9

Dietz’ Knie war so geschwollen und tat so weh, daß er nicht die Treppe hinaufsteigen konnte, also klappten wir die Bettcouch auf. Ich holte die Steppdecke aus dem Dachgeschoß. Wir machten die Lampe aus und krochen nackt unter das Federbett wie Eisbären in eine Höhle. Wir liebten uns in dem bauschigen Iglu der Daunendecke, während um uns herum die Straßenlampen durch das Bullaugenfenster hereinschienen wie Mondlicht auf Schnee. Lange trank ich nur seinen moschusartigen Geruch, Haar und Haut, und erfühlte mir blind den Weg über seine verschiedenen Körperpartien. Die Wärme seines Körpers taute meine kalten Gliedmaßen auf. Ich fühlte mich wie eine Schlange, die sich auf einem Fleckchen Sonnenlicht zusammenringelt, nach einem langen, erbarmungslosen Winter nun bis ins Innerste durchgewärmt. Ich kannte seine Art noch von unseren drei gemeinsamen Monaten her — seinen Blick und die verlorenen Laute, die er ausstieß. Was ich vergessen hatte, war die glühende Reaktion, die er in mir hervorrief.

In meiner Jugend hatte es eine kurze Phase gegeben, die von Leichtsinn und Promiskuität gekennzeichnet war. Damals schien Sex keinerlei Konsequenzen zu haben. Heutzutage müßte man ein Idiot — oder selbstmörderisch veranlagt — sein, um ohne aufrichtige Gespräche und den Austausch ärztlicher Atteste zufällige Begegnungen zu riskieren. Ich für meinen Teil lebe meist enthaltsam. Ich glaube, es ist so ähnlich, wie wenn man eine Hungersnot durchmacht. Ohne die Hoffnung, gestillt zu werden, nimmt der Hunger ab, und der Appetit schwindet. Bei Dietz konnte ich all meine Sinne aufleben spüren, meine natürliche Zurückhaltung wurde von der Sehnsucht nach Berührung erstickt. Dietz’ Verletzung erforderte Geduld und Einfallsreichtum, aber irgendwie schafften wir es. Die Prozedur brachte einiges Gelächter über unsere Verrenkungen sowie stille Konzentration in den Momenten dazwischen mit sich.

Um zehn schlug ich schließlich die Decke beiseite und entblößte unsere schwitzenden Leiber den arktischen Temperaturen um uns herum. »Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich bin am Verhungern«, sagte ich. »Wenn wir nicht bald aufhören und etwas essen, bin ich morgen früh tot.«

Eine halbe Stunde später saßen wir geduscht und angezogen in meiner Lieblingsnische bei Rosie’s. Sie und William arbeiteten beide, er hinter der Bar, und sie bediente an den Tischen. Normalerweise schließt die Küche um zehn, und ich sah ihr an, daß sie kurz davor war, uns genau dies mitzuteilen, doch dann bemerkte sie meine vom Kontakt mit Dietz’ Bartstoppeln geröteten Wangen. Ich stützte das Kinn auf die Handfläche, aber sie hatte meinen sexuell bedingten Ausschlag schon bemerkt. Die Frau mag zwar an die Siebzig sein, aber ihr entgeht nichts. Auf einen Blick schien sie den Ursprung unserer Zufriedenheit ebenso zu erkennen wie unser gieriges Bedürfnis nach Nahrung. Ich dachte, die Verwendung von Make-up hätte meine wunde Haut wohl erfolgreich kaschiert, aber sie grinste uns unverhohlen an, als sie uns die Speisen nannte, die sie für uns zubereiten wollte. Bei Rosie ist es zwecklos, auch nur den Versuch zu machen, etwas zu bestellen. Man ißt das, was sie für die jeweilige Gelegenheit für ideal erachtet. Mir fiel auf, daß zu Ehren von Dietz’ Rückkehr ihr Englisch geringfügig besser geworden war.

Sie postierte sich seitlich des Tisches, wiegte sich leicht in den Hüften und vermied es tunlichst, nach ihrem ersten wissenden Blick einen von uns direkt anzusehen. »Also. Ich sage, was ihr kriegt, und du, zieh bloß kein so’n Gesicht, wenn ich’s sage.« Sie zog mit rollenden Augen die Mundwinkel herab, um Dietz meine gewohnte Begeisterung für ihre Auswahl zu demonstrieren. »Ich mache Korhelyleves, heißt auch Sauersuppe. Braucht man zwei Pfund Sauerkraut, Paprika, Räucherwurst und Sauerrahm. Belebt garantiert eure müden Geister, nach denen ihr ausschaut. Dann ich brate euch kleines Hühnchen, dazu gibt Pilzpudding — ist sehr gut — und für hinterher Haselnußtorte, aber kein Kaffee. Ihr braucht Schlaf. Ich bringe gleich Wein. Nicht weggehen.«

Wir gingen erst nach Mitternacht. Zum Schlafen kamen wir schließlich gegen eins, auf der schmalen Fläche der Bettcouch ineinander verschlungen. Ich bin es nicht gewohnt, mit jemand anders im Bett zu liegen, und ich kann nicht behaupten, daß es mir eine geruhsame Nacht bescherte. Wegen seines Knies war Dietz gezwungen, mit einem Kissen unter seinem linken Bein auf dem Rücken zu liegen. Damit blieben mir zwei Alternativen: Ich konnte mich an ihn schmiegen und meinen Kopf auf seine Brust legen oder flach auf dem Rücken Seite an Seite neben ihm liegen.

Ich probierte erst das eine und dann das andere aus und wälzte mich unruhig hin und her, während die Stunden dahinzogen. Die Hälfte der Zeit spürte ich, wie mir die Metallteile des Sofas in den Rücken schnitten, aber wenn ich mich in die andere Stellung drehte, mit dem Kopf auf seiner Brust, bekam ich einen Hitzschlag, einen eingeschlafenen Arm und ein zerdrücktes linkes Ohr. Manchmal fühlte ich seinen Atem auf meiner Wange, was mich fast zum Wahnsinn trieb. Ich ertappte mich dabei, wie ich mitzählte, wenn er atmete, ein und aus, ein und aus. Immer wieder wechselte der Rhythmus, und es entstand eine lange Pause, während deren ich mich fragte, ob er wohl soeben seinen letzten Atemzug getan habe. Dietz schlief wie ein Soldat unter Gefechtsbedingungen. Seine Schnarchlaute waren sanfte Schnüffelgeräusche, gerade laut genug, um mich auf Wachdienst zu halten, aber nicht laut genug, um feindliches Gewehrfeuer auf sich zu lenken.

Endlich schlief ich wundersamerweise ein und wachte um sieben Uhr voller Energie wieder auf. Dietz hatte Kaffee gemacht und las die Zeitung, angezogen, mit feuchtem Haar und einer Lesebrille, die ihm weit unten auf der Nase saß. Ich betrachtete ihn ein paar Minuten lang, bevor er mir seinen Blick zuwandte.

»Ich wußte gar nicht, daß du eine Brille trägst.«

»Bis jetzt war ich auch zu eitel dafür. Sowie du zur Tür draußen warst, hab ich sie aufgesetzt«, sagte er mit seinem schiefen Lächeln.

Ich drehte mich auf die andere Seite und legte mir den abgeknickten linken Arm unter die Wange. »Um welche Uhrzeit erwarten dich denn die Jungs?«

»Am frühen Na.chmittag. Ich habe in einem Motel ganz in der Nähe Zimmer reserviert. Falls sie über Nacht bleiben wollen, können sie das tun.«

»Du freust dich bestimmt darauf, sie zu sehen.«

»Ja, aber es macht mich auch nervös. Ich habe sie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen — seit ich nach Deutschland gegangen bin. Ich weiß nie so recht, was ich mit ihnen reden soll.«

»Was redest du denn mit anderen Leuten? Vor allem Blödsinn.«

»Sogar Blödsinn braucht einen Kontext. Es wird sonst auch für sie peinlich. Manchmal gehen wir schließlich ins Kino, einfach um hinterher über etwas reden zu können. Ich sprudele nicht gerade über vor elterlichen Ratschlägen. Wenn ich sie über ihre Freundinnen und ihre Kurse ausgefragt habe, geht mir der Gesprächsstoff aus.«

»Du kommst schon klar.«

»Ich hoffe es. Und du? Wie sieht dein Tag aus?«

»Ich weiß nicht, heute ist Samstag, also muß ich nicht arbeiten. Ich werde ein Nickerchen machen. Und bald damit anfangen.«

»Möchtest du dabei Gesellschaft haben?«

»Dietz«, sagte ich empört, »wenn du noch einmal in dieses Bett steigst, kann ich nicht mehr laufen.«

»Du bist eben Anfängerin.«

»Allerdings. Ich bin so was nicht gewöhnt.«

»Wie wär’s mit Kaffee?«

»Laß mich erst die Zähne putzen.«

Nach dem Frühstück gingen wir an den Strand. Es war ein wolkiger Tag, aber der Sand bewahrte die Wärme wie eine Schaumstoffisolierung. Die Temperatur lag bei gut zwanzig Grad, und die Luft war weich und würzig und barg einen tropischen Duft. Die Winter in Santa Teresa sind wechselhaft, eiskalt an einem Tag und mild am nächsten. Das Meer besaß einen glänzenden Schimmer und reflektierte das gleichförmige Weiß des Himmels. Wir zogen die Schuhe aus und trugen sie in der Hand, während wir am Ufer entlangschlenderten und uns das schaumige Spiel der Wellen über die bloßen Füße schwappte. Möwen schwebten kreischend über uns, während zwei Hunde im Gleichtakt nebeneinander her tollten und nach den Vögeln schnappten, als wären sie tieffliegende Frisbee-Scheiben.

Dietz fuhr um neun Uhr ab und hielt mich dicht an sich gepreßt, bevor er ins Auto stieg. Ich lehnte mich gegen die Motorhaube, und wir küßten uns eine Weile. Schließlich machte er sich los und musterte mein Gesicht. »Wenn ich in zwei Wochen wiederkomme, bist du dann noch da?«

»Wo sollte ich schon hingehen?«

»Dann bis dann«, sagte er.

»Zerbrich dir meinetwegen nicht den Kopf. Mir ist jeder Tag recht«, sagte ich und winkte, während sein Wagen allmählich kleiner wurde. Dietz haßte es, feste Termine auszumachen, weil er dann das Gefühl hatte, in der Falle zu sitzen. Freilich wirkte sich sein Lavieren auf mich so aus, daß ich an der Angel hing. Ich schüttelte über mich selbst den Kopf und ging zu meiner Wohnung zurück. Wie war ich bloß bei so einem Mann gelandet?

Den Rest des Vormittags verbrachte ich damit, meine Wohnung aufzuräumen. Eigentlich war nicht viel zu tun, aber es war trotzdem befriedigend. Diesmal war ich nicht einmal ernsthaft deprimiert. Ich wußte, daß Dietz zurückkommen würde, und so hatte meine tugendhafte Mühe mehr damit zu tun, meine Grenzen wieder zu errichten, als die Trübsal abzuwehren. Da er Lebensmittel eingekauft hatte, war mein Vorratsschrank voll und mein Kühlschrank gut bestückt, ein Zustand, der bei mir stets ein Gefühl von Sicherheit hervorruft. Wie schief kann es im Leben schon gehen, solange man genug Klopapier hat?

Um die Mittagszeit sah ich Henry im Garten an einem kleinen, runden Picknicktisch sitzen, den er vorigen Herbst auf einem Privat-Flohmarkt ergattert hatte. Er hatte mehrere Bogen Millimeterpapier, seine Nachschlagewerke und ein Kreuzworträtsellexikon vor sich ausgebreitet. Zum Zeitvertreib konstruiert und verkauft Henry Kreuzworträtsel für diese kleinen gelben Heftchen, die vor Supermarktkassen feilgeboten werden. Ich machte mir ein Erdnußbutter-Gewürzgurken-Sandwich und gesellte mich zu ihm in die warme Sonne.

»Möchtest du ein Stück?« fragte ich und hielt ihm meinen Teller hin.

»Danke, aber ich habe gerade zu Abend gegessen«, sagte er. »Wohin ist denn Dietz verschwunden? Ich dachte, er wollte noch bleiben.«

Ich brachte ihn auf den neuesten Stand der »Liebesgeschichte«, und wir plauderten ein Weilchen, während ich mein Sandwich verspeiste. Die Konsistenz der Erdnußbutter bildete einen dramatischen Gegensatz zur Knackigkeit der Gewürzgurken. Der diagonale Schnitt brachte mehr Füllung zum Vorschein als ein vertikaler, und ich genoß das Verhältnis zwischen salzig und sauer. Diese Köstlichkeit rangierte gemeinsam mit Sex ganz oben, ohne daß man sich dabei ausziehen mußte. Ich stieß eine Art tiefes Stöhnen aus und geriet vor Genuß fast in Verzückung, woraufhin mir Henry einen auffordernden Blick zuwarf. »Laß mich mal beißen.«

Ich hielt ihm das üppige Mittelstück hin, plazierte aber meine Finger so, daß er nicht zuviel abbeißen konnte.

Er kaute einen Augenblick lang und ließ sich die intensive Geschmacksmischung eindeutig schmecken. »Sehr seltsam, aber nicht schlecht.« Das sagt er immer, wenn er dieses kulinarische Wunder probiert.

Ich biß selbst noch einmal ab und deutete auf das Rätsel, an dem er gerade arbeitete. »Wie geht’s voran? Du hast mir nie richtig erklärt, wie du es anstellst.« Henry war ein Kreuzworträtselfanatiker, der die New York Times abonniert hatte, damit er jeden Tag das Rätsel lösen konnte. Manchmal ließ er zum Spaß jedes zweite Kästchen frei oder füllte zuerst die Ränder aus, um dann spiralförmig nach innen vorzudringen. Die Kreuzworträtsel, die er selbst verfaßte, kamen mir sehr schwierig vor, obwohl er behauptete, daß sie leicht seien. Ich hatte ihm zugesehen, wie er Dutzende davon konstruierte, ohne jemals die Methode zu begreifen.

»Ich habe meine Technik inzwischen sogar verbessert. Früher ging ich es aufs Geratewohl an. Heute plane ich besser voraus. Das hier ist ein kleines, nur fünfzehn mal fünfzehn. Und das ist das Muster, das ich verwende«, erklärte er und deutete auf eine Schablone, in die das Gitter aus schwarzen Kästchen bereits eingetragen war.

»Du entwirfst nicht auch das Format?«

»Meistens nicht. Das hier habe ich schon mehrmals verwendet, und es paßt mir recht gut. Sie sind alle symmetrisch, und wie du siehst, ist kein Bereich abgegrenzt. Den Regeln zufolge dürfen die schwarzen Kästchen nicht mehr als ein Sechstel aller Kästchen umfassen. Dann gibt es noch ein paar andere Regeln. Zum Beispiel darf man keine Wörter mit weniger als drei Buchstaben benutzen und so weiter. Die guten haben ein Thema, um das sich die Lösungen drehen.«

Ich nahm eines seiner Nachschlagewerke in die Hand und drehte es um. »Was ist das?«

»In diesem Buch sind Wörter zwischen drei und fünfzehn Buchstaben in alphabetischer Reihenfolge aufgelistet. Und das hier ist auch zur speziellen Bearbeitung von Kreuzworträtseln. Es umfaßt Wörter von bis zu sieben Buchstaben in einer komplizierten alphabetischen Anordnung.«

Ich lächelte über die Begeisterung, die in seiner Stimme mitschwang. »Wie bist du eigentlich dazu gekommen?«

Er winkte ab. »Wenn man erst einmal genug davon gelöst hat, ergibt es sich zwangsläufig. Du mußt es selbst mal ausprobieren, dann merkst du, wie es ist. Es gibt sogar Kreuzworträtselmeisterschaften, seit 1980. Du müßtest mal sehen, wie diese jungen Spunde loslegen. Die Rätsel werden auf eine Großleinwand projiziert. Ein echter Profi kann vierundsechzig Fragen in weniger als acht Minuten beantworten.«

»Hat es dich nie gereizt mitzumachen?«

Er schüttelte den Kopf und trug mit Bleistift eine Frage ein. »Ich bin zu langsam und lasse mich zu leicht aus der Ruhe bringen. Außerdem ist das eine ernsthafte Angelegenheit, wie Bridge-Turniere.« Er hob den Kopf. »Dein Telefon klingelt.«

»Wirklich? Dann hörst du besser als ich.« Ich hüpfte vom Tisch und ging auf schnellstem Weg in meine Wohnung, wo ich das Gespräch im selben Moment annahm wie mein Anrufbeantworter. Ich drückte auf den Ausschaltknopf, als meine Stimme gerade ihre Bitte um eine Nachricht beendet hatte. »Hallo, hallo. Ich bin’s selbst. Ich bin tatsächlich zu Hause«, zwitscherte ich.

»Hey«, sagte eine Männerstimme sanft. »Hier ist Guy. Ich hoffe, es stört Sie nicht, daß ich am Wochenende anrufe.«

»Überhaupt nicht. Was gibt’s denn?«

»Nichts Großartiges«, antwortete er. »Donovan hat mich hier angerufen. Offenbar haben die drei — er, Bennet und Jack — gestern abend eine Besprechung abgehalten. Er sagt, sie möchten, daß ich für ein paar Tage runterkomme, damit wir über das Testament reden können.«

Ich merkte, wie mein Körper ganz steif wurde. »Na, so was! Das ist ja interessant. Fahren Sie hin?«

»Ich glaube schon. Vielleicht, aber ganz sicher bin ich mir noch nicht. Ich habe lange mit Peter und Winnie gesprochen. Peter meint, es sei an der Zeit, einen Dialog anzufangen. Er hat morgen eine Gebetsversammlung in Santa Teresa, also paßt es recht gut. Sie können mich nach dem Gottesdienst hinfahren, aber er hielt es für klug, wenn ich erst mit Ihnen spräche.«

Ich schwieg einen Augenblick. »Möchten Sie die Wahrheit hören?«

»Tja, schon. Deshalb habe ich ja angerufen.«

»An Ihrer Stelle würde ich es lassen. Ich war gestern abend dort zu Besuch, und es wirkt alles sehr angespannt. Das sollten Sie sich lieber nicht antun.«

»Inwiefern?«

»Die Gefühle kochen hoch, und wenn Sie in dieser Phase auftauchen, machen Sie alles nur noch schlimmer.«

»Das war auch meine erste Reaktion, aber dann bin ich ins Nachdenken gekommen. Ich meine, immerhin hat mich Donovan angerufen. Nicht ich ihn«, sagte er. »Ich finde, wenn mir die drei schon einen Waffenstillstand anbieten, sollte ich wenigstens bereit sein, ihnen auf halbem Weg entgegenzukommen. Es kann ja nicht schaden.«

Ich unterdrückte das Bedürfnis, ihn anzuschreien. Schreien ist, wie ich festgestellt habe, keine geeignete Methode, andere vom eigenen Standpunkt zu überzeugen. Ich hatte seine Brüder erlebt, und Guy wäre ihnen nicht gewachsen. Ich hätte diesen dreien unter keinen Umständen vertraut. In Anbetracht von Guys seelischer Verfassung konnte ich verstehen, warum es ihn reizte, aber er wäre ein Narr, wenn er ohne Rechtsbeistand dieses Haus beträte. »Vielleicht ist es ein Waffenstillstand, vielleicht aber auch nicht. Baders Tod hat alles mögliche aufs Tapet gebracht«, sagte ich. »Wenn Sie unvorbereitet dorthin spazieren, können Sie sich auf eine ganze Ladung Scheiße gefaßt machen. Sie marschieren direkt in einen Alptraum hinein.«

»Verstehe.«

»Ich glaube nicht«, sagte ich. »Nicht daß ich Ihre Brüder kritisieren wollte, aber sie sind alles andere als nette Kerle, zumindest nicht, was Sie betrifft. Zwischen den dreien gibt es enorme Reibungen, und wenn Sie auch noch auftauchen, gießen sie damit nur noch mehr Öl ins Feuer. Also ganz ehrlich. Sie können sich gar nicht vorstellen, was da abläuft.« Ich merkte, wie Tonhöhe und Lautstärke meiner Stimme anstiegen.

»Ich muß es eben versuchen«, sagte er.

»Vielleicht, aber nicht auf diese Art.«

»Soll heißen?«

»Sie werden sich in genau derselben Position wiederfinden, in der Sie auch waren, als Sie weggegangen sind. Sie werden der Sündenbock sein, der Blitzableiter für ihre ganze Feindseligkeit.«

Ich hörte geradezu, wie er die Achseln zuckte. Er sagte: »Vielleicht müssen wir dann eben darüber reden. Es offen aussprechen und damit klarkommen.«

»Es wurde offen ausgesprochen. Die drei haben keinerlei Hemmungen. Die Konflikte liegen offen zutage, und glauben Sie mir, Sie sollten sich lieber nicht ihrem Gift aussetzen.«

»Donovan scheint mir nichts nachzutragen, und nach dem zu urteilen, was er sagt, gilt das auch für Bennet und Jack. Die Wahrheit ist doch, daß ich mich geändert habe, und das müssen sie einsehen. Wie sonst kann ich sie überzeugen, wenn nicht von Angesicht zu Angesicht?«

Ich merkte, wie ich zu schielen begann, während ich versuchte, meine Ungeduld im Zaum zu halten. Ich wußte, daß ich besser beraten wäre, wenn ich den Mund hielte, aber es war noch nie meine Stärke gewesen, meine Ansichten für mich zu behalten. »Hören Sie, Guy, ich will mir nicht anmaßen, Ihnen vorzuschreiben, wie Sie Ihre Angelegenheiten erledigen sollen, aber hier geht es nicht um Sie. Es geht um die Beziehung Ihrer Brüder zueinander. Es geht um Ihren Vater und darum, was sich in all den Jahren abgespielt hat, seit Sie das Haus verlassen haben. Sie laufen Gefahr, die Zielscheibe für sämtlichen Ärger zu werden, der sich bei den dreien aufgestaut hat. Warum wollen Sie sich das antun?«

»Weil ich wieder mit ihnen zu tun haben möchte. Ich habe Mist gebaut. Das gebe ich zu, und ich möchte mich wieder mit ihnen vertragen. Peter sagt, es kann keine Heilung geben, wenn wir uns nicht zusammensetzen.«

»Das ist ja alles gut und schön, aber es steht wesentlich mehr auf dem Spiel. Was, wenn das Thema Geld zur Sprache kommt?«

»Das Geld ist mir egal.«

»Schwachsinn! Das ist Schwachsinn. Haben Sie überhaupt eine Ahnung, um wieviel Geld es hier geht?«

»Das spielt keine Rolle. Das Geld interessiert mich nicht. Ich brauche kein Geld. Ich bin auch so zufrieden.«

»Das sagen Sie jetzt, aber woher wollen Sie wissen, daß sich das nicht ändert? Warum wollen Sie sich später Probleme schaffen? Haben Sie schon mit Tasha gesprochen? Was sagt sie dazu?«

»Ich habe nicht mit ihr gesprochen. Ich habe in ihrem Büro in Lompoc angerufen, aber sie war bereits unterwegs nach San Francisco, und die Sekretärin hat gesagt, daß sie danach zehn Tage nach Utah in Skiurlaub fährt.«

»Dann rufen Sie sie in Utah an. Dort gibt es auch Telefone.«

»Das habe ich schon versucht. Sie wollten mir ihre Nummer nicht geben. Sie meinten, wenn sie im Büro anriefe, würden sie ihr meinen Namen und meine Nummer sagen, und dann riefe sie mich an, wenn sie dazu käme.«

»Dann versuchen Sie es bei jemand anders. Rufen Sie einen anderen Anwalt an. Ich will nicht, daß Sie ohne Rechtsberatung mit Ihren Brüdern sprechen.«

»Es geht nicht um Rechtsfragen. Es geht darum, den Bruch zu kitten.«

»Und genau das macht Sie zur leichten Beute. Ihr Anliegen hat nichts mit dem Anliegen Ihrer Brüder zu tun. Die scheißen auf Versöhnung, wenn Sie meine Unverblümtheit entschuldigen wollen.«

»Das sehe ich nicht so.«

»Ich weiß. Deshalb führen wir ja diese Auseinandersetzung«, schrie ich. »Und wenn sie versuchen, Sie zu einer Entscheidung zu zwingen?«

»Worüber?«

»Über irgendwas! Sie wissen ja nicht mal, womit Ihren Interessen am besten gedient ist. Wenn Ihr einziges Anliegen ist, Frieden zu schließen, werden Sie nur aufs Kreuz gelegt.«

»Wie kann ich aufs Kreuz gelegt werden, wenn ich gar nichts will? Sie können das Geld behalten, wenn das das einzige ist, was zwischen uns steht.«

»Tja, wenn Sie das Geld nicht wollen, warum geben Sie es dann nicht der Kirche?« Sowie ich es ausgesprochen hatte, hätte ich mir am liebsten auf die Zunge gebissen. Seine Motive waren rein. Warum Komplikationen auslösen?

Er schwieg einen Augenblick. »Daran hatte ich noch nicht gedacht. Das ist ein gutes Argument.«

»Vergessen Sie’s. Streichen Sie es. Ich sage ja nur, daß Sie nicht allein dorthin gehen sollen. Nehmen Sie sich einen Beistand mit, damit Sie nichts tun, was Sie später bereuen.«

»Warum kommen Sie nicht mit?«

Ich stöhnte auf, und er mußte lachen. Mit ihm dorthin zu gehen war das letzte, was ich wollte. Er brauchte Schutz, aber ich hielt es nicht für angebracht, wenn ich jetzt eingriffe. Was hatte ich schon an Beistand zu bieten? »Weil das nicht mein Gebiet ist«, erwiderte ich. »Ich bin nicht objektiv. Ich kenne mich mit den Gesetzen nicht aus, und ich habe keine Ahnung von der Rechtslage. Es wäre dumm von Ihnen, hierherzukommen und mit den dreien zu sprechen. Warten Sie einfach die zehn Tage ab, bis Tasha zurückkommt. Tun Sie noch nichts. Es besteht keinerlei Veranlassung für Sie zu springen, sobald Donovan pfeift. Sie sollten die Sache unter Ihren Bedingungen angehen, nicht unter seinen.«

Ich hörte ihm an, wie ungern er akzeptieren wollte, was ich sagte. Wie die meisten Menschen hatte er seinen Entschluß bereits gefaßt, bevor er um Rat fragte. »Wissen Sie was? Es ist wirklich wahr«, begann er. »Ich habe darum gebetet. Ich habe Gott um Beistand gebeten, und das war die Antwort, die ich bekommen habe.«

»Tja, dann versuchen Sie es noch mal bei ihm. Vielleicht haben Sie die Botschaft mißverstanden.«

Er lachte. »Gewissermaßen habe ich das. Ich habe die Bibel aufgeschlagen und meinen Finger auf eine Stelle gelegt. Wissen Sie, welche Passage das war?«

»Da komm ich nie drauf«, sagte ich trocken.

»>So wisset also, Menschen und Brüder, daß euch durch diesen Mann die Vergebung der Sünden gepredigt wird: Und durch ihn werden alle Gläubigen von allem freigesprochen werden, von dem sie durch das Gesetz Mose nicht freigesprochen werden konnten.<« Wie viele Gläubige konnte er Bibelverse zitieren wie Songtexte.

Nun war es an mir zu schweigen. »Dagegen kann ich nichts einwenden. Ich weiß nicht mal, was es bedeutet. Hören Sie, wenn Sie fest entschlossen sind, das zu tun, dann tun Sie es, das ist ja klar. Ich rate Ihnen nur dringend, jemanden mitzunehmen.«

»Das will ich ja. Ich habe Sie gerade gefragt.«

»Ich spreche nicht von mir! Wir wär’s mit Peter und Winnie? Sie wären doch sicher bereit, Ihnen zu helfen, wenn Sie sie darum bitten, und sie wären viel besser geeignet. Ich habe nicht die geringste Ahnung von Familientherapie oder diplomatischer Vermittlung oder sonstwas. Außerdem bekomme ich von diesem ganzen Familienkram Zustände.«

Ich hörte Guy an, daß er lächelte, und seine Stimme war voller Zuneigung. »Komisch, daß Sie das sagen, weil es für mich irgendwie so aussieht, als gehörten Sie dazu. Ich weiß nicht, warum, aber irgendwie kommt es mir so vor. Haben Sie nicht selbst auch irgendein familiäres Problem?«

Ich hielt den Telefonhörer von mir weg und sah ihn argwöhnisch an. »Wer, ich? Ganz und gar nicht. Wie kommen Sie denn darauf?«

Guy lachte. »Ich weiß nicht. Es kam mir nur gerade so in den Sinn. Vielleicht irre ich mich ja, aber ich habe das Gefühl, als hingen Sie damit zusammen.«

»Der Zusammenhang ist rein beruflich. Ich bin engagiert worden, um einen Auftrag zu erledigen. Das ist die einzige Verbindung, die ich erkennen kann.« Ich sprach in beiläufigem Tonfall, um meine Gelassenheit zu demonstrieren, mußte mir aber eine Hand ins Kreuz pressen, wo mir ein unerklärlicher Schweißtropfen in die Unterhose lief. »Sprechen Sie doch noch einmal mit Peter. Ich weiß, daß Sie unbedingt alles wiedergutmachen wollen, aber ich möchte nicht, daß Sie sich allein in die Höhle des Löwen begeben. Wir wissen doch alle, wie es zwischen den Löwen und den Christen ausgegangen ist.«

Er schwieg einen Augenblick und schien dann das Thema wechseln zu wollen. »Wo liegt denn Ihre Wohnung?«

»Wieso wollen Sie das wissen?« Ich war nicht bereit, Auskunft zu geben, bevor ich wußte, worauf er hinauswollte.

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Vielleicht können wir die Sache ja anders angehen. Donovan sagt, daß morgen bis fünf Uhr alle weg sind. Peter nimmt mich mit in die Stadt, aber er hat keine Zeit, noch mehr für mich zu tun. Wenn er mich bei Ihnen absetzt, könnten Sie mich dann zum Haus hinausfahren? Sie brauchen ja nicht dazubleiben. Ich kann verstehen, daß Sie sich nicht hineinziehen lassen wollen, und das ist mir auch recht.«

»Ich begreife nicht, inwiefern das das Problem löst.«

»Tut es nicht. Ich bitte nur darum, daß Sie mich fahren. Alles andere schaffe ich allein, wenn Sie mich nur hinbringen.«

»Sie wollen mir nicht zuhören, stimmt’s?« sagte ich.

»Ich habe Ihnen zugehört. Das Problem ist nur, daß ich anderer Meinung bin.«

Ich zögerte, sah aber keinen Grund abzulehnen. Schon jetzt kam ich mir grob vor, weil ich ihm solchen Widerstand entgegengesetzt hatte. »Klingt annehmbar. Klar. Kann ich machen«, sagte ich. »Um wieviel Uhr würden Sie herkommen?«

»Drei Uhr? Irgendwann um den Dreh. Ich will Ihnen nicht zur Last fallen. Peters Versammlung ist in der Innenstadt, in dieser Kirche an der Ecke State und Michaelson. Ist das bei Ihnen in der Nähe? Dann könnte ich nämlich zu Fuß zu Ihnen kommen, und wir fahren von dort aus los.«

»Es ist relativ nah«, sagte ich mißmutig und resigniert. »Hören Sie, rufen Sie mich doch einfach an, wenn Sie angekommen sind. Dann fahre ich bei der Kirche vorbei und hole Sie ab.«

»Das wäre gut. Wunderbar. Sind Sie sicher, daß es Ihnen recht ist?«

»Nein, nur treiben Sie’s nicht zu weit. Ich bin bereit, bis dahin mitzumachen, aber verlangen Sie nicht auch noch, daß ich Sie in Ihrem Entschluß bestärke.«

Er lachte. »Tut mir leid. Sie haben recht. Bis dann«, sagte er und brach die Verbindung ab.

Als ich den Hörer auflegte, begann ich schon zu zweifeln. Erstaunlich, wie schnell die Probleme eines anderen zu eigenen werden. Sie sind wie ein Strudel, in dessen Sog man gerät.

Unruhig ging ich im Wohnzimmer auf und ab, während ich innerlich seine alberne Behauptung widerlegte, daß seine Situation mich etwas anginge. Sein familiärer Konflikt hatte nichts mit mir zu tun. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und machte mir ein paar Notizen. Falls Tasha fragte, war es vermutlich klug, ein Protokoll des soeben erfolgten Gesprächs zu besitzen. Ich hoffte, er würde sich jetzt nicht darauf versteifen, sein ganzes Geld der Kirche zu schenken. Dann würde es wirklich Probleme geben, wenn er zugunsten der Jubilee Evangelical Church gierig wurde. Ich ließ jeden Bezug auf eine wohltätige Stiftung weg und dachte, wenn ich es nicht aufschriebe, gäbe es das Problem auch nicht.

Ich griff erneut zum Telefon und rief bei den Maleks an. Myrna meldete sich, und ich bat sie, Christie an den Apparat zu holen. Ich wartete und hörte, wie Myrna die Halle durchquerte und die Treppe hinauf nach Christie rief. Als Christie schließlich den Hörer in die Hand nahm, informierte ich sie kurz über mein Gespräch mit Guy. »Würden Sie mich darüber auf dem laufenden halten, was sich abspielt?« fragte ich. »Ich setze ihn ab, aber danach ist er auf sich allein gestellt. Ich glaube, er braucht Schutz, aber ich habe keine Lust, zur Rettung bereitzustehen. Er ist erwachsen, und das ist wirklich nicht meine Angelegenheit. Aber mir wäre wohler, wenn ich wüßte, daß jemand in Ihrem Lager ihn im Auge behält.«

»Oh, sicher. Und überlassen Sie das mit der Rettung mir«, sagte sie in sarkastischem Ton.

Ich lachte. »Ich will ja nicht banal werden, aber er ist wirklich süß«, sagte ich.

»Ehrlich? Na, das ist doch prima. Ich stehe auf süß. Offen gestanden wähle ich auf diese Art den Präsidenten«, sagte sie. »Ich persönlich glaube nicht, daß Sie sich wegen irgend etwas Sorgen machen müssen. Nachdem Sie gestern abend gegangen waren, haben die drei sich lang und schonungslos auseinandergesetzt. Als sie damit fertig waren, sich gegenseitig in der Luft zu zerreißen, haben sie sogar ein sinnvolles Gespräch zustande gebracht.«

»Das freut mich zu hören. Ehrlich gesagt, war mir etwas unklar, weshalb Donovan ihn angerufen hat. Wie sind die drei denn gestimmt? Wenn ich Sie das fragen darf.«

»Ich schätze, das hängt davon ab, was Guy zu ihnen sagt. Letztendlich müssen es ja wahrscheinlich doch die Anwälte regeln. Ich glaube, sie wollen anständig sein. Andererseits können fünf Millionen Dollar bei jedem das Gefühl für Fairneß erschüttern.«

»Wie wahr.«