12
Mein Dauerlauf war an diesem Morgen unbefriedigend gewesen. Ich hatte getan, was getan werden mußte, war pflichtschuldig anderthalb Meilen den Fahrradweg hinab und anderthalb Meilen wieder zurück gejoggt, konnte aber dabei keinen Rhythmus entwickeln, und der ersehnte Endorphinausstoß hatte sich auch nicht eingestellt. Mir ist aufgefallen, daß ich an Tagen, an denen das Joggen nicht gut läuft, ein emotionales Unbehagen empfinde, das sich wie Beklommenheit ausnimmt, diesmal auch noch vermischt mit einer leichten Depression. Ehe ich zu Alkohol oder Tabletten greife, ist manchmal das einzige Heilmittel, erneut zu trainieren. Ich schwöre, daß es sich dabei weniger um Zwanghaftigkeit meinerseits handelt als vielmehr um eine Art Drang nach Erleichterung. Ich fuhr zu Harley’s Beach hinüber und fand im Schutz eines Hügels einen Parkplatz. Das Gelände war fast leer, was mich erstaunte. Meist findet sich dort eine bunte Mischung aus Touristen und Nichtstuern, Joggern, Verliebten, bellenden Hunden und Eltern mit kleinen Kindern. Heute war das einzige, was ich sah, eine Familie wilder Katzen, die sich auf der Anhöhe hinter dem Strand sonnte.
Ich stolperte über eine weite Fläche losen, trockenen Sands, bis ich den festen Grund dicht am Wasser erreicht hatte. Normalerweise hätte ich jetzt Schuhe und Socken abgestreift und die Hosenbeine hochgerollt, damit ich in der Brandung joggen konnte, aber kürzlich hatte mir jemand ein kleines Büchlein über Priele gegeben. Ich hatte es interessiert durchgeblättert und mich selbst in der Rolle der forschenden Naturfreundin gesehen, die unter den Steinen nach kleinen Krabben und Seesternen herumstochert (obwohl ihre Unterseiten absolut ekelhaft und scheußlich sind). Bevor ich dieses bunte, aufschlußreiche Heftchen gelesen hatte, hatte ich ja keine Ahnung gehabt, was für seltsame, häßliche Tierchen in Küstennähe leben. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die der Natur sentimentale Gefühle entgegenbringen. Die Wildnis besteht meines Wissens fast ausschließlich aus kopulierenden Kreaturen, die einander hinterher auffressen. Zu diesem Zweck hat fast jedes bekannte Tier taktische Maßnahmen entwickelt, mit denen es andere in seine Reichweite lockt. Bei den Lebensformen im Meer — von denen manche ja ganz winzig sind — gehören zu dieser Taktik dornenbewehrte Teile oder Scheren, putzige Mündchen mit drei Zahnreihen, lange Stachel oder bösartige Saugnäpfe, mit denen sie sich aneinanderklammern und dann den anderen zerstückeln und schmerzhaft sterben lassen — und das alles im Namen der Ernährung. Manchmal wird, lange bevor der Tod eintritt, sämtlicher Saft aus dem Opfer herausgesaugt. Der Seestern stülpt allen Ernstes seinen eigenen Magen heraus, umhüllt damit seine lebende Beute und verdaut sie außerhalb seines Körpers. Wie würde es Ihnen gefallen, mit dem nackten Fuß auf so etwas zu treten?
Ich lief mit den Schuhen und preschte durch die aufspritzende Brandung, wenn die Wellen bis zu mir herankamen. Bald klebte mir die nasse Jeans an den Beinen, und der schwere Stoff fiel kalt gegen meine Schienbeine. Meine Füße waren wie von Steinen beschwert, und ich spürte, wie der Schweiß von der Anstrengung durch das Laufen mein T-Shirt durchtränkte. Trotz der feuchten Brise, die vom Meer kam, empfand ich die Luft als bedrückend. Den dritten Tag hintereinander bliesen nun schon die Santa-Ana-Winde aus der Wüste über uns hinweg, fegten durch die Canons der Umgebung und brachten Feuchtigkeit aus der Atmosphäre mit. Die Hitze nahm zu, ein Grad nach dem anderen, wie eine immer höher werdende Backsteinmauer. Mein Tempo kam mir langsam vor, und ich zwang mich dazu, mich auf den Sand vor mir zu konzentrieren. Da ich die Strecke nicht abmessen konnte, lief ich nach Zeit, eine halbe Stunde in Richtung Norden, dann kehrte ich um und lief zurück. Als ich wieder an Harley’s Beach ankam, atmete ich stoßweise, und die Muskeln in meinen Schenkeln brannten wie Feuer. Ich verlangsamte erst zu einem Trab und dann auf Gehtempo, als ich zum Auto zurückkehrte. Einen Augenblick lang lehnte ich mich keuchend gegen die Motorhaube. Besser. Jetzt war es besser. Schmerzen waren mir allemal lieber als Beklommenheit, und Schweiß war besser als Depression.
Wieder zu Hause, ließ ich meine durchweichten Joggingschuhe vor der Türschwelle stehen. Ich trottete nach oben und schälte mich dabei aus meinen feuchten Kleidern. Dann duschte ich heiß und schlüpfte in Sandalen, T-Shirt und einen kurzen Baumwollrock. Es war jetzt kurz vor vier, und es hatte keinen Sinn, noch ins Büro zu fahren. Ich holte die Post und sah nach, ob Anrufe auf Band eingegangen waren. Es waren fünf: zweimal aufgelegt; zwei Reporter, die ihre Nummer hinterlassen hatten und mich baten, sie zurückzurufen; und ein Anruf von Peter Antle, dem Pfarrer von Guys Kirche. Ich wählte die Nummer, die er genannt hatte, und weil er sofort abnahm, mußte ich annehmen, daß er neben dem Telefon gewartet hatte.
»Peter. Ich habe Ihre Nachricht bekommen. Hier spricht Kin-sey aus Santa Teresa.«
»Kinsey. Danke, daß Sie so schnell zurückrufen. Winnie hat immer wieder versucht, Guy zu erreichen, aber irgendwie kommt sie nicht durch. Die Maleks haben ihren Anrufbeantworter eingeschaltet, und niemand geht ans Telefon. Ich weiß nicht, was Guy vorhat, aber wir fanden, wir sollten ihn lieber warnen. An der Tankstelle gegenüber von seinem Haus haben sich Reporter postiert. Immer wieder klopfen Leute hier bei der Kirche an, und wir haben einen Stapel von Nachrichten für ihn.«
»Jetzt schon?«
»Das war auch meine Reaktion. Offen gestanden verstehe ich nicht, wie das überhaupt an die Öffentlichkeit kommen konnte.«
»Lange Geschichte. Ich bin immer noch dabei, der Sache nachzugehen. Ich weiß, daß die Familie heute in aller Frühe von der Lokalzeitung kontaktiert wurde. Einer ihrer Reporter hat in der Redaktion einen Brief bekommen. Ich nehme an, ein ähnliches Schreiben ist an die L. A. Times gegangen. Ich habe zwar noch keine Nachrichten gesehen, aber ich habe das Gefühl, es wird erst noch mehr Wirbel geben, bevor sich der Aufruhr wieder legt.«
»Hier oben ist es noch schlimmer. Der Ort ist so klein, daß niemand von uns der Presse aus dem Weg gehen kann. Haben Sie eine Möglichkeit, Kontakt zu Guy aufzunehmen? Wir sind für ihn da, falls er uns braucht. Wir wollen nicht, daß er bei dem ganzen Streß den Kopf verliert.«
»Ich werde versuchen, ob ich zu ihm durchdringen kann. Schätzungsweise sind das seine fünfzehn Minuten Ruhm, obwohl ich offen gestanden nicht begreife, wieso die Geschichte soviel Aufmerksamkeit erregt. Warum sollte das denn irgend jemanden einen feuchten... Sch... äh... Schmutz interessieren? Er hat das Geld ja noch nicht einmal, und wer weiß, ob er je einen roten Heller zu sehen bekommt.«
Ich konnte Peters Grinsen beinahe sehen. »Alle wollen an etwas glauben. Für die meisten Menschen wäre ein unverhoffter Batzen Geld die Erfüllung all ihrer Wünsche.«
»Das stimmt wohl«, sagte ich. »Wenn ich ihn erreiche, sage ich ihm auf jeden Fall, er soll Sie anrufen.«
»Da wäre ich Ihnen dankbar.«
Nachdem wir unser Gespräch beendet hatten, schaltete ich den Fernseher ein und drückte die Taste für KEST-TV. Die Abendnachrichten sollten erst in einer halben Stunde beginnen, aber der Sender brachte häufig kurze Trailer über die bevorstehenden Beiträge. Ich durchlitt sechs Werbespots, bis ich den Ausschnitt zu sehen bekam, mit dem ich gerechnet hatte. Die blonde Moderatorin lächelte in die Kamera und sagte: »Nicht alle Nachrichten sind schlechte Nachrichten. Manchmal findet sich hinter der schwärzesten Wolke ein Silberstreif am Horizont. Nach fast zwanzig Jahren der Armut hat ein Hilfsarbeiter aus Marcella gerade erfahren, daß er fünf Millionen Dollar erbt. Mehr über diese Geschichte erfahren Sie um siebzehn Uhr.« Hinter ihr erlaubte die Kamera einen kurzen Blick auf einen abgezehrt aussehenden Guy Malek, wie er teilnahmslos aus dem Beifahrerfenster sah, während Donovans BMW schwungvoll durchs Tor des Malekschen Anwesens fuhr. Mich befielen leise Schuldgefühle, und ich wünschte, ich hätte ihm ausgeredet hierherzukommen. Seinem trostlosen Blick nach zu schließen, war seine Heimkehr kein Erfolg. Ich griff nach dem Telefon und versuchte es noch einmal bei den Maleks. Es war besetzt.
Eine Stunde lang wählte ich alle zehn Minuten die Nummer der Maleks. Wahrscheinlich hatten sie den Hörer neben den Apparat gelegt, oder vielleicht war das Band ihres Anrufbeantworters voll. Es war nicht abzusehen, wann ich zu Guy durchdringen würde.
Ich debattierte kurz mit mir selbst und fuhr dann zum Haus hinaus. Das Tor war nun geschlossen, und an der Böschung parkten sechs Fahrzeuge. Reporter standen herum, manche an ihre Kotflügel gelehnt, und zwei Männer unterhielten sich mitten auf der Straße. Beide rauchten und hielten große Kaffeebecher aus Styropor in den Händen. Drei Kameras standen auf Stativen aufgebaut da, und es hatte den Anschein, als wäre das Häuflein auf einen längeren Aufenthalt vorbereitet. Die spätnachmittägliche Sonne schien schräg durch die Eukalyptusbäume auf das Grundstück der Maleks und teilte die Auffahrt in wechselnde Abschnitte von Licht und Schatten.
Ich parkte hinter dem letzten Wagen und ging zu Fuß zur Sprechanlage neben dem Tor. Hinter mir kamen sämtliche Aktivitäten zum Erliegen, und ich merkte, wie sich alle Aufmerksamkeit auf meinen Rücken konzentrierte. Niemand reagierte auf mein Läuten. Wie die anderen würde auch ich hier herumstehen und darauf hoffen müssen, einen der Maleks beim Verlassen oder Betreten des Anwesens zu erwischen. Ich versuchte es noch einmal, aber mein Klingeln wurde von Totenstille aus dem Inneren des Hauses erwidert.
Ich ging zu meinem Wagen zurück und drehte den Zündschlüssel herum. Sogleich machte sich eine dunkelhaarige Reporterin auf den Weg zu mir herüber. Sie war vermutlich Mitte Vierzig, trug eine überdimensionale Sonnenbrille und hatte leuchtendrot geschminkte Lippen. Während ich sie betrachtete, wühlte sie in ihrer Umhängetasche herum und holte eine Zigarette heraus. Sie war groß und schlank und steckte in Freizeithosen und einem taillenkurzen Baumwollpullover. Ich wunderte mich, wie sie es bei dieser Hitze darin aushielt. Goldene Ohrringe. Goldene Armreifen. Ein beängstigendes Paar Zehnzentimeterabsätze. Für meinen Geschmack ist das Gehen in Stöckelschuhen das gleiche, wie wenn man versucht, Schlittschuhlaufen zu lernen. Der menschliche Knöchel läßt sich solche Beanspruchungen nicht ohne weiteres gefallen. Ich bewunderte ihren Gleichgewichtssinn, erkannte allerdings, als sie näher kam, daß sie barfuß vermutlich kleiner wäre als ich. Sie machte eine kreisende Geste, um mir zu bedeuten, daß ich mein Seitenfenster herunterdrehen sollte.
»Hi. Wie geht’s?« sagte sie. Sie hielt die Zigarette in die Luft. »Haben Sie Feuer für mich?«
»Tut mir leid. Ich rauche nicht. Warum fragen Sie nicht einen von denen?«
Sie drehte sich um, und ihr Blick wanderte zurück zu den beiden Männern, die auf der Straße standen. Ihre Stimme war heiser, und ihr Tonfall abschätzig. »Ach, die. Das ist ein Männerverein«, bemerkte sie. »Die zwei sagen einem nicht einmal, wieviel Uhr es ist, wenn man ihnen keine Gegenleistung bietet.« Ihr Blick wandte sich wieder mir zu. »Was ist mit Ihnen? Sie sehen nicht wie eine Reporterin aus. Was sind Sie, eine Freundin der Familie? Eine alte Liebe?«
Ich mußte die Lässigkeit bewundern, mit der sie das Thema angeschnitten hatte, beiläufig und unbeteiligt. Vermutlich machte sie sich fast in die Hosen, während sie darauf hoffte, daß ich ihr einen kleinen Leckerbissen verraten würde, mit dem sie ihre Konkurrenz ausstechen konnte. Ich begann mein Lenster hochzukurbeln. Rasch hob sie ihre Tasche in die Höhe, kippte sie zur Seite und schob sie in den Zwischenraum, damit ich das Fenster nicht ganz schließen konnte. Nun war eine Öffnung von knapp zwanzig Zentimetern geblieben, in der wie ein Keil ihre Handtasche steckte.
»Nicht böse sein«, sagte sie, »ich bin eben neugierig. Sind Sie nicht die Privatdetektivin, von der wir soviel gehört haben?«
Ich drehte den Zündschlüssel um. »Bitte nehmen Sie Ihre Tasche weg.« Ich kurbelte das Fenster etwa zwei Zentimeter herunter und hoffte, sie würde die Tasche herausziehen, damit ich losfahren konnte.
»Nicht so eilig. Was soll denn die Hektik? Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, diese Dinge zu erfahren. Ich bekomme die Information sowieso, also wäre es doch besser, wenn sie korrekt ist. Ich habe gehört, er hat als Jugendlicher einige Zeit im Knast verbracht. War das hier oder oben im Norden?«
Ich drehte das Fenster ein Stückchen hinauf und legte einen Gang ein. Dann trat ich leicht aufs Gaspedal und fuhr langsam vom Straßenrand weg. Sie hielt die Tasche am Riemen fest und lief neben dem Wagen her, um das Gespräch fortzusetzen. Ich nahm an, sie war es gewohnt, daß der Fahrer nach ihrer Pfeife tanzte, wenn sie den alten Handtaschentrick anwandte. Ich erhöhte meine Geschwindigkeit so, daß sie in Trab verfallen mußte. Sie riß am Riemen der Tasche und rief »He!«, als ich zu beschleunigen begann. Ich konnte kaum mehr als drei km/h gefahren sein, aber dieses Tempo ist schwer zu halten, wenn man so hochhackige Schuhe trägt. Ich trat ein bißchen fester aufs Gas. Sie ließ die Tasche los, blieb wie angewurzelt stehen und sah mir fassungslos nach, als ich davonfuhr. Ich passierte die beiden Männer auf der Straße, die der wüste Kommentar, den sie mir hinterherrief, zu amüsieren schien. Ich konnte die Worte nicht verstehen, aber die Botschaft war klar. Im Rückspiegel sah ich, wie sie mir den Mittelfinger zeigte.
Sie zog einen Stöckelschuh aus und warf ihn gegen meine Heckscheibe. Bei seinem Aufprall hörte ich ein leises Poltern, dann sah ich, wie der Schuh hinter mir davonflog, als ich beschleunigte. Der lange Riemen der Handtasche schlenkerte hin und her und schlug gegen die Fahrertür. Knapp hundert Meter weiter hielt ich lang genug an, um das Fenster herunterzukurbeln und der Tasche einen Stoß zu versetzen. Ich ließ sie auf der Straße liegen, zusammengerollt wie eine Beutelratte, und fuhr zu meiner Wohnung.
Als ich nach Hause kam, lagen zwei Zeitungen auf dem Trottoir. Ich hob beide auf und legte eine vor Henrys Hintertür, bevor ich in meine Wohnung ging. Ich schaltete ein paar Lampen an und schenkte mir ein Glas Wein ein, dann setzte ich mich an den Küchentresen und breitete die Zeitung vor mir aus. Die Geschichte stand auf der zweiten Seite und war in einem merkwürdigen Ton verfaßt. Ich hatte ein Märchen über Guys bisheriges Leben, seine Entfremdung von der Familie und seine darauffolgende spirituelle Wandlung erwartet. Statt dessen hatte Jeff Katzenbach mit quälender Detailtreue einen Katalog sämtlicher Sünden aus Guys Jugend zusammengestellt: zahllose Berichte über rücksichtsloses Fahren, Vandalismus, Trunkenheit und Erregung öffentlichen Ärgernisses sowie gewaltsame Körperverletzung. Manche Anklagepunkte gingen auf Straftaten vor seiner Volljährigkeit zurück und hätten gelöscht oder von den Gerichten unter Verschluß gehalten werden müssen. Woher hatte Katzenbach seine Informationen? Manches davon war natürlich öffentlich zugänglich, aber ich fragte mich, woher er wußte, wo er suchen mußte. Offensichtlich hatte ihn Max Outhwaites Hinweis auf Guys frühere Missetaten auf die richtige Spur gebracht. Beunruhigt mußte ich an die Akte mit Zeitungsausschnitten denken, die Bader Malek aufbewahrt hatte. War es möglich, daß Katzenbach sie zu sehen bekommen hatte? Damit wäre dann quasi zum zweiten Mal etwas durchgesickert. Das erste war die Tatsache von Guys Heimkehr; das zweite sein lückenloses Vorstrafenregister. Mir fiel auf, daß Katzenbach seine Enthüllungen in typisch journalistische Phrasen gekleidet hatte. Das Wort angeblich kam sechsmal vor, daneben vertrauliche Quellen, der Familie nahestehende Kreise, frühere Kumpane und Freunde der Maleks, die anonym bleiben möchten. Weit davon entfernt, Guys Glück zu feiern, würde die Öffentlichkeit ihm nun seinen plötzlichen Reichtum übelnehmen. Wenn man zwischen den Zeilen las, wußte man, daß Katzenbach Guy für einen unwürdigen Schuft hielt. Der Artikel ließ Guys momentane kirchliche Bindung eigennützig und unaufrichtig erscheinen, die ideale Zuflucht für einen Übeltäter, der darauf hoffte, in den Augen der Bewährungskommission gut dazustehen.
Zum Abendessen machte ich mir ein warmes Sandwich mit einem hartgekochten Ei und jeder Menge Mayonnaise und hockte gerade kauend am Küchentresen, während ich den Rest der Zeitung überflog. Ich muß vertiefter gewesen sein, als ich dachte, da ich beim schrillen Läuten des Telefons erschrocken mein Sandwich beiseite warf. Ich packte den Hörer, und das Herz klopfte mir, als hätte soeben jemand an meinem Ohr eine Pistole abgefeuert. Falls es ein Reporter sein sollte, würde ich auflegen. »Ja?«
»Hey.«
»Ach du Scheiße. Guy, sind Sie das? Sie haben mich zu Tode erschreckt.« Ich beugte mich hinab, sammelte die Überreste meines Sandwichs auf, stopfte die Kruste in den Mund und leckte mir die Finger ab. Mayonnaise war auf den Fußboden getropft, aber darum konnte ich mich später kümmern.
»Ja, ich bin’s. Wie geht’s?« sagte er. »Ich habe schon früher mal versucht, Sie zu erreichen, aber da waren Sie wohl weg.«
»Gott sei Dank, daß Sie anrufen. Ich war vorhin drüben am Haus, aber auf mein Klingeln hat kein Mensch reagiert. Was ist denn los?«
»Wir haben gerade zu Abend gegessen. Haben Sie die Nachrichten gesehen?«
»Die Zeitung liegt vor mir.«
»Nicht so gut, was?«
»So schlimm ist es nun auch nicht«, sagte ich in der Hoffnung, ihn damit aufzuheitern. »Es sieht ganz danach aus, als hätte es jemand auf Sie abgesehen.«
»Das glaube ich auch«, sagte er leichthin.
»Geht’s Ihnen gut? Peter hat vor kurzem angerufen. Er hat versucht, Sie zu erreichen, aber er ist nicht über den Anrufbeantworter hinausgekommen. Haben Sie seine Nachricht erhalten?«
»Nein, wie sollte ich? Alle hier sind stinksauer auf mich. Sie bilden sich ein, ich hätte die Zeitung verständigt, weil ich die Aufmerksamkeit auf mich lenken wollte. Später ist großer Kriegsrat angesagt, wenn Donovan nach Hause kommt. Er hat bis neun noch eine Besprechung. Die Verzögerung macht mich ganz krank. Erinnert mich an die alte Geschichte: >Warte nur, bis dein Vater nach Hause kommt, dann kannst du was erleben.<«
Ich merkte, wie ich schmunzeln mußte. »Soll ich Sie abholen? Ich kann in fünfzehn Minuten da sein.«
»Ja — nein — ich weiß nicht, was ich will. Ich würde gern von hier verschwinden, aber in Anbetracht der Situation traue ich mich nicht.«
»Warum denn nicht? Jetzt ist es schon passiert. Wer auch immer alles ausgeplaudert hat, hat es geschafft, es so übel wie möglich aussehen zu lassen. Wenn Sie die Neuigkeit verbreitet hätten, hätten Sie sie doch in einem ganz anderen Licht dargestellt.«
»Wie hätte ich das machen sollen? Man kann die Wahrheit nicht in einem anderen Licht darstellen.«
»Natürlich kann man das. Das nennt man Politik.«
»Ja, aber schließlich habe ich all diese Dinge angestellt. Jetzt bekomme ich es eben heimgezahlt. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich ein böser Bube war. Nun wissen Sie wenigstens das Schlimmste.«
»Ach, hören Sie auf! Das interessiert mich nicht. Das einzige, was mich interessiert, ist, Sie dort loszueisen.«
»Möchten Sie mich besuchen? Ich könnte mich für ein paar Minuten hinausschleichen. Jack und Bennet sind unten, und Christie ist im Büro und geht einige von Dads alten Papieren durch.«
»Klar. Ich kann gleich noch einmal rüberkommen. Was soll ich dann machen? Soll ich vom Tor aus anrufen?«
»Nein, tun Sie das nicht. Wir treffen uns draußen auf der Wolf Run Road«, sagte er. »Wenn das Seitentor versperrt ist, kann ich über die Mauer steigen. Ich bin Experte im Ausrücken. Als ich ein Junge war, habe ich das andauernd gemacht. So habe ich es geschafft, damals in solche Schwierigkeiten zu geraten.«
»Bringen Sie doch Ihren Rucksack mit und lassen Sie sich von mir entführen«, schlug ich vor. »Ich fahre Sie nach Marcella, und dann können Sie einen Anwalt engagieren, der in Zukunft Ihre Interessen vertritt.«
»Führen Sie mich nicht in Versuchung. Momentan ist das einzige, was mir fehlt, ein gepflegtes Gespräch. Parken Sie in diesem kleinen Wäldchen gegenüber dem Tor. Ich bin in fünfzehn Minuten dort.«
Ich nahm mir ein paar Minuten, um die Küche aufzuräumen, und schlüpfte anschließend in Jeans, ein dunkles Hemd und meine Reeboks. Die Abendluft wirkte zwar ungewöhnlich warm, aber ich wollte für den Notfall auf nächtliche Manöver gefaßt sein. Bei den Maleks angekommen, fuhr ich rasch am Vordertor vorbei. Mittlerweile waren zwei weitere Nachrichtenteams hinzugekommen, und die Versammlung sah aus wie eine Mahnwache vor einem Gefängnis. Man hatte tragbare Scheinwerfer aufgestellt, und ein Mann mit einem Mikrophon sprach direkt in eine Kamera und gestikulierte zum Haus hin. Ich sah die dunkelhaarige Reporterin, aber sie mich nicht. Offenbar schnorrte sie gerade eine arme, nichtsahnende »Quelle« um Feuer für ihre Zigarette an.
Ich folgte der Mauer, umrundete das Anwesen und bog an der Wolf Run Road links ab. Ich konnte das Tor ausmachen, ein dunkler Fleck in der sonst ebenmäßigen Wandfläche. Ich fuhr an die Böschung auf der anderen Straßenseite heran. Unter meinen Rädern knirschte Kies. Ich stellte den Motor ab, blieb sitzen und lauschte dem Knistern des heißen Metalls und dem Murmeln des Windes. In diesem Teil der Straße gab es keine Lampen. Der hohe Nachthimmel war klar, doch vom Mond war nur ein winziger Splitter geblieben, eine zarte Silberkurve an einem blassen Sternenhimmel. Der Staub in der Luft war so fein wie Nebel. Die verputzte Mauer, die das Maleksche Anwesen umgab, hatte ihren rosafarbenen Glanz verloren und wand sich nun wie ein geisterhaftes Band von schmutzigem Weiß durch die Dämmerung. Juni und Juli waren seit jeher trockene Monate, und ich assoziierte die Santa-Ana-Winde mit den letzten Wochen des Sommers — Ende August, Anfang September, wenn die Feuergefahr am größten war. Seit Jahren war der Januar immer die Regenzeit gewesen, zwei Wochen Regen, von denen wir hofften, daß sie unser jährliches Quantum erfüllen würden. Und doch zerrte nun über uns der trockene Wind an den Baumwipfeln. Das Schwanken und Wanken der Zweige erzeugte eine gedämpfte Nachtmusik, begleitet vom raschelnden Schlagzeug vertrockneter Palmwedel und dem gelegentlichen Knacken von Ästen. Bis zum Morgen wären die Straßen übersät mit abgefallenen Blättern und den kleinen, verdorrten Gerippen zerbrochener Zweige.
Lautlos öffnete sich das Tor, und Guy trat mit gesenktem Kopf heraus. Er trug eine dunkle Jeans und hatte die Hände tief in die Taschen geschoben, als wäre ihm kalt. Ich beugte mich hinüber und entriegelte die Beifahrertür. Er ließ sich auf den Sitz gleiten und zog dann die Tür leise ins Schloß, ohne sie zuzuschlagen. »Hey. Danke, daß Sie gekommen sind«, sagte er. »Ich dachte, ich würde bald wahnsinnig ohne ein freundliches Gesicht. Ich hätte Sie schon früher angerufen, aber sie haben mich mit Adleraugen beobachtet.«
»Kein Problem. Ich verstehe nicht, wieso Sie nicht auf der Stelle davonlaufen, solange Sie noch können.«
»Tu ich ja. Morgen. Oder vielleicht übermorgen. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß wir uns heute abend noch mal zusammensetzen, um ein paar Dinge zu bereden.«
»Ich dachte, Sie hätten sich schon besprochen?«
»Tja, haben wir auch. Machen wir ja. Jedesmal, wenn ich mich umdrehe, fängt das nächste Gespräch an.«
»Das liegt daran, daß Sie noch nicht klein beigegeben haben«, warf ich ein.
»Vermutlich«, sagte er und lächelte trotz allem. Seine Nervosität war ansteckend, und ich hätte schwören können, daß ich Alkohol in seinem Atem roch. Ich merkte, daß ich die Arme verschränkt hielt und ein Bein ums andere geschlungen hatte, als wollte ich mich selbst schützen.
»Ich fühle mich, als hätten wir eine Affäre«, sagte ich.
»Ich mich auch. Früher habe ich mich hier mit Mädchen getroffen, wenn ich Hausarrest hatte. Ich bin über die Mauer geklettert, und wir haben auf dem Rücksitz eines Autos gebumst. Das Gefährliche daran hat mich aufgeheizt und sie auch. Dadurch kamen mir die meisten von ihnen interessanter vor, als sie waren.«
»Ich weiß, daß mich das nichts angeht, aber haben Sie getrunken?«
Er wandte sich ab, sah zum Seitenfenster hinaus und zuckte die Achseln. »Ich habe gestern abend ein paar Drinks gekippt, bevor diese ganze Scheiße losgegangen ist. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Verstehen Sie mich nicht falsch — da waren sie noch nett, aber man merkte ihnen an, daß sie nervös waren, und ich war es auch. Ich schäme mich, es zuzugeben, aber der Alkohol hat geholfen. Er hat uns besänftigt und das Gespräch in ruhigeren Bahnen verlaufen lassen. Heute abend war es in etwa das gleiche, nur daß alle in ganz anderer Stimmung waren. Wenn die Cocktailstunde anbricht, langen die Jungs kräftig zu.«
»Bennet und seine Martinis.«
»Allerdings. Ich schätze, das ist der einzige Weg, wie ich es durchstehen kann. Peter wäre nicht gerade begeistert von mir, aber ich kann es nicht ändern. Ich merke schon, wie ich wieder in meine alten Verhaltensweisen verfalle.«
»Wie fanden Sie Christie?«
»Sie war nett zu mir. Ich mochte sie. Über Bennet habe ich mich gewundert — wieviel er zugenommen hat — , aber Jack schien ganz der alte, immer noch verrückt nach Golf. Und Donovan hat sich auch nicht verändert.«
»Was haben sie denn bisher zu Ihnen gesagt?«
»Tja, wir haben ein bißchen über das Geld geredet, was sonst? Ich meine, die Frage stellt sich einfach. Es ist, wie Donovan sagt: Wir können das Thema nicht einfach ignorieren. Es hängt wie eine dicke, schwarze Wolke über uns. Ich glaube, zu Anfang haben wir uns alle unwohl gefühlt.«
»Sind Sie zu irgendeiner Lösung gekommen?«
»Eigentlich nicht. Nichts Richtiges. Zuerst dachte ich, sie fragten sich ganz allgemein, wie ich mich zu der Sache stelle. Jetzt kann ich sagen, was ich will, und schon fallen alle über mich her. Ehrlich gesagt hatte ich ganz vergessen, wie sie sind.«
»Wie kommen sie Ihnen denn vor?«
»Zornig. Unter der Oberfläche sind sie stinksauer. Ich merke auch immer wieder, wie in mir die Wut aufsteigt. Ich kann sie lediglich unter Verschluß halten.«
»Weshalb machen Sie sich die Mühe? Warum explodieren Sie nicht einfach? Die drei anderen haben da keine Hemmungen.«
»Ich weiß, aber wenn ich die Wut herauslasse, macht das alles nur noch schlimmer. Da versuche ich, ihnen zu zeigen, daß ich mich geändert habe, und dann fühle ich mich wieder genauso wie früher. Daß ich am liebsten Lampen zertrümmern, einen Stuhl durchs Fenster werfen, mich zukiffen oder betrinken oder sonst irgend etwas Übles machen möchte.«
»Das muß ja eine harte Prüfung sein.«
»Allerdings. Ich meine, ganz im Ernst. Ich muß immer wieder daran denken, ob es vielleicht eine Prüfung für meinen Glauben sein soll.«
»O nein, ist es nicht«, widersprach ich. »Es mag vielleicht eine Prüfung für Ihre Geduld sein, aber nicht für Ihren Glauben an Gott.«
Er schüttelte den Kopf und preßte die Hände zwischen den Knien zusammen. »Reden wir von etwas anderem. Davon kriege ich solche Krämpfe, daß ich furzen könnte.«
Ich lachte und wechselte das Thema. Eine Weile plauderten wir über Belanglosigkeiten. Während ich da auf dem Fahrersitz kauerte, fielen mir die gelegentlichen Verabredungen in meiner High-School-Zeit wieder ein, bei denen man nur dann auf ein bißchen Ungestörtheit hoffen durfte, wenn man sich im Auto irgendeines Jungen verkroch. An kalten Abenden beschlug immer die Windschutzscheibe, selbst wenn wir nur redeten. An warmen Abenden saßen wir mit heruntergekurbelten Fenstern da und hatten das Radio auf einen Rock-and-Roll-Sender gestellt. Es gab Elvis oder die Beatles, ungeschickte Bewegungen und sexuelle Spannung. Heute weiß ich nicht einmal mehr, worüber wir redeten, diese Jungs und ich. Vermutlich über nichts. Vermutlich tranken wir geklautes Bier, rauchten Dope und dachten über die unglaubliche Erhabenheit des Daseins nach.
»Und was spielt sich sonst noch ab? Abgesehen von endlosen Besprechungen?« fragte ich. Wie bei einer rauhen Stelle an einem Fingernagel konnte ich es nicht lassen, wieder daran herumzukratzen. Offenbar ging es Guy genauso, weil wir sofort wieder beim Thema waren.
Diesmal lächelte er, und sein Tonfall war lockerer. »Es ist schön, das Haus zu sehen. Ich habe mehrere Briefe von meiner Mutter gefunden und sie heute gelesen. Sie ist die einzige, die mir je gefehlt hat. Alle anderen sind überflüssig.«
»Ich will ja nicht behaupten, daß ich Ihnen das gleich gesagt hätte, aber ich habe es vorhergesehen.«
»Ich weiß, ich weiß. Ich dachte, wir könnten uns wie Erwachsene hinsetzen und ein paar alte Geschichten klären, aber so läuft es eben nicht. Ich meine, ich frage mich andauernd, ob ich irgendeinen Defekt habe, weil alles, was ich anfange, irgendwie schiefläuft. Was ich auch sage, es wirkt >daneben<, wissen Sie? Sie sehen mich an, als spräche ich in Rätseln, und dann sehe ich, wie sie bezeichnende Blicke wechseln.«
»Oh, das kenne ich. Jack und Bennet sind ganz groß darin, Blicke hin und her wandern zu lassen.«
»Das ist zu verkraften, aber es gibt noch Schlimmeres.«
»Was zum Beispiel?«
»Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Etwas Unterschwelliges. Etwas steht im Raum, und niemand gibt es zu, also fange ich an, meinen eigenen Gedankengang zu hinterfragen. Vielleicht bin ja ich verrückt und doch nicht sie.«
»Nennen Sie mir ein Beispiel.«
»Etwa, als ich ihnen gesagt habe, daß ich gern der Kirche etwas geben würde. Ich will das Geld wirklich nicht für mich haben. Das ist mein Ernst. Aber Jubilee Evangelical hat mir das Leben gerettet, und ich möchte ihnen etwas zurückgeben. Mir kommt das nicht so abwegig vor. Ihnen etwa?«
»Nein, ganz und gar nicht.«
»Also, ich sage das, und auf einmal stecken wir mitten im Machtkampf. Bennet sagt, daß er es wirklich nicht fair findet. Sie wissen ja, wie er redet, auf seine leicht wichtigtuerische Art. >Unsere Familie ist nie religiös gewesen. Dad hat für unser aller Wohl gearbeitet, nicht zugunsten irgendeiner Kirche, von der er nie gehört hat.< All das bringt er in völlig vernünftigem Ton vor, und schon bald frage ich mich, ob mein Vorhaben überhaupt richtig ist. Vielleicht sind ihre Einwände begründet, und meine Werte sind pervers.«
»Natürlich sind die Einwände Ihrer Brüder begründet. Sie möchten, daß Sie auf alle Forderungen verzichten, damit sie Ihren Anteil unter sich aufteilen können. Die drei wissen ganz genau, daß Sie Anspruch auf ein Viertel des Nachlasses Ihres Vaters erheben können. Was Sie mit Ihrem Anteil machen, geht Ihre Brüder nichts an.«
»Aber warum bin ich dann die Zielscheibe für ihre ganze Wut?«
»Guy, hören Sie auf. Tun Sie das nicht. Das ist jetzt das dritte Mal, daß Sie das gesagt haben. Fangen Sie nicht an, sich selbst Vorwürfe zu machen. Dieses hinterhältige Spielchen ist offenbar schon seit Jahren im Gange. Deshalb haben Sie ja wohl auch damals das Haus verlassen, um von alledem wegzukommen. Ich schwöre Ihnen, die drei haben sich schon genauso aufgeführt, bevor Sie gekommen sind.«
»Sie finden, ich sollte abreisen?«
»Ja, natürlich! Das sage ich doch schon die ganze Zeit. Sie brauchen sich die Beschimpfungen Ihrer Brüder nicht gefallen lassen. Ich finde, Sie sollten zusehen, daß Sie verdammt noch mal dort rauskommen, solange Sie noch Gelegenheit dazu haben.«
»Ich würde es nicht >Beschimpfungen< nennen.«
»Weil Sie es gewohnt sind«, sagte ich. »Und lassen Sie sich nicht in die Irre führen. Ihre Brüder werden sich nicht ändern. Wenn irgend jemand ausgebootet wird, dann sind Sie das.«
»Mag sein«, sagte er. »Ich weiß es nicht. Ich habe einfach das Gefühl, ich muß noch bleiben, nachdem ich schon so weit gekommen bin. Wenn ich jetzt ausreiße, finden wir nie einen Weg, uns zu einigen.«
»Ich merke, daß Sie mir nicht zuhören, aber bitte, bitte lassen Sie sich auf nichts ein, bevor Sie mit einem Anwalt gesprochen haben.«
»Okay.«
»Versprechen Sie’s mir.«
»Gut. Ich schwöre. Tja, und jetzt muß ich gehen, bevor jemand merkt, daß ich geflohen bin.«
»Guy, Sie sind keine sechzehn mehr. Sie sind dreiundvierzig Jahre alt. Bleiben Sie hier sitzen, wenn Sie wollen. Sie können die ganze Nacht wegbleiben. Sie sind erwachsen.«
Er lachte. »Ich fühle mich aber wie sechzehn. Und Sie sind süß.«
Er beugte sich rasch herüber und berührte meine Wange mit seinen Lippen. Ich konnte das weiche Kratzen seiner Barthaare auf meiner Haut spüren und roch einen Hauch seines Rasierwassers.
»Auf Wiedersehen und vielen Dank«, sagte er. Bevor ich antworten konnte, war er schon aus dem Wagen gestiegen, die Schultern gegen den Wind hochgezogen, und ging auf das Tor zu. Er drehte sich um und winkte mir zu, und schon hatte die Dunkelheit ihn verschluckt.
Ich sah ihn nie wieder.