6
Das weitläufige Pfarrhaus aus weißgestrichenem Holz lag auf dem Grundstück direkt neben der Kirche. Es umfaßte zwei Stockwerke, hatte grüne Fensterläden und ein schäbiges Dach aus grünen Schindeln, das von Dachgauben durchbrochen war. Über die eine Seite des Hauses zog sich eine breite Veranda, die von Fliegengittern, umgeben und unübersehbar verzogen war, als hätte ein Erdbeben das Betonfundament gelockert. Hinter dem Haus konnte ich eine große rote Scheune mit einer baufälligen Garage erkennen. Sowohl das Haus als auch die Scheune hätten dringend eines neuen Anstrichs bedurft, und ich bemerkte, wie die Sonne schräg durch das Scheunendach schien, wo es von großen Löchern durchzogen war. Metallene Gartenstühle waren halbkreisförmig unter einer wuchtigen immergrünen Eiche im Garten arrangiert worden. Ein verwitterter Picknicktisch mit zwei langen Bänken stand gleich daneben, und ich stellte mir vor, daß er in den Sommermonaten für Sonntagsschulkassen und Kirchenessen genutzt wurde.
Ich folgte Guy durch den Garten. Wir stiegen die Hintertreppe hinauf und betraten die Küche. In der Luft stand der Geruch von angebratenen Zwiebeln und Sellerie. Peter war ein Mittsechziger, der langsam kahl wurde. Ein Kranz weißen Haares umgab seinen Kopf, ging in Koteletten über und wand sich als kurz gestutzter Bart um seine Kinnpartie. Das blasse Sonnenlicht, das durchs Fenster drang, beleuchtete den fedrig weißen Flaum auf seinem Schädel. Er trug einen roten Rolli unter einem derben grünen Pullover und war gerade dabei, Plätzchenteig auszurollen. Die Backbleche zu seiner Rechten waren angefüllt mit Reihen perfekter Teigscheiben, fertig für den Ofen. Er sah erfreut auf, als wir beide hereinkamen. »Oh, Guy. Gut, daß du da bist. Ich habe mich gerade gefragt, ob du schon gekommen bist. Der Ofen drüben in der Kirche hat schon wieder Mucken. Erst schaltet er sich ein, dann schaltet er sich wieder aus. Ein und aus.«
»Vermutlich der elektronische Zündmechanismus. Ich schau’s mir mal an.« Guys Körperhaltung war befangen. Er rieb sich die Nase und steckte dann die Hände in die Taschen seiner Latzhose, als wollte er sie wärmen. »Das ist Kinsey Millhone. Sie ist Privatdetektivin und kommt aus Santa Teresa.« Er drehte sich um, sah mich an und nickte mit dem Kopf zu dem Pfarrer und seiner Frau, während er uns miteinander bekannt machte. »Das ist Peter Antle, und das ist seine Frau Winnie.«
Peter hatte eine gesunde Gesichtsfarbe. Seine blauen Augen lächelten mir unter struppigen weißen Brauen entgegen. »Schön, Sie kennenzulernen. Ich würde Ihnen ja gern die Hand schütteln, aber ich glaube nicht, daß Ihnen das gefallen würde. Wie begabt sind Sie denn im Plätzchenbacken? Kann ich Sie einspannen?«
»Lieber nicht«, sagte ich. »Meine häuslichen Fertigkeiten lassen einiges zu wünschen übrig.«
Er wollte gerade näher auf diesen Punkt eingehen, als seine Frau sagte: »Also Pete...« und ihm einen bezeichnenden Blick zuwarf. Winnie Antle war etwa Ende Vierzig und hatte kurzes braunes Haar, das sie aus dem Gesicht gekämmt trug. Sie war ein bißchen füllig und hatte ein strahlendes Lächeln und ungemein weiße Zähne. Sie trug ein Männerhemd über Jeans und dazu eine lange Strickweste, die ihre breiten Hüften und ihren ausladenden Po bedeckte. Sie zerkleinerte gerade Gemüse für eine Suppe, und auf der Arbeitsfläche neben ihr türmte sich bereits ein Haufen Karottenscheibchen. Außerdem sah ich zwei Bund Stangensellerie und mehrere Paprikaschoten, die auf ihr blitzendes Messer warteten. Zugleich kümmerte sie sich um einen Suppentopf, in dem die erste Portion Gemüse lustig vor sich hin köchelte. »Hallo, Kinsey. Nehmen Sie’s ihm nicht übel. Er versucht andauernd, die Arbeit an Nichtsahnende abzuschieben«, sagte sie lächelnd. »Was führt Sie hier herauf?«
Peter sah Guy an. »Du hast doch hoffentlich keinen Ärger. Diesen Mann muß man im Auge behalten.« Sein Lächeln war humorvoll, und es war offensichtlich, daß er in bezug auf Guy keinen Ärger erwartete.
Guy gab die Erklärung murmelnd. Anscheinend war es ihm peinlich, der Empfänger so schlechter Nachrichten zu sein. »Mein Vater ist gestorben. Die Nachlaßanwältin hat sie beauftragt, mich ausfindig zu machen.«
Peter und Winnie wandten beide ihre volle Aufmerksamkeit Guy zu, der seine vorherigen Gefühle jetzt unter Kontrolle hatte. Peter sagte: »Ist es die Möglichkeit! Tja, tut mir leid, das zu hören.« Er warf mir einen Blick zu. »Wir haben oft darüber gesprochen, ob er sich um eine Versöhnung bemühen soll. Es ist Jahre her, daß er Kontakt zu seinem Vater hatte.«
Guy verlagerte sein Gewicht und lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen auf die Arbeitsfläche. Er schien seinen Kommentar an mich zu richten. Seine Stimme klang sehnsuchtsvoll. »Ich weiß nicht, wie viele Briefe ich geschrieben habe, aber es wurde kein einziger davon abgeschickt. Jedesmal, wenn ich etwas zu erklären versucht habe, klang es am Schluß... Sie wissen schon, entweder falsch oder dämlich. Schließlich gab ich es auf, bis ich herausgefunden hätte, was ich eigentlich sagen wollte. Ich dachte immer, ich hätte noch Zeit. Ich meine, er war doch noch nicht alt, wirklich nicht.«
»Seine Zeit muß gekommen sein. Dagegen kannst du nichts einwenden«, sagte Peter.
Dann meldete sich Winnie zu Wort. »Wenn dir heute nicht nach Arbeiten zumute ist, nimm dir doch frei. Wir kommen prima allein zurecht.«
»Mir geht’s gut«, entgegnete Guy, wiederum voller Unbehagen darüber, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen.
Wir verbrachten ein paar Minuten damit, Informationen auszutauschen: wie ich es geschafft hatte, Guy zu finden, und was ich über seine Familie wußte, nämlich nicht viel.
Peter schüttelte den Kopf, offenkundig betroffen von den Neuigkeiten, die ich mitbrachte. »Für uns gehört Guy zur Familie. Als ich den Jungen das erste Mal gesehen habe, war er ein trauriger Anblick. Seine Augäpfel waren leuchtendrot und kullerten in seinem Kopf herum wie glühende Murmeln. Winnie und ich waren zu dieser Kirche hier gerufen worden, und wir waren den ganzen Weg hier heraus nach Kalifornien gefahren, von Fort Scott in Kansas. Wir hatten alles mögliche über Hippies und Kiffer und Acid Freaks gehört — so nannte man sie, glaube ich. Kids mit ausgebrannten Augen, weil sie total vollgedröhnt in die Sonne gestarrt haben. Und dann stand da Guy an der Straße, mit einem Schild, auf dem >San Francisco< stand. Er bemühte sich, >cool< zu wirken, aber auf mich machte er nur einen mitleiderregenden Eindruck. Winnie wollte nicht, daß ich anhielt. Wir hatten die zwei Kinder auf dem Rücksitz, und sie befürchtete, wir würden demnächst in der Mordstatistik auftauchen.«
»Es ist schon viele Jahre her«, sagte Winnie.
Peter sah zu Guy hinüber. »Was hast du denn jetzt vor, Guy? Willst du nach Santa Teresa zurückgehen? Vielleicht ist das die passende Gelegenheit, dich mit deinen Brüdern zusammenzusetzen und über die Vergangenheit zu sprechen und eventuell ein paar alte Geschichten aus der Welt zu schaffen.«
»Ich weiß es nicht. Vermutlich schon. Wenn sie dazu bereit sind, sich mit mir zusammenzusetzen«, sagte Guy. »Ich glaube, ich bin noch nicht ganz so weit, um eine Entscheidung darüber zu fällen.« Er sah wieder mich an. »Ich weiß, daß sie Sie nicht hierhergeschickt haben, damit Sie mich bitten, zurückzukommen, aber ein bißchen habe ich in der Angelegenheit doch auch mitzureden. Wäre es Ihnen recht, wenn ich Sie in ein oder zwei Tagen anriefe?«
»Kein Problem. Aber in der Zwischenzeit muß ich wieder nach Hause«, sagte ich. »Meine Karte haben Sie ja. Wenn ich nicht im Büro bin, versuchen Sie es unter der zweiten Nummer, dann wird der Anruf automatisch weitergeleitet.« Ich zog eine zweite Visitenkarte heraus und kritzelte Tasha Howards Namen darauf. »Das ist die Anwältin. Ich weiß ihre Telefonnummer nicht auswendig. Sie hat ein Büro in Lompoc. Sie können ja bei der Auskunft anrufen und sich die Nummer dort geben lassen. Es ist nicht besonders weit von hier. Sie könnten zumindest einen Termin mit ihr vereinbaren und mit ihr reden. Außerdem werden Sie einen eigenen Anwalt brauchen, der Sie berät. Ich hoffe, es geht alles gut.«
»Ich auch. Es freut mich, daß Sie die Fahrt hierher auf sich genommen haben«, sagte Guy. »Es ist wesentlich persönlicher.«
Ich schüttelte ihm die Hand, murmelte Peter und Winnie Antle höfliche Floskeln zu und machte mich auf den Weg. Ich fuhr noch einmal gemächlich die Hauptstraße von Marcella entlang, um ein Gefühl für den Ort zu bekommen. Klein und ruhig. Bescheiden. Ich drehte eine Runde um den Block und fuhr durch die wenigen Wohnstraßen. Die Häuser waren klein und nach identischen Plänen gebaut, einstöckige Gebäude mit flachen Dächern. Ihre Fassaden waren in Pastellfarben gestrichen, blasse Ostereifarben in einem Nest aus winterlichem Gras, das so trocken war wie Papierwolle. Die meisten Häuser wirkten schäbig und trist. Nur gelegentlich sah ich einen Bewohner.
Als ich am Gemischtwarenladen vorüberfuhr, auf dem Weg zur Landstraße, sah ich ein Schild im Fenster, das frische Sandwiches anpries. Spontan parkte ich den Wagen, betrat den Laden und bestellte mir bei der Frau an der Imbißtheke hinten im Laden Thunfisch auf Roggenbrot. Wir plauderten beiläufig, während sie sich mit der Sandwichzubereitung beschäftigte und meine Dillgurke in ein Stück Wachspapier wickelte, damit sie nicht das ganze Brot matschig mache, wie sie sagte. Hinter mir waren zwei oder drei andere Kunden und fuhren mit kleinen Einkaufswägelchen die Gänge auf und ab. Kein Mensch drehte sich nach mir um oder widmete mir auch nur die geringste Aufmerksamkeit.
Ich erzählte ihr, daß ich soeben in der Kirche drüben gewesen sei. Sie zeigte sich wenig neugierig darauf, wer ich war oder warum ich den Pfarrer und seine Frau besuchte. Die Erwähnung Guy Maleks rief weder beklommenes Schweigen noch spontane Auskünfte über seine Vergangenheit oder seinen Charakter hervor.
»Der Ort hier macht einen netten Eindruck«, sagte ich, als sie mir mein Mittagessen über die Theke reichte. Ich gab ihr einen Zehner, und sie tippte den Betrag in die Kasse ein.
»Wenn Sie solche Orte mögen«, sagte sie. »Für meinen Geschmack ist es zu ruhig, aber mein Mann ist hier geboren und hat darauf bestanden, daß wir wieder herziehen. Ich haue ja gern ein bißchen auf den Putz, aber das Aufregendste, was wir hier zustande kriegen, ist ab und zu ein Wohltätigkeitsbasar. Puuuh.« Sie fächelte sich selbst scherzhaft Luft zu, als wäre die Faszination, die von gebrauchten Kleidern ausging, fast zuviel für sie. »Brauchen Sie einen Bon?« fragte sie, während sie sieben Eindollarnoten und das Kleingeld abzählte.
»Ja, bitte.«
Sie riß den Kassenzettel ab und reichte ihn mir. »Machen Sie es gut.«
»Danke. Sie auch«, sagte ich.
Ich aß beim Fahren und steuerte mit einer Hand, während ich abwechselnd von der Dillgurke und dem Thunfischsandwich abbiß. Im Preis eingeschlossen war eine Tüte Kartoffelchips, die ich ebenfalls futterte und mir dabei überlegte, daß ich damit wohl sämtliche notwendigen Nahrungsmittelgruppen abdeckte. Ich hatte vergessen, Guy nach dem Mädchennamen seiner Mutter zu fragen, aber in Wahrheit hegte ich keinerlei Zweifel daran, daß er der war, als der er sich ausgab. Er erinnerte mich an Jack, dessen Farben und Gesichtszüge ganz ähnlich waren. Donovan und Bennet mußten nach dem einen Elternteil geschlagen sein, während Guy und Jack mehr dem anderen ähnelten. Trotz meines Zynismus ertappte ich mich dabei, daß ich Guy Maleks Besserung und seine Zugehörigkeit zur Jubilee Evangelical Church für bare Münze nahm. Natürlich war es möglich, daß er und der Pfarrer zwei gleichermaßen findige Betrüger waren, die sich eine Lügengeschichte für jeden Fremden ausgedacht hatten, der vorbeikam, aber ich konnte beim besten Willen nichts dergleichen erkennen, und ich glaubte auch nicht, daß irgendwelche finsteren Machenschaften im Gange waren. Falls das beschauliche Marcella das Hauptquartier irgendeiner Sekte von Neonazis, Satanisten oder Motorradrowdys war, so war mir das jedenfalls entgangen.
Erst als ich an Santa Maria vorbei war und auf der 101 in Richtung Süden fuhr, fiel mir auf, daß Guy Malek mit keinem Wort danach gefragt hatte, wie hoch sein Anteil am Nachlaß wäre. Vermutlich hätte ich es ihm von mir aus sagen sollen. Zumindest hätte ich ihm eine ungefähre Zahl nennen können, doch die Frage war nie aufgeworfen worden, und ich war viel zu beschäftigt damit, für meinen Bericht an Donovan Guys Lebensumstände zu ergründen. Er hatte sich emotional auf den Tod seines Vaters und die verlorene Gelegenheit, alles wiedergutzumachen, konzentriert. In seinen Augen war offensichtlich jeder Profit nebensächlich. Auch gut. Ich nahm an, daß sich Tasha mit ihm in Verbindung setzen würde, dann konnte sie ihm die Einzelheiten erläutern.
Ich traf ohne Zwischenfall um zwei Uhr nachmittags in Santa Teresa ein. Da ich früher zurückgekommen war als vermutet, ging ich ins Büro, tippte meine Notizen ab und legte sie in die Akte ein. Ich hinterließ zwei telefonische Mitteilungen, eine in Tashas Büro und eine auf dem Anrufbeantworter der Maleks. Ich berechnete meine Stunden, die Entfernung und verschiedene Ausgaben und schrieb eine Rechnung für meine Dienste, an die ich den Kassenzettel für das Thunfischsandwich heftete. Morgen würde ich den getippten Bericht über meine Erkenntnisse hinzufügen und ein Exemplar an Tasha und eines an Donovan schicken. Ende der Geschichte, dachte ich.
Ich holte mein Auto — ohne Strafzettel — von einem illegalen Parkplatz und fühlte mich rundum mit dem Leben zufrieden. An diesem Abend kochte Dietz das Essen, eine Pfanne voller gerösteter Zwiebeln, Bratkartoffeln und Würstchen mit großzügigen Mengen Knoblauch und rotem Paprikapulver, das Ganze serviert mit einem graubraunen, grobkörnigen Senf, der einem die Zunge in Brand steckte. Nur zwei überzeugte Singles konnten eine solche Mahlzeit verspeisen und sich einbilden, daß sie irgendeinen Nährwert hatte. Ich übernahm den Abwasch, spülte Teller, Besteck und Gläser und schrubbte die Bratpfanne, während Dietz die Abendzeitung las. Ist es das, was Paare jeden Abend in der Woche machen? Ich mit meiner Erfahrung aus zwei Ehen erinnerte mich in erster Linie an die Dramen und den Kummer, nicht an das alltägliche Geschehen. Das hier war entschieden zu heimelig... nicht unangenehm, aber auf jeden Fall beunruhigend für jemanden, der Gesellschaft nicht gewöhnt ist.
Um acht gingen wir zu Rosie’s hinüber und setzten uns in eine der hinteren Nischen. Rosie’s Restaurant ist ein schlecht beleuchtetes, schäbiges Etablissement, das seit fünfundzwanzig Jahren existiert und sich zwischen einen Waschsalon und einen Laden für Elektroreparaturen quetscht. Die Chrom-Resopal-Tische stammen aus dem Gebrauchtmöbellager, und die Nischen entlang den Wänden bestehen aus dunkel gebeiztem Billig-Sperrholz, grobe, von Hand eingeritzte Sprüche und Splitter inbegriffen. Es ist ein Akt sträflichen Leichtsinns, über die Bänke zu rutschen, wenn man nicht erst vor kurzem gegen Wundstarrkrampf geimpft worden ist. Im Lauf der Jahre hat die Zahl kalifornischer Raucher stetig abgenommen, und so hat sich die Qualität der Luft verbessert, die der Gäste aber nicht. Rosie’s war früher einmal ein Zufluchtsort für Trinker, die gern früh am Tag anfangen und bleiben, bis geschlossen wird. Mittlerweile ist der Schuppen bei verschiedensten Amateursportvereinen beliebt geworden, die nach jedem großen Spiel in Massen hereinbrechen, den Raum mit lautem Palaver, heiserem Lachen und heftigem Herumgestampfe erfüllen. Die Stammgäste, alle vier triefäugige Säufer, wurden in andere Kneipen vertrieben. Ich vermißte ihr undeutliches Genuschel, das nie aufdringlich war.
Rosie war offenbar schon nach Hause gegangen, und als Barkeeper fungierte jemand, den ich noch nie gesehen hatte. Dietz trank zwei Bier, während ich mir zwei Gläser von Rosies bestem Chardonnay aus der Schraubdeckelflasche gönnte, ein säuerlicher Abklatsch eines sortenreinen kalifornischen Weins, den sie vermutlich in Kanistern kaufte.
Ich gebe unumwunden zu, daß es der Alkohol war, der mich an diesem Abend in Schwierigkeiten brachte. Ich fühlte mich locker und entspannt, irgendwie weniger gehemmt als sonst, also bereit, draufloszuquasseln. Robert Dietz gefiel mir immer besser, aber ich wußte nicht genau, was ich davon halten sollte. Sein Gesicht sah in der Düsternis wie gemeißelt aus, und sein Blick wanderte ständig ruhelos beobachtend im Raum umher, während wir über nichts Bestimmtes plauderten. Beiläufig erzählte ich ihm von Williams und Rosies Hochzeit und meinen Abenteuern unterwegs, und er steuerte Einzelheiten über seinen Aufenthalt in Deutschland bei. Neben der Anziehungskraft spürte ich eine unterschwellige Traurigkeit aufkommen, die einem Fieber so ähnlich war, daß ich mich fragte, ob ich eine Erkältung bekam. Einmal erschauerte ich, und er sah zu mir herüber. »Alles okay?« fragte er.
Ich streckte die Hand auf dem Tisch aus, und er bedeckte sie mit seiner und flocht seine Finger durch meine. »Was machen wir denn?« fragte ich.
»Gute Frage. Warum reden wir nicht darüber? Du fängst an.«
Ich lachte, aber das Thema war im Grunde nicht lustig, und das wußten wir beide. »Warum mußtest du zurückkommen und alles wieder aufwühlen? Mir ging es gut.«
»Was habe ich aufgewühlt? Wir haben doch gar nichts gemacht. Wir gehen essen. Wir trinken etwas. Ich schlafe unten. Du schläfst oben. Mein Knie ist dermaßen ruiniert, daß du keine unerwünschten Avancen zu befürchten brauchst. Ich würde es nicht einmal diese Treppe hinaufschaffen, wenn mein Leben davon abhinge.«
»Ist das eine gute oder eine schlechte Nachricht?«
»Ich weiß nicht. Sag du’s mir«, sagte er.
»Ich will mich nicht an dich gewöhnen.«
»Viele Frauen können sich nicht an mich gewöhnen. Du bist eine der wenigen, die sich wenigstens ansatzweise interessiert zeigen«, sagte er mit einem angedeuteten Lächeln.
Ein guter Tip am Rande: Mitten in einem delikaten Gespräch mit einer Frau sollte man keine andere Frau erwähnen — erst recht nicht in der Mehrzahl. Das ist schlechter Stil. Sowie er das gesagt hatte, entstand vor meinem geistigen Auge plötzlich das Bild einer langen Schlange von Frauen, in der ich nicht einmal an der Spitze stand. Ich merkte, wie mein Lächeln erstarb, und zog mich ins Schweigen zurück wie eine Schildkröte, die auf einen Hund stößt.
Sein Blick wurde verhalten. »Was ist los?«
»Gar nichts. Mir geht’s gut. Wie kommst du darauf, daß irgend etwas los sei?«
»Laß uns nicht aneinander vorbeireden«, sagte er. »Du hast doch offensichtlich etwas zu sagen, also warum sagst du’s nicht?«
»Ich will nicht. Es spielt keine Rolle.«
»Kinsey.«
»Was?«
»Komm schon. Es steht keine Strafe auf Offenheit.«
»Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Du bist ein paar Tage lang hier, und was soll ich nun damit anfangen? Ich verkrafte es nicht gut, verlassen zu werden. Es ist die Geschichte meines Lebens. Warum soll ich mich erst auf etwas einlassen, wenn das lediglich bedeutet, daß mir das Herz herausgerissen wird?«
Er zog die Augenbrauen hoch, ein mimisches Achselzucken. »Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll. Ich kann dir nicht versprechen, daß ich bleibe. Ich bin noch nie länger als maximal sechs Monate am selben Fleck geblieben. Warum können wir nicht in der Gegenwart leben? Warum muß bei allem eine Garantie dabeisein?«
»Ich rede nicht von Garantien.«
»Ich glaube schon«, widersprach er. »Du möchtest ein Pfandrecht auf die Zukunft, wo du doch in Wirklichkeit auch nicht besser als ich weißt, was als nächstes kommt.«
»Gut, das stimmt, und dagegen will ich gar nichts einwenden. Ich sage lediglich, daß ich mich nicht in eine Beziehung verstricken will, die an- und wieder ausgeknipst wird — genau das ist es nämlich.«
Dietz’ Gesichtsausdruck war gequält. »Ich will nicht lügen. Ich kann nicht so tun, als ob ich bliebe, wenn ich genau weiß, daß ich’s nicht tue. Was würde das bringen?«
Ich merkte, wie meine Frustration wuchs. »Ich will nicht, daß du so tust, als ob, und ich verlange nicht, daß du mir etwas versprichst. Ich versuche nur, ehrlich zu sein.«
»In welcher Hinsicht?«
»In jeder. Ich bin mein Leben lang von anderen Menschen weggestoßen worden. Manchmal durch Tod oder Verlassenwerden. Untreue oder Verrat. Was du willst. Ich habe jede Form emotionaler Treulosigkeit erlebt, die es gibt. Na ja, sei’s drum. Jeder hat im Lauf seines Lebens leiden müssen, also was soll’s? Ich sitze nicht herum und tue mir selbst leid, aber ich müßte ein Idiot sein, wenn ich mich dieser Scheiße noch einmal aussetze.«
»Das verstehe ich. Ich kann es nachfühlen, und glaub mir, ich will nicht derjenige sein, der dir Schmerzen zufügt. Es hat nichts mit dir zu tun, sondern mit mir. Ich bin von Natur aus ruhelos. Ich hasse es festzusitzen. So bin ich eben. Sperr mich ein, und ich schlage alles zu Kleinholz, nur um herauszukommen«, sagte er. »Meine Leute waren Nomaden. Wir waren immer auf Achse. Immer unterwegs. Wir lebten aus Koffern. Für mich ist es bedrückend, ständig am selben Fleck zu sein. Wenn du schon vom Tod redest. Es ist das Schlimmste. Wenn wir in meiner Jugend zu lang in einer Stadt geblieben sind, hat mein alter Herr regelmäßig Ärger gekriegt. Dann saß er im Knast, lag im Krankenhaus oder saß in der Ausnüchterungszelle. In jeder Schule, die ich besucht habe, war ich immer der Neue und mußte mir den Weg über den Schulhof freikämpfen, nur um zu überleben. Der glücklichste Tag meines Lebens war der Tag, an dem wir uns wieder aus dem Staub gemacht haben.«
»Endlich frei«, warf ich ein.
»Genau. Nicht, daß ich nicht bleiben möchte. Ich bin einfach unfähig dazu.«
»Oh, sicher. >Unfähig<. Tja, das erklärt es natürlich. Du bist entschuldigt«, sagte ich.
»Sei doch nicht so empfindlich. Du weißt schon, was ich meine. Herrgott noch mal, ich bin nicht stolz auf mich. Ich schwelge nicht in der Tatsache, daß ich keine Wurzeln schlagen kann. Ich will mich nur einfach nicht selbst verarschen, und dich auch nicht.«
»Vielen Dank. Das ist ja toll. In der Zwischenzeit hast du ja sicherlich Möglichkeiten, dich zu amüsieren.«
Er kniff die Augen zusammen. »Was soll denn das heißen?«
»Es ist hoffnungslos«, sagte ich. »Ich weiß nicht, warum wir uns überhaupt damit herumplagen. Du bist süchtig nach Ortsveränderungen, und ich bin hier verwurzelt. Du kannst nicht bleiben, und ich kann nicht weggehen, weil ich unheimlich gern hier bin. Für dich ist es alle zwei Jahre ein Intermezzo, und ich habe mich auf Dauer hier niedergelassen, womit ich vermutlich dazu verdammt bin, mich lebenslänglich mit Männern wie dir herumzuschlagen.«
»>Männern wie mir<? Das ist ja reizend. Was meinst du denn damit?«
»Genau das, was es bedeutet. Emotionale Klaustrophobiker. Du bist ein hoffnungsloser Fall. Solange ich mich zu Männern wie dir hingezogen fühle, kann ich meine eigenen —« Ich hielt inne, weil ich mich fühlte wie einer dieser Hunde aus dem Comic, der auf einem Fußboden ausrutscht.
»Deine eigenen was?«
»Geht dich nichts an«, sagte ich. »Laß uns das Gespräch beenden. Ich hätte den Mund halten sollen. Am Ende klinge ich noch wie ein Jammerlappen, was ich nicht vorhatte.«
»Du bist immer so besorgt, womöglich wie ein Jammerlappen zu klingen«, sagte er. »Wen stört es schon, wenn du jammerst? Nur zu.«
»Ach, jetzt mußt du das sagen.«
»Was sagen?« fragte er entnervt.
Ich legte eine Geduld an den Tag, die ich eigentlich nicht empfand. »Eines der ersten Dinge, die du je zu mir gesagt hast, war, daß du — wie hast du es formuliert? — >Gehorsam ohne Gejammer« wolltest. Du hast gesagt, daß das nur sehr wenige Frauen jemals fertigbrächten.«
»Ich soll das gesagt haben?«
»Ja, hast du. Seitdem habe ich mich sehr darum bemüht, nicht in deiner Gegenwart zu jammern.«
»Sei doch nicht albern. So habe ich das nicht gemeint«, sagte er. »Ich weiß nicht einmal mehr, daß ich das gesagt habe, aber vermutlich habe ich über etwas anderes gesprochen. Aber wechsle bitte nicht das Thema. Ich möchte es nicht in dieser Stimmung beenden. Wo die Sache schon einmal zur Debatte steht, laß sie uns auch klären.«
»Was gibt’s denn da zu klären? Wir können überhaupt nichts klären. Es gibt keine Lösung, also lassen wir die Geschichte doch einfach fallen. Es tut mir leid, daß ich es überhaupt angesprochen habe. Ich habe schon diesen laufenden Familienquatsch am Hals. Vielleicht ist es auch das, was mich aufregt.«
»Was für ein Quatsch? Du bist mit diesen Menschen verwandt, also wo liegt das Problem?«
»Ich möchte nicht darüber sprechen. Abgesehen vom Gejammer ist es mir zuwider, wenn ich das Gefühl habe, mich zu wiederholen.«
»Wie kannst du dich wiederholen, wenn du mir von vornherein nichts erzählt hast?«
Ich fuhr mit der Hand durchs Haar und starrte auf die Tischplatte. Ich hatte gehofft, dieses Thema umgehen zu können, aber es schien immer noch unverfänglicher zu sein, als über unsere Beziehung zu diskutieren, woraus diese auch bestehen mochte. Mir wollte einfach kein rationales Argument für meine Abneigung dagegen einfallen, mich mit meiner neu entdeckten Familie anzufreunden. Ich wollte einfach nicht. Schließlich sagte ich: »Ich mag es wohl nicht, wenn ich bedrängt werde. Sie sind so bemüht darum, die verlorene Zeit wieder wettzumachen. Warum können sie sich nicht um ihren eigenen Kram kümmern? Ich fühle mich bei diesem ganzen kumpelhaften Getue nicht wohl. Du weißt ja, wie stur ich werde, wenn man mich bedrängt.«
»Warum hast du dann überhaupt eingewilligt, für diese Anwältin zu arbeiten? Ist sie nicht deine Cousine?«
»Ja, schon, aber ich wollte eigentlich gar nicht einwilligen. Ich hatte vor abzulehnen, aber dann haben Habsucht und Neugier die Oberhand gewonnen. Ich muß mir mein Geld verdienen, und ich wollte nicht aus Halsstarrigkeit ablehnen. Ich weiß, daß ich es bereuen werde, aber jetzt habe ich mich darauf eingelassen, also ist es zwecklos, mich selbst zu geißeln.«
»Klingt oberflächlich betrachtet recht harmlos.«
»Es ist nicht harmlos. Es ist ärgerlich. Und außerdem geht es darum gar nicht. Der Punkt ist, daß ich von ihnen erwarte, daß sie meine Grenzen respektieren.«
»Welche Grenzen? Sie hat dir einen Auftrag gegeben. Solange du bezahlt wirst, ist es doch damit erledigt.«
»Hoffen wir’s. Außerdem ist es weniger sie als die anderen beiden. Liza und Pam. Wenn ich ihnen nur ein paar Zentimeter nachgebe, überrennen sie mich total.«
»Ach, Schwachsinn. Das ist doch kalifornisches Psychoge-schwätz. Du kannst dein Leben nicht wie eine Radio-Talkshow führen.«
»Was weißt du schon? Mir ist noch nicht aufgefallen, daß du so toll mit deiner Familie stündest.«
Ich sah, wie er zusammenzuckte. Seine Miene wechselte abrupt und nahm einen verletzten und zornigen Ausdruck an. »Tiefschlag. Was ich über meine Kinder erzähle, möchte ich nicht hinterher von dir aufs Butterbrot geschmiert kriegen.«
»Du hast recht. Es tut mir leid. Ich ziehe die Bemerkung zurück.«
»Du ziehst das Messer raus, aber die Wunde ist noch da«, fauchte er. »Was ist denn los mit dir? Du bist so kratzbürstig zur Zeit. Du tust, was du kannst, um mich auf Armeslänge von dir fernzuhalten.«
»Das tue ich nicht«, sagte ich und sah ihn dann mit zusammengekniffenen Augen an. »Stimmt das?«
»Tja, schau dir doch mal dein Verhalten an. Ich bin noch keine zwei Tage da, und schon streiten wir. Wozu denn? Ich bin nicht den ganzen Weg hierhergefahren, um einen Streit mit dir anzufangen. Ich wollte dich sehen. Ich habe mich darauf gefreut, ein paar Tage mit dir zu verbringen. Herrgott. Wenn ich streiten wollte, hätte ich bei Naomi bleiben können.«
»Warum hast du’s nicht getan? Ich meine die Frage jetzt nicht böse, ich bin nur neugierig. Was ist denn passiert?«
»Ach, wer weiß. Ich habe meine Version und sie ihre. Manchmal glaube ich, Beziehungen haben eine natürliche Lebensdauer. Unsere war abgelaufen. Das war alles. Die Erklärungen kommen hinterher, wenn man versucht, es zu begreifen. Aber zurück zu dir. Was spielt sich denn in deinem Kopf ab?«
»Ich streite lieber, als nichts zu fühlen.«
»Sind das deine einzigen zwei Möglichkeiten?«
»Zumindest kommt es mir so vor, aber sicher bin ich mir da nicht.«
Er streckte die Hand aus und zog mich kurz an den Haaren. »Was fange ich bloß mit dir an?«
»Und was fange ich mit dir an?« erwiderte ich.