Gleichwohl ist ihre Umarmung, die sie mit den Frauen in mäßigen Grenzen halten sollten, schmerzhaft, widerwärtig und todbringend wie die von reißenden Wölfen.
Hauptkommissar Grieser rieb sich die Augen und kämpfte gegen das Bedürfnis an zu gähnen. Als sein Vorgesetzter ihn heute Morgen aus dem Bett geholt hatte, um ihm die Leitung der Soko Hildegard zu übertragen, lagen gerade mal fünf Stunden Schlaf hinter ihm. Die Leitung hatte er nur bekommen, weil Möller im Osterurlaub war. Das war das erste Mal für ihn. Endlich konnte er zeigen, dass er mehr drauf hatte als die Sicherung eines Tatorts oder die Befragung von Zeugen.
»Ist er schon draußen, oder habe ich noch einen Moment?«, fragte Grieser und streckte sich.
»Er steht schon seit einigen Minuten im Flur, hat sich aber bisher noch nicht beschwert. Für einen Kaffee sollte es reichen«, sagte Sabine Baum.
»Bring ihn rein«, erwiderte er. Seine Kollegin zuckte die Achseln und ging hinaus. Eine halbe Minute später kam sie mit einem Mann im Schlepptau zurück, der sie um einen Kopf überragte. Genau der Typ Mann, den Frauen mochten: groß, schlank, gutaussehend. Zu allem Überfluss wirkte er auch noch freundlich und offen. Genau der Typ Mann, den Grieser nicht mochte.
»Kaffee?«, fragte er ihn statt einer Begrüßung.
Dr. Thomas Kern zog sich den Stuhl ihm gegenüber heran und nickte.
»Gern«, erwiderte er.
Grieser stand auf und ging hinüber zu dem Gerät, das auf Knopfdruck verschiedene Arten Kaffee lieferte. Er griff nach einer der Tassen und drückte die Taste für den doppelten Espresso.
»Was für einen Kaffee möchten Sie?«, fragte er und warf einen Blick über die Schulter.
»Cappuccino«, gab Kern zur Antwort und beobachtete ihn neugierig. Grieser griff nach einer weiteren Tasse und wartete, dass er die Maschine ein zweites Mal starten konnte.
»Ich nehme einen Milchkaffee«, erklang Sabine Baums Stimme hinter seinem Rücken.
Grieser brummte zustimmend. Die Maschine röchelte, und Grieser wartete darauf, dass sie die letzten Reste Milch ausspuckte. Hinter ihm stellte Sabine Baum das Aufnahmegerät an, mit dem sie die Vernehmung mitschnitten. Zuerst fragte sie die wichtigsten Daten ab: Name und Vorname, Alter, Beruf, Wohnort und Verhältnis zur Ermordeten. Dann klärte sie Thomas Kern darüber auf, dass er als Zeuge und nicht als Verdächtiger vernommen werde und dass er das Recht habe, die Aussage zu verweigern, sollte er sich damit selber belasten.
Grieser brachte Baum ihren Kaffee, den sie mit einem knappen »Danke« entgegennahm. Eine weitere Tasse stellte er vor Kern ab.
Sie saßen im Gäste-Refektorium des Klosters, dem Speisesaal für die Bewohner des Gästehauses. Der langgestreckte Raum war weiß tapeziert. Die schmale Querseite schmückte ein asketisch anmutendes Kreuz. Die Fenster verschwanden in tiefen Nischen, an deren Seitenwänden grob behauene Steine zu sehen waren. Die Einrichtung aus dunklem Holz wirkte modern.
Kern lehnte nachlässig auf einem Stuhl mit hoher Lehne und hatte eine Hand um sein Knie gelegt. Mit der anderen griff er nach dem Kaffee. Er trank einen Schluck und stellte die Tasse zurück auf den Tisch.
»Danke Ihnen«, sagte er. Sein graumeliertes Haar war exakt geschnitten und umrahmte ein ebenmäßig geformtes Gesicht, das Ruhe und Eleganz zugleich ausstrahlte. Grieser konnte ihn sich kaum in schmuddeliger und mit Blut beschmierter Kleidung vorstellen.
»Sie sind Gynäkologe?«, fragte Grieser.
Kern nickte.
»Und derzeit nur zu Besuch in Deutschland«, schob Grieser nach.
»Ich arbeite in einem kleinen Buschkrankenhaus in der Nähe von Léo in Burkina Faso«, sagte Kern. »Als Schwester Lioba mich zu ihrer Weihe als Äbtissin einlud, fand ich, das sei eine gute Gelegenheit, in Deutschland Spenden für das Krankenhaus zu sammeln.«
Grieser wusste von der Äbtissin, dass Kern das Krankenhaus vor etlichen Jahren selbst aufgebaut hatte und es nun leitete.
»Sie waren gestern im Kloster Altdorf bei Heidelberg«, sagte Grieser mit einem Blick auf seine Unterlagen, »und sind heute Morgen zurückgekehrt.«
»Ja, ich habe erst vor einer Stunde von Miriams Tod erfahren, als ich ankam.«
Sein Gesicht verschattete sich.
»Sie kannten sie schon lange«, half der Hauptkommissar nach.
»Wir sind gemeinsam zur Schule gegangen«, erwiderte Kern. »Im Internat der Abtei Altdorf. Aber das wird Ihnen Schwester Lioba gewiss schon gesagt haben.«
Grieser nickte.
»Dort waren Sie gestern?«, fragte er weiter.
»Ja«, erwiderte Kern. »Ich habe mit der Äbtissin über die Spenden gesprochen, die sie immer wieder für das Krankenhaus sammelt. Ich bin dann über Nacht geblieben.«
»Hatten Sie noch Kontakt zu Ihrer ehemaligen Klassenkameradin?«, fragte Grieser.
»Nein«, sagte Kern, und Grieser glaubte, echtes Bedauern aus seiner Stimme herauszuhören. »Obwohl wir damals sogar für kurze Zeit ein Paar waren. Aber wir haben uns nach der Schule aus den Augen verloren. Ich habe Schwester Lioba und auch die anderen an diesem Wochenende das erste Mal seit unserer Schulzeit wiedergetroffen.«
»Wann haben Sie Miriam Schürmann gestern zuletzt gesehen?«, schaltete sich jetzt Baum ein.
Grieser warf ihr einen dankbaren Blick zu. Er nutzte die kleine Erholungspause, um einen Schluck von seinem Espresso zu nehmen. Die Müdigkeit hatte inzwischen einem diffusen Gefühl von Anspannung Platz gemacht.
»Gestern Abend«, sagte Kern und drehte sich etwas, um Baum ins Gesicht blicken zu können. »Ich bin so gegen halb sieben gefahren und habe vorher mit den anderen zu Abend gegessen.«
»Mit den anderen heißt?«, fragte Sabine Baum knapp. Ihr Befragungsstil ließ es manchmal an Höflichkeit fehlen. Grieser fing ihren Blick auf und runzelte die Augenbrauen. Baum zuckte mit den Achseln.
»Miriam Schürmann, Markus Hertl und Josef Windisch«, antwortete Kern.
»Schwester Lioba war nicht dabei?«, fragte Baum weiter.
Grieser wusste bereits, dass die Ordensschwestern immer in ihrem eigenen Refektorium aßen. Das Essen der Schwestern fand schweigend statt, wie es die Regel Benedikts von Nursia forderte, dem Gründer des Benediktinerordens. Früher wurden die Mahlzeiten von einer geistlichen Lesung begleitet, inzwischen war die Bibel durch eine Tageszeitung ersetzt worden.
Kern bestätigte, was die anderen bereits ausgesagt hatten.
»Und danach sind Sie gefahren?«, fragte Grieser.
Kern warf ihm einen Blick über seine Schulter zu.
»Ja«, sagte er und nickte. »Ich und Miriam. Sie hatte beim Mittagessen erklärt, dass sie noch am gleichen Tag fahren würde.«
»Hat sie gesagt, warum?«, klinkte sich nun Baum wieder ein. Kern musterte sie schweigend. Dann wandte er sich um und suchte Griesers Blick.
»Nein«, sagte er gedehnt. »Das hat sie nicht. Das hat mich schon gewundert. Aber ich habe nicht gewagt, sie zu fragen. In dem Moment strahlte sie etwas aus, das signalisierte, es ist besser, sie in Ruhe zu lassen.«
»Denken Sie, die anderen haben das auch so wahrgenommen?«, fragte Grieser.
Kern zuckte die Achseln. »Zumindest haben sie dazu nichts weiter gesagt«, gab er zur Antwort.
»Sind Sie auf direktem Weg von Bingerbrück nach Heidelberg gefahren?«, wollte Grieser wissen.
Kern nickte. Dann schien ihm etwas einzufallen.
»Ich habe am Kiosk hier im Ort noch einen kurzen Stopp eingelegt«, sagte er und lachte. »Das Abendessen war nicht ganz nach meinem Geschmack.«
»Kann jemand bestätigen, dass Sie die Nacht im Kloster Altdorf verbracht haben?«, fragte Grieser.
Kern warf ihm einen nachdenklichen Blick zu.
»Schwester Orlanda, die Äbtissin von Altdorf. Ich habe mit ihr und zwei weiteren Schwestern des Konvents noch ein Glas Wein getrunken«, erwiderte er.
»Wo haben Sie die Nacht verbracht?«, fragte Grieser.
»Im Gästehaus des Klosters. Allein natürlich.«
»Haben Sie das Kloster an dem Abend noch mal verlassen?«, fragte Grieser.
»Schwester Orlanda hat sich so um neun Uhr verabschiedet«, erwiderte Kern. »Anschließend habe ich mich in Heidelberg mit einem alten Freund getroffen. So gegen 24 Uhr kehrte ich ins Kloster zurück. Dort habe ich direkt mein Zimmer aufgesucht und bin schlafen gegangen.«
Grieser blickte Sabine Baum fragend an. Seine Kollegin deutete mit einer fast unmerklichen Kopfbewegung ein »Nein« an. Auch sie hatte keine weiteren Fragen mehr. Grieser erkundigte sich nach Namen und Anschrift des alten Freundes, mit dem Kern sich an dem Abend getroffen hatte, und erklärte dann, dass drüben in der Einsatzzentrale das Protokoll seiner Vernehmung abgetippt werden würde und er es anschließend noch unterschreiben müsste.
»Sie sollten uns Bescheid geben, bevor Sie wieder nach Burkina Faso zurückkehren«, sagte Grieser abschließend.
»Könnte das ein Problem werden?« Zum ersten Mal klang Kerns Stimme anders. Ein Hauch von Autorität schwang darin mit. »Ich werde in etwa zwei Wochen dort zurückerwartet.«
»Vermutlich geht das in Ordnung«, sagte Grieser. »Sie sollten sich vor ihrer Abreise noch mal bei mir melden. Aber ich schätze, wir werden uns bis dahin noch ein paarmal sprechen.«
»Wird das wirklich nötig sein?«, fragte Kern.
»Ja«, erwiderte Baum knapp.
Der Friedhof grenzte unmittelbar an die Klostermauer, die zugleich eine Seitenwand der kleinen Kapelle bildete. Emma kam an einem frischen Grab vorbei. Die bedruckten Schleifen der Kränze lagen zerknittert auf der feuchten Erde. Ein hölzernes Grabkreuz verriet, dass hier Schwester Mechthild Becker begraben worden war, Äbtissin des Klosters Rupertsberg, 46. Nachfolgerin der Hildegard von Bingen, geboren 1934, gestorben 2009.
Wie ein Kloster wohl zu einer neuen Äbtissin kam? Emma nahm sich vor, das später herauszufinden. Sie ging weiter und näherte sich dem Eingang der Friedhofskapelle. Die Frau vom Kiosk schien recht zu behalten, die verzogene Tür gab ohne Probleme den Weg ins Innere frei. Emma schlüpfte hinein. Ein Geruch kam ihr entgegen, den sie überall wiedererkannt hätte, ohne dass sie sagen konnte, was es war. Weihrauch vermutlich, aber auch Kerzen, altes Gemäuer und eine gewisse, feierliche Ruhe. Ob Ehrfurcht vor einem höheren Wesen im Laufe der Jahre einen eigenen Geruch entwickelte?
Emma wartete, bis ihre Augen sich an das Zwielicht gewöhnten. Sie stand gegenüber dem Altarraum an der Schmalseite der Kapelle. Durch die weit oben liegenden Rundbogenfenster fielen Lichtstrahlen herein, die sich über die Holzbänke legten und helle Streifen auf einen geflochtenen Läufer unbestimmter Farbe malten. Es war wärmer als erwartet. Emma ging ein paar Schritte in Richtung Altar. Der Bodenläufer knirschte unter ihren Füßen. Das silberfarbene Kreuz auf dem Altar war in helles Licht getaucht. Das schmerzverzerrte Gesicht der Jesusfigur schien unter der Dornenkrone förmlich zu glühen.
Emma schätzte die christliche Leidenssymbolik nicht besonders. Doch sie mochte die kraftvolle Ausstrahlung alter Kirchen. Sie setzte sich in eine der Bänke. Die Kühle des Holzes drang durch ihre Jeans. Sie schloss die Augen und ließ die Atmosphäre auf sich wirken, die in ihr eine Sehnsucht weckte, ohne dass sie sagen konnte, wonach.
Von draußen drang eine dunkle Männerstimme zu ihr herein. Emma öffnete die Augen und lauschte. Sie hörte einen Wagen vorfahren, Stimmen, Schritte. Dann kehrte wieder Ruhe ein. Emma erhob sich und ging zu einer Tür in der Seitenwand. Die Klinke aus dunkel verfärbtem Messing musste Jahrhunderte alt sein. Sie ließ sich ohne Widerstand nach unten drücken. Emma trat vorsichtig in die offene Tür und warf einen Blick nach draußen. Vor ihr lag der Innenhof des Klosters, der von Klostermauern und Gebäuden unterschiedlicher Höhe begrenzt war. Rechts von ihr erkannte sie Arkaden, das musste der Kreuzgang sein, den sie im Grundriss gesehen hatte. Die nördlichen Arkaden des Kreuzgangs endeten an den hoch aufragenden Mauern der Klosterkirche mit weiß verputzten Wänden. Vor dem Hauptportal der Kirche parkte der Bus für die Einsatzleitung der Polizei. Daneben wartete ein Leichenwagen mit geöffneter Heckklappe. Vermutlich der Wagen, den sie hatte vorfahren hören. Am Eingang der Kirche stand ein uniformierter Beamter, der ihr den Rücken zuwandte und ins Innere der Kirche sah.
Emma ging schneller. Sie spürte unter ihren Füßen die unregelmäßigen Steine des geschotterten Hofs. Der Wind strich kalt über ihren Kopf und ließ sie frösteln. Im Gehen holte sie ihre Kameratasche heraus, entnahm die Kamera und stopfte die Schutzhülle zurück in ihre Umhängetasche. Nervös blickte sie sich um. Der Beamte war noch immer abgelenkt. Emma hielt den silberfarbenen Apparat auf Hüfthöhe in der Rechten, sodass es nicht auf den ersten Blick zu sehen war. Im Vorübergehen machte sie ein paar Aufnahmen der Kirche. Schräg über den Klosterhof kam Emma eine Ordensschwester entgegen, die ihr keine Beachtung schenkte. Der Wind fuhr unter ihren Schleier und schwenkte ihn wie eine üppige Haarmähne.
Emma ging an der Längsseite der Abteikirche entlang, wo sie vom Eingang aus nicht mehr zu sehen war. Die langgestreckte Nordwand wurde auf halber Höhe von einer Dachschräge durchtrennt und endete weiter oben in einem Giebeldach. Oben wie unten zog sich ein Band romanischer Rundbogenfenster über die gesamte Wand.
Emma näherte sich der Apsis, dem halbkreisförmigen Altarraum. Er lag zur Ostseite und wurde von ungleichen Türmen gesäumt. Der südliche Turm endete in einem Turmhelm, der andere in einem Pultdach. Am Fuß des Nordturms entdeckte Emma die schmale Seitentür. Sie widerstand dem Impuls, sich umzusehen. Wenn sie keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte, war es am besten, wenn sie zielstrebig darauf zusteuerte.
Die Tür war offen. Emma tauchte ein in das Dämmerlicht der Kirche und stand in einem kleinen Vorraum. Sie versuchte sich an den Grundriss auf dem Faltplan zu erinnern. Fünf abgetretene, blank gescheuerte Treppenstufen führten nach unten in einen dunklen Gang, der in der Krypta unterhalb der Apsis endete. Dort sollte angeblich früher der Zugang zu dem alten Geheimgang unter der Nahe gewesen sein. Rechts von ihr zweigte ein schmaler Gang ab zum Altarraum. Sie tastete sich über den Boden, spürte einen unregelmäßigen Steinboden unter den Füßen, klaffende Fugen, eine kleine Mulde. Dann hatte sie den Aufgang gefunden, eine schmale Wendeltreppe. Am Ende der Stufen erahnte sie einen Lichtschimmer. Mit ein bisschen Glück wurde der Gang nicht durch eine Tür verschlossen. Emma tastete sich langsam die Stufen nach oben. Sie hörte mehrere Stimmen, konnte schließlich einen hellen Tenor unterscheiden, der den Ton angab.
»Sie ist also im Laufe mehrerer Stunden allmählich verblutet?«
»Das habe ich Ihnen doch schon erklärt«, erwiderte eine ungeduldige Frauenstimme und fügte mit einem mehr als spöttischen Unterton hinzu, »Kriminalhauptkommissar Grieser.«
»Dann erklären Sie mir es eben noch einmal«, sagte die Männerstimme ohne eine Spur von Ärger.
Emma schob sich die letzten beiden Stufen nach oben. Ein schmaler Männerkopf geriet in ihr Blickfeld, das schwarze Stoppelhaar endete in einem sauber ausrasierten Halbrund. Emma sah nur Nacken und Schultern deutlich, der Rest blieb halb verborgen durch einen gläsernen Schaukasten mit einer goldenen Truhe darin. Neben ihm stand eine schmale Frauengestalt in weißem Overall und einer schweren Tasche in der Hand.
»Die Frau wurde vermutlich mit einem Elektroschocker betäubt und anschließend gefesselt«, erklärte sie, »dann wurde ihr das Genital weggeschnitten, und in Folge davon ist sie verblutet.«
Sie stellte die Tasche neben sich ab und streifte ihre Einmalhandschuhe ab.
»Die Leichenstarre ist eingetreten, und es sind keine Leichenflecken zu sehen«, fuhr die Frau fort und zog die Handschuhe zusammen. »Als die Leiche auf dem Altar abgelegt wurde, war sie bereits vollständig ausgeblutet und vermutlich schon mehrere Stunden tot.«
Emma hörte ein ungeduldiges Hüsteln aus Richtung des Kirchenportals. Vermutlich die Angestellten des Bestattungsunternehmens. Mehrere Menschen in weißen Overalls bewegten sich in der Kirche, fast ohne Geräusche zu machen. An der Rückwand der Apsis hing ein großes hölzernes Kreuz. Die Jesusfigur war mit einem violetten Tuch verhängt. Eine kameraähnliche Apparatur auf einem Dreibein scannte den Altarraum.
»Und warum ist kein Blut zu sehen?«, erklang erneut die Männerstimme.
»Keine Ahnung. Wasser vermutlich. Jemand hat sie gewaschen, bevor sie hier abgelegt wurde.«
Emma überlegte, ob sie es wagen konnte, sich ein wenig zur Seite zu schieben, um den Altar ins Blickfeld zu bekommen. Doch dann würde sie den Kasten hinter sich lassen, der ihr Deckung bot. Emma begriff, dass sie hinter dem Reliquienschrein Hildegards von Bingen stand, einem kunstvoll gefertigten und vergoldeten Kasten in Form eines Gebäudes, der auf Brusthöhe in einem gläsernen Schaukasten ruhte.
Die Frau bückte sich nach ihrer Tasche und gab den Blick auf den Altar frei. Durch den Schaukasten konnte Emma die Umrisse einer Frauengestalt erkennen, die auf der langgestreckten Steinplatte lag. Ihre langen dunkelbraunen Haare waren wie ein Heiligenschein um ihren Kopf angeordnet, die Hände auf ihrer Brust gefaltet. Sie war nackt, ihre Haut makellos weiß. Emma spürte, wie ihr Herz schneller pumpte und Panik in ihr aufstieg.
Reflexartig hob sie die Rechte über den Schaukasten und drückte auf den Auslöser. Im selben Moment richtete sich die Frau vor ihr auf und verdeckte erneut die Sicht auf den Altar. Als die Kamera mit einem hörbaren Piepsen die Aufnahme auslöste, war auf dem Display nur ein dunkler Schatten zu erkennen. Entsetzt bemerkte Emma, wie ein Ruck durch die Gestalt des Mannes ging. Mit einem unterdrückten Fluch duckte sie sich. Von seinem Standpunkt aus musste ihm der Reliquienschrein die Sicht versperren. Emma verharrte regungslos und drückte Kopf und Nacken nach unten. Sie hörte, wie der Mann zwei Schritte in ihre Richtung machte. Emma spürte, dass sich ihre Sinne schärften, sie roch auf einmal den Staub zu ihren Füßen und hörte das Atmen der Menschen.
Mit einem Scharren kehrten die Schritte des Kriminalbeamten zur Rechtsmedizinerin zurück.
»Wie alt ist die Tätowierung in der Leiste der Toten?«, nahm er das Gespräch wieder auf.
Erleichtert hob Emma den Kopf, verharrte aber weiterhin regungslos in gebückter Haltung. Sie ärgerte sich, dass sie vergessen hatte, das digitale Geräusch für den Auslöser zu unterdrücken. Jetzt war es zu spät. Solange die Kamera nicht auf lautlos gestellt war, wurde jede Änderung von einem elektronischen Piepsen begleitet.
»Das Zeichen ist ihr wenige Stunden vor ihrem Tod mit einem altmodischen eisernen Stempel eingebrannt worden, der einfach heiß gemacht wurde«, sagte die Frau knapp. »Eine ziemlich brutale Methode. Das sogenannte Branding ist vor einiger Zeit von Tätowierern zu neuem Leben erweckt worden. Doch um eingebrannten Körperschmuck scheint es sich bei der Leiche nicht zu handeln. Schon der Zeitpunkt spricht dagegen.«
Aus dem Mittelgang war ein metallisches Scharren zu hören, das von den Bestattern kommen musste.
»Gedulden Sie sich bitte noch einen Moment«, sagte der Mann gelassen in Richtung Mittelschiff. Emma erhob sich vorsichtig und trat einen Schritt zur Seite, so dass sich ein Pfeiler zwischen sie und den Ermittlungsbeamten schob. Auch von hier konnte sie die Angestellten des Bestattungsunternehmens nicht sehen und hoffte, dass sie ebenfalls nicht zu sehen war.
»Alles Weitere entnehmen Sie bitte meinem Bericht«, sagte die Frau und ging die Stufen des Altarraums hinunter. Der Kriminalbeamte folgte ihr. Der Blick auf den Altar war frei. Emma hob die Kamera. Dann zögerte sie. Wenn sie jetzt abdrückte, riskierte sie es, entdeckt zu werden. Fieberhaft überlegte sie, was sie tun sollte. Dann drückte sie den Auslöser. Im selben Moment waren laute Schritte zu hören. Die Bestatter hatten sich auf den Weg zum Altar gemacht. Erleichtert registrierte Emma, dass die Geräusche der Kamera nicht zu hören waren.
Sie vergewisserte sich mit einem Blick auf das Display, dass diesmal der Altar zu sehen war. Sie hatte keinen Blitz benutzen können, und die Fenster der Kirche lagen hoch. Emma war nicht sicher, ob das Foto brauchbar sein würde. Ohne sich umzusehen, huschte sie zurück in die Krypta und stand mit wenigen Schritten auf dem Klosterhof. Gierig sog sie die frische Luft ein. Sie verharrte einen Moment und genoss den Wind, der ihre heißen Wangen kühlte.
Die Kamera verstaute sie ganz unten in ihrer Tasche. Ihre Hände zitterten. Emma zog ihre Jacke fest zusammen und stemmte sich gegen den Wind. Am Ende der Mauer blieb sie stehen. Hier war sie vom Hauptportal aus nicht auszumachen. Emma schob den Kopf nach vorne. Der Kommissar und die Rechtsmedizinerin kamen die Stufen des Eingangsportals herunter. Beide hatten die Overalls bereits abgestreift. Gemeinsam überquerten sie den Klosterhof und steuerten die obere Einfahrt neben der Friedhofskapelle an. Emma ließ sich gegen die Kirchenwand zurückfallen. Kälte drang durch ihre Jacke, und sie spürte, wie ihre Knie weich wurden. Sie sank nach unten in die Hocke und ruhte sich einige Minuten aus. Dann stemmte sie sich wieder hoch und riskierte erneut einen Blick. Der Kriminalbeamte und die Medizinerin verschwanden im dunklen Torbogen. Vorsichtig machte sie einen Schritt nach vorn. Der uniformierte Polizist stand noch immer im Eingang der Kirche. Er wanderte unruhig hin und her. Emma überlegte, wie groß ihre Chance war, ein zweites Mal unbehelligt an ihm vorbei zu gelangen.
Sie trat zurück in den Schatten der Kirchenmauer und drückte ihren schmerzenden Hinterkopf gegen die Wand. Vielleicht war es besser zu warten, bis die Männer mit dem Sarg die Kirche verlassen hatten. Dann war der Polizist abgelenkt. Emma atmete tief durch. Ihr Herz klopfte noch immer zu schnell. Auf einmal erschien es ihr unwirklich, dass sie hier war. Nachdenklich ließ sie den Blick über den Hof gleiten. Plötzlich begegnete sie dem belustigten Blick eines Mannes.
Er stand auf der anderen Seite des Klosterhofs neben dem Eingang eines Nebengebäudes. Emma spürte, wie die Anspannung zurückkehrte. Sie wusste nicht, wie lange der Mann sie schon beobachtete. Vielleicht war es besser, so schnell wie möglich zur Friedhofskapelle zurückzukehren. Doch dann würde sie dem Polizeibeamten praktisch in die Arme laufen.
Emma musterte den Mann, der noch immer zu ihr herübersah. Er machte keine Anstalten, sich ihr zu nähern oder den Polizisten auf sie aufmerksam zu machen. Er hatte kurzgeschnittene braune Locken, und seine tiefliegenden Augen wirkten sympathisch, obwohl er Emma mit einem leichten Schmunzeln betrachtete. Unruhig blickte Emma sich um.
Die beiden Bestatter kamen aus der Kirche. Der Sarg verschwand mit einem metallischen Geräusch in dem dunklen Kombi. Der Polizeibeamte beobachtete regungslos, wie die Bestatter in den Wagen stiegen. Der Motor startete, dann erstarb er mit einem Hüsteln.
Unter dem Wagen regte sich etwas. Emma neigte den Oberkörper und beobachtete den dunklen Schattenriss, der sich neben dem rechten Hinterrad abzeichnete. Sie brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass dort eine kleine Katze kauerte, die sich voller Angst auf den Boden presste. Die schwarz-weiße Färbung des Fells hob sich kaum von dem hell und dunkel gesprenkelten Steinen des Klosterhofs ab.
Emma rieb sich die Stirn. Die Anspannung hatte sich wie ein engsitzender Ring um ihren Kopf gelegt. Immer wieder musste sie an den leblosen Frauenkörper auf dem Altar denken.
Der Motor wurde erneut gestartet. Emma beobachtete, wie sich der kleine Körper noch dichter gegen den Reifen presste. Der Polizeibeamte schien von der Szene unter dem Wagen nichts zu bemerken. Emma warf einen Blick über den Klosterhof. Der Mann musste die Katze auch registriert haben, sein Blick wanderte vom Leichenwagen zurück zu ihr. Der Motor gab mehrere keuchende Geräusche von sich und erstarb. Unruhig beobachtete Emma den reglosen Schattenriss. Der Motor des Leichenwagens heulte erneut auf, dunkle Benzinwolken quollen aus dem Auspuff.
»Halt, einen Moment, bitte warten Sie!«
Emma rannte los und schwenkte beide Arme. Der Polizist wandte das Gesicht und starrte sie irritiert an. Die Tür der Beifahrerseite öffnete sich, als Emma auf Höhe der Heckklappe stehen blieb. Der Motor hatte jetzt ein gleichmäßiges Geräusch erreicht, das Jaulen ebbte ab.
»Warten Sie bitte einen Moment, eine Katze hat sich unter Ihrem Wagen verkrochen«, rief Emma dem Beifahrer zu, ein bulliger Mann mit Glatze, der sie irritiert anstarrte. Sie ging neben dem Hinterrad in die Knie und hielt den Blick des Mannes fest, der seinem Kollegen etwas zurief. Ein Stein bohrte sich schmerzhaft in ihr linkes Knie, und Benzingeruch stieg unangenehm in ihre Nase. Emma tastete mit der Linken hinter den Reifen und bekam das Kätzchen zu fassen. Noch bevor sie das Tier sehen konnte, spürte sie sein Herz schlagen und ein Zittern, das durch den ganzen Körper lief. Emma erhob sich und drückte erleichtert das Fellbündel gegen ihre Brust.
Der Bestatter lehnte noch immer aus der Autotür. Er nickte Emma zu und sagte etwas zu seinem Kollegen. Der Wagen fuhr ruckartig los. Die Beifahrertür schloss sich, und zurück blieb eine Wolke aus grauem Benzindunst.
Der Polizeibeamte hatte sich vom Eingang der Kirche gelöst und kam auf sie zu. Er ignorierte das Fellbündel, das Emma noch immer an ihre Brust presste.
»Was tun Sie hier? Wer sind Sie?«