihre Stimme klang warm.

Baum glaubte zu spüren, warum diese Frau zur Oberin gewählt worden war, obwohl sie noch sehr jung wirkte.

Das Gewand der Ordensfrau raschelte, als die Äbtissin den schweren Schreibtisch umrundete und sich setzte. Gelassen wartete sie, bis Baum ihr gegenüber Platz genommen hatte.

»Sie haben sich vor zwei Wochen mit Miriam Schürmann gestritten«, begann die Oberkommissarin das Gespräch. »Warum?«

Schwester Lioba zog die rechte Augenbraue hoch. Sie schwieg.

»Wir haben die Aussage einer Ihrer Mitschwestern, die alles gehört hat«, sagte Baum. »Sie ist im Übrigen nicht die Einzige. Auch andere Schwestern haben berichtet, dass sie einen Streit mitbekommen haben.«

Schwester Lioba neigte den Kopf. Das Licht der Deckenlampe warf einen Schatten weit über ihr Gesicht. »Ich pflege mich nicht öffentlich zu streiten«, sagte die Äbtissin ausweichend.

»Nicht öffentlich«, erwiderte Baum ruhig. »Sie waren mit Miriam Schürmann hier in Ihrem Büro. Ihr Streit war so laut, dass es draußen auf dem Hof zu hören war.«

Wie zur Bestätigung trug der Nachtwind den Geruch feuchter Erde ins Zimmer. Die Oberkommissarin warf einen Blick zum Fenster. Trotz kühler Temperaturen war es gekippt.

»Ich weiß nicht, wann das gewesen sein soll«, erwiderte Schwester Lioba. Ihre Stimme klang weich.

»Haben Sie oft mit Ihrer ehemaligen Schulkameradin gestritten?«, fragte die Oberkommissarin. Sie blickte der Äbtissin ins Gesicht, musterte ihre Augen, die dunkel waren und nichts verrieten.

Schwester Lioba lehnte sich zurück. Ihr Gesicht lag nun im Licht.

»Nein«, sagte sie ruhig, »das habe ich nicht. Aber es ist mir natürlich unangenehm, wenn gleich mehrere der Schwestern eine so persönliche Situation mithören konnten.«

Baum runzelte die Stirn. »Was war der Anlass?«

»Ach wissen Sie«, die Äbtissin seufzte vernehmlich, »die ganze Situation war mir so unangenehm, dass ich schon nicht mehr weiß, worum es eigentlich ging. Ich weiß nur, dass ich es so schnell wie möglich vergessen wollte.«

»Das scheint Ihnen gelungen«, erwiderte Baum gedehnt.

Schwester Lioba nickte und lächelte freundlich. Baum schwieg. Sie musterte die Hände der Äbtissin, die gefaltet auf dem Schreibtisch lagen. Weit entfernt war ein startender Motor zu hören.

»Haben Sie noch weitere Fragen an mich?«, fragte Schwester Lioba leichthin. »Ansonsten würde ich gern zu meinen Mitschwestern zurückkehren.«

Die Oberkommissarin schwieg und hielt den Blick der Ordensfrau fest. Sie glaubte, Ärger darin zu sehen und noch etwas anderes, das sie nicht zuordnen konnte. »Wenn Ihnen wieder einfällt, warum Sie gestritten haben, dann sagen Sie es mir bitte«, erwiderte Baum schließlich.

Die Glut des Bösen: Kriminalroman
titlepage.xhtml
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_000.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_001.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_002.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_003.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_004.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_005.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_006.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_007.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_008.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_009.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_010.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_011.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_012.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_013.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_014.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_015.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_016.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_017.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_018.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_019.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_020.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_021.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_022.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_023.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_024.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_025.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_026.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_027.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_028.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_029.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_030.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_031.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_032.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_033.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_034.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_035.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_036.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_037.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_038.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_039.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_040.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_041.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_042.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_043.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_044.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_045.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_046.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_047.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_048.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_049.html