21
Rasch sah ich mich im Zimmer um und versuchte, soviel wie möglich aufzunehmen. Zwei Tischlampen waren eingeschaltet. Das hier mußte Bennets Zimmer sein. Er besaß immer noch sämtliche Requisiten der Hobbys seiner Jugendzeit. Modellflugzeuge, Modellautos, stapelweise alte Comic-Hefte, frühe Ausgaben von MAD und Trophäen aus der Little League. An der Wand hing Jimmy Durante, annähernd ähnlich im »Malen nach Zahlen«-Verfahren gepinselt und gerahmt, daneben ein Farbfoto von Bennet selbst im Alter von dreizehn Jahren mit todschicken schwarzen Anzughosen, einem pinkfarbenen Hemd und einer schwarzen Westernkrawatte. Seine Pinnwand hing immer noch an der Schranktür. An den Kork waren verschiedene Zeitungsschlagzeilen über die Morde an Martin Luther King und Bobby Kennedy geheftet. Dazu gesellten sich Fotos der Apollo-8-Raumkapsel von dem Tag, als sie in Cape Kennedy gestartet wurde. Ein gerahmtes Filmplakat von Ein seltsames Paar hing immer noch über seinem ungemachten Bett. Es war nicht schwer herauszufinden, welches Jahr der Scheitelpunkt seines Lebens war. Andenken aus der Zeit nach 1968 waren nicht vorhanden.
Ich schaltete das Deckenlicht ein, ging auf die andere Seite des Zimmers und stellte die Handtasche neben meinen Füßen auf den Boden. Sein weitflächiger Schreibtisch verlief an der Stirnwand des Raumes mit ihren zwei Fenstern von einer Seite zur anderen. An der Wand über dem Schreibtisch waren Bücherborde angebracht. Die meisten Bücher sahen vergilbt aus, und ihre Titel erinnerten an Schulbücher, die sich im Lauf der Jahre angesammelt hatten. Ich ließ meinen Blick über ihre Rücken schweifen. Ring of Bright Water von Maxwell; No Room in the Ark von Moorehead; Stalking the Edible Life von Gibbons; Ehe Sea Around Us von Carson. Kaum oder gar keine Belletristik. Irgendwie nicht überraschend. Bennet kam mir weder intellektuell noch phantasievoll vor. Mitten auf seinem Schreibtisch prangten ein Computer und ein überdimensionaler Drucker. Die Geräte waren ausgeschaltet, und der glasige graue Bildschirm des Monitors reflektierte matt das Licht, das vom Flur hereinfiel. Es herrschte völlige Unordnung. Rechnungen, einzelne Zettel, Quittungen und Stapel ungeöffneter Post lagen überall herum. Zu meiner Linken entdeckte ich die Schreibmaschine, bedeckt von einem Schoner aus schwarzem Plastik, der voller Staub war. Obendrauf balancierte ein Stoß Bücher.
Ich ging zur Tür und steckte den Kopf in den Flur hinaus. Rasch sah ich mich in alle Richtungen um, bemerkte niemanden und schloß mich dann in Bennets Zimmer ein. Falls ich erwischt würde, gab es nun keine Möglichkeit mehr, meine Anwesenheit zu erklären. Ich ging an den Schreibtisch zurück, hob den Stoß Bücher von der Schreibmaschine und nahm die Hülle ab. Es war eine alte Remington mit hohem Gehäuse und manueller Zeilenschaltung. Bader mußte das verdammte Ding vierzig Jahre lang in seinem Besitz gehabt haben. Ich griff in meine Tasche und nahm ein leeres Blatt Papier aus dem Aktendeckel. Ich spannte es in die Maschine und tippte dieselben Formulierungen und Sätze wie zuvor. The quick browm fox jumps over the lazy dog. Die Maschine machte ein furchtbares Getöse, doch das ließ sich nun nicht ändern. Da die Tür zum Flur geschlossen war, wähnte ich mich weitgehend in Sicherheit. Sehr geehrte Miss Milhone. Max Outhwaite. Auf den ersten Blick wußte ich, daß ich einen Treffer gelandet hatte. Sowohl das a als auch das i waren schief. Das war die Maschine, die ich gesucht hatte. Ich nahm das Blatt heraus, faltete es zusammen und steckte es in meine Hosentasche. In meinem Augenwinkel geriet mir plötzlich der Name Outhwaite ins Blickfeld. Hatte ich schon Halluzinationen? Ich besah mir noch einmal die Reihe Schulbücher und kniff die Augen zusammen, als ich die beiden fand, die meine Aufmerksamkeit erregt hatten. Ring of Bright Water von Gavin Maxwell war das erste in dieser Reihe. In der Mitte, etwa sechs Bücher weiter, stand Atlantic: History of an Ocean. Der Autor hieß Feonard Outhwaite. Ich stand wie angewurzelt da und starrte die Bücher an. Gavin Maxwell und Feonard Outhwaite. Maxwell Outhwaite.
Ich stülpte die Hülle wieder über die Schreibmaschine und legte den Stoß Bücher an seinen früheren Platz zurück. Auf einmal hörte ich ein leises Grollen, wie Donner. Ich regte mich nicht. Leere Kleiderbügel begannen zu klirren und klapperten im Kleiderschrank gegeneinander wie ein Windglockenspiel. Sämtliche Fugen im Haus begannen leise zu quietschen, und das Fensterglas gab dort, wo der Kitt von den Scheiben geschwunden war, ein durchdringendes Schnarren von sich. Nägel und Holzschrauben zirpten. Ich legte eine Hand auf das Bücherregal, um mich zu stützen. Unter mir rutschte das ganze Haus hin und her, vielleicht nicht mehr als zwei Zentimeter, aber mit einer Heftigkeit, die an einen plötzlichen starken Windstoß erinnerte oder an einen Zug, der auf den Gleisen schaukelt. Ich empfand keine Angst, war aber in Alarmbereitschaft und fragte mich, ob ich wohl noch Zeit hätte, das Haus zu verlassen. Ein altes Haus wie das hier mußte viele kleine Beben überstanden haben, aber man wußte ja nie, was sie noch mit sich brachten. Bis jetzt stufte ich es im Bereich zwischen drei und vier ein. Solange es nur von kurzer Dauer war, dürfte es keinen größeren Schaden anrichten. Die Lichter flackerten leicht, als hätten sich Kabel gelockert und stießen nun immer wieder gegeneinander. Der Blitzeffekt löste eine Reihe verschwommener, blaßblauer Bilder aus, in deren Mitte auf der anderen Seite des Zimmers eine dunkle Gestalt erschien. Ich sah genau hin, blinzelte und versuchte, deutlich zu sehen, während sich der Schatten auf eine Ecke zubewegte und dann mit der Wand verschmolz.
Wie gelähmt stand ich da und stieß unwillkürlich einen kleinen Schreckenslaut aus. Das Beben ließ allmählich nach, und die Lampen leuchteten wieder gleichmäßig. Ich klammerte mich an das Bücherregal und lehnte geschwächt den Kopf auf den Arm, während ich versuchte, das frostige Gefühl abzuschütteln, das mir den Rücken hinabkroch. Ich rechnete jeden Moment damit, Enid von der Küchentreppe her rufen zu hören, und ich malte mir aus, daß Myrna, hochgeschreckt durch das Erdbeben, hier auftauchen würde. Ich wollte auf gar keinen Fall, daß eine von ihnen heraufkäme und nach mir suchte. Ich schnappte mir meine Handtasche und durchquerte den Raum. Draußen im Flur sah ich mich hastig in beide Richtungen um. Ich schloß hinter mir die Tür ab und drehte den Schlüsse! so unsanft im Schloß herum, daß er sich beinahe in meiner Hand verbog.
Auf Zehenspitzen lief ich den Flur hinab und machte dabei einen eiligen Umweg über Baders Zimmer. Ich steckte den Schlüssel wieder in die Tür, wo ich ihn gefunden hatte, und ging dann rasch in sein Arbeitszimmer. Ich öffnete einen Büroschrank und schob den Aktendeckel zwischen zwei Ordner mit ganz anderen Papieren, wo ich ihn später wiederfinden würde. Ich ging wieder zur Tür und hinaus in den Flur. Rasch eilte ich auf die schweren Vorhänge am Ende des Flurs zurück, drängte mich hindurch und hastete den rückwärtigen Korridor entlang. Geräuschvoll hüpfte ich die Stufen hinab und betrat die Küche. Myrna war nirgends zu sehen. Enid goß seelenruhig einen dicken, gelben Teig in die Springform.
Ich legte mir eine Hand auf die Brust, um meinen Atem zu beruhigen. »Mein Gott. Das war vielleicht was. Einen Moment lang dachte ich, jetzt sind wir wirklich dran.«
Sie blickte mit verständnisloser Miene auf. Ich sah ihr an, daß sie nicht die leiseste Ahnung hatte, wovon ich sprach.
Ich blieb wie angewurzelt stehen. »Das Erdbeben«, sagte ich.
»Ich habe kein Erdbeben bemerkt. Wann denn?«
»Enid, Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen. Tun Sie mir das nicht an. Es muß mindestens Stärke vier auf der Richter-Skala gehabt haben. Haben denn hier unten die Lichter nicht geflackert?«
»Nicht daß ich wüßte.« Ich sah ihr dabei zu, wie sie mit einem Gummispachtel die letzten Teigreste aus der Schüssel in die Form kratzte.
»Das ganze Haus hat gewackelt. Haben Sie denn gar nichts gemerkt?«
Sie schwieg einen Moment und senkte den Blick auf die Schüssel. »Sie klammern sich an Menschen, stimmt’s?«
»Was?«
»Es fällt Ihnen schwer loszulassen.«
»Nein. Das stimmt überhaupt nicht. Ich bekomme immer wieder zu hören, daß ich unabhängiger sei, als mir guttut.«
Sie schüttelte den Kopf, noch bevor ich den Satz zu Ende gesprochen hatte. »Unabhängigkeit hat nichts mit Klammern zu tun«, sagte sie.
»Wovon reden Sie eigentlich?«
»Es sind nicht die Geister, die uns verfolgen. So funktioniert es nicht. Sie sind unter uns, weil wir sie nicht loslassen.«
»Ich glaube nicht an Geister«, sagte ich matt.
»Manche Menschen können die Farbe Rot nicht sehen. Das heißt aber nicht, daß es sie nicht gibt«, erwiderte sie.
Als ich ins Büro zurückkam, saß Dietz auf meinem Drehstuhl und hatte die Füße auf den Schreibtisch gelegt. Er hatte eines meiner Imbißpäckchen geöffnet und kaute an einem Speck-Salat-Tomaten-Sandwich. Ich hatte immer noch nicht zu Mittag gegessen, also schnappte ich mir das andere Sandwich, nahm ein Getränk aus dem Kühlschrank und setzte mich ihm gegenüber.
»Wie bist du beim Dispatch vorangekommen?«
Er legte die vier Maddison-Nachrufe auf den Tisch, damit ich sie lesen konnte. »Ich habe Jeff Katzenbach das Archiv durchsuchen lassen. Der Mädchenname war Bangham, also bin ich rüber in die Bücherei gegangen und habe im Adreßbuch nach anderen Banghams in der Gegend gesucht. Fehlanzeige. Drei von diesen Nachrufen habe ich im Stadtarchiv nachgeprüft, indem ich mir die Totenscheine angesehen habe. Claire ist nach wie vor fraglich.«
»Inwiefern?« Ich riß den Verschluß meiner Limodose auf und begann an der Verpackung aus Zellophan und Plastik zu zerren, in die mein Sandwich eingesiegelt war.
»Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, wie sie ums Leben gekommen ist«, sagte Dietz. »Es würde mich interessieren, ob wir eine Bestätigung für ihren Selbstmord bekommen können, einfach um die Angelegenheit ad acta zu legen. Ich habe mir den Namen einer Privatdetektivin in Bridgeport, Connecticut, besorgt und bei ihrem Auftragsdienst eine ausführliche Nachricht hinterlassen. Ich hoffe, jemand ruft mich zurück.«
»Was spielt es für eine Rolle, wie Claire gestorben ist?« Ich versuchte, die Versiegelung des Zellophans aufzubeißen. Sollte das womöglich kindersicher sein, wie Gift? Dietz streckte die Hand nach dem verpackten Sandwich aus, und ich reichte es ihm über den Tisch.
»Angenommen, sie wurde ermordet? Angenommen, sie war das Opfer eines Unfalls mit Fahrerflucht?« Er befreite das Sandwich aus seiner Hülle und gab es mir wieder.
»Da könnte was dran sein«, sagte ich. Ich schwieg, während ich aß, und las noch einmal die Nachrufe durch. Sie waren chronologisch sortiert und begannen mit dem Tod des Vaters Ende November 1967. Dietz hatte sie alle vier auf eine Seite kopiert.
MADDISON, Francis M., 53,
am Dienstag, dem zi. November unerwartet verstorben. Fünfundzwanzig Jahre lang treusorgender und verehrter Ehemann von Caroline B. Maddison; geliebter Vater der Töchter Claire und Patricia. Kundendienstleiter im Colgate Automotive Center und Mitglied der Community Christian Church. Allseits beliebt, wird er von Familie und Freunden schmerzlich vermißt werden. Beisetzung: Freitag, 11.30 Uhr. Anstelle von Blumen wird um Spenden an die Amerikanische Herzgesellschaft gebeten.
Ich sah zu Dietz auf und sagte: »Dreiundfünfzig. Das ist jung.«
»Sie waren alle jung«, sagte Dietz.
MADDISON, Patricia Anne, 17,
am Donnerstag, dem 9. Mai im Santa Teresa Hospital verstorben. Die Hinterbliebenen sind ihre sie liebende Mutter Caroline B. Maddison und ihre treue Schwester Claire Maddison. Auf Wunsch der Familie findet die Beisetzung in aller Stille statt.
MADDISON, Caroline B., 58,
am Dienstag, dem 29. August nach längerer Krankheit zu Hause verstorben. Am 22. Januar als Tochter von Helen und John Bangham in Indianapolis, Indiana, geboren, machte sie an der Universität von Indiana einen Abschluß in Hauswirtschaftslehre. Caroline war eine aufopfernde Gattin, Mutter und Hausfrau und überzeugte Christin. Ihr vorausgegangen sind ihr Mann, Francis M. Maddison, und ihre Tochter Patricia Anne Maddison. Hinterblieben ist ihre trauernde Tochter Claire Maddison, wohnhaft in Bridgeport, Connecticut. Es ist kein Trauergottesdienst vorgesehen. Spenden an das Hospiz Santa Teresa werden gerne angenommen.
MADDISON, Claire, 39,
frühere Bürgerin Santa Teresas, verstorben am Samstag, dem 2. März in Bridgeport, Connecticut. Tochter der Verstorbenen Francis M. und Caroline B. Maddison. Claire beendete 1963 die Santa Teresa High School und machte 1967 ihren Abschluß an der Universität von Connecticut. Ihre Ausbildung als Lehrerin für die Oberstufe und einen Magistergrad in romanischen Sprachen erwarb sie am Boston College. Sie unterrichtete Französisch und Italienisch an einer privaten Mädchenschule in Bridgeport, Connecticut. Trauergottesdienst am Dienstag in der Memorial Park Chapel.
Ich las die Meldung von Claires Tod zweimal durch. »Das war ja erst letztes Jahr.«
»Gott sei Dank hat sie ihren Mädchennamen wieder angenommen«, sagte Dietz. »Ich weiß nicht, wie wir sie hätten finden sollen, wenn sie den Namen von ihrem Ex behalten hätte.«
»Wer auch immer er war«, fügte ich hinzu. »Sie war vermutlich schon ewig geschieden. Es gab kaum Familie. Man sieht die Namen der Überlebenden immer weniger werden, bis keiner mehr übrig ist. Das ist doch deprimierend, oder nicht?«
»Ich dachte, die Mutter könnte vielleicht noch lebende Verwandte in Indiana haben, aber irgendwie schaffe ich es nicht, jemanden aufzutreiben«, sagte Dietz. »Ich habe es schon bei der Telefonauskunft in Indianapolis versucht. Es waren keine Bang-hams verzeichnet, also sieht es zumindest oberflächlich danach aus, als hätten wir es nicht mit einem weitläufigen Clan zu tun. Um ganz sicherzugehen, habe ich noch im CALI-Adreßbuch nachgesehen und einen Privatdetektiv in Indianapolis angerufen. Ich habe ihn gebeten, die Geburtsdaten von Caroline Bang-ham zu überprüfen, um zu sehen, ob dabei irgend etwas herauskommt. Womöglich bringt es nicht viel, aber er hat gesagt, er würde sich bei uns melden.«
Ich verzog das Gesicht. »Weißt du was? Ich glaube, wir drehen uns hier im Kreis. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß ein verzweifeltes Familienmitglied siebzehn Jahre später auf Rache sinnt.«
»Vielleicht nicht«, sagte er. »Wenn Bader nicht gestorben wäre, hätte es gar keinen Grund gegeben, nach Guy zu suchen. Er hätte bis ans Ende seiner Tage in Marcella leben können.«
»Es war nicht direkt Baders Tod. Es war das Testament«, sagte ich.
»Womit wir wieder bei den fünf Millionen wären.«
»Vermutlich ja«, räumte ich ein. »Ich sage dir, was mir Kummer macht. Es kommt mir so vor, als hätte ich Anteil an dem, was Guy zugestoßen ist.«
»Weil du ihn gefunden hast.«
»Genau. Ich habe seinen Tod nicht verursacht, nicht im eigentlichen Sinne des Wortes, aber wenn ich nicht gewesen wäre, wäre er meiner Meinung nach in Sicherheit gewesen.«
»He, komm schon. Das stimmt doch nicht. Tasha hätte eben einen anderen Detektiv engagiert. Vielleicht keinen so guten wie dich...«
»Keine Schmeicheleien.«
»Hör mal, irgend jemand hätte ihn gefunden. Zufällig warst es eben du.«
»Ja, gut«, sagte ich. »Es ist trotzdem ein beschissenes Gefühl.«
»Das glaube ich dir.«
Das Telefon klingelte. Dietz nahm ab und reichte mir den Hörer, wobei er lautlos den Namen Enid artikulierte.
Ich nickte und nahm den Hörer entgegen. »Hi, Enid. Hier ist Kinsey. Wie geht es Ihnen?«
»Nicht besonders«, sagte sie mürrisch. »Hat Myrna Sie angerufen?«
»Nicht daß ich wüßte. Lassen Sie mich mal nachfragen.« Ich legte eine Hand über die Sprechmuschel. »Hat die Haushälterin der Maleks angerufen oder eine Nachricht für mich hinterlassen?«
Dietz schüttelte den Kopf, und ich wandte mich wieder Enid zu. »Nein, ich habe nichts von ihr gehört.«
»Tja, das ist aber sehr seltsam. Sie hat geschworen, daß sie Sie anrufen würde. Ich bin zum Supermarkt gefahren und war nur fünfzehn oder zwanzig Minuten lang weg. Sie sagte, sie wäre sicher hier, wenn ich zurückkäme, aber jetzt ist sie verschwunden und nirgends zu finden. Ich dachte, Sie hätten sie vielleicht gebeten, in die Stadt zu kommen.«
»Tut mir leid. Ich habe nichts von ihr gehört. Worüber wollte sie denn mit mir sprechen?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß, daß sie etwas belastet hat, aber sie wollte sich nicht genauer dazu äußern. Ihr Auto steht immer noch hinter dem Haus. Das ist ja das Merkwürdige«, sagte sie.
»Könnte sie nicht zum Arzt gegangen sein? Wenn sie sich wirklich nicht gut fühlte, hat sie sich ja vielleicht ein Taxi gerufen.«
»Das könnte natürlich sein, aber man sollte doch meinen, daß sie auf mich gewartet hätte, damit ich sie fahre. Das sieht ihr überhaupt nicht ähnlich. Sie hat eingewilligt, mir mit dem Abendessen zu helfen. Ich habe um sieben einen Termin und muß bald hier weg. Wir haben es ausführlich besprochen.«
»Vielleicht geht sie irgendwo auf dem Grundstück spazieren?«
»Daran habe ich auch schon gedacht«, sagte sie. »Ich bin hinausgegangen und habe gerufen, aber sie ist und bleibt verschwunden.«
»Enid, seien wir doch realistisch. Ich glaube nicht, daß man bei einer Abwesenheit von nicht einmal einer Stunde schon von Verschwinden sprechen kann.«
»Ich mache mir Sorgen, daß etwas passiert ist.«
»Was zum Beispiel?«
»Ich weiß nicht. Deshalb habe ich Sie ja angerufen. Weil ich Angst habe.«
»Was noch?«
»Das ist alles.«
»Nein, ist es nicht. Sie verschweigen mir etwas. Ich meine, so ist es einfach nicht schlüssig. Glauben Sie, daß sie von Außerirdischen entführt worden ist, oder was?«
Ich konnte hören, wie sie zögerte. »Ich hatte den Eindruck, sie wußte etwas über den Mord.«
»Ehrlich? Hat sie das gesagt?«
»Sie hat es durchblicken lassen. Sie war zu nervös, um mehr zu sagen. Ich glaube, sie hat an jenem Abend etwas gesehen, was sie nicht hätte sehen sollen.«
»Mir hat sie erzählt, sie hätte geschlafen.«
»Tja, hat sie auch. Sie hatte Schmerzmittel und eine Schlaftablette genommen und schlief wie eine Tote, aber später ist ihr eingefallen, daß sie aufgewacht ist und jemand am Fußende ihres Betts stand.«
»Moment mal, Enid. Sie sprechen aber nicht von diesen Spukgeschichten...«
»Ganz und gar nicht. Ich gebe nur wieder, was sie gesagt hat. Sie hat gesagt, zuerst hätte sie geglaubt zu träumen, aber je mehr sie darüber nachdachte, desto überzeugter war sie davon, daß es Wirklichkeit war.«
»Was?«
»Die Person, die sie gesehen hat.«
»Das habe ich inzwischen verstanden, Enid. Wen hat sie gesehen?«
»Das wollte sie mir nicht verraten. Sie hatte Schuldgefühle, weil sie bis jetzt nichts gesagt hatte.«
»Myrna hat wegen allem Schuldgefühle«, sagte ich.
»Ich weiß«, sagte Enid. »Aber ich glaube, daß sie sich auch Sorgen über die Konsequenzen gemacht hat. Sie dachte, sie könnte in Gefahr sein, wenn sie den Mund aufmachte. Ich habe ihr geraten, dann solle sie es der Polizei sagen, aber davor hatte sie Angst. Sie sagte, sie wolle lieber zuerst mit Ihnen sprechen und dann mit der Polizei. Es sieht ihr überhaupt nicht ähnlich, ohne ein Wort zu verschwinden.«
»Haben Sie in ihrem Zimmer nachgesehen?«
»Das war das erste, was ich getan habe. Das ist nämlich das andere, was mich stört. Irgend etwas stimmt nicht. Myrna ist ausgesprochen pingelig. Bei ihr muß alles ganz genau stimmen. Ich möchte sie nicht kritisieren, aber so ist es.«
»Und jetzt ist ihr Zimmer durcheinander?«
»Nicht direkt durcheinander, aber es stimmt irgendwie nicht.«
»Wer ist sonst noch im Haus? Ist außer Ihnen noch jemand da?«
»Bennet war hier, aber ich glaube, er ist wieder weg. Er ist zum Mittagessen vorbeigekommen. Ich habe ihm ein Sandwich gemacht, und er hat es mit auf sein Zimmer genommen. Er muß wieder gegangen sein, als ich im Supermarkt war. Christie und Donovan müssen jede Minute zurückkommen. Ich möchte Sie ja nicht nerven, aber ich habe das Gefühl, hier stimmt irgend etwas nicht.«
Dietz warf mir einen fragenden Blick zu. Da er meinen Teil des Gesprächs mit Enid gehört hatte, war er entsprechend verwundert. »Moment mal bitte.« Ich legte die Handfläche über die Sprechmuschel. »Wie lange bist du noch hier?«
»Mindestens eine Stunde«, antwortete er. »Falls du irgendwann wieder auflegen würdest, bekäme ich vielleicht noch einen Anruf von der Ostküste, auf den ich warte. Was gibt’s denn für Probleme?«
»Es ist wegen Myrna. Ich erzähl’s dir gleich.« Ich wandte mich wieder an Enid. »Ich glaube, ich komme am besten vorbei«, sagte ich. »Vielleicht hat sie ja zu Christie irgend etwas gesagt, bevor sie und Donovan zum Bestattungsinstitut gefahren sind. Sind Sie sicher, daß sie keine Nachricht hinterlassen hat?«
»Hundertprozentig.«
»Ich bin in einer Viertelstunde da.«
»Ich möchte Ihnen keine Umstände machen.«
»Kein Problem, ich fahre gleich los.«
Ich nahm mein Sandwich und mein Getränk mit und steuerte mit einer Hand, während ich mein Mittagessen beendete. Die kalte Limodose hatte ich mir zwischen die Knie geklemmt. Von einem Gang in den anderen schalten zu müssen ist ausgesprochen lästig, wenn man stilvoll speisen möchte. Wenigstens kannte ich den Weg. Ich hätte ihn mit geschlossenen Augen fahren können.
Enid hatte das Tor für mich aufgelassen. Ich fuhr auf den Vorplatz und parkte mein Auto an einer Stelle, von der ich langsam fand, daß sie für mich reserviert sein sollte. Donovans Kleintransporter stand neben der Garage. Zuerst dachte ich, Donovan sei zurückgekommen, aber dann fiel mir wieder ein, daß er ja mit dem BMW weggefahren war. Die beiden offenstehenden Garagen waren nach wie vor leer. Die Auffahrt zog sich links am Haus vorbei. Zum ersten Mal bemerkte ich einen separaten Parkplatz für drei Autos. Momentan standen dort ein leuchtendgelbes VW-Kabrio und etwas, das wie ein Toyota aussah, ein blaß-metallicblauer Wagen, vielleicht drei oder vier Jahre alt.
Enid hatte die Hintertür geöffnet und stand auf der Schwelle. Sie hatte zum Einkaufen ihre Schürze abgelegt und trug nun eine Jacke, als fröre sie angesichts der Umstände.
Ich betrat die Waschküche. »Immer noch kein Zeichen von ihr?« fragte ich und folgte Enid durch die Tür, die in einen rückwärtigen Flur führte.
»Kein Mucks«, antwortete sie. »Es tut mir leid, wenn ich Ihnen zur Last falle. Vermutlich führe ich mich albern auf.«
»Keine Sorge. Immerhin ist hier im Haus ein Mord geschehen. Jeder steht unter nervlicher Anspannung. Gehört eines der Autos dort draußen Myrna?«
»Der Toyota«, sagte sie. Sie blieb vor einer Tür am Ende des Korridors stehen. »Das hier ist ihres.«
»Haben Sie noch einmal an ihre Tür geklopft, seit wir telefoniert haben?«
Enid schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich habe mir selbst Angst eingejagt. Ich wollte nichts mehr tun, bevor Sie kämen.«
»Mein Gott, Enid. Jetzt jagen Sie mir aber auch Angst ein«, sagte ich. Ich klopfte an die Tür, den Kopf gegen das Holz gelehnt, und lauschte auf Geräusche, die darauf hinweisen könnten, daß Myrna zurückgekommen war. Ich wollte nur ungern hineinplatzen. Sie könnte ja ein Nickerchen machen oder nackt sein, weil sie gerade aus der Dusche kam. Ich wollte sie weder ohne Gebiß noch mit abgeschnalltem Holzbein überraschen. Ich klopfte erneut mit nur einem Knöchel. »Myrna?«
Völlige Stille.
Ich probierte den Türknauf, der sich widerstandslos drehen ließ. Ich öffnete die Tür einen Spalt weit und spähte um sie herum. Das Wohnzimmer war leer. Mir gegenüber lag die offenstehende Tür zum Schlafzimmer, und auch dieser Raum wirkte leer. »Myrna, sind Sie da? Hier ist Kinsey Millhone«, rief ich. Ich wartete einen Augenblick und durchquerte dann das Zimmer. Im Vorbeigehen legte ich eine Hand auf den Fernseher, aber das Gehäuse war kalt.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, daß sie nicht da ist«, sagte Enid.
Ich warf einen Blick ins Schlafzimmer und sah gleich, warum Enid das Gefühl hatte, daß etwas nicht stimmte. Oberflächlich betrachtet wirkten beide Räume ordentlich und unberührt, aber dennoch war ich irritiert. Es waren die kleinen Dinge, die Feinheiten. Das Bett war gemacht, doch die Decke war nicht ganz glattgezogen. Ein Bild an der Wand hing leicht schief.
»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?« Ich beugte mich hinab und spähte unters Bett, wobei ich mir wie ein Idiot vorkam. Darunter war nichts zu sehen, außer einem Paar alter Pantoffeln.
»Muß um die Mittagszeit gewesen sein.«
»War Bennet um diese Zeit hier?«
»Keine Ahnung. Er war weg, als ich vom Einkaufen zurückkam. Weiter weiß ich nichts.«
Im Wohnzimmer saß der Lampenschirm schief auf der Stehlampe, und an den Kerben im Teppich war eindeutig zu erkennen, daß ihr Fuß verschoben worden war. Hatte es ein Gerangel gegeben? Ich sah in den Schrank. Enid folgte mir wie ein Kind, immer drei Schritte hinterher, und fühlte sich vermutlich ebenso unbehaglich wie ich dabei, hier einzudringen.
»Können Sie sehen, ob alle ihre Sachen da sind? Fehlt etwas? Schuhe? Ein Mantel?«
Enid musterte die Kleiderstange. »Ich glaube, es ist alles da«, sagte sie und deutete dann auf etwas. »Da sind ihre Koffer und ihr Kleidersack.«
»Was ist mit ihrer Handtasche?«
»Die steht in der Küche. Ich wußte, Sie würden danach fragen, deshalb habe ich sie aufgemacht. Es fehlt nichts.«
Ich betrat das Badezimmer. Unter meinem Schuh hörte ich ein leises Knacken, gefolgt von der Art Knirschen, die einen an zerbrochenes Glas auf Keramikfliesen denken läßt. Ich sah nach unten und entdeckte einen Brösel getrockneter Erde, wie von einer Schuhsohle abgefallen, und zwei winzige Stückchen Kies. »Seien Sie vorsichtig. Ich möchte nicht, daß wir hier etwas verändern«, sagte ich zu Enid, die dicht hinter mir ins Bad spähte.
»War hier jemand drinnen?«
»Das weiß ich noch nicht. Aber es könnte sein.«
»Es sieht aus, als hätte jemand aufzuräumen versucht und sich dabei nicht besonders geschickt angestellt«, sagte sie. »Myrna hat immer einen Zettel hingelegt, wenn sie weggegangen ist. Sie würde nicht sang- und klanglos verschwinden.«
»Quasseln Sie nicht soviel. Ich versuche mich zu konzentrieren.«
Ich studierte das Medizinschränkchen. Sämtliche gängigen Toilettenartikel standen noch auf den Borden: Zahnbürste, Zahnpasta, Deodorant, alle möglichen Schminkutensilien, rezeptpflichtige Medikamente. Der Duschvorhang war knochentrocken, aber ein dunkelblauer Waschlappen war über den Rand des Duschbeckens gelegt und vor kurzem benutzt worden. Ich besah mir das Becken genauer. Um die schmale Messingarmatur für den Abfluß war ein wenig Wasser stehengeblieben. Wenn mich mein Blick nicht trog, war es ganz leicht rosa gefärbt. Ich nahm den Waschlappen und drückte ein bißchen der darin verbliebenen Flüssigkeit aus. Ein hellroter Spritzer hob sich gegen das Weiß des Beckens ab. »Rufen Sie lieber 911. Das hier ist Blut«, sagte ich.
Während Enid sich auf den Weg machte, um die Polizei anzurufen, schloß ich die Tür zu Myrnas Räumen wieder und ging durch die Waschküche zur Hintertür. Ich konnte Enid in der Küche telefonieren hören; ihre Stimme klang erschüttert und ein bißchen schrill. Irgend jemand mußte auf eine Gelegenheit gewartet haben, Myrna allein zu erwischen. Draußen durchquerte ich den kleinen Innenhof und ging nach rechts zur Einfahrt. Myrnas Auto war abgeschlossen, und so ging ich außen herum und spähte auf Vorder- und Rücksitze. Beide waren leer. Nichts lag auf dem Armaturenbrett. Ich war neugierig, ob der Kofferraum wohl abgeschlossen wäre, wollte ihn aber nicht anfassen. Das sollte die Polizei tun. Zu meiner Rechten mündete die Auffahrt in eine Sackgasse mit Raum für noch drei Autos. Dahinter sah ich ein langes Stück der graurosa Mauer und ein Gewirr von Büschen. Angenommen, sie war überstürzt umgebracht worden? Was würde ein Täter dann mit der Leiche anfangen?
Ich ging wieder zurück zu den Garagen. Donovans Lieferwagen stand wesentlich näher an der Vorder- als an der Hinterseite des Hauses. Irgend etwas an den Spuren von Kies und getrockneter Erde erweckte meine Aufmerksamkeit. Ich streckte die Hand aus. Die Motorhaube des Lieferwagens war warm. Ich ging um ihn herum, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und inspizierte sein Äußeres. Die Auskleidung der Ladefläche war voller Steinchen und Laub. Ich äugte über die Heckklappe und besah mir die Auskleidung von nahem. Ich ließ die Finger davon. Was auch immer geschehen war, diesmal konnten sie es nicht Jack anlasten.
In der Ferne konnte ich das Röhren eines Motorrads hören, und nur Augenblicke später kam Bennet bereits auf Jacks Harley-Davidson die Auffahrt heraufgebraust. Ich trat von dem Lieferwagen weg und sah ihm zu, wie er sein Parkritual absolvierte. Seine schwarzen Lederhandschuhe sahen so plump aus wie Topfhandschuhe. Er streifte sie ab, legte sie auf den Sitz und stellte seinen Helm obendrauf. Er schien nicht besonders begeistert davon zu sein, mich zu sehen. »Was machen Sie denn hier?«
»Enid hat mich wegen Myrna angerufen. Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«
»Beim Frühstück. Beim Mittagessen nicht. Enid hat mir erzählt, daß Myrna sich nicht wohl fühlte. Was ist denn los?«
»Ich habe keine Ahnung. Anscheinend ist sie verschwunden. Enid hat die Polizei angerufen. Sie wird wohl gleich kommen, nehme ich an.«
»Die Polizei? Wozu denn?«
»Sparen Sie sich doch den Schwachsinn für die Cops«, sagte ich.
»Moment mal. >Schwachsinn<? Was ist denn in Sie gefahren? Ich habe die Schnauze voll davon, wie ein Blödmann behandelt zu werden«, sagte er.
Ich wandte mich ab und ging davon.
»Wohin gehen Sie?«
»Was spielt das schon für eine Rolle? Wenn ich noch eine Minute hier stehenbleibe, werde ich bloß wieder ausfällig.«
Bennet ging neben mir her. »Es wäre ja nicht das erste Mal. Ich habe von Ihrer Unterhaltung mit Paul gehört. Er war stinksauer.«
»Na und?« sagte ich.
»Ich weiß, daß Sie glauben, wir hätten etwas getan.«
»Natürlich glaube ich das.«
Er berührte meinen Arm. »Hören Sie. Bleiben Sie mal eine Minute hier und lassen Sie uns darüber reden.«
»Reden Sie ruhig, Bennet. Ich höre Ihnen mit Begeisterung zu.«
»In Ordnung. Okay. Ich kann genausogut ehrlich zu Ihnen sein, weil die Wahrheit nicht halb so schlimm ist, wie Sie denken.«
»Woher wollen Sie wissen, was ich denke? Ich denke, daß Sie die Maddisons um wertvolle Dokumente im Wert von fünfzigtausend Dollar betrogen haben.«
»Jetzt aber mal halblang. Warten Sie. Wir haben es nicht böse gemeint. Es war nur ein Streich. Wir wollten nach Vegas fahren, waren aber pleite. Alles, was wir wollten, waren ein paar Kröten. Wir waren doch nur Jungs«, sagte er.
»Jungs? Sie waren keine Jungs. Sie waren dreiundzwanzig Jahre alt. Sie haben ein Verbrechen begangen. Ist das Ihre Art der Verarbeitung, es einen Streich zu nennen? Sie hätten ins Gefängnis kommen müssen.«
»Ich weiß. Es tut mir leid. Es ist uns entglitten. Wir hätten nie gedacht, daß wir es durchziehen könnten, und als wir endlich gemerkt haben, wie schwerwiegend es war, hatten wir nicht den Mut, zuzugeben, was wir angestellt hatten.«
»Es schien Ihnen nichts auszumachen, Guy die Schuld in die Schuhe zu schieben«, sagte ich.
»Hören Sie mal, er war weg. Und er hatte all die anderen Dinge angestellt. Die Familie war fertig mit ihm, und Dad nahm es einfach als selbstverständlich an. Wir waren Arschlöcher. Das weiß ich. Die Sache belastet mich immer noch.«
»Tja, damit sind Sie natürlich entschuldigt«, sagte ich. »Was ist denn mit den Briefen passiert? Wo sind sie?«
»Paul hat sie bei sich zu Hause. Ich habe ihm gesagt, er solle sie vernichten, aber das brachte er nicht über sich. Er hatte Angst davor, sie in Umlauf zu bringen.«
Ich merkte, wie sich meine Mundwinkel angeekelt nach unten verzogen. »Sie haben also nicht mal das Geld bekommen? Sie sind wirklich ein Blödmann«, sagte ich. »Reden wir doch mal über Patty.«
»Das Kind war nicht von mir. Ich schwöre es. Ich habe nie mit ihr gebumst.«
»Aber Paul schon, nicht wahr? Und Jack auch.«
»Eine Menge Typen haben mit ihr gebumst. Es war ihr egal.«
»Guy nicht. Er hat sie nie angefaßt«, wandte ich ein.
»Guy nicht«, wiederholte er. »Das stimmt wohl.«
»Also, von wem war das Baby?«
»Vermutlich von Jack«, sagte Bennet. »Aber das bedeutet nicht, daß er Guy umgebracht hat. Und ich war es auch nicht. So etwas würde ich nie tun«, sagte er.
»Ach, kommen Sie. Werden Sie erwachsen. Sie haben nie die Verantwortung für das übernommen, was passiert ist, keiner von Ihnen. Sie haben Guy die Schuld für alles in die Schuhe geschoben, was Sie angerichtet haben. Selbst als er zurückkam, haben Sie ihn weiter zappeln lassen.«
»Was hätte ich denn sagen sollen? Da war es schon zu spät.«
»Nicht für ihn, Bennet. Da war Guy noch am Leben. Jetzt ist es zu spät.«
Ich hob den Blick und sah Enid an der Hecke stehen. Ich hatte keine Ahnung, wieviel sie mitgehört hatte. Sie sagte: »Ihr Kollege ist am Telefon. Die Polizei ist unterwegs.«
Ich ging an Enid vorbei, die kleine Treppe hinunter und über den Hof zur Küchentür. Der Hörer lag auf der Arbeitsfläche, wo ich ihn aufnahm. »Hallo, ich bin’s. Was gibt’s Neues?«
»Ist mit dir alles in Ordnung? Du hörst dich übel an.«
»Ich habe keine Zeit, es dir zu erzählen. Das würde zu lange dauern. Ich hätte mich auf Bennet stürzen und den Kerl totschlagen sollen.«
»Hör mal gut zu. Ich habe eben mit der Privatdetektivin in Bridgeport, Connecticut, gesprochen. Sie war gerade im Gerichtsgebäude, als sie bei ihrem Auftragsdienst die Nachrichten abgefragt hat. Sie ist schnurstracks zu der entsprechenden Stelle gegangen und hat einen Antrag auf Claire Maddisons Totenschein gestellt.«
»Was war die Todesursache?«
»Es gab keinen Totenschein«, sagte er. »Da sie schon einmal dabei war, hat sie ein paar Anrufe getätigt und Claires letzte bekannte Adresse herausgefunden. Den Stadtwerken zufolge hat sie bis letzten März in Bridgeport gelebt.«
»Wie kam dann der Dispatch dazu, einen Nachruf auf sie zu bringen?«
»Weil sie ihnen einen geschickt hat. Kein Mensch hat je einen Nachweis verlangt. Ich habe selbst beim Dispatch angerufen und den gesamten Vorgang überprüft. Sie nehmen die Informationen entgegen und drucken sie so, wie sie sie bekommen.«
»Sie hat das Ganze erfunden?«
»Da bin ich mir absolut sicher«, sagte er.
»Und wohin ist sie dann gezogen?«
»Dazu komme ich gleich. Diese Ermittlerin in Bridgeport hat noch eine kleine Neuigkeit herausgefunden. Claire hat nie als Lehrerin gearbeitet. Sie war Pflegeschwester.«
»Scheiße.«
»Sag ich ja. Ich komme gleich rüber. Tu nichts, bis ich da bin.«
»Was soll ich schon tun? Ich kann mich nicht mehr rühren.«
Ich weiß nicht, wie lange ich mit dem Telefonhörer in der Hand vor der Arbeitsfläche stand. Im Nu sah ich, wie alles zusammenpaßte. Ein paar Antworten fehlten mir zwar noch, aber alles andere fügte sich ordentlich ineinander. Irgendwie hatte Claire Maddison von Baders unheilbarer Krankheit erfahren. Dann schickte sie dem Dispatch einen Nachruf, um diese Tür zu schließen. Sie verwandelte sich in Myrna Sweetzer, packte ihre persönliche Habe zusammen und zog wieder nach Santa Teresa. Bader war schwierig. Als Patient war er vermutlich nahezu unmöglich. Er mußte schon eine Menge Pflegeschwestern verschlissen haben, und so war es nur eine Frage der Zeit, bis Myrna zum Zug kam. Als sie erst einmal im Haus war, hatte sie die Familie in der Hand. Sie hatte lange gewartet, aber jetzt war die Gelegenheit gekommen, Unheil zu stiften.
Ich versuchte mich in sie hineinzuversetzen. Wo war sie jetzt? Sie hatte einen großen Teil ihrer Mission erfüllt, also war es Zeit, sich aus dem Staub zu machen. Sie hatte ihr Auto, ihre Handtasche und all ihre Kleidung zurückgelassen. Was würde ich tun, wenn ich Claire Maddison wäre? Das ganze Psychodrama mit der vermißten Myrna war nur ein Deckmantel für ihre Flucht. Sie mußte sich ausgemalt haben, wie die Polizei das Grundstück umgräbt und nach einer Leiche sucht, die es nie gegeben hatte. Um ihr Verschwinden glaubhaft zu Ende zu spielen, mußte sie ihre Abreise vollziehen, ohne gesehen zu werden, was ein Taxi ausschloß. Sie könnte ein Auto stehlen, aber das war von vornherein riskant. Und wie würde sie die Stadt verlassen? Würde sie trampen? Ein Autofahrer auf der Durchreise käme nie auf die Idee, daß jemand vermißt oder für tot gehalten würde. Flugzeug, Eisenbahn oder Bus?
Sie könnte einen Verbündeten haben, aber vieles, was sie bisher getan hatte, erforderte die raffinierte Planung eines einzelnen. Sie war seit über einer Stunde weg — mehr als genug Zeit, um durch den hinteren Teil des Grundstücks zur Straße zu marschieren. Ich hob den Kopf. In der Halle waren Stimmen zu hören. Vermutlich war die Polizei eingetroffen. Ich wollte mir das ganze Geschwätz nicht anhören. Enid sagte gerade: »Es sah ihr einfach überhaupt nicht ähnlich, also bin ich ans Telefon gegangen und habe...«
Ich schlüpfte zur Hintertür hinaus, sauste im Eilschritt durch den Innenhof und zur Auffahrt. Ich stieg in mein Auto und drehte den Zündschlüssel um. Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren und versuchte, die Gegebenheiten zu erfassen. Claire Maddison lebte noch und hatte seit letztem Frühling in Santa Teresa gewohnt. Ich wußte nicht genau, wie sie das alles bewerkstelligt hatte, aber ich war mir relativ sicher, daß sie für Guys Tod verantwortlich war. Außerdem hatte sie sich beträchtliche Mühe gegeben, die anderen zu belasten, indem sie es so hingedreht hatte, daß Jack wie der Schuldige aussah und Bennet noch als zweite Alternative zur Verfügung stand, falls die Indizien für Jacks Täterschaft die Polizei nicht überzeugen sollten.
Vor mir schwang das Tor auf. Ich fuhr auf die Straße und bog nach links ab, während ich versuchte, mir vorzustellen, wie das Anwesen im Verhältnis zur Umgegend angelegt war. Ich nahm nicht an, daß sie sich dem Los Padres National Forest zuwenden würde. Der Berg war zu steil und unwirtlich. Es konnte natürlich sein, daß Claire Maddison im Laufe der vergangenen achtzehn Jahre Expertin für das Leben in der Wildnis geworden war. Vielleicht hatte sie vor, sich zwischen Krüppeleichen und Gestrüpp ein neues Zuhause zu schaffen, von wilden Beeren zu leben und Flüssigkeit aus Kakteen zu saugen. Wahrscheinlicher war allerdings, daß sie einfach die paar Morgen unbebautes Land überquert hatte, die zwischen dem Malekschen Grundstück und der Straße lagen. Bader hatte alles in Reichweite aufgekauft, und so war durchaus möglich, daß sie immer noch über Gelände hastete, das ihm gehört hatte.
Ich versuchte zu ergründen, was sie tun würde, wenn sie die Hauptverkehrsstraße erreichte. Sie konnte sich nach links oder nach rechts wenden und zu Fuß in eine der beiden Richtungen marschieren. Sie hätte auch irgendwo im Gebüsch ein Fahrrad versteckt haben oder sich darauf verlassen können, daß es ihr gelingen werde, per Anhalter weiterzukommen. Womöglich hatte sie auch ein Taxi gerufen, das auf sie wartete, wenn sie die Straße erreichte. Doch auch diese Überlegung verwarf ich wieder, weil ich im Grunde nicht glaubte, daß sie dieses Risiko eingehen würde. Sie würde nicht wollen, daß es jemanden gab, der sie hinterher beschreiben oder identifizieren konnte. Vielleicht hatte sie ja auch ein zweites Auto gekauft und es in einer Seitenstraße versteckt, vollgetankt und zur Abfahrt bereit. Ich versuchte mir ins Gedächtnis zu rufen, was ich über sie wußte, und merkte, wie wenig das war. Sie war fast vierzig. Sie hatte Übergewicht. Sie gab sich keine Mühe, ihr persönliches Erscheinungsbild zu verbessern. Bezogen auf unsere kulturellen Standards hatte sie sich unsichtbar gemacht. In unserer Gesellschaft werden Schlankheit und Schönheit mit Status gleichgesetzt, Jugend und Charme werden belohnt und mit Bewunderung bedacht. Eine Frau braucht nur unscheinbar oder leicht übergewichtig zu sein, schon gleitet das kollektive Auge über sie hinweg und hat sie sogleich vergessen. Claire Maddison hatte die perfekte Tarnung zustande gebracht, weil sie — abgesehen von ihrem Äußeren — auch noch die Identität eines Mitglieds der dienenden Schicht angenommen hatte. Wer weiß, was für Gespräche sie mitgehört hatte, als sie die Kopfkissen aufschüttelte und die Bettwäsche wechselte. Sie hatte den Haushalt geführt, Canapés serviert und Drinks nachgeschenkt, während die Herren und Damen des Hauses ungestört weiterplauderten und ihre Anwesenheit völlig übersahen, weil sie keine von ihnen war. Für Claire war das ideal gewesen. Die Mißachtung der Maleks ihr gegenüber hatte gewiß ihrer Verbitterung neue Nahrung gegeben und sie in ihrem Entschluß bestärkt, sich zu rächen. Warum sollte diese Familie, die fast ausschließlich aus Schwindlern bestand, die Privilegien des Wohlstands genießen, während sie nichts besaß? Von ihnen war sie um ihre Familie und ihre Ausbildung zur Ärztin betrogen worden. Sie war beraubt, gedemütigt und mißhandelt worden, und dafür gab sie Guy die Schuld.
Mittlerweile war ich auf der zweispurigen Straße angekommen, von der ich annahm, daß sie die südliche Grenze des Malekschen Anwesens darstellte. Im Handschuhfach fand ich einen Stadtplan, den ich im Fahren auseinanderfaltete. Ungeschickt klappte ich ihn zusammen, klemmte ihn gegen das Lenkrad und suchte nach Wegen, während ich mich bemühte, keine Telefonmasten zu rammen. Ich fing mit dem Nächstliegenden an, indem ich an der ersten Abzweigung abbog und ein Viereck fuhr. Ich hätte auf Dietz warten sollen. Einer von uns hätte nach Fußgängern Ausschau halten können, während der andere am Steuer saß. Wie weit konnte sie wohl kommen?
Ich kehrte auf die Hauptstraße zurück und fuhr vielleicht eine halbe Meile weit. Da sah ich sie knapp hundert Meter vor mir den Straßenrand entlangmarschieren. Sie hatte Jeans und gute Wanderschuhe an, trug einen Rucksack und keine Kopfbedeckung. Ich kurbelte das Fenster auf der Beifahrerseite herunter. Sowie sie das Knattern meines VWs hörte, warf sie einen Blick in meine Richtung und starrte dann stur auf den Asphalt vor sich herab.
»Myrna, ich möchte mit Ihnen reden.«
»Tja, aber ich nicht mit Ihnen.«
Ich fuhr im Schrittempo neben ihr her, so daß die anderen Autos, die hinter mir herangefahren kamen, ungeduldig zu hupen begannen. Ich winkte sie vorbei und behielt mit einem Auge Myrna im Blick, die weitertrottete, während ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Ich trat aufs Gas, jagte davon und fuhr ein gutes Stück vor ihr an den Straßenrand. Dann stellte ich den Motor ab, stieg aus und ging ihr entgegen.
»Kommen Sie, Myrna. Nur die Ruhe. Jetzt ist es ein für allemal vorbei«, sagte ich.
»Nein, ist es nicht. Es ist nie vorbei, bis sie bezahlt haben.«
»Ja, aber wieviel? Hören Sie, ich kann Ihre Gefühle verstehen. Sie haben Ihnen alles genommen, was Sie hatten.«
»Diese Schweine«, sagte sie.
»Myrna...«
»Ich heiße Claire.«
»Na gut, dann eben Claire. Ich sage Ihnen die Wahrheit. Sie haben den falschen Mann umgebracht. Guy hat weder Ihnen noch Ihrer Familie je etwas angetan. Er war der einzige, der Patty jemals gut behandelt hat.«
»Lüge. Sie lügen. Das haben Sie erfunden.«
Ich schüttelte den Kopf. »Patty ist mit vielen Männern ins Bett gegangen. Sie wissen doch, daß sie Probleme hatte. Damals herrschten wilde Zeiten. Dope und freie Liebe und die Idee des Weltfriedens. Wir waren alle nicht ganz bei uns. Können Sie sich daran erinnern? Sie war ein Blumenkind, eine unschuldige —«
»Sie war schizophren«, fauchte Claire.
»Okay. Das will ich Ihnen glauben. Vermutlich hat sie LSD genommen. Sie hat Pilze gegessen. Sich mit spitzen Gegenständen gestochen. Und sämtliche Typen haben sie ausgenutzt, außer Guy. Ich schwöre es Ihnen. Er hatte sie wirklich gern. Er hat mir von ihr erzählt, und das tat er mit sehnsüchtigen und liebevollen Worten. Er hatte versucht, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Er hat ihr einmal geschrieben, aber da war sie schon tot. Davon hatte er keine Ahnung. Er wußte nur, daß er nie eine Antwort von ihr bekam, und das betrübte ihn.«
»Er war ein Scheißkerl.«
»Na gut. Er war ein Scheißkerl. Er hat damals eine Menge miese Dinger gedreht, aber im Grunde war er ein guter Mensch. Besser als seine Brüder. Sie haben ihn ausgenutzt. Patty hat sich wahrscheinlich gewünscht, daß das Kind von ihm wäre, aber das war es nicht.«
»Von wem war es dann?«
»Von Jack. Oder Paul Trasatti. Ich weiß nicht genau, mit wie vielen Männern sie geschlafen hat. Und die Briefe hat Guy auch nicht gefälscht. Das waren Bennet und Paul, ein kleiner Plan, den sie ausgeheckt hatten, um sich in jenem Frühjahr ein bißchen Geld zu verdienen.«
»Sie haben mir alles genommen. Alles.«
»Ich weiß. Und jetzt haben Sie ihnen etwas genommen.«
»Was denn?« sagte sie, und in ihren Augen funkelte die Verachtung.
»Den einzigen anständigen Mann, der jemals den Namen Malek getragen hat.«
»Bader war anständig.«
»Aber er hat Sie nie entschädigt. Ihre Mutter hat ihn um das Geld gebeten, und er hat sich geweigert zu bezahlen.«
»Das habe ich ihm nicht angelastet.«
»Jammerschade. Statt dessen haben Sie es Guy angelastet, aber er war unschuldig.«
»Flauen Sie ab«, sagte sie.
»Was noch? Was verschweigen Sie? Ich weiß, daß noch mehr dahintersteckt«, sagte ich. »Sie haben den anonymen Brief an Guy geschrieben, den, den die Polizei hat, stimmt’s?«
»Natürlich. Stellen Sie sich doch nicht blöd. Ich habe alle Briefe auf Bennets Schreibmaschine geschrieben. Für den Brief an Guy habe ich die Bibel benutzt. Ich dachte, das würde ihm gefallen... ein Ausschnitt aus dem Deuteronomium... >Und dein Leben wird immerdar in Gefahr schweben; Nacht und Tag wirst du dich fürchten und deines Lebens nicht sicher sein.< Gefällt Ihnen das?«
»Sehr passend. Eine gute Wahl«, sagte ich.
»Das ist noch nicht alles, Herzchen. Das Beste haben Sie übersehen... das Nächstliegende... Sie und diese aufgedonnerte Nachlaßanwältin. Ich habe beide Testamente schon vor Monaten gefunden, gleich als ich angefangen habe, hier zu arbeiten. Ich habe bei jeder sich bietenden Gelegenheit Baders Unterlagen durchsucht. Das zweite Testament habe ich zerrissen, damit jemand losgeschickt werden mußte, um nach Guy zu suchen. Sie haben mir die ganze Arbeit abgenommen. Herzlichen Dank.«
»Was ist mit dem Blut in Ihrem Badezimmer? Wo kam das her?«
Sie hielt ihren Daumen in die Höhe. »Ich habe eine Lanzette verwendet. Ein paar Tropfen habe ich im Hof und ein paar im Pickup hinterlassen. Hinter dem Werkzeugschuppen steht eine Schaufel. An der ist auch Blut.«
»Was ist mit der Erde und den Steinchen auf dem Fußboden im Badezimmer?«
»Ich fand, Donovan sollte auch ein bißchen in die Mangel genommen werden. Haben Sie nicht gleich an ihn gedacht, als Sie es gesehen haben?«
»Offen gestanden schon. Ich wäre ihm auch auf den Leib gerückt, wenn ich nicht herausgefunden hätte, was wirklich los ist. Aber was nun? Der Versuch, sich zu Fuß aus dem Staub zu machen, war dumm. Sie waren nicht besonders schwer zu finden.«
»Na und? Ich verschwinde jetzt. Ich habe genug. Lassen Sie mich in Frieden«, sagte sie.
»Myrna...«, begann ich geduldig.
»Ich heiße Claire«, fauchte sie. »Was wollen Sie denn?«
»Ich will, daß das Morden aufhört. Ich will, daß das Sterben aufhört. Ich will, daß Guy Malek in Frieden ruht, wo immer er ist.«
»Guy ist mir gleichgültig«, sagte sie. Ihre Stimme bebte vor innerlichem Aufruhr, und ihr Gesicht war verkrampft.
»Was ist mit Patty? Glauben Sie, daß er ihr auch gleichgültig
wäre?«
»Ich weiß es nicht. Ich kenne mich nicht mehr aus. Ich dachte, ich würde mich besser fühlen, aber das tue ich nicht.« Sie marschierte weiter die Straße entlang, und ich trottete hinter ihr her. »Es gibt keine Happy-Ends. Man muß nehmen, was man kriegen kann.«
»Es mag zwar keine Happy-Ends geben, aber es gibt Lösungen, die zufriedenstellend sind.«
»Nennen Sie ein Beispiel.«
»Kommen Sie zurück. Stehen Sie zu dem, was Sie getan haben. Kehren Sie um und stellen Sie sich Ihren Dämonen, bevor sie Sie bei lebendigem Leibe auffressen.«
Sie weinte nun offen, und auf merkwürdige Weise wirkte sie sehr schön, von Anmut umweht. Sie drehte sich um und begann rückwärts zu gehen, mit ausgestrecktem Arm und nach oben gekehrter Hand, als wollte sie trampen. Ich ging mit derselben Geschwindigkeit, Angesicht zu Angesicht mit ihr. Sie begegnete meinem Blick und lächelte, dann sah sie nach hinten, um nach dem Verkehr zu schauen, der aus der anderen Richtung kam.
Wir waren an einer Kreuzung angelangt. Die Straße beschrieb vor uns eine weite Kurve. Die Ampel hatte auf Grün geschaltet, die Autos fuhren an und wurden immer schneller. Auch im nachhinein bin ich mir nicht sicher, was sie eigentlich vorhatte. Einen Augenblick lang sah sie mich unverwandt an, dann machte sie einen Satz und lief mitten in den fließenden Verkehr wie ein Turmspringer, der sich von einem Brett stürzt. Ich dachte, sie würde unversehrt bleiben, da das erste Auto ihr auswich und ein zweites, offenbar ohne Verletzungen zu verursachen, sie nur leicht streifte. Die Fahrer auf beiden Spuren traten auf die Bremsen und kamen ins Schleudern. Sie rannte weiter und geriet ins Stolpern, als sie die Gegenfahrbahn erreichte. Ein entgegenkommendes Auto erfaßte sie, und sie flog darüber hinweg, schlaff wie eine Stoffpuppe, heiter wie ein Vogel.