5. Kapitel

 
 

Auch ist der Wind in ihren Lenden mehr feuriger wie luftiger Art. Ihm unterstehen zwei kleine Behälter, in die er hineinbläst wie in einen Blasebalg. Diese beiden Behälter umgeben den Stamm aller männlichen Kraft und helfen ihm geradeso wie kleine, neben einem Turm errichtete Bollwerke, die diesen verteidigen. Es sind deswegen zwei, damit sie desto wirkungsvoller jenen eben erwähnten Stamm umgeben, festigen und halten und mit um so größerem Nachdruck und in möglichst geeigneter Weise den vorgenannten Windhauch aufnehmen, an sich ziehen und ihn ebenmäßig wieder ausgeben, wie zwei Blasebälge, die gleichmäßig in das Feuer blasen. Wenn sie dann diesen Stamm in seiner Kraft aufrichten, halten sie ihn kräftig fest, und auf diese Weise grünt der Stamm in seiner Nachkommenschaft.

 

Von irgendwoher wehten auf- und abschwellende Stimmen. Emma glaubte eine Frauenstimme zu hören, die vorsang, dann fielen andere Frauenstimmen ein.

»Die Schwestern halten ihr Mittagsgebet«, sagte der Mann vom Klosterhof. Er war vorausgegangen in das Nebengebäude, vor dem Emma ihn das erste Mal gesehen hatte. Auf einem Schild an der grobgefügten Mauer war zu lesen, dass es sich um das Gästehaus handelte.

»Sie hätten einfach zugesehen, wie die Katze überfahren wird, nicht wahr?«, stellte Emma fest.

»Jeder Mensch ist für seine eigenen Handlungen verantwortlich«, erwiderte er leichthin. »Sie können nicht verlangen, dass ich etwas tue, das Sie eigentlich von sich selber erwarten.«

Emma verbiss sich eine scharfe Bemerkung und folgte ihm. Der Mann hatte gegenüber dem Beamten einfach so getan, als ob sie zu ihm gehörte. Ein älterer, erfahrener Kollege hätte sie niemals gehen lassen. Doch das bestimmte und freundliche Auftreten des Mannes verunsicherte den jungen Beamten. Emma war sich nicht sicher, was er von ihr wollte. Aber sie hoffte, von ihm mehr über die Tote und den Mord zu erfahren.

»Es war doch Ihre Entscheidung, der kleinen Kreatur zu helfen, oder nicht?«, fragte er und lächelte. Emma musterte ihn nachdenklich. Er hatte freundliche Augen, fand sie.

»Sie wäre sonst in ihre Einzelteile zerlegt worden«, erwiderte sie.

»Nein, das glaube ich nicht«, sagte er. »Es wäre ein Ausweg für sie gefunden worden. So oder so.«

Im dunklen Gang blieb er vor einer der Zimmertüren stehen. Er zog einen Plastikchip aus der hinteren Tasche seiner Hose aus grobem Cord und hielt ihn vor einen silbernen Kasten. Eine kleine Kontrolllampe wechselte die Farbe, und ein metallisches Klacken war zu hören. Der Mann griff nach dem Knauf, stieß die Tür auf und trat einen Schritt zurück. Emma ging voran in einen Raum, in dem ein Bett, ein Schreibtisch und ein Schrank aus billigem Kiefernholz standen. Die Möbel waren links und rechts an den Wänden aufgereiht, die wie in einem Tunnel auf ein tiefliegendes Fenster zustrebten. Emma trat an die Brüstung und spürte, wie sich beim Anblick des Rheintals ihre Brust weitete. Sie blickte auf windgepeitschtes Wasser und kahle Weinberge, die von Mauern durchzogen bis dicht unter die bewaldete Kuppe verliefen. Auf halber Höhe stach die mittelalterliche Burgruine Ehrenfels ihre Türme in den bewölkten Himmel.

»Markus Hertl«, sagte er hinter ihrem Rücken mit warmer Stimme.

Emma spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufrichteten.

»Emma Prinz«, erwiderte sie. Ihr Blick wanderte hinunter an den Fuß des Gästehauses. Dort war ein Kräutergarten mit geometrischen Beeten zu sehen, auf dem einige Sträucher und Büsche bereits dem Frühling entgegenwuchsen.

Emma wandte sich um. »Sie glauben also, dass ich ganz umsonst auf die Knie gegangen bin.«

Hertl stand noch immer neben der Tür und musterte sie ernst. »Nein, das wollte ich damit nicht sagen«, erwiderte er und setzte sich auf das Bett. Mit ausgestrecktem Arm wies er auf den Holzstuhl vor dem schmalen Tisch. Er war neben dem Bett die einzige Sitzgelegenheit im Zimmer.

»Es tut mir leid, ich wollte Sie nicht in eine unangenehme Situation bringen. Das war nicht meine Absicht.«

Emma erwiderte seinen Blick und musterte ihn kritisch. Der Kerl wirkte sympathisch und hatte einen freundlichen Blick. Wenn sie ihm auf der Straße begegnet wäre, hätte sie ihm nicht misstraut.

»Und warum haben Sie gegenüber dem Polizisten behauptet, Sie kennen mich?«, fragte sie weiter und hatte auf einmal das Gefühl, undankbar zu sein. Der Mann hatte sie schließlich aus einer ziemlich unangenehmen Situation befreit.

»Intuition.« Hertl legte seinen Kopf schief und sah sie mit einem Lächeln an. »Ich hatte eigentlich das Gefühl, dass es Ihnen recht ist.«

Emma zögerte. Dann erwiderte sie sein Lächeln.

»War es auch«, sagte sie und stieß sich vom Fensterbrett ab. »Ich danke Ihnen.« Vor dem Tisch ließ sie sich auf den harten Sitz fallen.

»Sie sind Gast im Kloster?«

Er nickte.

»Haben Sie etwas von dem Mord mitbekommen?«, fragte Emma vorsichtig.

»Sind Sie Journalistin?«, fragte er zurück.

Emma zögerte. »Ja«, erwiderte sie schließlich.

»Wie haben Sie es geschafft, an der Polizei vorbei in die Kirche zu kommen?«

Emma hob die Augenbrauen und neigte leicht den Kopf.

»Sind Sie eine von diesen Sensationsreporterinnen?«, fragte er. Sein Blick ruhte neugierig auf ihr.

»Ich bin Journalistin«, sagte Emma abwehrend. »Ohne Presse keine Berichterstattung und ohne Berichterstattung keine Öffentlichkeit für Vergehen, egal ob politisch oder menschlich motiviert.«

Hertl musterte sie interessiert und sah aus, als wolle er etwas erwidern. Doch er schwieg.

»Und was hat Sie hierhergeführt?«, fragte Emma.

»Gestern wurde die neue Äbtissin dieses Klosters geweiht«, antwortete er. »Ich bin mit ihr vor vielen Jahren zur Schule gegangen. Sie hat mich zu ihrer Weihe eingeladen.«

»Ich habe das Grab der verstorbenen Äbtissin gesehen«, sagte Emma. »Wie kommt man zu so einem Posten? Ist sie die Älteste hier?«

Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. Sofort war ihr klar, warum. Wenn die neue Äbtissin eine Schulkameradin von ihm war, konnte sie nicht so alt sein. Dämliche Frage.

»Nein, das ist sie nicht«, sagte er. »Wenn die Äbtissin sich ihren Aufgaben nicht mehr gewachsen fühlt, tritt sie ab. In manchen Konventen ist die Amtszeit einer Äbtissin auf eine gewisse Anzahl von Jahren begrenzt. Oder, wie in diesem Fall, eine Äbtissin kann auch plötzlich sterben. Eine Nachfolgerin für sie wird dann unter allen Schwestern im Konvent gewählt. Ganz demokratisch.«

So einfach. Emma sah ihn skeptisch an.

»Nur dass noch in derselben Nacht eine andere Schwester sterben muss. Nicht ganz so demokratisch.«

»Da täuschen Sie sich«, erwiderte er kühl und stand auf. Emma hatte das Gefühl, ihm zu nahe getreten zu sein. »Die Tote war keine Schwester aus dem Orden. Sie war eine Besucherin, genau wie ich. Ebenfalls eine Klassenkameradin der Äbtissin.«

»Und also eine ehemalige Klassenkameradin von Ihnen.« Das Gespräch nahm eine interessante Wendung. Emma glaubte Abwehr in dem Blick des Mannes zu lesen. »Es ist das Kloster der Hildegard von Bingen«, sprach sie schnell weiter.

Hertl fuhr sich über die Augen und verharrte für einen Moment. Dann setzte er sich wieder.

»Was wissen Sie über Hildegard?«, fragte er.

»Mein Vater leitet eine Hildegard-von-Bingen-Schule, aber viel mehr als ihr Name ist nicht hängengeblieben.«

Hertl runzelte die Stirn.

»Es gibt viele Schulen, die nach ihr benannt wurden«, erwiderte er zögernd und musterte sie durchdringend. »Hildegard von Bingen wurde 1098 in Bermersheim vor der Höhe geboren«, fuhr er dann fort. »In ihrem achten Lebensjahr haben sie ihre Eltern mit der sechs Jahre älteren Jutta von Sponheim in religiöse Erziehung gegeben. Sie wurde für das Klosterleben bestimmt, weil sie das zehnte Kind ihrer Familie war und ihr Leben der Kirche widmen sollte.«

»Was hat das damit zu tun, dass sie das zehnte Kind war?«, fragte Emma verblüfft.

»Die Kirche hatte das Recht auf den Zehnten, eine Art Steuer, die Gläubige von der Ernte und anderen Erträgen abgeben mussten. Manche Familien bezogen das auch auf ihre Kinder.« Hertl sah sie abwartend an. Emma nickte.

»Später wurde Jutta von Sponheim zu ihrer Lehrmeisterin. Die beiden wurden 1112 gemeinsam mit einem weiteren Mädchen in einer Klause auf dem Disibodenberg eingemauert. Das war zu der Zeit ein Benediktinerkloster in der Nähe von Bad Sobernheim.«

»Ach wie schick«, erwiderte Emma. »Eingemauert. Keine Chance, abzuhauen.«

»Das war damals gar nicht so unüblich«, erwiderte Hertl. »Außerdem blieb das nicht so. Später ist die Klause zu einem richtigen Kloster angewachsen. Jutta von Sponheim hat es geleitet.«

»Also lebenslänglich.«

»Es war ihr Leben«, betonte Hertl. Es schien ihm ernst zu sein. »Als Jutta von Sponheim starb, ist Hildegard von Bingen zur Lehrmeisterin des Konvents gewählt worden. Das war im Jahr 1136, da war sie gerade mal 38 Jahre alt.«

»Also damals schon alles ganz demokratisch«, sagte sie.

»Ja«, sagte er spöttisch. »Das passt so gar nicht ins Feindbild, demokratische Strukturen in der Kirche.«

Ein freundliches Lächeln glitt über sein Gesicht, als wolle er seiner Stimme die Schärfe des Spotts nehmen. »Sie war die erste Frau, die öffentlich die Bibel auslegen durfte. Das war Jahrhunderte zuvor und auch Jahrhunderte danach einzigartig und skandalös. Dazu brauchte sie sogar die Erlaubnis des Papstes, da es den Frauen damals verboten war, zu predigen und zu schreiben.«

Entfernt war noch immer leiser Gesang zu hören.

»Und wie hat sie das geschafft?«, fragte Emma. Sie erinnerte sich vage, dass sie gehört hatte, Hildegard von Bingen sei vielen Feministinnen ein Vorbild.

»Sie hat sich an mehrere Kirchenoberen gewandt und um ihre Zustimmung gebeten. Später sind Teile ihres Buchs auf einem Kirchentreffen in Trier öffentlich vorgelesen worden. Das war 1147. Die hohen Herren waren so beeindruckt, dass der damalige Papst, Eugen der Dritte, ihr höchstpersönlich und ganz offiziell erlaubt hat zu schreiben.«

»Und wieso hat er das getan?«, fragte Emma interessiert.

»Weil sie nicht einfach nur notiert hat, was sie beschäftigte oder was sie in der Bibel zu lesen glaubte«, erwiderte Hertl. Sein Blick glitt an ihr ab und verlor sich im Rheintal. Dann kehrte seine Aufmerksamkeit wieder zu Emma zurück. »Sie hatte Erkenntnisse in Form von Bildern, die ihr von Gott eingegeben wurden und die ihr geholfen haben, vieles von dem, was in der Bibel steht, zu verstehen. In ihren Visionen hat Gott selber sie dazu aufgefordert, alles niederzuschreiben. Der Papst hat ihr geglaubt und es deshalb für sehr wichtig gehalten, dass sie ihr Buch schreibt und darin alles festhält, was sie in ihren Visionen von Gott erfahren hat.«

»Geschickt eingefädelt von ihr«, sagte Emma, ehrlich beeindruckt. »Warum hat der Papst ihr geglaubt? Gerade ihr, einer Frau?«

»Damals war es nicht so selten, dass Prediger und Heilige Visionen hatten und anhand der Visionen erklärt haben, wie sie die Welt und auch Gott sehen«, sprach Hertl weiter. »Es gab also genug männliche Vorbilder. Das beste Beispiel ist das Evangelium des Johannes im Neuen Testament. Darin erinnern viele Stellen an das, was später Hildegard von Bingen geschrieben hat. Vielleicht hat der Papst ihr gerade deshalb geglaubt und sie unterstützt.«

Der Gesang draußen ebbte ab. Türen klappten, dann wurde es still.

»Warum Visionen? Warum damals und heute nicht mehr? War das eine Mode? Eine Zeiterscheinung?«, fragte Emma.

Hertl zuckte die Achseln.

»Bis heute wird die Geschichte des Christentums begleitet von Visionären, Männern wie Frauen«, erwiderte er. »Aber was man damals noch als von Gott gegeben verstanden hat, würde man heute nicht mehr so bezeichnen. Heute werden Visionen als Erkenntnisse interpretiert, die aus der Hinwendung zu Gott geboren werden.«

»Also sind Visionen letztlich nichts anderes als sprachliche Formeln, um der eigenen Meinung Ausdruck zu verleihen. Oder der Versuch, seinen Erkenntnissen mehr Gewicht zu geben«, sagte Emma nachdenklich.

»Ihre Visionen wurden auch schon als die Folge von Migräneattacken interpretiert«, sagte Hertl und lachte. Dann wurde er wieder ernst. »Ich habe die Visionen Hildegards von Bingen nie in Zweifel gezogen. Sie klingen echt. Und ehrlich. Aus tiefstem Herzen empfunden.«

Emma spürte, dass Hertl dieser Frau mehr entgegenbrachte als Neugier. Bewunderung vielleicht. Oder sogar Verehrung.

»Hatten Sie noch nie das Gefühl, zum Beispiel beim Anblick eines Sonnenuntergangs oder einer fantastischen Aussicht, dass es etwas darüber hinaus gibt?«, fragte er und lehnte sich vor. Er hielt ihren Blick fest und schien förmlich in ihre Augen einzutauchen. »Dass es mehr gibt als ihre Gedanken, ihre Gefühle, ihren Körper? Haben Sie nie diese Liebe erfahren, die sie förmlich überschwemmt und die ihre Seele nach etwas anderem suchen lässt, was es mit diesem überwältigenden Gefühl lieben kann? Einen Gott?«

»Ein Mensch würde mir schon genügen«, sagte Emma und bereute ihren Satz im selben Moment. Doch Hertl schien die Bitterkeit zu ignorieren, die in ihrer Stimme lag.

Er erwiderte eindringlich: »Eine Liebe, die zu groß ist für einen Menschen, wie ein überdimensionierter Schuh, in den ein Menschenfuß nie passen würde. Eine Liebe, die nach etwas anderem hungert als nach einem Menschen.«

Emma starrte ihn an. Sie erschauerte und zwang sich, den Blick auf das Fenster zu richten. Wieder überkam sie beim Anblick des Rheintals ein Gefühl der Weite. Die Sonne fiel in leuchtenden Strahlen durch hoch aufgetürmte Wolken, streute sanftes Licht über die geschwungenen Hänge und legte sich wie ein goldener Schleier auf das Wasser. Ärgerlich zog Emma die Stirn in Falten und wandte sich erneut Hertl zu, der ihrem Blick gefolgt war und sie nun erwartungsvoll ansah.

»Warum hat Hildegard das Kloster Rupertsberg gegründet?«, fragte Emma. »Warum ist sie nicht auf dem Disibodenberg geblieben?«

Hertl lehnte sich zurück. Er wirkte enttäuscht.

»Sie hat 1141 begonnen zu schreiben. Etwa zehn Jahre später hat sie ihr erstes Buch beendet. Es hat den Titel ›Scivias‹, zu deutsch ›Wisse die Wege‹. Das wird als Kurzform von ›Scivias Domini – Wisse die Wege des Herrn‹ interpretiert. Doch schon vor der Veröffentlichung war Hildegard eine Berühmtheit. Viele adlige Familien haben ihre Töchter zu ihr ins Kloster gebracht, am Ende platzte der Konvent aus allen Nähten. Zu dem Zeitpunkt war sie ja immer noch dem Abt des Disibodenbergs unterstellt, des Männerklosters, zu dem sie gehörten.«

»Wieso Männerkloster? Ich dachte, es herrschte strikter Zölibat.«

»Es gab im 12. Jahrhundert viele Klagen über den Zerfall der Sitten und den sündigen Lebenswandel der Priester«, fuhr Hertl fort. »Gleichzeitig entstanden nach und nach Frauenklöster, die aus rein praktischen Gründen oft einem Männerkonvent angeschlossen wurden. Darin blieben Männer und Frauen streng getrennt. Es gab natürlich auch Doppelklöster, in denen die Trennung nur nach außen hin bestand. Aber diese Mönche und Nonnen lebten genauso jenseits der Kirchenregeln wie sündige Priester.«

Er beugte sich nach vorne. Die Intensität seines Blicks machte sie nervös. Hastig stand sie auf.

»Das führte dazu, dass im Jahr 1022 die Ehelosigkeit für Priester zur Pflicht wurde«, sprach Hertl weiter. »Auch Doppelklöster waren vielen Anfeindungen und Verdächtigungen ausgesetzt und wurden im 13. Jahrhundert ganz aufgegeben.«

»Und so hat auch Hildegard von Bingen auf dem Rupertsberg ihr eigenes Kloster gegründet.« Emma trat ans Fenster und sah hinunter auf den Rhein. Sie versuchte sich vorzustellen, was die Ordensfrau hierhergezogen hatte.

»Na ja«, sagte er zögernd, »ich glaube nicht, dass die Einhaltung des Zölibats irgendwas mit der Entscheidung Hildegards von Bingen zu tun hatte. Nach allem, was man von ihr weiß, ist es ihr auf dem Disibodenberg schlicht zu eng geworden. Vielleicht in mehrerlei Hinsicht.«

Schräg unterhalb von Emma war ein Geräusch zu hören. Es klang, als ob eine Tür geöffnet wurde. Eine Frau in schwarzen langen Gewändern und einem Schleier trat in den Garten. Ihr Gesicht war offen und freundlich, doch sie wirkte besorgt. Ihr folgte ein übergewichtiger Mann in schwarzem Anzug und hochgeschlossenem Hemd. Sein Blick war finster, und um seinen Mund lag ein unangenehmer Zug.

»Der Abt des Disibodenbergs hat sehr von der Aufmerksamkeit für die berühmte Frau profitiert und natürlich von den Schenkungen, die das Kloster wegen ihr bekommen hat«, sagte Hertl. »Er hatte nicht das geringste Interesse daran, dass sie ging.«

Emma beobachtete, wie die Frau auf den Mann einredete. Sie wirkte ziemlich aufgebracht, und dem Mann schien nicht zu gefallen, was sie sagte. Ein silbernes Kreuz hing an einer langen Kette bis auf ihre Brust und tanzte bei ihren Worten wild umher, bis sie es mit ihrer Rechten einfing und festhielt.

»Warum hat er Hildegard dann gehen lassen?«, fragte Emma. »Wenn sie ihm unterstellt war, hätte er es ihr doch einfach verbieten können.«

Hertl lachte. »Tja, wenn das so einfach gewesen wäre. Er hat es offensichtlich versucht, aber sie hat sich am Ende durchgesetzt. Erst etliche Jahre, nachdem sie schon längst ihr eigenes Kloster gebaut hatte und dort lebte, war der Abt bereit, die entsprechenden Urkunden zu unterschreiben.«

Emma warf einen Blick in den Garten. Nun schwieg die Ordensschwester, und der Mann sprach. Er gestikulierte nicht ganz so aufgebracht wie sie, doch auch er wirkte angespannt. Der besorgte Zug im Gesicht der Ordensfrau hatte sich verstärkt.

»Und wie hat sie das geschafft?«, fragte sie rasch und sah zu Hertl. Er war aufgestanden und trat neben sie. Nachdenklich betrachtete er die Szene im Garten.

»Das ist die Äbtissin des Klosters«, sagte er. »Schwester Lioba.«

»Ihre ehemalige Klassenkameradin?«

Hertl nickte.

»Und der Mann?«

»Er heißt Josef Windisch. Auch er ging mit uns in eine Klasse. Er ist Pfarrer geworden und macht gerade Karriere.«

»In der Kirche?«, fragte Emma skeptisch.

Hertl warf ihr einen belustigten Blick zu. Dann kehrte er zum Bett zurück und setzte sich.

»Hildegard von Bingen hat gestreikt«, nahm er unvermittelt das Gespräch wieder auf. »Vielleicht der erste Streik der Kirchengeschichte. Sie hat jedenfalls in ihrer Autobiografie geschrieben, dass ihr in einer Vision verboten wurde, auf dem Disibodenberg weiterhin über ihre Visionen zu schreiben. Sie legte sich krank vor Kummer ins Bett. Doch zuvor informierte sie noch eine adlige Gönnerin. Die hat sich wiederum beim Mainzer Bischof für sie eingesetzt, der am Ende den Abt dazu verdonnert hat, Hildegard und ihre Nonnen ziehen zu lassen. Danach wurde Hildegard wieder gesund. Sie scharte ihre Mitschwestern um sich, zog nach Bingen und baute auf dem Rupertsberg mit eigenen Händen das neue Kloster.«

»Warum ausgerechnet hier?«

Im Garten schien das Gespräch beendet zu sein. Emma glaubte eine steile Falte zwischen den Augen der Ordensschwester zu erkennen, ihre Lippen waren aufeinandergepresst, als hätte sie soeben für den Rest ihres Lebens ein Schweigegelübde abgelegt. Der Blick, den sie dem finster dreinblickenden Mann zuwarf, war alles andere als freundlich. Dann gingen beide Richtung Gebäude, bis sie schließlich aus Emmas Blickfeld verschwanden.

»Hildegard behauptete, in einer Vision hätte sie erfahren, dass das neue Kloster dort stehen sollte, wo der heilige Rupert von Bingen etliche Jahre zuvor seine Kirche gebaut hatte.«

Emma sah hinunter auf den Rhein, wo Lastkähne durch das Wasser pflügten.

»Praktischerweise ist das Rhein-Nahe-Eck ein Knotenpunkt, wo sich schon damals die Handels- und Verkehrswege kreuzten«, sagte Emma.

»So ist es«, erwiderte er. »Hier kamen Kaufleute und Gelehrte vorbei, wenn sie von Ost nach West und von Nord nach Süd reisten. Hier konnte Hildegard von Bingen leichter als auf dem Disibodenberg Besuch empfangen und auch einfacher auf Reisen gehen.«

»Eine Vision«, sagte Emma und schmunzelte. »Wie geschickt, immer zum richtigen Zeitpunkt die richtige Ansage. Sie muss ein sehr strategisch denkender Mensch gewesen sein.«

Hertl erhob sich ruckartig. Sein Gesicht wirkte verschlossen.

»Es ist doch auffallend, dass Hildegard von Bingen in den Visionen genau das sieht, was ihren eigenen Wünschen entspricht«, verteidigte sich Emma.

Er musterte sie kühl. »Oder sie hat das zu ihren Wünschen gemacht, was ihr in Visionen offenbart wurde«, erwiderte er. Dann ging er zur Tür und öffnete sie.

Emma ärgerte sich über ihr loses Mundwerk. Sie war es nicht gewohnt, mit Menschen zu sprechen, bei denen lockere Sprüche über wichtige Persönlichkeiten der Kirchengeschichte nicht gut ankamen. Ihre Eltern hatten sich keiner Religion verpflichtet gefühlt. So war sie nie getauft worden, und ihre einzigen Erfahrungen mit der Kirche beschränkten sich auf wenige Gottesdienste, die sie gemeinsam mit ihrer Großmutter besucht hatte.

»Es tut mir leid«, sagte sie schnell. »Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten oder gegenüber einer Kirchenfrau respektlos sein. Ich bin es schon von Berufs wegen gewohnt, zunächst mal alles zu hinterfragen und zu analysieren.«

Emma war sich nicht sicher, ob die Entschuldigung bei Hertl ankam. Sein Mund wirkte noch immer freundlich, doch seine Augen blieben ernst.

»Ich denke«, sagte er langsam, »es sollte inzwischen kein Problem sein, unbehelligt über den Klosterhof nach draußen zu gelangen. Ich begleite Sie.«

Er trat zur Seite und gab ihr den Weg frei. Emma erhob sich, dann blieb sie zögernd stehen.

»Ich...«, begann sie. Als sie in seine Augen sah, merkte sie, dass es ein Fehler gewesen war, ihn an ihren Beruf zu erinnern. Der Blick, den er ihr zuwarf, war von tiefem Misstrauen geprägt.

Die Glut des Bösen: Kriminalroman
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