4. Kapitel

 
 

Das teuflische Blendwerk wütet in der Leidenschaft solcher Männer derartig, daß, wenn sie könnten, sie die Frau in der Umarmung töten würden.

 

Barbara Purer hatte ihren Audi A3 oberhalb des Klosters in einer kleinen Seitenstraße geparkt. Sie versprach Grieser, ihn auf dem Laufenden zu halten. Der Hauptkommissar verabschiedete sie und drückte die Tür ins Schloss. Die Rechtsmedizinerin startete den Wagen und nickte ihm durch die geschlossene Scheibe ein letztes Mal zu. Grieser grub beide Hände in seine Hosentaschen und kehrte gemächlich zur Klostereinfahrt zurück.

Es war das erste Mal heute, dass er ein paar Minuten für sich hatte. Ihm fiel ein, dass er ein Geschenk für seine Schwester besorgen musste. Es waren noch zwei Wochen bis zur Hochzeit. Dann war der ganze Zauber endlich vorbei. Grieser dachte grimmig an das Fest und seine Familie, die sich dort versammeln würde. Solchen Feierlichkeiten ging er sonst lieber aus dem Weg. Diesmal konnte er sich nicht drücken. Die gesamte Verwandtschaft tuschelte schon seit Jahren darüber, dass er immer allein kam. Trotzdem freute er sich für Babs. Sie war glücklich, und Grieser gönnte ihr das von ganzem Herzen.

Eine Schar Krähen schreckte aus einem Baum hoch. Sie umrundeten die zart begrünten Kronen dreier Birken. Grieser verfolgte ihren Flug und überlegte, wie es nun weitergehen sollte. Michael Kramer, der Leiter der Spurensicherung, hatte ihm bestätigt, dass der Fundort der Leiche nicht der Tatort war. Sie würden schneller vorankommen, wenn sie den Tatort hatten. Da die tote Frau vor ihrem Transport in die Abteikirche viel Blut verloren hatte, musste es irgendwo reichlich Spuren geben. Grieser griff nach seinem Handy und drückte eine Kurzwahltaste.

»Ja, Chef?« Baums Stimme klang gedämpft.

»Sind die Kollegen schon mit dem Zimmer durch?«

»Kramer hat mir gerade Bericht erstattet«, antwortete Sabine Baum. »Wo finde ich dich?«

»In einer Minute bin ich im Klosterhof«, erwiderte Grieser.

»Okay, ich bin gleich bei dir.«

Die Verbindung brach ab. Grieser steckte das Handy in die Innentasche seiner Lederjacke und ging schneller. Unter dem Torbogen kam ihm der Leichenwagen entgegen. Grieser trat einen Schritt zur Seite und wartete, bis der dunkel verglaste Mercedes an ihm vorübergeglitten war. Die Vögel hatten inzwischen abgedreht und verschwanden flügelschlagend über der nördlichen Klostermauer Richtung Rhein.

Grieser erreichte den Innenhof. Er sah, wie der uniformierte Beamte im Klosterhof mit Markus Hertl sprach. Neben ihm stand eine Frau, die er nicht kannte. Grieser spürte Ärger in sich aufwallen. Die Anweisung an die Beamten heute Morgen war deutlich gewesen. Grieser steuerte auf die drei zu. Er war noch etwa hundert Meter entfernt, als Hertl und die Frau sich abwandten und auf das Gästehaus zugingen. Im Gehen setzte die Frau eine kleine Katze ab, die mit hoch aufgerichtetem Schwanz über den Klosterhof rannte und zwischen den Lorbeersträuchern am Kreuzgang verschwand. Grieser beschleunigte seinen Schritt. Er nickte dem Beamten zu, der ihm nervös entgegenblickte.

»Wer war das?«, fragte Grieser, als er den Uniformierten erreichte. Der Mann musste so um die dreißig sein, sein Schädel war kahlrasiert, und in seinem rechten Ohrläppchen steckte ein winziger Totenkopf.

»Markus Hertl, einer der Gäste des Klosters«, erwiderte der Beamte.

»Ich weiß«, erwiderte Grieser ungeduldig. »Ich meinte die Frau. Die ist doch bisher noch nicht hier aufgetaucht, wer war sie?«

»Ich weiß nicht«, sagte der Beamte und zerrte mit der Rechten an seinem Hemdkragen. »Hertl hat gesagt, sie gehört zu ihm.«

»Sie haben Anweisung, keinen in die Klosteranlage zu lassen, bis auf die Schwestern und die Gäste des Klosters. Richtig?«

»Richtig«, erwiderte der Beamte. Sein Blick glitt an Griesers Gesicht vorbei ins Leere.

»Es gibt keine Ausnahme«, betonte Grieser. »Es sei denn, ich habe dem höchstpersönlich zugestimmt.«

Der Beamte tippte mit dem Zeigefinger an seine Mütze.

»Und das nächste Mal, wenn ich mit Ihnen rede, sehen Sie mich an. Wir sind hier nicht beim Militär.«

Der Beamte warf ihm einen Blick zu. Für einen Moment glaubte Grieser Hass darin aufblitzen zu sehen. Dann wandte sich der Mann ab und kehrte auf seinen Posten vor den Eingang der Kirche zurück.

Grieser blickte Hertl nach, der inzwischen mit seiner Begleiterin die Tür des Gästehauses erreicht hatte und nach innen verschwand. Grieser fragte sich, warum Hertl die Frau mit ins Gästehaus nahm. Er war ziemlich sicher, dass sie eine Journalistin war. Eine unbeteiligte Person hätte sich nicht die Mühe gemacht, die Polizeisperre zu umgehen.

Grieser hielt sich Presseleute so weit wie möglich vom Leib. Vor Jahren hatte er erlebt, wie ein Journalist viel zu früh Andeutungen über den möglichen Mörder geschrieben hatte. Der hatte dann prompt die Zeit genutzt, um sich aus dem Staub zu machen. Auf den Pressekonferenzen bekamen Journalisten die wichtigsten Fakten. Damit wurde der Informationspflicht Genüge getan, fand Grieser. Mehr brauchten die Schreiberlinge nicht zu wissen. Dass nun eine Journalistin in die innere Absperrung eingedrungen war, gefiel ihm ganz und gar nicht.

Grieser nahm sich vor, später draußen nach der Frau zu suchen und sie zur Rede zu stellen. Wenn sie wirklich eine Journalistin war, würde er sie vermutlich auf dem Parkplatz des Klosters antreffen. Nachdem sie Hertl ausgequetscht hatte. Aber das konnte er ohnehin nicht verhindern. Die Zeugen konnten gehen, wohin sie wollten, und reden, mit wem sie wollten. Da hatte die Polizei keinen Einfluss darauf. Doch er würde die Frau daran erinnern, wie viel Ärger sie kriegen konnte, wenn sie zu früh wichtige Informationen veröffentlichte.

Die Tür des Gästehauses öffnete sich erneut. Baum trat auf den Hof und strebte ihm entgegen. Sie sah aus, als könne sie es kaum erwarten, ihm etwas mitzuteilen.

»Halt dich fest, Chef«, keuchte Sabine Baum schon von weitem.

»Ich wüsste nicht, woran«, murmelte Grieser und setzte sich langsam Richtung Kirche in Bewegung. Baum stoppte neben ihm und versuchte, sich seinem Tempo anzupassen.

»Was meinst du?«, keuchte sie irritiert.

Grieser schüttelte den Kopf. »Nicht so wichtig«, sagte er laut. »Was gibt’s?«

»Die Kollegen sind ziemlich sicher, dass die Frau nicht in ihrem Zimmer im Gästehaus ermordet wurde. Aber eine der Ordensschwestern hat erzählt, es gab am Freitagabend Streit. Sie hat laute Stimmen aus dem Zimmer der Toten gehört. Am Samstag ist die Frau nach der Weihe abgereist, obwohl sie ursprünglich bis Sonntag bleiben wollte.«

Grieser zog die Augenbrauen hoch. »Wisst ihr schon, mit wem sie sich gestritten hat?«

»Die Schwester hat nur die Stimme von Miriam Schürmann erkannt«, sagte Baum. »Die zweite Stimme war von einem Mann, aber sie wusste nicht, von wem.«

Sie war inzwischen zu Atem gekommen, musste aber immer noch ihre Schritte zügeln, um ihn nicht hinter sich zu lassen.

»Kramer soll ihr Handy und auch das Telefon in ihrem Zimmer überprüfen«, sagte Grieser nachdenklich.

»Ist er schon dran.«

»Außerdem könnte es jemand aus dem Gästehaus gewesen sein. Oder aus dem Kloster.«

»Vielleicht ist sie wegen dem Streit so früh abgereist«, sagte Baum. Grieser warf ihr einen nachdenklichen Blick zu.

»Könnte sein«, sagte er. »Falls sie sich bedroht fühlte, hat ihr die Flucht wenig genutzt.«

 

Deus, in adiutorium meum intende. Domine, ad adiuvandum me festina. Gloria Patri, et Filio, et Spiritu Sancto.

Es war ungewohnt eng in der kleinen Nikolauskapelle. Schwester Lioba schwitzte und wischte sich unauffällig die Hände. Sie hatte die Mitschwestern zur Sext, dem Mittagsgebet, hier zusammengerufen. Die Abteikirche war von der Polizei noch nicht freigegeben worden. Schwester Lioba konnte es immer noch nicht fassen, dass nur wenige Stunden nach ihrer Weihe als Äbtissin eine Schulfreundin in der Abtei ermordet aufgefunden worden war. Schuldgefühle quälten sie und auch Scham. Das Brandmal auf Miriams Körper war Beweis genug, dass einmal begangenes Unrecht sich früher oder später rächte. Doch dass ausgerechnet Miriam den Preis bezahlen musste, war zutiefst ungerecht.

Deduc me in semitam präceptorum tuorum, quia ipsam volui. Inclina cor meum in testimonia tua et non in avaritiam.

Schwester Lioba bemühte sich, ihre Gedanken zu sammeln. Die regelmäßigen täglichen Gebete mit den Schwestern des Konvents waren wie Perlen eines Rosenkranzes, die dem Tag Struktur und auch Bedeutung verliehen.

Schwester Lioba sang entschlossen weiter. Noch vor wenigen Tagen hatte sie der Gedanke gequält, ob ihre Stimme und ihre Kraft als Äbtissin immer stark genug sein würden, um Vorbild zu sein. Nun war das ihre geringste Sorge. Als sie aufblickte, begegnete sie dem Blick von Schwester Raphaela, einer hageren Frau mit strengen Augen. Ihr Gesicht war ausdruckslos, doch Schwester Lioba war sicher, dass sie es noch nicht verwunden hatte, dass Schwester Lioba und nicht sie zur Äbtissin gewählt worden war.

Ihr Blick kehrte zurück in das Gebetbuch. Sie überflog mehrere Zeilen, bis sie die richtige Stelle hatte. Sie las gerne mit, obwohl sie den Text längst auswendig kannte. Der Gregorianische Choral gab die Gebete vor, die sie Jahr um Jahr im Wechsel der Wochentage und Jahreszeiten sangen, ergänzt von den Tagesgebeten und Lesungen. Mit den Augen über die Zeilen zu wandern gehörte zu ihrem Ritual, war Teil der Meditation und des Trostes, den die liturgischen Gesänge ihr gaben.

Ein ungewohnt tiefes Räuspern ließ sie erneut aufsehen. Ihr Blick fiel auf Josef Windisch. Ärger schoss in ihr hoch. Windisch gehörte zur alten Clique, genau wie Miriam, Thomas Kern und Markus Hertl. Seit heute Morgen bedauerte sie es zutiefst, ihre ehemaligen Klassenkameraden eingeladen zu haben. Windisch wäre zwar in jedem Fall gekommen. Er war Theologe, Professor und vermutlich in einigen Jahren ihr Bischof. Doch wenn sie nicht die ganze Clique eingeladen hätte, dann wäre Miriam vielleicht noch am Leben.

Schwester Lioba senkte mühsam den Blick und versuchte vergeblich, sich auf die Gebete zu konzentrieren. Sie musste endlich mit der Polizei reden. Es war unverantwortlich, wenn sie länger schwieg. Doch vorher wollte sie noch mit Pfarrer Windisch sprechen. Schwester Lioba glaubte in Windischs Augen das gesehen zu haben, was auch sie beschäftigte, seit sie von diesem furchtbaren Mord gehört hatte. Angst vor den Gespenstern der Vergangenheit. Und Wut auf diejenigen, die so viel Leid über sie brachten.

Quae seminaverit homo, haec et metet; quoniam qui seminat in carne sua, de carne metet corruptionem, qui autem seminat in spiritu, de spiritu metet vitam aeternam.

Die Worte der Lesung bekamen auf einmal eine ganz neue Bedeutung. Schwester Lioba stimmte das Kyrie eleison an und rief sich dabei die deutsche Übersetzung der Lesung ins Gedächtnis, die ihr noch immer vertrauter war als die lateinischen Worte: Was der Mensch sät, das wird er auch ernten. Wer im Vertrauen auf das Fleisch sät, wird vom Fleisch Verderben ernten; wer aber im Vertrauen auf den Geist sät, wird vom Geist ewiges Leben ernten.

Rasch sah sie noch einmal hoch. Windisch erwiderte ihren Blick. Die Lesung hatte bei ihm die gleiche Erinnerung geweckt, dessen war sie sicher. In seinem Blick lag immer noch Wut – gepaart mit unsäglichem Schmerz.

Die Glut des Bösen: Kriminalroman
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