11. Kapitel

 
 

Jedoch werden sie, wenn sie die Vereinigung mit Männern vermeiden, in ihrem Wesen unleidlich und unangenehm. Wenn sie aber mit Männern verkehrt haben, weil sie sich von der Verbindung mit ihnen nicht zurückhalten wollten, dann werden sie in ihrer Leidenschaft unenthaltsam und maßlos wie die Männer.

 

Emma hatte noch einige Recherchen zu Hildegard von Bingen angestellt und war dabei auf Hertls Namen gestoßen. Er arbeitete an der Kölner Universität als Dozent für Lateinische Philologie des Mittelalters im deutschen Sprachraum und war offensichtlich ein Experte für die Ordensfrau aus dem 12. Jahrhundert.

Ihr fiel ein, was Hertl gestern gesagt hatte. Ob eine schöne Aussicht wirklich die Liebe zu einem Gott wecken konnte? Oder diese womöglich ersetzen? Emma sah von ihrem Computer auf und ließ ihren Blick über die Hänge des Rheintals gleiten. Vereinzelte Sonnenstrahlen lagen über den Berghängen.

Dann suchte sie die Nummer heraus, die Hertl ihr beim Abschied gegeben hatte. Das Freizeichen ertönte zweimal, dann meldete er sich mit Namen.

»Haben Sie Lust, sich mit mir zu treffen?«, fragte Emma. Hertl antwortete nicht.

»Ich fand es gestern sehr spannend, was Sie von Hildegard von Bingen erzählt haben«, sprach Emma weiter.

Ein leises Lachen ertönte am anderen Ende der Leitung. »In Ordnung«, sagte er dann. Seine Stimme klang amüsiert. »In einer halben Stunde auf dem Parkplatz.«

Emma sagte zu und beendete das Gespräch. Nachdenklich beobachtete sie, wie ein Lastkahn die Rheininsel hinter sich ließ. Sie mochte Hertl. Und sie war nicht sicher, ob es nicht vielleicht mehr werden könnte. Sie hatte gerade eine Affäre hinter sich, die am Ende ziemlich unbefriedigend verlaufen war.

Emma beschloss, zumindest eine andere Hose anzuziehen. Es gab keinen Grund, Hertl mit einer fleckigen Jeans gegenüberzutreten.

Eine halbe Stunde später erschien er am Fuß der Klostermauer. Emma winkte. Hertl überquerte den Parkplatz, der sich inzwischen geleert hatte.

»Rustikal haben Sie es hier«, sagte er und warf einen Blick in ihren Bus.

Emma zuckte mit den Achseln.

»Haben Sie Lust, ein paar Schritte mit mir zu gehen?« Sie warf einen Blick auf den träge dahinziehenden Rhein. »Wir können ja unten am Rheinufer ein Glas Wein trinken.«

Hertl nickte. Sie überquerten die Wiese und steuerten auf einen Spazierweg zu, der unterhalb des Parkplatzes bis an den Rhein hinunterführte. Schweigend erreichten sie den Schotterweg. Hertl sah sich um.

»Schön hier, finden Sie nicht«, sagte er leichthin.

Emma nickte.

»Sie sind Spezialist für Lateinische Philologie?«, fragte sie unvermittelt.

»Ich bin an der Uni«, erwiderte Hertl. Er stopfte beide Hände in die ausgebeulten Taschen seines dunklen Wollmantels. »Ich gebe Seminare zur lateinischen Sprache und Literatur. Außerdem forsche ich über Hildegard von Bingen.«

Emma warf ihm einen Seitenblick zu. »Gestern habe ich angenommen, dass Sie Theologe sind.«

Hertl schmunzelte. »Ja, das war durchaus in der Überlegung. Am Ende habe ich mich gegen die Theologie und für Lateinische Philologie entschieden. Dort habe ich mehr Freiheiten, was die Interpretation der Schriften Hildegards von Bingen betrifft.«

»Sie haben gestern erzählt, dass Sie gemeinsam mit der Äbtissin und einigen anderen Gästen des Klosters das Internat Hildegard von Bingen in Heidelberg besucht haben.«

Steine knirschten unter ihren Sohlen.

»Ich glaube nicht, dass ich erzählt habe, wo sich das Internat befand«, antwortete er vorsichtig. Emma spürte die Anspannung, die seine Stimme tiefer klingen ließ. Ein Radfahrer kam ihnen entgegen. Hertl trat zur Seite und machte den Weg frei. Dann ging er schneller, bis er wieder auf Emmas Höhe war.

»Mein Vater ist Schulleiter im Hildegard-von-Bingen-Internat in Heidelberg«, sprach Emma weiter. »Deshalb habe ich ganz automatisch angenommen, dass Sie dort zur Schule gegangen sind.«

Eine Windböe streifte ihr Gesicht. Hertl blieb stehen.

»Was wollen Sie eigentlich von mir?«, fragte er unwirsch. »Sie haben mich unter einem Vorwand hierhergelockt.«

Emma ging an ihm vorbei und trat an den Rand des Wegs. Dort blieb sie stehen und wandte sich ihm zu.

»Wissen Sie«, sagte sie zögernd und suchte seinen Blick, »gestern habe ich gehört, dass der Mord im Kloster mit den Vorgängen damals im Heidelberger Internat zusammenhängt. Mein Vater war zu der Zeit stellvertretender Schulleiter dort und geriet in Bedrängnis, weil er verdächtigt wurde, er hätte etwas mit dem Selbstmord von Bruder Benedikt zu tun. Unsere Familie ist daran zerbrochen. Ich möchte gern herausfinden, was wirklich passiert ist.«

Emma sah ihn an. Hertl erwiderte ihren Blick einen Moment lang, dann wandte er sich ab. Emma fürchtete, er würde sie stehenlassen und ins Kloster zurückkehren. Bittend hob sie die Hand, wollte etwas sagen. Doch er nahm ihren Spaziergang wieder auf. Emma folgte ihm.

»Hildegard von Bingen war eine faszinierende Frau«, begann er. »Ich, Schwester Lioba und die anderen, wir konnten damals nicht genug von ihr hören. Wir waren in einer AG, die sich mit ihr beschäftigt hat. Bruder Benedikt leitete diese AG. Er war regelrecht besessen von Hildegard.«

Ein Schwarm Krähen senkte sich vor ihnen herab bis dicht über den Boden, flog einige Meter über die Wiese und drehte kurz vor dem Rheinufer ab.

»War er Religionslehrer?«, fragte Emma.

»Wie alt waren Sie damals?«, fragte Hertl zurück.

»Ich war dreizehn.«

»Erinnern Sie sich an Bruder Benedikt?«

Emma schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, was mein Vater erzählt hat. Das war nicht viel. Später haben er und meine Mutter oft gestritten, dabei ist immer wieder der Name von Pater Benedikt gefallen.«

»Pater Benedikt war Biologielehrer und ein sehr gläubiger Mensch. Er stand mit beiden Beinen im Leben, sein Glaube war unerschütterlich.«

»Beneidenswert«, sagte Emma. Sie meinte es ernst.

Hertl blickte sie forschend an. »Außerdem war er fest davon überzeugt, dass Hildegard von Bingen von den Theologen der katholischen Kirche unterschätzt wird, dass sie der Menschheit noch mehr zu sagen hat.«

Ein Jogger mit hautenger Sportkleidung in Signalfarben näherte sich und umrundete sie mit einem weiten Bogen durch die Wiese.

»Ich habe ihn bewundert«, erzählte Hertl weiter, »vor allem, weil er lebte, woran er glaubte. Auch wenn er dafür Opfer bringen musste.«

Emmas Handy meldete sich mit einem schrillen Klingeln. Sie tastete in ihrer Manteltasche danach und drückte das Gespräch weg, ohne auf das Display zu sehen. Hertl warf ihr einen dankbaren Blick zu.

»Als Biologe hat ihn besonders das naturwissenschaftliche Werk Hildegards von Bingen interessiert.«

»Wieso naturwissenschaftlich?«, fragte Emma.

Hertl lächelte. »Die meisten kennen sie nur als Benediktinerin und Theologin, dabei war sie weit mehr. Ihr erstes großes Werk drehte sich um die Glaubenslehre. Ihr zweites Buch trug den Titel ›Das Buch von den Geheimnissen der verschiedenen Naturen der Geschöpfe‹ und beschäftigte sich mit der Tier- und Pflanzenwelt und auch sehr ausführlich mit dem Menschen. Sie machte sich Gedanken über Krankheiten und ihre Ursachen, über Heilungsmöglichkeiten und über die Vorbeugung von Erkrankungen.«

»Die Hildegard-Medizin.« Emma erinnerte sich, dass sie in den vergangenen Jahren den Namen Hildegard von Bingen vor allem in diesem Zusammenhang gehört hatte.

»Eine Hildegard-Medizin in diesem Sinne gibt es nicht.« Hertl blieb stehen und drehte das Gesicht in den Wind. »Sie hatte umfassende Kenntnisse über Krankheiten, Kräuter, Metalle und Edelsteine. Sie hat sich viele Gedanken über deren Wirkung gemacht.« Eine Haarsträhne tanzte über seine Stirn. »Aber viele ihrer Ausführungen sind heute weitgehend überholt. Der österreichische Arzt Gottfried Hertzka hat sich 1947 in Konstanz niedergelassen und berief sich bei seiner medizinischen Tätigkeit auf Hildegard von Bingen. Er hat in den 1970er Jahren den Begriff Hildegard-Medizin geprägt.«

Emma blieb stehen und betrachtete ihn aus einigen Schritten Entfernung.

»Hildegard von Bingen werden zwar erstaunliche Kenntnisse zugebilligt, die zum Teil bis heute unserer wissenschaftlichen Sicht entsprechen, doch ihre Behandlungsverfahren beruhen natürlich auf mittelalterlichen und mystischen Vorstellungen«, sprach Hertl weiter. »Hildegard von Bingen hat Körper, Geist und Seele als Einheit betrachtet. Entsprechend konsequent hat sie den menschlichen Körper mindestens ebenso gründlich erforscht wie die menschliche Seele. Heute weiß man, dass sie Schriften griechischer Ärzte gelesen haben muss und auch medizinische Schriften der arabischen Welt. Ihr Verdienst ist, dass sie eine eigenständige Interpretation der medizinischen Theorie unter Einbeziehung der Sexualität vorgenommen hat.«

»Was hat es dann mit dem Hildegard-Tee, dem Hildegard-Brot und der Hildegard-Kräutermedizin auf sich?«, fragte Emma.

»Alles Marketingstrategien, die wenig mit dem zu tun haben, was Hildegard von Bingen geschrieben hat«, erwiderte Hertl. Er setzte sich wieder in Bewegung. »Die Menschen heute haben immer noch einfache Fragen und suchen darauf einfache Antworten. Die bekommen sie dann auch – von der Industrie und von manchem Heilsbringer. Doch meist ist das Leben nicht ganz so einfach, wie wir es gerne hätten.«

»Was hat das mit ihren theologischen Schriften zu tun?«, fragte Emma.

»Für Hildegard von Bingen gab es keine Trennung von Körper, Geist und Seele. Sie sind eins. So wie die Seele sich nach Gesundung sehnt und einen Gott sucht, der sie tröstet und ihr Halt gibt, so braucht der Körper eine gesunde Umwelt und gesunde Ernährung, um sich gut zu fühlen. Und nur in der Einheit von Körper, Geist und Seele kann Gott seinen Raum finden.«

Ein kalter Wind strich über ihren Hals und ließ sie frösteln. Emma zog die Schultern hoch.

»Das heißt, die Auslegung der Bibel und die Beschäftigung mit dem menschlichen Körper und seinen Besonderheiten sind untrennbar verbunden«, sagte sie.

»So zumindest hat es Hildegard von Bingen gesehen und auch Bruder Benedikt.«

Der Weg vor ihnen zog sich in einem großen Bogen den Hang hinunter bis zum Rhein. Auf der Wiese bogen sich einige Osterglocken im Wind. Schweigend gingen sie einige Schritte nebeneinander her. Dann nahm Emma das Gespräch wieder auf.

»Sie sagten, Bruder Benedikt war besessen von ihr. Wie hat sich das geäußert?«

»Bruder Benedikt war vor allem von ihren naturwissenschaftlichen Schriften fasziniert. Schließlich war er Biologielehrer.« Hertl rieb sich die Stirn. »Er kannte alles, was von ihr überliefert ist.«

»Und?«, fragte Emma leichthin.

Hertl beobachtete ein Sportboot, das sich seinen Weg quer über den Rhein in die Nahe bahnte. Ein lautes Brummen zeigte, dass der Bootsführer seine ganze Motorkraft einsetzen musste, um die Fluten zu queren.

»Na ja«, sagte er gedehnt, »die naturwissenschaftlichen Schriften der Ordensfrau sind durchaus umstritten. In der Kirche gibt es Stimmen, die behaupten, die Texte wurden Hildegard von Bingen untergeschoben.«

Emma runzelte die Stirn. »Verstehe ich nicht«, sagte sie.

Hertl blieb stehen und wandte sich ihr zu. Sein Gesicht wirkte freundlich, auch wenn ein strenger Zug um seinen Mund spielte.

»Hildegard hat im Laufe ihres Lebens etliche kleinere und größere Schriften verfasst. Am bekanntesten sind vier Bücher von ihr. Drei theologische Bücher und ein naturwissenschaftliches. Ihre theologischen Schriften sind im Original überliefert. Ihre Aussagen darin genießen hohes Ansehen in der Kirche. Auch unser Papst Benedikt XVI. hat sich während seiner Zeit als Theologieprofessor sehr intensiv mit Hildegard von Bingen und ihren Werken beschäftigt. Die theologischen Werke Hildegards von Bingen sind unumstritten.«

»Im Gegensatz zu ihren naturwissenschaftlichen«, ergänzte Emma nachdenklich.

Hertl nickte und blieb stehen. Er strich sich die Haare aus der Stirn und schob seine Hand zurück in die Tasche seines Wollmantels. »Das Original dieser Schrift ist nicht überliefert. Es gibt nur Abschriften, die frühestens 100 Jahre nach ihrem Tod entstanden sind. Viele Theologen und auch Historiker bezweifeln, dass alles, was darin geschrieben steht, von Hildegard stammt.«

»Und warum?«, fragte Emma.

»Genau das ist die Frage«, sagte er. »Es gibt zwei Gründe, daran zu zweifeln, einen formalen und einen inhaltlichen. Letztlich muss jeder für sich selber beurteilen, welches der Argumente ausschlaggebend ist. Die Originalhandschrift war vermutlich ein einziges Buch mit dem Titel ›Das Buch von den Geheimnissen der verschiedenen Naturen der Geschöpfe‹. Die später entstandenen Abschriften wurden auf zwei Bücher verteilt. Eines davon trug den Titel ›Physica‹, das andere ›Causae et curae‹. Im Mittelalter war es durchaus üblich, sogenannte Kompilationen zu erstellen. Das heißt, ein Schreiber, der sich für ein bestimmtes Thema interessierte, hat in seiner Schrift alles zusammengenommen, was dazu passte. Dabei hat er es oft nicht so genau genommen, was von wem stammte.«

»Das bedeutet, die Kirche zweifelt an, ob der komplette Inhalt dieser beiden Bücher wirklich auf Hildegard von Bingen zurückgeht.«

»So ist es«, bestätigte Hertl. »Allerdings zeigen die überlieferten Texte inhaltliche und stilistische Eigenheiten, die sich auch in anderen Texten Hildegards von Bingen finden. Das heißt, dass der Inhalt beider Bücher vermutlich zum großen Teil tatsächlich von ihr stammt. Aber es muss in der Tat nicht alles von ihr sein. Die Zweifel sind durchaus berechtigt.«

Emma nickte. »So weit also zum formalen Grund. Und der inhaltliche?«

»In den beiden überlieferten Abschriften sind nicht nur umfassende Beschreibungen von Tieren, Pflanzen, Edelsteinen und Metallen enthalten, sondern auch umfassende Beschreibungen des Menschen und seiner Natur. Dabei hat Hildegard von Bingen nichts ausgelassen, sie hat sich wie eine echte Naturwissenschaftlerin verhalten.«

»Das bedeutet?«, fragte Emma.

»Sie hat sich auch umfassende Gedanken gemacht über die Sexualität des Menschen bis hin zu detaillierten Schilderungen des Sexualaktes aus Sicht eines Mannes und auch aus Sicht einer Frau.«

»Woher hat eine Ordensfrau dieses Wissen?«

»Das genau«, erwiderte Hertl, »fragen sich viele, darunter auch etliche Theologen und Wissenschaftler. Das nährt natürlich auch die Zweifel, ob Hildegard von Bingen wirklich diese Texte geschrieben hat.«

»Und wie stand Bruder Benedikt dazu?«

Hertl und Emma erreichten das Rheinufer. Mehrere Stufen aus Granit führten zum Wasser hinunter, flache Wellen plätscherten dagegen. Sie starrten ins Wasser, das zur Mitte des Flusses immer dunkler wurde.

Emma schauderte und kämpfte mit der aufsteigenden Nervosität, die der Anblick von fließendem Wasser immer bei ihr auslöste. Sie hatte Angst vor Flüssen und Bächen, seit sie als Kind mit einem Ruderboot auf dem Neckar kenterte und endlose Sekunden unter Wasser war, bis die Hand ihres Vaters nach ihr griff und sie zurück ins Leben holte.

»Bruder Benedikt war insbesondere von den naturwissenschaftlichen Schriften sehr angetan«, nahm Hertl das Gespräch wieder auf. »Er war Naturwissenschaftler und der Meinung, dass die Kirche sich ohne Wertung auch mit den irdischen und körperlichen Seiten des Menschen beschäftigen sollte. Für ihn war Hildegard von Bingen ihrer Zeit weit voraus. Sie hatte kein Problem mit der menschlichen Sexualität, trotz Zölibat. Pater Benedikt hat sie dafür von ganzem Herzen bewundert. Er war der Meinung, wenn insbesondere die katholische Kirche ein ähnlich unverkrampftes Verhältnis zur menschlichen Sexualität entwickelt hätte wie Hildegard von Bingen, dann wären der Kirche viele Probleme erspart geblieben.«

»Wie stehen die großen Kirchen eigentlich heute zu ihr?«, fragte Emma.

»In der evangelischen Kirche wird sie als Theologin und herausragende Kirchenfrau sehr verehrt. Auch in der katholischen Kirche ist sie eine sehr angesehene Theologin. Allerdings konnte sich der Vatikan bis heute nicht dazu durchringen, sie offiziell heiligzusprechen. Eine formelle Heiligsprechung hat trotz viermaliger Prüfung durch den Vatikan bis heute nicht stattgefunden, obwohl Hildegard im römischen Kalender als heilig verzeichnet ist. Anlässlich ihres 800. Todesjahres haben katholische Frauenverbände 1979 in Rom die Bitte vorgebracht, Hildegard als Kirchenlehrerin anzuerkennen. Doch das Verfahren ist nach wie vor im Vatikan in der Prüfungsphase.«

»Und wo ist das Problem?«, fragte Emma. Ein Lastkahn kam ganz in ihrer Nähe vorbei. Man hörte Kinder, ein Hund kläffte. Doch an Bord war niemand zu sehen.

»Rom hat fast zehn Jahre lang darüber nachgedacht, Hildegard von Bingen zur Kirchenlehrerin zu erheben. Dann wurde mitgeteilt, dass Hildegard von Bingen leider erst dann zur Kirchenlehrerin ernannt werden könne, wenn sie heiliggesprochen sei. Daraufhin baten die katholischen Frauen und die deutschen Bischöfe, sie doch heiligzusprechen. Doch bisher konnte sich Rom noch nicht dazu entschließen.«

»Verstehe ich nicht«, sagte Emma.

»Das ist der offizielle Gang der Dinge«, erklärte Hertl. »Erst wird jemand heiliggesprochen und dann erst zum Kirchenlehrer oder zur Kirchenlehrerin erklärt.«

»Aber in die Verzeichnisse ist sie doch als Heilige aufgenommen worden.«

»Trotzdem hält der Vatikan bis heute daran fest, dass sie offiziell nicht heiliggesprochen wurde. Das ist genau der Grund, warum viele glauben, die Kirche zweifele die naturwissenschaftlichen Schriften der Hildegard von Bingen an, weil sie bis heute ein Problem mit der menschlichen Sexualität hat. Insbesondere dann, wenn sich Ordensleute so ausführlich mit dem körperlichen Aspekt der Sexualität beschäftigen.«

»Also«, sagte Emma und legte die Stirn in Falten, »entweder die Schriften stammen nicht von ihr, dann könnte die Kirche sie heiligsprechen. Oder die Kirche erkennt die naturwissenschaftlichen Schriften als die Werke Hildegards von Bingen an und weigert sich, sie heiligzusprechen. Aber beides gleichzeitig ergibt ja keinen Sinn.«

Hertl lachte. »Sie denken viel zu logisch. Vielleicht fürchten sie ja, dass irgendwann alte Schriften auftauchen, die eine handfeste Erklärung dafür liefern, woher Hildegard von Bingen dieses detaillierte Wissen über Sexualität hatte. Jedenfalls schweigen sich die offiziellen Stellen der Kirche aus. Schon seit vielen hundert Jahren.«

»Vielleicht wissen sie ja mehr«, sagte Emma nachdenklich. Sie beobachtete einen Schwarm kleiner Fische, der sich auf der obersten Stufe in einer Handbreit Wasser sammelte und wie ein organisches Wesen hin und her huschte. »Vielleicht liegt in den Archiven des Vatikans die Originalhandschrift der Hildegard von Bingen. Vielleicht steht da noch mehr Unaussprechliches drin als in den später überlieferten Abschriften. Vielleicht weiß die Kirche genau, warum sie diese Ordensfrau mit dem scharfen naturwissenschaftlichen Verstand nicht heiligsprechen will.«

»Tja«, sagte Hertl, »so ähnlich dachte auch Bruder Benedikt.«

»Sie glauben nicht daran?«

»Der Vatikan mit seinen Archiven liefert natürlich jede Menge Stoff für Spekulationen. Es ist so einfach, in das Schweigen der Ordensmänner Wissen hineinzudeuten. Vielleicht steckt aber auch schlicht Unwissen dahinter.«

»Warum sollten sie dann schweigen?«

»Weil Unwissen manchmal noch mehr Angst macht als Wissen.« Hertl wandte sich zur Seite und ging zwei Schritte. Fragend sah er Emma an. Sie nickte wortlos und setzte sich ebenfalls in Bewegung. Gemeinsam schlenderten sie am Ufer entlang und steuerten auf ein Gasthaus zu.

»Das heißt, Sie glauben nicht an eine Geheimhaltungsstrategie des Vatikans«, kam Emma auf das Thema zurück.

»So ist es«, erwiderte Hertl.

»Was glauben Sie dann?«

»Ich denke, es ist einfach unklar. Die detaillierten Beschreibungen der menschlichen Sexualität müssen nicht von Hildegard von Bingen stammen. Aber die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sie von ihr sind. Und deshalb hält sich der Vatikan bedeckt.«

»Das würde bedeuten, die Kirche hat tatsächlich bis heute Probleme damit, dass der Mensch ein Wesen mit natürlichen Trieben und Bedürfnissen ist.«

»Das würde es bedeuten«, sagte Hertl.

Sie näherten sich dem Gasthaus.

»Da finde ich die Verschwörungstheorie noch harmloser«, sagte Emma. »Wer weiß, was in der Originalhandschrift alles drin steht, was die Kirche bis heute ablehnt. Wäre doch auch ein Grund, Hildegard von Bingen nicht heiligzusprechen.«

»Was von ihr überliefert ist, finde ich schon revolutionär genug.«

Hertl blieb vor dem Gasthaus stehen, das auf einer Schiefertafel mit einer eindrucksvollen Liste von Gerichten warb.

»Und was hat das alles mit dem Selbstmord Bruder Benedikts zu tun?«, fragte Emma.

»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, erklärte Hertl und zuckte die Achseln.

»Aber deshalb haben Sie mir doch davon erzählt«, beharrte Emma.

Hertl runzelte die Stirn. »Hören Sie«, sagte er, und der strenge Zug um seinen Mund vertiefte sich. »Sie wollten wissen, was damals passiert ist. Ich kann Ihnen nur erzählen, was ich weiß. Dass Bruder Benedikt ein guter Biologielehrer war und fasziniert von Hildegard von Bingen. Er hat uns viel von ihr erzählt. Dann hat er sich umgebracht. Das war’s.«

Emma musterte ihn. Sie spürte, dass er log. Doch für heute sollte es genug sein. Sie lächelte. Hertl entspannte sich und erwiderte ihren Blick.

»Wollen wir?«, fragte er und sah zur Eingangstür des Restaurants.

Emma nickte.

Die Glut des Bösen: Kriminalroman
titlepage.xhtml
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_000.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_001.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_002.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_003.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_004.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_005.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_006.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_007.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_008.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_009.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_010.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_011.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_012.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_013.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_014.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_015.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_016.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_017.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_018.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_019.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_020.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_021.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_022.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_023.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_024.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_025.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_026.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_027.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_028.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_029.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_030.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_031.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_032.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_033.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_034.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_035.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_036.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_037.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_038.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_039.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_040.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_041.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_042.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_043.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_044.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_045.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_046.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_047.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_048.html
CR!P3XPBEW2DH4MNF6VM84TE8EDNS0F_split_049.html