14. Kapitel

 
 

So auch erhebt sich beim Manne zuweilen das Lustgefühl und sinkt dann wieder herab, weil, wenn es ohne Aufhören in ihm brennen würde, der Mann es nicht aushalten könnte.

 

Emma war lange nicht mehr im Kloster Altdorf gewesen. Sie schlenderte über den Schulhof und betrat das Gebäude, das sie immer an ein altes Gericht erinnerte. Der Sekretär ihres Vaters, der am liebsten als Elvis Presley auf die Welt gekommen wäre und wie immer einen Anzug im Retro-Look trug, teilte ihr mit betrübter Miene mit, dass die Besprechung ihres Vaters noch eine halbe Stunde dauern könnte. Ihr Vater ließe ihr ausrichten, er würde sich freuen, wenn sie warten könnte.

Emma kehrte zurück auf den Schulhof, der verlassen in der Frühlingssonne lag. Sie beschloss, der Abteikirche einen Besuch abzustatten, und erreichte über die an der Rückseite der Schule gelegene Treppe den Klosterhof. Vom Tor des Klosters war die Abteikirche über einen geschotterten Weg zu erreichen. Er führte durch einen sorgfältig gestutzten Rasen, den eine niedrige Mauer vom steil abfallenden Hang trennte. Auf der gegenüberliegenden Talseite zog sich dichter Wald bis hinauf zum Königstuhl. Emma verließ den Weg und ging vor bis zur Mauer. Sie stützte beide Hände auf und ließ ihren Blick über das Neckartal und die unten sich dahinziehende Autokarawane gleiten.

Dann drehte Emma sich um und ließ sich gegen die kalten Steine fallen. Vor ihr lag das Kloster mit den Privatzimmern der Schwestern im oberen Stockwerk. Emma spürte ihre Nervosität und fragte sich, was ihr Vater wohl sagen würde. Gab es tatsächlich ein Rätsel?

Ihr Blick blieb an einer gebeugten Gestalt hängen, eine Ordensschwester, die mit energischen Schritten die Schultreppe hinuntereilte und am Kloster vorbei in den kärglichen Vorgarten strebte. Nur wenige Meter von Emma entfernt, bückte sie sich und zupfte Unkraut aus einem kleinen Blumenbeet, in dem die ersten Osterglocken bereits blühten. Ihr Körper war schmächtig und wirkte zäh. Sie musste weit über siebzig Jahre alt sein, doch kein Schmerz schien ihre Bewegungen zu beeinträchtigen.

Die Schwester lockerte mit bloßen Händen den Boden des Beetes, glättete die Erde wieder und richtete sich vorsichtig wieder auf. Dann zog sie ein großes Taschentuch aus den Falten ihres Habits und wischte sich die Hände. Sie kehrte zurück auf den Weg, der zur Abteikirche führte. Als sie bei Emma vorbeikam, warf sie ihr einen freundlichen Blick zu. »Emma?«, fragte sie und strahlte. Sie hatte leuchtend blaue Augen, umgeben von einem Kranz feiner Fältchen.

Emma erwiderte ihr Lächeln und suchte hektisch in ihrem Gedächtnis nach einer Erinnerung. Nichts.

»Emma Prinz!« Die Ordensschwester trat freudestrahlend auf sie zu.

Emma stieß sich von der Klostermauer ab und nahm die ihr gebotene Hand. Die Frage musste ihr förmlich im Gesicht gestanden haben, denn die Ordensschwester sprach sogleich weiter.

»Ich bin Schwester Maria, wahrscheinlich erinnerst du dich nicht, aber wenn ihr euren Vater besucht habt, kamst du immer zu mir in den Garten, um einen Apfel zu bekommen.«

Emma lachte und gab zerknirscht zu, dass sie sich zwar an die leckeren Äpfel erinnerte, aber nicht an das Gesicht der Schwester.

»Du besuchst deinen Vater«, stellte Schwester Maria lächelnd fest. »Das hast du schon lange nicht mehr, oder zumindest habe ich dich schon lange nicht mehr hier gesehen.«

»Das stimmt«, erwiderte Emma, »ich bin schon lange nicht mehr hier gewesen. Mein Vater hat erst in einer halben Stunde Zeit für mich, deshalb habe ich mich noch ein wenig umgesehen.«

»Leider die falsche Jahreszeit für Äpfel«, erklärte Schwester Maria schmunzelnd. »Aber wenn du ein wenig Zeit hast, dann magst du vielleicht trotzdem mit mir der Obstwiese einen Besuch abstatten.«

Emma war froh über die Ablenkung und schlenderte gemeinsam mit der Gartenschwester am Kloster vorbei in den größeren Garten dahinter. Schwester Maria erzählte vom Ziergarten, den Kräutern und dem Gemüse im Nutzgarten. Dann erreichten sie die angrenzende Streuobstwiese. Schwester Maria zeigte ihr lachend den Baum, dessen Äpfel damals so süß gewesen waren, dass Emma davon nicht genug bekommen konnte.

»Dein Vater freut sich bestimmt, dass du ihn mal wieder besuchst«, sagte Schwester Maria freundlich.

Als Emma mit einer Antwort zögerte, wirkte sie überrascht.

»Ist was passiert?«, fragte sie und legte ihr Gesicht in besorgte Falten.

»Ich wollte mit ihm über den Mönch sprechen, der vor etwa zwanzig Jahren hier Selbstmord begangen hat.«

»Bruder Benedikt«, erwiderte Schwester Maria und nickte.

»Ja, so hieß er.« Emma betrachtete einen Baum, an dessen Zweigspitzen sich winzige grüne Blätter entrollten.

»Er hat Biologie unterrichtet«, erwiderte Schwester Maria. »Bruder Benedikt war ein wirklich guter Lehrer und konnte den Schülern viel vermitteln. Es ist sehr bedauerlich, dass sein Leben ein so plötzliches Ende genommen hat.«

»Mein Vater hat erzählt, niemand weiß, warum er das getan hat«, sagte Emma.

»Da hinten stehen unsere Äpfel- und Kirschbäume«, sagte Schwester Maria. »Sieh mal, da sind schon die ersten zarten Knospen zu sehen. In spätestens zwei Wochen steht hier alles in Blüte.«

Sie überquerte die Streuobstwiese und steuerte auf eine Bank zu, die im Schatten eines windschiefen Baumes stand. Die Rinde war moosbewachsen; knorrige Äste ragten in alle Himmelsrichtungen.

»Der alte Apfelbaum trägt schon seit Jahren nicht mehr«, sagte Schwester Maria lächelnd und setzte sich auf die verzogene Bank. »Er bekommt sozusagen sein Gnadenbrot hier auf unserer Wiese.«

Skeptisch blickte Emma zu den moosbewachsenen Ästen hinauf, die bis weit über die Bank ragten.

»Keine Sorge«, sagte Schwester Maria, »Schwester Martina schneidet jedes Frühjahr die morschen Äste ab.«

Emma setzte sich neben sie auf die Bank. Der Baum roch angenehm nach Moos und Rinde.

»Er hat mit seiner Tat eine schwere Sünde auf sich geladen«, nahm Schwester Maria unvermittelt das Gespräch wieder auf. »Ich mochte ihn und war von seinem Tod genauso überrascht wie alle anderen auch. Er hat zu dem Zeitpunkt seit zwei Jahren in unserer Schule unterrichtet und schien sich in unserem Haus ganz wohl zu fühlen.«

»Haben Sie vor seinem Tod etwas bemerkt? Gab es etwas Ungewöhnliches?«, fragte Emma.

Schwester Maria antwortete nicht gleich. Vor ihren Füßen ließ sich ein gelber Schmetterling nieder und flog wieder auf.

»Ich glaube«, begann sie zögerlich, »es gab damals ein Geheimnis, das er mit einigen seiner Schülerinnen und Schüler geteilt hat. Er hatte eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen zu Hildegard von Bingen. Dort hat er wohl Dinge erzählt, die nicht allgemein bekannt werden sollten.«

»Könnte das Geheimnis mit seinem Selbstmord zusammenhängen?«, fragte Emma.

»Ich weiß es nicht, aber es ist nicht gut, wenn ein Lehrer seinen Schülern ein Geheimnis anvertraut. Ich wünschte, er hätte mit mir darüber gesprochen. Dann wäre vielleicht alles ganz anders gekommen. Bruder Benedikt hatte mehr Kraft, als er selber glaubte.«

»Gab es vor seinem Selbstmord Anzeichen für eine solche Tat?«

»Es muss etwas vorgefallen sein«, erwiderte Schwester Maria. »Am Samstagabend im Gottesdienst saß er in der Bank neben mir. Er war wie immer, freundlich, gutgelaunt. Am Palmsonntag wirkte er wie ausgewechselt. Er war übernächtigt und hatte tiefe Ringe unter den Augen. Danach blieb er die ganze Woche in sich gekehrt. Und am Ostersonntag diese schreckliche Tat.«

In ihre Stimme hatte sich ein Zittern geschlichen. Überrascht blickte Emma sie an. Schwester Maria erwiderte ihren Blick und zwang sich zu einem Lächeln.

»Ich habe ihn gemocht«, sagte sie. »Er war zehn Jahre jünger als ich, war wie ein jüngerer Bruder. Genau wie ich hat er den Kontakt zu Gott in den Pflanzen gesucht, im Wind, bei der Sonne und in allen Kreaturen. Ich konnte ihn so gut verstehen, wenn er sich für die Natur begeisterte und versuchte, das auch seinen Schülern zu vermitteln.«

»Haben Sie eine Idee, was passiert sein könnte, in der Nacht von Samstag auf Palmsonntag?«

Auf einmal ging Emma auf, dass auch der Mord an Miriam Schürmann in der Nacht von Samstag auf Palmsonntag geschehen sein musste. Die Parallele elektrisierte und überraschte sie zugleich.

»Ich weiß nicht«, erklärte Schwester Maria, »was in dieser Nacht geschehen sein mag. Ich weiß nur, dass Bruder Benedikt etwas erlebt haben muss, was ihn sehr aufgewühlt hat.«

»Glauben Sie, dass es der Auslöser für seinen Selbstmord war?«

Schwester Maria nickte mehrfach. »Das habe ich mich immer und immer wieder gefragt. In all den Jahren. Leider ohne eine Antwort zu haben.« Schwester Maria erhob sich und machte einen Schritt zur Seite. Vor Emma blieb sie stehen und musterte sie mit einem durchdringenden Blick. »Ich glaube nicht, dass Bruder Benedikt in dieser Nacht etwas erlebt hat, das der Grund war für diese schreckliche Tat.«

Emma fiel auf, dass sie nicht von Selbstmord sprach, das Wort schien sie nicht über ihre Lippen zu bringen.

»Ich glaube«, fuhr sie fort, »dass der Grund in ihm angelegt war, seinem Wesen entsprach. Und was immer er auch in dieser Nacht erlebt hat, das war der Auslöser. Das hat dafür gesorgt, dass dieser Teil seines Wesens zum Tragen kam, dass es aus ihm herausbrach und er es nicht mehr kontrollieren konnte.«

Emma runzelte die Stirn. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wovon die alte Schwester sprach.

Schwester Maria hob den Kopf und wandte sich zum Gehen.

»Das Gebet«, sagte sie und sah zum Kloster, »die Glocken rufen zum Mittagsgebet.«

Erst da bemerkte Emma die zarten Glockentöne, die im Frühlingswind mitschwangen und mal lauter und mal leiser zu hören waren.

»Du bist Journalistin, nicht wahr?«, fragte Schwester Maria mit festerer Stimme.

»Ja«, erwiderte Emma.

Schwester Maria nickte ihr aufmunternd zu. »Es wird Zeit, dass einige Dinge geklärt werden. Egal, was dabei herauskommt. Schweigen schadet unserer Gemeinschaft und auch der Kirche. Besonders der Kirche«, bekräftigte sie und eilte über die Wiese zum Kloster zurück.

Die Glut des Bösen: Kriminalroman
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