13

Guy Malek wurde irgendwann Dienstag nacht ermordet, aber ich erfuhr erst Mittwoch nachmittag davon. Den größten Teil des Tages hatte ich drüben im Gerichtsgebäude verbracht, wo ich die Verhandlung gegen einen Mann verfolgte, der wegen Unterschlagung angeklagt worden war. Ich hatte mit dem Fall nichts zu tun gehabt — verdeckte Ermittler der Polizei hatten ihn nach sieben Monaten harter Arbeit gestellt — , aber ein paar Jahre zuvor hatte ich ihn auf Verlangen seiner Frau eine Zeitlang beobachtet. Sie hatte ihn in Verdacht, sie zu betrügen, wußte aber nicht, mit wem. Es stellte sich heraus, daß er eine Affäre mit ihrer Schwester hatte, woraufhin sie den Kontakt zu beiden abbrach. Der Mann war unehrlich bis ins Mark, und ich gestehe, daß ich es unterhaltsam fand, wie die Justiz ihn traktierte. Sooft ich mich auch über den Mangel an Gerechtigkeit in dieser Welt beklage, finde ich es doch unendlich befriedigend, wenn das Verfahren endlich nach Wunsch funktioniert.

Als ich ins Büro zurückkam, nachdem sich das Gericht vertagt hatte, war eine Nachricht von Tasha auf meinem Band. Nebenbei bemerkte ich, daß sie die Nummer der Maleks hinterlassen hatte. Ich rief in der Erwartung an, daß Myrna ans Telefon gehen würde. Statt dessen meldete sich Tasha, als hätte sie Telefondienst. Sowie ich ihre Stimme hörte, merkte ich, wie verärgert ich darüber war, daß sie gerade dann die Stadt verlassen hatte, als Guy angekommen war. Wenn sie ihre Arbeit getan hätte, hätte sie die Familie vielleicht von ihrer Bedrängungs- und Zermürbungstaktik abgebracht.

Klugschwätzerin, die ich bin, ging ich sofort auf sie los. »Na endlich«, sagte ich. »Es wurde aber auch wirklich Zeit, daß du wieder auftauchst. Hier ist der Teufel los. Hast du schon gehört, was passiert ist? Tja, vermutlich schon, sonst wärst du nicht da draußen. Offen gestanden bin ich ganz begeistert von Guy, aber die anderen kann ich nicht ausstehen —«

Tasha unterbrach mich mit dumpfer Stimme. »Kinsey, deshalb habe ich dich ja angerufen. Ich habe meinen Urlaub abgebrochen und bin heute nachmittag von Utah zurückgeflogen. Guy ist tot.«

Ich schwieg einen Augenblick lang und versuchte den Satz zu analysieren. Ich kannte das Subjekt... Guy... aber das Prädikat... ist tot... schien mir auf den ersten Blick nicht dazu zu passen. »Das ist doch nicht dein Ernst. Was ist denn passiert? Er kann nicht tot sein. Als ich ihn am Montag gesehen habe, ging es ihm noch gut.«

»Er ist letzte Nacht ermordet worden. Jemand hat ihm mit einem stumpfen Gegenstand den Schädel eingeschlagen. Christie hat ihn heute morgen im Bett gefunden, als er nicht zum Frühstück herunterkam. Die Polizei hat nur einen Blick auf den Tatort geworfen und sich dann einen Haussuchungsbefehl besorgt, um das ganze Anwesen durchsuchen zu können. Seitdem wimmelt es im Haus von Polizisten. Sie haben die Mordwaffe noch nicht gefunden, vermuten aber, daß sie hier ist. Sie durchkämmen noch das Grundstück.«

Ich hing immer noch an einer Stelle zwei Sätze zuvor fest. »Jemand hat ihn im Bett ermordet? Während er schlief

»Es sieht danach aus.«

»Das ist ja widerlich. Grauenhaft. Das kann nicht dein Ernst sein.«

»Es tut mir leid, daß ich dich damit überfallen muß, aber es gibt keine nette Art, es in Worte zu fassen. Es ist widerlich. Es ist schrecklich. Wir sind alle wie betäubt.«

»Ist irgend jemand verhaftet worden?«

»Bis jetzt noch nicht«, antwortete sie. »Die Familie tut, was sie kann, um hilfreich zu sein, aber es sieht nicht gut aus.«

»Tasha, ich kann das nicht glauben. Mir ist ganz schlecht.«

»Mir auch. Ein Kollege hat mich in Utah angerufen, nachdem Donovan ihn verständigt hat. Ich habe alles liegen- und stehenlassen und mich in ein Flugzeug gesetzt.«

»Wen haben sie in Verdacht?«

»Ich habe keine Ahnung. Soweit ich gehört habe, waren Jack und Bennet gestern abend beide aus. Christie ist früh zu Bett gegangen, und Donovan hat oben in ihrem Wohnzimmer ferngesehen. Myrnas Wohnung liegt hinter der Küche auf der Rückseite des Hauses, aber sie sagt, sie hätte tief und fest geschlafen und überhaupt nichts gehört. Sie ist gerade beim Verhör auf dem Polizeirevier. Vor kurzem ist Christie zurückgekommen. Sie sagt, die Polizisten sprechen immer noch mit Donovan. Warte mal kurz.«

Sie legte eine Hand über die Sprechmuschel, und ich hörte, wie sie mit gedämpfter Stimme mit jemandem im Hintergrund redete. Als sie sich wieder meldete, sagte sie: »Gut. Ich habe gerade mit dem zuständigen Beamten von der Mordkommission gesprochen. Er möchte die Telefonleitung freihalten, aber er meint, wenn du vorbeikommen willst, sagt er den Jungs am Tor, daß sie dich hereinlassen sollen. Ich habe ihm empfohlen, daß er mit dir sprechen soll, da du diejenige warst, die Guy überhaupt erst gefunden hat. Ich habe ihm erzählt, daß du vielleicht etwas Wichtiges beisteuern könntest.«

»Das bezweifle ich, aber wer weiß? Ich bin in einer Viertelstunde da. Brauchst du irgendwas?«

»Im Moment nicht. Wenn niemand am Tor ist, die Codenummer lautet 1-9-2.-4. Gib sie einfach an der Sprechanlage neben der Einfahrt ein. Bis gleich«, sagte sie.

Ich schnappte mir Blazer und Handtasche und ging zu meinem Wagen hinaus. Der Tag war mild gewesen. Die starken Winde waren weitergezogen und hatten die für die Jahreszeit ungewöhnliche Hitze mitgenommen. Es dämmerte bereits, und sobald die Sonne unterging, würden die Temperaturen fallen. Ich fror jetzt schon, daher schlüpfte ich in meinen Blazer, bevor ich mich hinters Steuer setzte. Früher am Tag hatte ich versucht, mit Hilfe von Scheibenwischern und Waschanlage den Staub von meiner Windschutzscheibe zu entfernen, und nun war sie von einer Reihe ansteigender Halbmonde übersät. Die Motorhaube war mit derselben feinen Staubschicht überzogen, so hell wie Puder. Sogar die Sitzpolster fühlten sich sandig an.

Ich legte beide Hände aufs Lenkrad und lehnte die Stirn dagegen. Ich fühlte absolut nichts. Mein Denkprozeß war mitten in einer Szene angehalten worden, als hätte jemand auf einer Fernbedienung die Pausentaste gedrückt. Wie konnte es sein, daß Guy Malek tot war? Die ganze letzte Woche war er in meinem Leben dermaßen präsent gewesen. Er war gefunden und zugleich verloren. Er hatte mein Denken besetzt gehalten und Gefühle von Zuneigung und Verdruß ausgelöst. Nun konnte ich mich nicht mehr genau an sein Gesicht erinnern — nur hier und da blitzte etwas auf, der Klang seines »Hey«, das Kratzen der Barthaare an seinem Kinn auf meiner Wange. Schon jetzt war er so körperlos wie ein Geist, nichts als Form ohne Inhalt, eine Kette bruchstückhafter Bilder ohne Beständigkeit.

Was mir so seltsam vorkam, war, daß das Leben einfach weiterging. Ich sah den Verkehr den Cabana Boulevard entlangfließen. Zwei Türen weiter rechte mein Nachbar sprödes Laub zu einem Haufen auf seinem Rasen zusammen. Wenn ich das Autoradio anstellte, kämen immer wieder Musik, Hinweise auf Sponsoren, Werbespots und Nachrichten. Auf manchen Sendern würde Guy Malek womöglich nicht einmal erwähnt werden. Ich hatte diesen Tag verlebt ohne irgendeine Ahnung, daß Guy ermordet worden war, ohne irgendeine Erschütterung in meiner unterschwelligen Landschaft. Worum geht es eigentlich im Leben? Sind Menschen nicht wirklich tot, bis wir unwiderruflich davon Kenntnis haben? Mir kam es so vor, als wäre Guy erst jetzt, in diesem Augenblick, aus dieser Welt in die nächste katapultiert worden.

Ich drehte den Zündschlüssel um. Jede simple Handlung schien mir mit Neuem überfrachtet. Meine Wahrnehmungen hatten sich verändert und mit ihnen mein Verhältnis zu meiner persönlichen Sicherheit. Wenn Guy ermordet werden konnte, warum dann nicht auch Henry oder ich? Ich fuhr wie mit Autopilot, während die Straßenszenerie an mir vorbeiglitt. Vertraute Viertel kamen mir fremd vor, und es gab einen Moment, in dem ich mich nicht mit Bestimmtheit daran erinnern konnte, in welchem Ort ich mich befand.

Als ich mich dem Malekschen Anwesen näherte, stellte ich fest, daß der Verkehr zugenommen hatte. Autos voller Neugieriger umkreisten das Grundstück. Sämtliche Köpfe waren schon fast grotesk in dieselbe Richtung gewandt. Auf beiden Seiten der Straße vor dem Tor parkten Autos. Reifen hatten sich ins Gras gegraben und dabei Büsche umgemäht und einzelne Schößlinge zerquetscht. Bei jedem neuen Auto, das sich näherte, drehte sich die versammelte Menge um, reckte die Hälse und spähte danach, ob es jemand Bemerkenswertes war.

Mein Wagen schien zunächst nicht viel Interesse zu wecken. Vermutlich konnte niemand glauben, daß die Maleks einen VW-Käfer fahren würden, und erst recht keinen solchen wie meinen mit seiner Staubschicht und den zahlreichen Beulen. Erst als ich an das Tor heranfuhr und dem Wachposten meinen Namen nannte, drängten die Reporter vorwärts und versuchten, einen Blick auf mich zu erhaschen. Es schien eine neue Gruppe zu sein. Ich erkannte keinen von meinem früheren Besuch hier wieder.

Irgendwie hatten es die landesweiten Medien inzwischen geschafft, Kamerateams zusammenzustellen, und ich wußte, daß am nächsten Morgen um sieben jemand, der in enger Verbindung zu den Maleks stand, in einem dreiminütigen Interview zu sehen sein würde. Ich weiß nicht, wie es die überregionalen Sender schaffen, alles so schnell zu organisieren. Es war eines der Wunder der Technik, daß nicht einmal vierundzwanzig Stunden nach Guy Maleks Tod jemand eine Nahaufnahme eines tränenüberströmten Gesichts machen würde, vielleicht das Christies oder Myrnas oder auch Enids, der Köchin, die ich erst noch kennenlernen mußte.

Auf der einen Seite standen ein schwarzweißer Streifenwagen und ein Fahrzeug einer Privatfirma. Ich machte den Wachmann aus, wie er die Straße entlangschritt und versuchte, die Menge davon abzuhalten, zu nah heranzukommen. Ein uniformierter Polizist suchte meinen Namen auf seinem Klemmbrett und winkte mich hinein. Das Tor schwang nach und nach auf, und ich drosselte meinen Motor, bis die Lücke breit genug war, um hindurchzufahren. In diesem kurzen Zeitraum klopften Fremde an mein Seitenfenster und brüllten mir Fragen entgegen. Mit ihren Mikrophonen in den ausgestreckten Händen hätten sie ebensogut irgendwelchen Plunder feilbieten können. Ich hielt den Blick stur geradeaus gerichtet. Als ich durch das Tor fuhr, liefen zwei Reporter weiter neben mir her wie zweitklassige Geheimagenten. Der Wachmann und der Polizist gingen ihnen gleichzeitig entgegen und hielten sie auf. Im Rückspiegel konnte ich sehen, wie sie anfingen, mit dem Polizisten zu streiten und ihm vermutlich ihre moralischen, gesetzlichen und verfassungsmäßigen Rechte vorzubeten.

Mein Herz begann schneller zu schlagen, als ich die Zufahrt zum Haus entlangfuhr. Fünf oder sechs uniformierte Polizisten durchstreiften das Grundstück, die Augen auf die Erde gerichtet, als suchten sie nach vierblättrigen Kleeblättern. Zu dieser Tageszeit schwand das Licht rasch. Unter den Bäumen verdichteten sich bereits die Schatten. Bald würden sie Taschenlampen brauchen, um ihre Suche fortzusetzen. An der Haustür war ein zweiter uniformierter Beamter postiert, der eine unbewegte Miene zeigte. Er kam zu meinem Wagen herüber, und ich kurbelte das Fenster herab. Ich nannte ihm meinen Namen und sah ihm dabei zu, wie er zuerst seine Liste und dann mein Gesicht studierte. Offenkundig zufrieden, machte er einen Schritt vom Wagen weg. Im Hof zu meiner Linken drängten sich bereits zahlreiche Autos auf der gepflasterten Wendefläche. »Kann ich mir hier einen Parkplatz suchen?«

»Sie können hinter dem Haus parken. Dann kommen Sie wieder zurück und gehen durch die Vordertür hinein«, sagte er und winkte mich weiter.

»Danke.«

Ich fuhr nach links herum und parkte am anderen Ende der Dreiergarage. In der Dämmerung leuchteten plötzlich mehrere von Bewegungsmeldern aktivierte Scheinwerfer auf und taten meine Anwesenheit kund. Abgesehen von der Küche an diesem Ende des Hauses und der Bibliothek am anderen waren die meisten Fenster entlang der Vorderfront dunkel. Die Außenbeleuchtung war kaum mehr als dekorativ, zu blaß, um in der zunehmenden Finsternis einladend zu wirken.

Der uniformierte Polizist machte mir die Tür auf, und ich betrat die Halle. Die Tür zur Bibliothek stand offen, und ein Lichtstrahl erhellte die Umrisse eines tortenstückförmigen Teils des Parkettfußbodens. In Anbetracht der Stille im Haus nahm ich an, daß die Kriminaltechniker schon wieder weg waren: die Experten für Fingerabdrücke, der Fotograf, der Tatortzeichner, der Gerichtsmediziner und die Sanitäter. Tasha erschien in der Tür. »Ich habe dich ankommen sehen. Wie geht’s?«

Ich sagte »gut« in einem Ton, der sie dazu bewog, Abstand zu mir zu halten. Ich merkte, daß ich wütend war — auf sie ebenso wie auf die Umstände. Mord mit seinen hinterhältigen Tricks und Verstellungen macht mich zornig. Ich wollte Guy Malek zurückhaben, und mit einer etwas verworrenen emotionalen Logik machte ich ihr zum Vorwurf, was geschehen war. Wenn sie nicht meine Cousine gewesen wäre, hätte sie mich überhaupt nicht engagiert. Wenn ich nicht engagiert worden wäre, hätte ich ihn nicht gefunden, hätte nicht einmal gewußt, wer er war, hätte mich nicht um ihn geschert und hätte keinen Verlust erlitten. Sie wußte das ebensogut wie ich, und der Anflug von Schuldbewußtsein, der über ihr Gesicht glitt, spiegelte meine Miene wider.

Für eine Frau, die überstürzt aus den Ferien abgereist war, war Tasha tadellos gekleidet. Sie trug einen schwarzen Hosenanzug aus Gabardine mit einer taillenkurzen Jacke. Die schmale Hose ohne Aufschläge hatte einen breiten Bund und Kellerfalten. Auf der Jacke saßen Messingknöpfe, und um die Ärmel prangte eine dünne Goldborte. Irgendwie war ihre Aufmachung mehr als nur modisch. Sie wirkte frisch und autoritär, eine Anwältin in Gestalt einer zierlichen Militärpolizistin, die hier war, um alles in die rechten Bahnen zu lenken.

Ich folgte ihr in die Bibliothek mit ihren Sitzgruppen aus brüchigem dunkelrotem Leder. Die roten Orientteppiche sahen zu dieser Tageszeit trist aus, und die hohen Bleiglasfenster waren vom eisigen Grauschleier der Dämmerung überzogen. Tasha schaltete zuerst mehrere Tischlampen an, während sie den Raum durchquerte. Nicht einmal der Glanz der dunklen Holztäfelung konnte dem kalten Steinkamin eine gemütliche Ausstrahlung verleihen. Der Raum war schäbig und roch so muffig, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Erst vor einer Woche hatte ich hier Bennet zum ersten Mal gesehen.

Ich ließ meine Tasche neben einem Clubsessel stehen und ging ruhelos auf und ab. »Wer leitet denn die Ermittlungen? Du hast gesagt, es sei jemand hier.«

»Lieutenant Robb.«

»Jonah? Oh, wunderbar.«

»Du kennst ihn?«

»Allerdings«, antwortete ich. Als ich ihn kennengelernt hatte, arbeitete er in der Vermißtenstelle, aber die Polizei von Santa Teresa hat ein obligatorisches Rotationssystem, und die Detectives werden durch alle Abteilungen geschickt. Als Lieutenant Dolan in Pension ging, wurde ein Posten in der Mordkommission frei. Ich hatte einmal eine kurze Affäre mit Jonah gehabt, als er von seiner Frau getrennt lebte, was in ihrer stürmischen Beziehung häufiger vorkam. Sie gingen seit der siebten Klasse miteinander und waren zweifellos auf Lebenszeit füreinander bestimmt, wie Eulen, nur daß alle zehn Monate Phasen brutaler Entfremdung auftraten. Eigentlich hätte das Muster leicht durchschaubar sein müssen, aber ich war wie vernarrt in ihn gewesen. Wie nicht anders zu erwarten war, winkte sie ihm schon bald mit dem kleinen Finger, und er kehrte zu ihr zurück. Ab und zu begegnen wir drei uns in der Öffentlichkeit, und ich bin mittlerweile Expertin darin, so zu tun, als hätte ich nie in meiner Wonder-Woman-Bettwäsche mit ihm geschäkert. Vermutlich war er deshalb bereit, mich am Tatort zu dulden. Er wußte, er konnte sich darauf verlassen, daß ich den Mund hielt.

»Was gibt’s zu erzählen?« wollte sie wissen.

»Nichts. Vergiß es. Ich bin wohl ziemlich schlechter Laune, aber ich sollte es nicht an dir auslassen.«

Ich hörte Schritte auf der Treppe und sah auf, als Christie hereinkam. Sie trug wuchtige Laufschuhe und einen blauen Trainingsanzug aus einem seidigen Material, der das Blau ihrer Augen noch betonte. Sie trug kaum Make-up, und ich fragte mich, ob das wohl die Aufmachung war, in der sie Guys Leiche entdeckt hatte. Die Bibliothek war wie das Wohnzimmer mit einer kompletten Bar ausgestattet: eine kleine Messingspüle, ein Mini-Kühlschrank, ein Eiskübel und ein Tablett mit verschiedenen Schnapsflaschen. Sie ging zum Kühlschrank hinüber und holte eine Flasche gekühlten Weißwein heraus. »Möchte jemand ein Glas Wein? Sie vielleicht, Kinsey?«

»Alkohol hilft auch nichts«, sagte ich.

»Seien Sie nicht albern. Natürlich hilft er. Genau wie Valium. Die Realität ändert sich dadurch nicht, aber das eigene Gefühl. Tasha? Kann ich dich für ein Glas Chardonnay interessieren? Das ist erste Qualität.« Sie drehte die Flasche um, so daß sie auf das Preisschild auf der Seite blicken konnte. »Nett. Der kostet 36 Dollar 95.«

»Ich trinke nachher ein Glas. Jetzt noch nicht«, sagte Tasha.

Schweigend sahen wir beide zu, wie Christie den Folienverschluß von der Weinflasche löste und den Korkenzieher ansetzte. »Wenn ich rauchen würde, würde ich jetzt eine qualmen, aber ich rauche nicht«, sagte sie. Sie schenkte sich Wein ein und stieß aus Ungeschicklichkeit die Flasche gegen den Rand des Glases aus Waterford-Kristall. »Scheiße!« rief sie und besah sich den Schaden. Ein gezackter Sprung zog sich an der Seite des Glases hinab. Sie goß seinen Inhalt in die Spüle und warf es in den Abfall. Dann nahm sie sich ein zweites Glas und schenkte sich noch einmal ein. »Wir brauchen ein Feuer hier drin. Ich wünschte, Donovan wäre zu Hause.«

»Ich kann das machen«, sagte ich. Ich ging zum Kamin hinüber und schob den Ofenschirm beiseite. In einem Messingständer lagen sechs oder sieben massive Scheite Feuerholz. Ich nahm eines davon und warf es auf den Rost.

»Passen Sie auf, daß Sie keine Beweismittel zerstören«, sagte Christie.

Ich sah sie verständnislos an.

»Ted Bundy hat eines seiner Opfer mit einem Holzscheit erschlagen«, sagte sie und zuckte dann verlegen die Achseln. »Vergessen Sie’s. War nicht witzig. So ein Tag«, sagte sie. »Ich weiß gar nicht, wie ich damit fertig werden soll. Ich fühle mich seit heute morgen total betrunken, vollkommen außer Kontrolle.«

Ich legte zwei weitere Holzscheite auf den Rost, während sie und Tasha sich unterhielten. Es war mir eine Erleichterung, mich mit einer Aufgabe beschäftigen zu können, die einfach und unverfänglich war. Das Holz war wunderbar abgelagerte Eiche. Der größte Teil der Hitze würde geradewegs zum Schornstein hinausziehen, aber es wäre trotzdem tröstlich. Ich betätigte den elektrischen Zünder, drehte am Gasschalter und lauschte auf das beruhigende Wunk, als die Düsen zu brennen begannen. Ich stellte den Ofenschirm wieder an seinen Platz und hielt kurz inne, um die Höhe der Flammen zu regulieren. Verspätet hörte ich auf das Gespräch der beiden.

Tasha fragte gerade: »Hast du einen Anwalt verlangt?«

»Natürlich nicht. Ich habe doch nichts getan. Es war die reine Routine«, sagte Christie gereizt. Sie stand immer noch hinter der Bar, auf den lederbezogenen Tresen gestützt. »Tut mir leid. Was ist nur mit mir los? Ich bin völlig erledigt.«

»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Wer ist denn noch auf dem Revier?«

»Jack und Bennet, glaube ich. Sie haben uns alle voneinander getrennt, wie auch hier schon. Dermaßen absurd. Bilden sie sich vielleicht ein, daß Donovan und ich nicht alles haarklein besprechen, sowie wir die Köpfe zusammenstecken können?«

»Sie möchten nicht riskieren, daß Sie sich gegenseitig beeinflussen«, sagte ich. »Die Erinnerung ist trügerisch und läßt sich leicht verfälschen.«

»Keiner von uns hat viel auszusagen«, sagte sie. »Ich habe beim Abendessen zuviel getrunken und bin um neun Uhr eingeschlafen. Donovan hat in dem Wohnzimmer neben unserem Schlafzimmer ferngesehen.«

»Und Guy?«

»Er ist etwa zur selben Zeit zu Bett gegangen wie ich. Dank Bennets Martinis war er sturzbetrunken.« Ihr Blick fiel auf ihre Fingerkuppen, was sie die Stirn runzeln ließ. Sie wandte sich von uns ab und ließ Wasser in das Spülbecken laufen. »Sie haben uns Fingerabdrücke abgenommen, um sie vergleichen zu können.«

Tasha gab mir eine kurze Erklärung. »Nachdem die Leiche abgeholt worden war und die Experten für Fingerabdrücke ihre Arbeit beendet hatten, ließ der Leiter der Ermittlungen eine Frau vom Reinigungspersonal der Maleks herkommen. Er ist mit ihr den Raum abgegangen und hat sich die gewohnte Anordnung der Möbel, Lampen, Aschenbecher und so weiter beschreiben lassen.«

»Haben sie irgend etwas gefunden?«

»Keine Ahnung. Ich bin sicher, der Putzfrau wurde eingeschärft, den Mund zu halten. Ich weiß, daß sie ein paar Gegenstände etikettiert und mitgenommen haben, aber ich weiß nicht, was und warum es von Bedeutung war. Jetzt haben sie noch mehr Polizisten geholt und eine Rasterdurchsuchung des Grundstücks eingeleitet. Offenbar haben sie sich vorhin lange in der Schwimmhalle aufgehalten.«

Christie fiel ihr ins Wort. »Ich habe sie von meinem Zimmer aus gesehen, wie sie die Tore überprüft haben, jeden Punkt, an dem man herein- oder heraus kann.«

»Sie sind immer noch draußen zugange. Das habe ich gesehen, als ich gekommen bin. Aber warum suchen sie draußen? Es muß ja fast jemand aus dem Haus gewesen sein.«

Christie schnaubte. »Nicht unbedingt. Wie kommen Sie denn darauf? Bei uns gehen jede Menge Leute aus und ein. Vielleicht fünfzehn in der Woche, mitsamt den Gärtnern und Autowäschern, der Putzkolonne und der Frau, die sich um die Pflanzen kümmert. Wir haben keine Ahnung, woher diese Leute kommen. Es könnten ohne weiteres verurteilte Straftäter oder Entflohene aus dem Irrenhaus sein.«

Ich würde nicht auf ihre Phantastereien reagieren. Wenn die Vorstellung sie tröstete, sollte sie daran festhalten. »Kann sein«, sagte ich, »aber ich gehe davon aus, daß niemand der Betreffenden nachts Zutritt zum Haus hat. Ich dachte, Sie hätten eine Alarmanlage.«

»Tja, haben wir auch. Die Polizei hat sich auch für die Alarmanlage interessiert, aber das ist ja das Problem«, sagte sie. »Bei dem starken Wind, der in den letzten Tagen hier herrschte, wurden immer wieder Fenster aufgeweht, und dann ging der Alarm los. Montag nacht ist das zweimal passiert, nachdem wir schon alle ins Bett gegangen waren. Ich bin zu Tode erschrocken. Schließlich haben wir die Anlage abgestellt, damit das nicht wieder vorkommt. Letzte Nacht war sie überhaupt nicht an.«

»Was meint denn die Polizei, wann Guy ermordet wurde?« fragte ich.

»Gegen zehn, glaube ich. Zwischen zehn und elf. Der Detective hat es nicht direkt gesagt, aber ich habe mitbekommen, daß das der Zeitraum war, für den er sich interessiert hat. Bennet und Jack waren beide bis spät in die Nacht aus.«

Eine Frau in Haushälterinnenkluft mit einer weißen Schürze darüber spähte zur Tür herein. Sie war klein und rund und sah aus wie jemand, dessen Ernährungsgewohnheiten schon lange jegliche Sensibilität mit Fettverbrennungsmechanismen vermissen ließen. Sie war vermutlich Mitte Vierzig und trug ihr dunkles Haar ordentlich unter einem rot-weiß gestreiften Tuch zurückgekämmt, das sie sich um den Kopf gebunden hatte — ob aus dekorativen oder zweckmäßigen Gründen war mir nicht ganz klar. »Entschuldigen Sie bitte. Es tut mir leid, wenn ich störe, aber ich wollte nur fragen, um wieviel Uhr Sie das Abendessen serviert haben wollen.«

Christie verzog das Gesicht. »Meine Schuld, Enid. Ich hätte es mit Ihnen besprechen sollen. Donovan ist noch nicht wieder zurück, und bei Jack und Bennet bin ich mir nicht sicher. Was gibt es denn? Kann man es warm halten?«

»Gebackene Hühnerbrüstchen. Ich bin auf dem Weg zur Arbeit am Markt vorbeigefahren. Ich habe den Speiseplan umgestellt, damit genug da ist, falls Sie noch Gäste haben. Ich habe Ofenkartoffeln gemacht und einen Topf süßsauren Kohl. Ich kann hierbleiben und servieren, wenn Sie möchten.« Irgendwie schaffte sie es ohne Worte zu vermitteln, daß so lange zu warten, bis das Abendessen aufgetragen werden sollte, das letzte war, wonach ihr der Sinn stand.

»Nein, nein, nein. Das sollen Sie nicht. Lassen Sie einfach alles im Ofen stehen, dann können wir uns selbst bedienen. Wenn Sie fertig sind, gehen Sie einfach. Ich weiß, daß Sie heute schon früher gekommen sind.«

»Ja, Ma’am. Myrna hat mich angerufen. Ich bin gekommen, sobald ich davon gehört habe.«

»Hat die Polizei bereits mit Ihnen gesprochen? Vermutlich schon. Alle anderen haben sie ja auch befragt.«

Enid zog verlegen an ihrer Schürze. »Ich habe, glaube ich, kurz vor Ihnen mit Lieutenant Bower gesprochen. Soll ich morgen zur gewohnten Zeit kommen?«

»Das weiß ich noch nicht. Rufen Sie mich am Vormittag an, und dann sehen wir weiter. Vielleicht möchte ich, daß Sie morgen früher kommen, wenn es Ihnen recht ist.«

»Aber natürlich.«

Sobald sie gegangen war, sagte Christie zu mir: »Entschuldigen Sie die Unterbrechung. Das war Enid Pressman. Sie ist unsere Köchin. Eigentlich hätte ich Sie miteinander bekannt machen sollen. Ich wollte nicht unhöflich sein. Tasha kennt sie schon.«

»Das macht doch nichts«, antwortete ich. Ich nahm mir vor, mich demnächst einmal mit Enid zu unterhalten. Sie hatte es geflissentlich vermieden, Informationen preiszugeben.

Tasha sagte: »Vielleicht trinke ich jetzt doch etwas. Nein, laß nur, ich bediene mich selbst. Du siehst erschöpft aus. Wir sollten uns setzen.«

Christie hatte die Weinflasche in einen Kühler gestellt und nahm nun noch zwei Gläser heraus. Tasha ging zur Bar hinüber und holte den Weinkühler. Christie sah mich fragend an, um zu erfahren, ob ich nun auch Wein haben wollte.

»Im Moment möchte ich nichts, vielen Dank«, sagte ich.

Christie machte es sich auf einem der Ledersessel bequem. Sie zog die Beine unter sich und verschränkte die Arme.

Ich nahm direkt neben dem Kamin Platz, während sich Tasha auf die Armlehne des Sessels neben Christie hockte. »Was ist mit Bennet?« fragte Tasha. »Wo war er gestern abend?«

»Ich weiß es nicht genau. Das müßtest du ihn selbst fragen.«

»Und Jack?«

»Drüben im Country Club mit hundert anderen Leuten. Am Wochenende findet ein Pro-Am-Turnier statt. Die Übungsrunden beginnen am Donnerstag. Er ist mit einem Freund zu der Party für die Auslosung gegangen.«

»Das müßte sich ja ohne weiteres überprüfen lassen«, sagte Tasha.

»Würdest du bitte aufhören, so zu reden? Er hat Guy nicht umgebracht, und ich auch nicht.«

»Christie, ich beschuldige dich nicht. Ich versuche nur, deine Lage zu analysieren. Angesichts der Situation fällt zwangsläufig der Verdacht auf einen von euch. Ich meine nicht dich persönlich, also sei nicht beleidigt. Andere Personen mögen zwar Zugang zu eurem Anwesen haben, aber wer hätte denn ein besseres Motiv als die Familie? Es steht ein Haufen Geld auf dem Spiel.«

»Aber Tasha, das ist doch lächerlich. Wenn einer von uns ihn hätte umbringen wollen, warum dann hier? Warum nicht woanders? Getarnt als Unfall oder die Gewalttat eines Unbekannten?«

Ich hob die Hand wie eine Studentin. »Denken Sie nur daran, wie bequem es war. Wenn man einen Mann im Schlaf ermordet, braucht man nicht zu befürchten, daß er anfängt, sich zu wehren.«

Jonah Robb erschien in der Tür, den Blick auf Christie fixiert. »Wir gehen dann. Das Zimmer ist immer noch versiegelt, bis der Gerichtsmediziner seinen Bericht verfaßt hat. Es darf unter keinen Umständen betreten werden, ehe Sie von uns hören. Wir kommen morgen früh wieder, um alles übrige zu erledigen.«

»In Ordnung. Sonst noch etwas?«

»Ich habe gehört, daß Ihr Schwager Post bekommen hat...«

»Die haben wir schon Ihrer Kollegin, Lieutenant Bower, gegeben.«

Jonah nickte. »Gut. Dann wende ich mich an sie.«

»Wissen Sie, wann wir ungefähr mit meinem Mann rechnen können? Als ich das Polizeirevier verließ, wurde er immer noch verhört.«

»Ich sage ihm, daß er Sie anrufen soll, falls er immer noch da ist, wenn ich aufs Revier komme. Mit ein bißchen Glück ist er schon fertig und unterwegs nach Hause.«

»Danke.«

Jonahs Blick wanderte zu mir, und er neigte den Kopf. »Können wir uns kurz draußen unterhalten?«

Ich stand auf und durchquerte den Raum. Er hielt mir die Tür auf, und wir traten in den Flur.

»Donovan hat uns gesagt, daß du diejenige warst, die Guy im Auftrag der Nachlaßverwaltung gefunden hat.«

»Das stimmt.«

»Wir möchten gern morgen früh mit dir sprechen und ein paar Hintergrundinformationen haben.«

»Aber sicher. Ich helfe gern. Ich kann gegen neun auf dem Weg zur Arbeit vorbeikommen«, sagte ich. »Was ist das für eine Geschichte mit der Post?«

»Ich habe das Schreiben noch nicht gesehen«, sagte er ausweichend, was hieß Ist nicht dein Bier. Wir sahen einander vielleicht einen halben Augenblick länger an als unbedingt notwendig. Ich hatte schon immer gefunden, daß Jonah gut aussah. Schwarze Iren nennt man diesen Typ, glaube ich. Blaue Augen, pechschwarzes Haar. Er sah erschöpft und angespannt aus, die Augen von einem Spitzenmuster aus feinen Linien umgeben und die Haut rauher, als ich sie in Erinnerung hatte. Vielleicht war es eine Nebenwirkung meiner wiedererwachten Sexualität, daß ich neuerdings die Männer in meinem Leben wieder taxierte. Bei Jonah verspürte ich ein beunruhigendes Vibrieren in der Luft. Ich kam mir vor wie ein Schmetterling und fragte mich, ob die Pheromone von mir kamen oder von ihm.

»Wie geht’s Camilla?«

»Sie ist schwanger.«

»Herzlichen Glückwunsch.«

»Es ist nicht von mir.«

»Ah.«

»Und was ist mit dir? Hast du zur Zeit eine Beziehung?«

»Könnte sein. Schwer zu sagen.«

Er lächelte nur kurz. »Wir sehen uns morgen früh.«

Allerdings, dachte ich.