14
Als Jonah gegangen war, merkte ich, daß es mich nicht in die Bibliothek zurückzog. Ich hörte, wie sich Christie und Tasha freundschaftlich und in heiterem Tonfall unterhielten und dabei immer wieder nervös auflachten. Offenbar hatten sie das Thema gewechselt. Der Mensch ist schlecht dafür gerüstet, sich lange mit dem Tod zu beschäftigen. Selbst bei einer Totenwache oder einer Beerdigung haben die Gespräche die Tendenz, so schnell wie möglich auf ungefährlichere Gebiete abzuschweifen. Ich sah mich in der leeren Halle um und versuchte mich zu orientieren. Gegenüber der Bibliothek befand sich das Wohnzimmer. Dort war ich bereits gewesen, aber den Rest des Erdgeschosses hatte ich nie gesehen.
Ich ging unter der Treppe hindurch zu einem quer verlaufenden Flur, der in beide Richtungen führte. Auf der anderen Seite der Halle blickte ich in ein Badezimmer. Zur Rechten waren zwei Türen zu sehen, die aber beide geschlossen waren. Angesichts der Umstände hielt ich es für unklug, aufs Geratewohl herumzuschnüffeln. Für den unwahrscheinlichen Fall, daß ich auf jemanden von der Polizei stieß, würde ich so tun, als streifte ich hier auf der Suche nach der Küche herum, wo ich meine Hilfe anbieten wollte.
Zuvor hatte das Haus trotz der Ansätze von Schäbigkeit, die überall sichtbar waren, eine gemütliche Ausstrahlung gehabt. Nun wurde mir mit aller Schärfe bewußt, wie sehr der Mord an Guy die Atmosphäre verändert hatte. Selbst die Luft wirkte schwer, und die Düsternis war so melancholisch wie dichter Nebel, der durch die Räume wallte.
Ich bog nach links ab und folgte dem wenig verheißungsvollen Geruch von gekochtem Kohl am Ende des Flurs. In einer plötzlichen Zukunftsvision sah ich den Tag vor mir, an dem dieses Haus an ein Jungeninternat verkauft und der Duft von Gemüsesorten aller Art die Gänge erfüllen würde. Junge Burschen in schweren Schuhen würden zwischen ihren Unterrichtsstunden durch die Flure trampeln. Das Zimmer, in dem Guy erschlagen worden war, würde in einen Schlafsaal verwandelt werden, in dem heranwachsende Jungen ihre Kräfte erprobten, sobald das Licht ausgegangen war. Es gäbe Gerüchte über die bleiche Erscheinung, die den Flur hinabschwebte und am Absatz vor der Biegung der Treppe kurz in der Luft verweilte. Ich ertappte mich dabei, wie ich meinen Schritt beschleunigte, da es mich zu menschlicher Gesellschaft drängte.
Hinter dem Eßzimmer und der Geschirrkammer führte eine Schwingtür in die eigentliche Küche. Der Raum erschien mir riesig, aber schließlich würde mein gesamtes kulinarisches Reich auch hinten in einen Kombi der mittleren Preisklasse passen. Die Fußböden bestanden aus hellglänzenden Dielenbrettern aus Eichenholz, die unregelmäßig verlegt waren. Die Einbauschränke waren aus dunklem Kirschbaum, und die Arbeitsflächen bedeckte grüner Marmor. Es standen genug Kochbücher, Utensilien und Geräte herum, um die Regale eines Küchenfachgeschäfts zu bestücken. Die Herdoberfläche sah größer aus als mein Doppelbett, und der Kühlschrank hatte durchsichtige Türen, hinter denen alles, was er enthielt, sichtbar war. Zur Rechten befand sich eine Sitzecke und dahinter eine verglaste Veranda, die sich über die gesamte Breite des Raums erstreckte. Hier überdeckte der intensive Duft von gebratenem Hühnchen und Knoblauch den schalen Kohlgeruch. Warum riecht das, was andere Leute kochen, immer soviel besser als das, was man selbst zubereitet?
Myrna war vom Polizeirevier zurück. Sie und Enid standen zusammen neben einer der beiden Küchenspülen. Myrnas Gesicht wirkte geschwollen, und die roten Flecken um ihre Augen ließen darauf schließen, daß sie geweint hatte; zwar nicht in den letzten paar Minuten, aber vielleicht am Vormittag. Enid trug einen Regenmantel aus Popeline, und die vielen Meter braunen Stoffs verliehen ihr die unselige Gestalt einer Ofenkartoffel. Das Tuch hatte sie abgenommen. Ohne Kopfbedeckung kam ein borstiges Vogelnest von Haar zutage, bestehend aus dunklen, von Grau durchzogenen Strähnen. Die zwei Frauen hielten Teebecher in der Hand und hatten sich vermutlich gerade über den Mord unterhalten, da sie beide schuldbewußt aufsahen, als ich hereinkam. Angesichts ihrer Nähe zu den Ereignissen mußten sie praktisch alles mitbekommen haben. Die Familie genierte sich jedenfalls nicht, ihre Konflikte in aller Öffentlichkeit auszutragen. Herrgott, sie hatten sich ja sogar vor mir in die Haare gekriegt. Enid und Myrna mußten vieles mitgehört haben und hatten vermutlich ihre Beobachtungen miteinander verglichen.
»Kann ich Ihnen helfen?« fragte Enid. Sie sprach im gleichen Ton, den Museumswärter anschlagen, wenn sie denken, man sei kurz davor, etwas auf der anderen Seite des Seils zu berühren.
»Das wollte ich gerade Sie fragen«, sagte ich. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« Ganz die Wohltäterin, die nach einem Verdienstabzeichen der Pfadfinder strebt.
»Danke, aber es läuft alles bestens«, sagte sie. Sie leerte ihren Becher in die Spüle, öffnete die Spülmaschine und stellte ihn in den oberen Korb. »Ich gehe lieber, solange ich noch kann«, murmelte sie.
Myrna sagte: »Ich kann dich hinausbringen, wenn du möchtest.«
»Nicht nötig«, erwiderte Enid. »Ich kann mir hinten Licht anmachen.« Mit einem Blick auf mich fragte sie: »Soll ich Ihnen eine Tasse Tee aufgießen? Das Wasser ist noch heiß. Ich bin zwar gerade am Gehen, aber es dauert ja nicht lang.«
»Ja, gerne«, sagte ich. Ich mag Tee eigentlich nicht besonders, aber ich wollte unseren Kontakt in die Länge ziehen.
»Das kann ich auch machen«, sagte Myrna. »Geh du ruhig.«
»Bist du sicher?«
»Absolut. Bis morgen.«
Enid streckte die Hand aus und tätschelte Myrna den Arm. »Na gut. Tschüs dann. Du mußt unbedingt wegen deiner Schleimbeutelentzündung mit meinem Chiropraktiker reden. Und ruf an, wenn du mich brauchst. Ich bin den ganzen Abend zu Hause.« Enid nahm eine große Segeltuchtasche und verschwand in Richtung Hintertür.
Ich sah Myrna dabei zu, wie sie den Wasserkocher einschaltete. Sie machte eine Schranktür auf und holte einen Becher heraus. Sie zuckte zusammen, griff in eine Blechdose und entnahm ihr einen Teebeutel, den sie in den Becher hängte. Unterdessen konnte ich hören, wie draußen eine Autotür zugeschlagen wurde und wenige Momente später Enid ihren Wagen startete.
Ich ging zur Arbeitsfläche hinüber und setzte mich auf einen hölzernen Hocker. »Wie geht es Ihnen, Myrna? Sie sehen müde aus«, sagte ich.
»Das liegt an der Schleimbeutelentzündung, die wieder schlimmer wird. Die plagt mich schon seit Tagen«, erwiderte sie.
»Der Streß trägt wahrscheinlich sein Teil dazu bei.«
Myrna schürzte die Lippen. »Das sagt mein Arzt auch. Ich dachte, ich hätte schon alles gesehen. Ich bin an den Tod gewöhnt. In meinem Beruf begegne ich ihm häufig, aber das hier...« Sie hielt inne, um den Kopf zu schütteln.
»Es muß höllisch gewesen sein heute. Ich konnte es kaum glauben, als Tasha es mir erzählt hat«, sagte ich. »Sie arbeiten schon wie lange für die Maleks — acht Monate?«
»Ungefähr. Seit letzten April. Die Familie hat mich gebeten, nach Mr. Maleks Tod dazubleiben. Jemand mußte ja die Verantwortung für den Haushalt übernehmen. Enid hatte es satt, und mir machte es nichts aus. Ich habe schon viele Haushalte geführt, manche davon noch größer als dieser hier.«
»Könnten Sie als Privatschwester nicht viel mehr verdienen?«
Sie holte eine Zuckerdose herunter und füllte ein Milchkännchen mit Halb-und-Halb, das sie aus dem Kühlschrank nahm. »Ja, schon, aber ich mußte mich mal von all den unheilbaren Krankheiten erholen. Ich schließe meine Patienten ins Herz, und wo bleibe ich dann, wenn sie sterben? Ich habe wie eine Zigeunerin gelebt, bin von einer Stelle zur nächsten gezogen. Hier habe ich eine eigene kleine Wohnung, und die Aufgaben sind in erster Linie Aufsichtsfunktionen. Gelegentlich koche ich ein bißchen, wenn Enid ihren freien Abend hat, aber das ist schon fast alles. Natürlich beschweren sie sich immer wieder. Es ist manchmal schwer, es ihnen recht zu machen, aber ich lasse mich davon nicht stören. Irgendwie bin ich es gewohnt. Kranke sind auch oft schwierig, und es muß gar nichts heißen. Ich lasse es einfach an mir abprallen.«
»Ich nehme an, Sie waren gestern abend hier.«
Der Wasserkocher stimmte ein heiseres Flüstern an, das sich rasch zu einem Kreischen auswuchs. Sie zog den Stecker heraus, und das schrille Geräusch legte sich wie erleichtert. Ich wartete, während sie den Becher füllte und mir herüberbrachte. »Danke.«
Ich merkte, wie sie zögerte und offenbar mit sich selbst rang, ob sie sagen sollte, was ihr auf der Zunge lag. »Haben Sie etwas auf dem Herzen?« fragte ich.
»Ich weiß nicht, wieviel ich sagen darf«, meinte sie vorsichtig. »Der Lieutenant hat uns gebeten, nicht mit der Presse zu sprechen...«
»Kein Wunder«, sagte ich. »Haben Sie sie dort draußen gesehen?«
»Wie die Geier«, sagte sie. »Als ich vom Polizeirevier zurückkam, riefen sie alle durcheinander, versuchten, meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und hielten mir Mikrophone unter die Nase. Am liebsten hätte ich mir die Jacke übers Gesicht gezogen. Ich habe mich wie einer dieser Kriminellen im Fernsehen gefühlt.«
»Vermutlich wird es jetzt noch schlimmer. Angefangen hat es als kleine Geschichte über ein menschliches Schicksal. Jetzt ist es eine Riesensache.«
»Das fürchte ich auch«, sagte sie. »Aber um Ihre Frage zu beantworten, ja, ich war hier, aber ich habe nichts gehört. In letzter Zeit hatte ich wegen meines Arms Schlafstörungen. Gewöhnliche Schmerzmittel kommen an den Schmerz gar nicht heran, deshalb habe ich ein Tylenol mit Codein genommen und eine rezeptpflichtige Schlaftablette. Ich mache das nicht oft, weil ich die Wirkung nicht mag. Davon fühle ich mich am nächsten Morgen ganz schlapp, so als würde ich überhaupt nicht richtig aufwachen. Außerdem ist der Schlaf so tief, daß er schon fast nicht mehr erholsam ist. Ich bin gegen halb neun ins Bett gegangen und habe mich bis neun Uhr heute morgen nicht mehr gerührt.«
»Wer hat die Leiche entdeckt?«
»Ich glaube, das war Christie.«
»Um wieviel Uhr war das?«
»Kurz nach zehn. Ich hatte mir gerade eine Tasse Kaffee gemacht, war hier hinten in der Küche und habe mir die Morgennachrichten auf dem kleinen Fernseher angesehen. Ich habe den ganzen Aufruhr gehört. Sie wollten sich eigentlich zum Frühstück treffen, um über das Testament zu sprechen, und als Guy nicht herunterkam, wurde Bennet wohl wütend. Er dachte, Guy spielte ein Spielchen mit ihnen. Zumindest hat mir das Christie später so erzählt. Bennet hat sie hinaufgeschickt, damit sie ihn herunterholt. Und plötzlich haben sie die Nummer des Notrufs gewählt, aber ich wußte immer noch nicht, was eigentlich los war. Ich wollte gerade zu ihnen hinausgehen, als Donovan hereinkam. Er sah entsetzlich aus. Er hatte jegliche Farbe verloren und war weiß wie die Wand.«
»Haben Sie die Leiche gesehen?«
»Ja. Er hat mich gebeten hinaufzugehen. Er dachte, ich könnte vielleicht irgend etwas tun, aber es war natürlich zu spät. Guy muß zu der Zeit schon mehrere Stunden tot gewesen sein.«
»Ohne jeden Zweifel?«
»O ja. Ganz sicher. Er fühlte sich kalt an, und seine Haut war wächsern. Man hatte ihm den Schädel eingeschlagen, und überall war Blut, das meiste davon schon getrocknet oder geronnen. Angesichts seiner Verletzungen würde ich sagen, daß der Tod rasch, wenn nicht sofort eingetreten sein muß. Außerdem war es eine Schweinerei. Ich weiß, daß die Polizei über diesen Aspekt des Mordes gerätselt hat.«
»Welchen Aspekt?«
»Was der Mörder mit seinen eigenen Kleidern gemacht hat. Ich möchte ja nicht geschmacklos werden, aber es muß wohl weiträumig gespritzt haben. Blut und Gehirnmasse. Er hätte das Anwesen unmöglich verlassen können, ohne aufzufallen. Die Polizisten haben sich für eine Reihe von Kleidungsstücken interessiert. Sie haben mich um meine Hilfe gebeten, da ich immer die Sachen in die Reinigung bringe.«
»Haben sie irgend etwas von Belang gefunden?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe ihnen alles gegeben, was heute in die Reinigung gehen sollte. Sie haben sich ausgiebig mit Enid unterhalten, aber ich weiß nicht, was sie von ihr wollten.«
»Haben Sie vielleicht eine Ahnung, was die Mordwaffe gewesen sein könnte?«
»Da möchte ich keine Vermutungen wagen. In diesem Punkt fühle ich mich nicht zu einem Kommentar berechtigt. Es war nichts im Zimmer, jedenfalls nicht, soweit ich sehen konnte. Ich hörte einen Beamten sagen, daß die Autopsie gleich morgen früh stattfinden solle. Ich nehme an, der Pathologe wird sich eine Meinung bilden«, sagte sie. »Hat die Familie Sie beauftragt, Ermittlungen anzustellen?«
Mir lag die Lüge schon auf der Zunge, aber dann überlegte ich es mir noch einmal anders. »Bis jetzt noch nicht«, sagte ich. »Hoffen wir, daß es nicht soweit kommt. Ich kann es nicht glauben, daß sich jemand aus der Familie als Täter entpuppen wird.«
Ich erwartete, daß sie mit Protesten und Versicherungen reagieren würde, doch das nun folgende Schweigen war bezeichnend. Ich merkte ihr das Bedürfnis an, mir etwas anzuvertrauen, konnte mir aber nicht vorstellen, was. Ich blickte ihr tief in die Augen und versuchte, vertrauenswürdig und ermutigend zu wirken. Ich spürte schon fast, daß ich den Kopf schief legte wie ein Hund, der festzustellen versucht, aus welcher Richtung der Ton einer Hochfrequenzpfeife kommt.
Inzwischen war ihr ein angetrockneter Fleck auf der Arbeitsfläche aufgefallen, und sie machte sich, ohne mich anzusehen, mit dem Fingernagel daran zu schaffen. »Es geht mich wirklich nichts an. Ich habe nichts als Respekt für Mr. Malek empfunden...«
»Selbstverständlich.«
»Ich möchte nicht, daß irgend jemand schlecht von mir denkt, aber manches höre ich bei meiner Arbeit einfach mit. Ich werde gut bezahlt, und Gott weiß, daß ich meine Arbeit gern mache. Oder zumindest gern gemacht habe.«
»Ich bin sicher, Sie wollen nur helfen«, sagte ich und fragte mich, worauf sie hinauswollte.
»Wissen Sie, Bennet war überhaupt nicht damit einverstanden, das Geld zu teilen. Er war nicht davon überzeugt, daß dies Baders Absicht gewesen wäre, und so dachte auch Jack. Aber natürlich hat sich Jack in fast allem auf Bennets Seite gestellt.«
»Tja, vielleicht waren sie nicht davon überzeugt, aber angesichts des fehlenden Testaments weiß ich nicht, was für eine Wahl sie hatten, wenn sie nicht vor Gericht gehen wollten. Ich nehme an, daß nichts geklärt worden war.«
»Überhaupt nichts. Wenn sie ihre Angelegenheiten geklärt hätten, wäre Guy nach Hause gefahren. Er war hier unglücklich. Das habe ich ihm angesehen.«
»Tja, das stimmt. Als ich am Montag mit ihm gesprochen habe, hat er zugegeben, daß er getrunken hat.«
»Oh, vor allem gestern abend. Sie haben mit Cocktails angefangen und zum Abendessen vier oder fünf Flaschen Wein geleert. Danach gab es Portwein und Liköre. Sie waren immer noch dabei, als ich ins Bett ging. Ich habe Enid mit dem Geschirr geholfen, und sie hat gemerkt, wie erschöpft ich war. Wir haben sie alle beide streiten hören.«
»Bennet und Guy haben gestritten?«
Sie schüttelte den Kopf und bewegte die Lippen.
Ich legte mir eine Hand hinters Ohr. »Entschuldigen Sie. Das habe ich nicht gehört.«
Sie räusperte sich und sprach eine halbe Stufe lauter. »Jack. Guy und Jack haben sich gestritten, bevor Jack in seinen Country Club ging. Ich habe dem Lieutenant davon erzählt, aber jetzt frage ich mich, ob ich nicht lieber den Mund hätte halten sollen.«
»Wahrheit ist Wahrheit. Wenn Sie das gehört haben, mußten Sie es der Polizei erzählen.«
»Sie glauben nicht, daß er wütend sein wird?« Ihre Stimme klang ängstlich, und ihre Miene war in ihrer Furchtsamkeit beinahe kindlich.
Ich vermutete, die gesamte Familie würde Anfälle bekommen, wenn sie davon hörte, doch wir waren alle verpflichtet, die Ermittlungen der Polizei zu unterstützen. »Mag sein, aber darüber dürfen Sie sich nicht den Kopf zerbrechen. Guy wurde letzte Nacht ermordet. Es ist nicht Ihre Aufgabe, irgend jemanden zu beschützen.«
Sie nickte stumm, aber ich sah ihr an, daß sie nicht überzeugt war.
»Myrna, das ist mein Ernst. Was auch immer geschieht, ich glaube nicht, daß Sie sich dafür verantwortlich fühlen sollten.«
»Aber ich hätte es nicht von mir aus verraten dürfen. Ich mag Jack. Ich kann nicht glauben, daß er irgend jemandem etwas zuleide tun würde.«
»Hören Sie, glauben Sie nicht, daß ich in genau die gleiche Lage kommen werde? Die Polizisten werden mich auch befragen. Ich muß morgen früh aufs Revier, und ich werde genau das gleiche tun wie Sie.«
»Wirklich?«
»Sicher. Ich habe sie an dem Abend streiten hören, als ich auf einen Drink hierhergekommen bin. Bennet und Donovan haben sich gestritten, daß die Fetzen flogen. Christie hat mir dann erzählt, daß sie ständig übereinander herfallen. Das macht sie zwar nicht zu Mördern, aber es ist nicht an uns, die Fakten zu interpretieren. Sie müssen der Polizei erzählen, was Sie gehört haben. Ich bin sicher, Enid wird Ihre Aussagen bestätigen. Auf dieser Grundlage wird sowieso niemand verhaftet. Schließlich haben Sie ja Jack nicht mit einem blutigen Holzscheit aus Guys Zimmer kommen sehen.«
»Nein. Natürlich nicht.« Ich sah, wie sich die Anspannung in ihrer Miene teilweise löste. »Ich hoffe, Sie haben recht. Ich meine, mir ist schon klar, was Sie sagen. Wahrheit ist Wahrheit. Das einzige, was ich gehört habe, war ein Streit. Ich habe nicht gehört, daß Jack ihn bedroht hätte.«
»Genau«, sagte ich mit einem Blick auf die Uhr. Mittlerweile war es fast sechs Uhr. »Wenn Sie für heute abend fertig sind, lasse ich Sie jetzt lieber in Ruhe. Ich sollte wohl eigentlich nach Hause gehen, aber zuerst möchte ich mich noch ein bißchen mit Christie unterhalten.«
Angst flackerte in ihren Augen auf. »Sie werden aber unser Gespräch nicht erwähnen?«
»Hören Sie bitte auf, sich Sorgen zu machen. Ich sage kein Wort, und ich möchte auch nicht, daß Sie etwas sagen.«
»Da bin ich Ihnen dankbar. Ich glaube, ich würde mir jetzt gern das Gesicht waschen.«
Ich wartete, bis Myrna aus der Küche verschwunden und zu ihrer Wohnung gegangen war. Mein Tee war unberührt. Ich leerte die Tasse aus und ließ sie in der Spüle stehen. Ich habe nie eine Spülmaschine besessen und wußte trotz Enids gutem Beispiel nicht, wie man sie einräumte. Ich stellte mir vor, daß bei einer einzigen falschen Bewegung sämtliche Teller herausfliegen und in einem Scherbenhaufen enden würden. Ich ging wieder in die Bibliothek. Christie und Tasha hatten den Fernseher angestellt. Christie hielt die Fernbedienung in der Hand und wechselte von einem Kanal zum nächsten, um irgendwo Nachrichten zu erwischen. Sie schaltete den Ton ab, als ich hereinkam, und drehte sich zu mir um. »Ach, da sind Sie ja. Kommen Sie herein und setzen Sie sich zu uns. Tasha hat schon gedacht, Sie seien gegangen.«
»Ich bin gerade dabei«, sagte ich. »Ich war noch in der Küche, um nachzusehen, ob ich dort helfen kann. Kann ich Sie noch etwas fragen, bevor ich gehe? Ich habe gehört, wie Sie im Gespräch mit Lieutenant Robb eine Postsendung erwähnt haben. Darf ich fragen, was das war?«
»Sicher. Ähm, lassen Sie mich überlegen. Ich glaube, am späten Montag nachmittag hat jemand einen anonymen Brief in den Briefkasten geworfen. Auf dem Umschlag stand Guys Name, aber kein Absender. Er ließ den Brief auf dem Tisch in der Halle liegen, als er gestern abend ins Bett ging. Ich dachte, die Polizei wollte vielleicht einen Blick darauf werfen.«
»War er getippt oder von Hand geschrieben?«
»Der Umschlag war getippt.«
»Haben Sie den Brief gelesen?«
»Natürlich nicht, aber ich weiß, daß er Guy Kopfzerbrechen bereitet hat. Er hat zwar nicht gesagt, worum es ging, aber ich nehme an, es war etwas Unangenehmes.«
»Hat er je einen Max Outhwaite erwähnt? Sagt Ihnen dieser Name irgend etwas?«
»Nicht daß ich wüßte.« Sie wandte sich an Tasha. »Klingelt da bei dir was?«
Tasha schüttelte den Kopf. »In welchem Zusammenhang?«
»Dadurch hat der Reporter überhaupt erst erfahren, daß Guy wieder da war. Jemand namens Max Outhwaite hat beim Dispatch einen Brief abgegeben, aber als Katzenbach der Sache nachging, stellte sich heraus, daß es weder jemanden gibt, der so heißt, noch die angegebene Adresse existiert. Ich habe es selbst noch einmal überprüft und ebenfalls nichts gefunden.«
»Nie von ihm gehört«, sagte Christie. »Wäre es möglich, daß er irgendwie mit Guys früheren Machenschaften zu tun hat? Vielleicht ist dieser Outhwaite jemand, dem Guy damals übel mitgespielt hat.«
»Möglich«, sagte ich. »Haben Sie was dagegen, wenn ich mal in Baders Akte oben nachsehe?«
»Was für eine Akte?« wollte Tasha wissen.
Christie antwortete noch vor mir. »Bader hat eine Mappe mit Zeitungsausschnitten über Guys diverse Festnahmen und Gesetzesverstöße angelegt. Sie reichen ziemlich weit zurück.«
»Wissen Sie, mir ist noch etwas anderes durch den Kopf gegangen«, sagte ich. »Dieser Outhwaite, wer immer er auch ist, hat auf jeden Fall Jeff Katzenbach auf die Spur von Guys Vorstrafenregister gebracht. Ich weiß nicht, ob Jeff andernfalls davon gewußt hätte. Sowie ich den Brief gesehen habe, habe ich mich gefragt, ob es in Wirklichkeit vielleicht Jack oder Bennet war, der ihm den Tip gegeben hat.«
»Unter Outhwaites Namen?«
»Möglich wäre es«, sagte ich.
»Aber warum sollte einer von ihnen das tun? Was soll das?«
»Das ist ja das Problem. Ich weiß es nicht. In diesem Punkt könnte ich mich auch irren«, sagte ich. »Die Überlegung, daß Outhwaite jemand ist, dem Guy früher einmal unrecht getan hat, gefällt mir.«
»Nehmen Sie die Mappe mit, wenn Sie wollen. Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, lag sie immer noch auf Baders Schreibtisch.«
»Ich gehe schnell hinauf und hole sie. Bin gleich wieder da.«
Ich verließ die Bibliothek und durchquerte die Halle. Wenn ich mit Jonah sprach, würde er mir vielleicht über den Brief Auskunft geben. Ich nahm zwei Stufen auf einmal und vermied es angestrengt, den Flur hinabzusehen. Ich hatte keine Ahnung, welches Zimmer Guy bewohnt hatte, aber ich wollte nicht in seine Nähe kommen. Am oberen Treppenabsatz bog ich scharf links ab und ging geradewegs zu Baders Zimmer, wo ich die Tür aufstieß und die Deckenlampe einschaltete. Es schien alles in Ordnung zu sein. Der verlassene Raum war kalt und roch ein wenig muffig. Die Deckenbeleuchtung war matt, und auch die Farben im Raum wirkten fahl. Ich ging zu dem dahinterliegenden Arbeitszimmer und drückte im Vorbeigehen auf sämtliche Lichtschalter. Baders Präsenz wurde systematisch getilgt. Die Schränke waren geleert und sämtliche persönlichen Gegenstände von seinem Schreibtisch entfernt worden.
Ich musterte meine Umgebung und entdeckte die Mappe mit den Zeitungsausschnitten über Guys Vergangenheit, erleichtert, daß die Polizei nicht hier durchgerauscht war und sie mitgenommen hatte. Andererseits war der Haussuchungsbefehl vermutlich nicht so umfassend. Die Liste der zu beschlagnahmenden Gegenstände konzentrierte sich vielleicht nur auf die Mordwaffe selbst. Ich blätterte die Ausschnitte durch und las auf der Suche nach dem Namen Outhwaite oder irgend etwas Ähnlichem eilig quer. Nichts. Ich sah noch einige der anderen Aktendeckel auf dem Tisch durch, fand aber nichts, was von Belang gewesen wäre. Wieder eine Sackgasse, obwohl die Idee gut war — jemand voller Groll, der Guy das Leben schwermachen wollte. Ich schob mir die Mappe unter den Arm und verließ den Raum, wobei ich im Vorbeigehen die Lichter wieder ausschaltete.
Ich zog die Tür hinter mir zu und blieb im Flur vor der großen Suite stehen. Irgend etwas stimmte nicht. Mein erster Impuls war, rasch die Treppe hinunterzuhuschen, zu den erleuchteten Räumen im Erdgeschoß, aber ich merkte, wie mein Schritt sich verlangsamte. Ich hörte ein Knistern und spähte nach links. Das andere Ende des Flurs lag im Dunkeln, abgesehen von einer X-förmigen Tatortabsperrung, die sich über drei Türen erstreckte. Während ich hinsah, schien das Band beinahe aufzuleuchten, dabei vibrierte es hörbar, als rüttelte der Wind daran. Einen Augenblick dachte ich, das Band würde sich losreißen, es knackte und knatterte wie von einem Luftstrom erfaßt. Die Luft auf dem Treppenabsatz war kühl, und ich nahm den schwachen Geruch von etwas Animalischem wahr — nasser Hund oder alter Pelz. Zum ersten Mal erlaubte ich mir, das Grauen von Guys Tod an mich heranzulassen.
Langsam stieg ich die Treppe hinab, eine Hand am Geländer, die andere fest um die Mappe geklammert. Ich wirbelte herum, da ich der Finsternis hinter mir nur ungern den Rücken zukehren wollte. Einen Moment lang musterte ich das Stück Flur, das ich sehen konnte. Irgend etwas hielt sich am Rand meines Blickfelds auf. Langsam wandte ich den Kopf um, während ich vor Angst fast aufgestöhnt hätte. Ich sah leuchtende Funken, beinahe wie Staubflocken, die sich in der Stille materialisierten. Mit einem Mal stieg eine Hitzewallung in mir auf, und in meinen Ohren klingelte es, ein Geräusch, das mich an die Ohnmachtsanfälle meiner Kindheit erinnerte. Meine Spritzenphobie hatte häufig zu solchen Wahrnehmungen geführt. Als ich noch klein war, schleppte man mich immer wieder zur Typhusimpfung, zur Blutabnahme für den Tuberkulosetest oder zur Tetanusauffrischung. Während die Krankenschwester damit beschäftigt war, meine Ängste herunterzuspielen und mir zu erklären, daß »große Mädchen« nicht so ein Theater machten wie ich, fing das Klingeln an und steigerte sich zu einem schrillen Kreischen; schließlich war Stille. Mein Gesichtsfeld schrumpfte zusammen, und das Licht sauste spiralförmig nach innen auf einen winzigen Punkt zu. Dann stieg die Kälte auf, und als ich wieder zu mir kam, fand ich besorgte Gesichter über mich gebeugt und nahm das scharfe Aroma des Riechsalzes wahr, das man mir unter die Nase hielt.
Ich lehnte mich gegen die Wand. In meinem Mund schwamm etwas, das wie Blut schmeckte. Ich schloß fest die Augen, während ich meinen hämmernden Herzschlag und meine nassen Handflächen registrierte. Als Guy Malek schlief, war gestern abend jemand in der Dunkelheit diesen Flur entlanggeschlichen, bei sich einen stumpfen Gegenstand aus ausreichend kräftigem Material, um sein Leben auszulöschen. Weniger als einen Tag war das her. Weniger als eine Nacht. Vielleicht war nur ein Schlag nötig gewesen, vielleicht mehrere. Was mich marterte, war die Vorstellung dieses ersten knochenzertrümmernden Krachens, unter dem sein Schädel brach und zerfiel. Der arme Guy. Ich hoffte nur, er war nicht aufgewacht, bevor ihn der erste Schlag traf. Ich hoffte, er schlief, bevor sein Schlaf endgültig wurde.
Das Klingeln in meinen Ohren hielt an und steigerte seine Intensität wie das Heulen eines Sturms. Panik ergriff mich. Gelegentlich durchleide ich dieses Szenario in Alpträumen — den unbezwingbaren Drang davonzurennen, mich aber nicht rühren zu können. Ich mühte mich, einen Laut auszustoßen. Ich hätte schwören können, daß da irgendein Wesen war, etwas oder jemand, der kurz innehielt und dann vorbeiging. Ich versuchte, die Augen zu öffnen, beinahe überzeugt davon, daß ich Guy Maleks Mörder die Treppe herunterkommen sehen würde. Mein Herzschlag beschleunigte sich zu lebensbedrohlicher Geschwindigkeit und toste in meinen Ohren wie das Geräusch hastender Füße. Ich schlug die Augen auf. Der Lärm brach auf der Stelle ab. Nichts. Niemand. Die gewohnten Geräusche des Hauses gewannen wieder die Oberhand. Die Fläche vor mir war frei. Polierter Fußboden. Leerer Flur. Strahlendes Licht vom Kronleuchter. Als ich in den Flur zurückblickte, konnte ich sehen, das das X der Tatortabsperrung einfach wieder Klebeband war. Ich ließ mich auf die Stufen sinken. Das Erlebnis hatte sicher weniger als eine Minute gedauert, doch der Adrenalinstoß hatte meine Hände zum Zittern gebracht.
Schließlich erhob ich mich von der Treppe, auf der ich weiß Gott wie lang gesessen hatte. Von irgendwo unten vernahm ich ein Gewirr aus männlichen und weiblichen Stimmen, und ich wußte sofort, daß Donovan, Bennet und Jack vom Polizeirevier zurückgekommen waren und das Haus betreten hatten, als ich noch in Baders Arbeitszimmer war. Die Tür zur Bibliothek unter mir stand offen. Tasha und Christie mußten sich zu den dreien gesellt haben. Von der Küche her konnte ich das Klirren von Eiswürfeln und Flaschen hören. Schon wieder Trinkzeit. Jeder im Haus schien neben einer ausgedehnten psychiatrischen Behandlung Alkohol zu benötigen.
Ich setzte meinen Abstieg fort, bemüht, nicht der Familie in die Arme zu laufen. Ich kehrte in die Bibliothek zurück, spähte vorsichtig hinein und fand den Raum zu meiner Erleichterung leer vor. Ich packte meine Tasche, stopfte die Mappe ins Außenfach und schlich mich mit immer noch pochendem Herzen zur Haustür. Ich zog sie mit Sorgfalt hinter mir zu, um das Geräusch des zuschnappenden Schlosses zu dämpfen. Ich konnte nicht anders, als mich unbemerkt aus dem Staub zu machen. Nach meinem Erlebnis auf der Treppe — was immer es auch war — sah ich mich außerstande, oberflächliche Konversation zu treiben. Es schien mir nicht abwegig, daß jemand in diesem Haushalt Guy Malek ermordet hatte, und ich würde garantiert nicht gute Miene zum bösen Spiel machen, bevor ich wußte, wer es gewesen war.