8

Es brannte Licht, und Donovan war im Wohnzimmer, als Christie und ich nach unten kamen. Er hatte seine Arbeitskleidung abgelegt und trug nun einen schweren, cremefarbenen Strickpullover und eine Freizeithose. Seine Halbschuhe hatte er gegen ein Paar Hausschuhe aus Schaffell eingetauscht, die seine Füße riesig aussehen ließen. Jemand hatte Feuer gemacht, und er stocherte in den Holzscheiten herum, wobei er einen wuchtigen Eichenholzkeil umdrehte, damit dessen Oberseite Feuer fing. Donovan nahm ein weiteres Stück Holz in die Hand und warf es obendrauf. Ein Funkenregen stob den Kamin hinauf. Er rückte den Kaminschirm wieder zurecht und wischte sich die Hände an seinem Taschentuch ab, während er zu mir herübersah. »Christie haben Sie also schon kennengelernt. Wir sind froh, daß Sie kommen konnten. Das vereinfacht die Sache. Kann ich Ihnen einen Drink machen? Wir haben so ungefähr alles da, was Sie sich wünschen könnten.«

»Ein Glas Chardonnay wäre mir recht.«

»Ich hole es«, sagte Christie rasch. Sie ging zu einem mit Schnapsflaschen übersäten Sideboard hinüber. Eine Flasche Chardonnay stand in einem Weinkühler neben einem durchsichtigen Lucite-Eiskübel und verschiedenen Gläsern. Mit einem Blick auf Donovan begann sie die Folie vom Hals der Weinflasche zu lösen. »Trinkst du auch Wein?«

»Zum Essen vermutlich. Aber zuerst nehme ich, glaube ich, einen Martini. Gin ist Bennets Winterdrink«, fügte er als Nebenbemerkung zu mir hinzu.

Ah, wohl ein Trinker, der sich an die Jahreszeiten hielt. Was für eine nette Idee. Gin im Winter, vielleicht Wodka im Frühling. Für den Sommer böte sich Tequila an, und den Herbst konnte er mit ein bißchen Bourbon oder Scotch abrunden. Während Christie den Wein aufmachte, verschaffte ich mir einen vorläufigen Überblick.

Ebenso wie das Schlafzimmer oben war auch dieser Raum riesengroß. Die vier Meter hohe Decke war mit etwa zwanzig Zentimeter breiten Stuckkronen umrandet, und die Wände waren mit einer schmalgestreiften blau-cremefarbenen Tapete bedeckt, die im Lauf der Jahre verblichen war. Der blasse, orientalische Teppich mußte fünf Meter breit und schätzungsweise siebeneinhalb Meter lang sein. Die Möbel waren in zwei Gruppen aufgeteilt. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes standen sich vor den Vorderfenstern vier Ohrensessel gegenüber. Näher zur Mitte des Zimmers hin bildeten drei große Sofas vor dem Kamin ein U. Sämtliche an der Wand stehenden Möbelstücke — ein Schrank, ein Sekretär und zwei mit Schnitzereien und Intarsien verzierte Tischchen — waren von der Art, wie man sie in Antiquitätenläden zu sehen bekam, schwer und ein bißchen überladen, mit Preisschildern, bei denen man zweimal hinsehen mußte, weil man glaubte, sie falsch gelesen zu haben.

Christie kehrte mit zwei Gläsern Wein zurück und reichte mir eines. Sie setzte sich auf eins der Sofas, und ich nahm mit einem gemurmelten »Danke« ihr gegenüber Platz. Das blaue Blumenmuster war zu einem gebrochenen Weiß verblichen, der Stoff entlang der Lehnen und der Vorderseiten der Polster abgeschabt. Auf dem quadratischen Couchtisch in der Krümmung der U-Form stand eine große Messingschale voller frischer Blumen, und daneben lagen mehrere Ausgaben des Architectural Digest. Mein Blick fiel auf einen unordentlichen Stapel von Karten, vermutlich Beileidsschreiben. Ich holte meinen getippten Bericht heraus und legte ihn vor mich auf den Tisch. Ich würde ihn Donovan dalassen, damit er ein Exemplar für seine Unterlagen hatte.

Ich hörte Schritte und Stimmen im Flur. Jack und Bennet betraten das Wohnzimmer gemeinsam. Was sie auch immer diskutiert hatten, jetzt waren ihre Mienen neutral und strahlten bei meinem Anblick nichts als wohlwollendes Interesse aus. Bennet steckte in einem Jogginganzug aus einem seidigen Material, das raschelte, wenn er ging. Jack sah aus, als käme er gerade vom Golfplatz, und sein Haar ließ noch den Abdruck seiner Kappe erkennen. Er trug eine leuchtendorangefarbene Weste über einem pinkfarbenen, kurzärmligen Golfhemd, und sein Gang war federnd, als hätte er immer noch Schuhe mit Nägeln darunter an. Jack schenkte sich einen Scotch mit Wasser ein, der so dunkel war wie Eistee, während Bennet einen großen Krug Martinis mischte, die er mit einem langen Glasstab umrührte. Kein Zweifel, die Aperitifkultur wurde in diesem Haus sehr gepflegt. Er schenkte sich und Donovan je einen Martini ein und gab in jedes Glas eine Olive. Dann brachte er den Martinikrug zum Couchtisch herüber und stellte ihn in Reichweite ab.

Während die Getränke ausgeschenkt wurden, tauschte man belanglose Nettigkeiten aus, die nicht von Herzen kamen. Wie beim Tabak schienen die Rituale des Alkohols eine Art Verzögerungstaktik zu sein, bis die Versammelten sich seelisch auf die Situation eingestellt haben. Ich hatte ein merkwürdiges Gefühl im Brustkorb, den gleichen Anflug von Angst, den ich in der dritten Klasse vor einer Tanzaufführung empfunden hatte, in der ich ein Häschen spielte — nicht gerade eine Spezialität von mir. Meine Tante Gin war krank und konnte nicht Zusehen, und so war ich gezwungen, mein Gehoppel vor zahllosen fremden Erwachsenen vorzuführen, die mich nicht allzu einnehmend zu finden schienen. Meine Beine waren zu mager, und die Hasenohren wollten nicht aufrecht stehenbleiben. Die Malek-Brüder betrachteten mich mit ungefähr der gleichen Begeisterung. Donovan nahm neben Christie auf der Couch gegenüber von mir Platz, während sich Jack in Blickrichtung auf den Kamin setzte, Bennet zu seiner Linken.

Es war aufschlußreich, die drei Brüder zusammen in einem Zimmer zu sehen. Trotz der Ähnlichkeit in ihren Farben waren ihre Gesichter sehr unterschiedlich, wobei das von Bennet aufgrund seines Vollbarts besonders abstach. Donovan und Jack waren etwas zierlicher gebaut, aber keiner von beiden war so anziehend wie ihr abtrünniger Bruder Guy. Jack beugte sich vor und begann gelangweilt die Beileidskarten durchzusehen.

Ich rechnete damit, daß mich Donovan gleich nach meinem Bericht fragen würde, als Myrna mit verschiedenen Speisen auf einem Tablett ins Zimmer kam. Das Tablett selbst besaß die Größe eines Gullydeckels; es war sehr schlicht, vermutlich Sterlingsilber, und um den Rand herum stark angelaufen. Neben etwas, das aussah wie Käsecreme auf Crackern, bestanden die Hors d’œuvres aus einer Schüssel Erdnüsse und einer Schüssel nicht entkernter grüner Oliven in Salzlake. Niemand sagte ein Wort, bis Myrna wieder hinausgegangen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte.

Jack beugte sich vor. »Was ist denn das für ein Scheiß?«

Bennet lachte genau in dem Moment, in dem er einen Mundvoll Martini hinunterschluckte. Er stieß ein schnaubendes Geräusch aus und würgte dabei, und ich sah Gin aus seiner Nase tropfen. Er hustete in sein Taschentuch, während Jack kurz in seine Richtung lächelte. Ich wette, als Kinder haben sie mitten beim Essen gegenüber dem anderen den Mund aufgesperrt und zerkaute Speisen zur Schau gestellt.

Christie warf ihnen einen mißbilligenden Blick zu. »Enid hat heute abend frei. Könntet ihr euch bitte die Kritik sparen? Myrna ist Krankenschwester. Sie ist eingestellt worden, um Dad zu pflegen, nicht um euch beide zu bedienen. Wir können von Glück sagen, daß sie dageblieben ist, und das wißt ihr ganz genau. Hier macht ja doch niemand einen Finger krumm außer mir.«

»Danke, daß du das klargestellt hast, Christie. Was bist du doch für ein verdammtes Prachtstück«, sagte Jack.

»Hör auf damit«, sagte Donovan. »Könnten wir das bitte lassen, bis wir gehört haben, was sie zu sagen hat?« Er schnappte sich eine Handvoll Erdnüsse und verspeiste eine nach der anderen, während sich seine Aufmerksamkeit wieder mir zuwandte. »Möchten Sie uns jetzt aufklären?«

Ich nahm mir ein paar Minuten Zeit, um die Methoden zu erläutern, mit deren Hilfe ich es geschafft hatte, Guy Malek ausfindig zu machen. Ohne Darcy Pascoe oder die California-Fidelity-Versicherungsgesellschaft zu erwähnen, berichtete ich von den Schritten, die mir zu der Information über Guys Personalausweis geholfen hatten. Ich gebe zu, daß ich es ausschmückte und es problematischer klingen ließ, als es tatsächlich gewesen war. »Soweit ich es beurteilen kann, hat Ihr Bruder seine Vergangenheit hinter sich gelassen. Er arbeitet als eine Art Hausmeister für die Jubilee Evangelical Church. Meines Wissens verdingt er sich außerdem als Mädchen für alles bei verschiedenen Leuten in Marcella. Er sagt, er sei der einzige im Ort, der häusliche Reparaturen erledigt, und so verdient er seinen Maßstäben nach genug. Sein Lebensstil ist einfach, aber er kommt zurecht.«

Donovan fragte: »Ist er verheiratet?«

»Ich habe ihn nicht gefragt, ob er verheiratet ist, aber es sah nicht danach aus. Er hat keine Ehefrau erwähnt. Die Unterkunft stellt ihm die Kirche als Gegenleistung für seine Dienste zur Verfügung. Das Haus ist ziemlich baufällig, aber er scheint ganz zufrieden zu sein. Das sind natürlich nur oberflächliche Urteile, aber ich habe nicht genauer nachgeforscht.«

Bennet nagte eine Olive ab und legte den Kern auf eine Papierserviette. »Warum Marcella? Das ist doch ein Dreckskaff.«

»Der Pfarrer von dieser Kirche hat ihn an dem Tag, als er von zu Hause weggegangen ist, auf der 101 aufgelesen. Seither hat er sein Leben im großen und ganzen in Marcella verbracht. Die Kirche, der er beigetreten ist, scheint ziemlich streng zu sein. Weder Tanz noch Kartenspielen oder dergleichen. Er hat gesagt, er tränke ab und zu ein Bier, aber er nimmt keine Drogen mehr. Und das seit mittlerweile fast fünfzehn Jahren.«

»Wenn man ihm das abnehmen kann«, sagte Bennet. »Ich weiß nicht, wieviel Sie bei Ihrem kurzen Aufenthalt mitgekriegt haben. Wie lange waren Sie dort — eine Stunde?«

»In etwa«, antwortete ich. »Aber ich bin ja keine Anfängerin. Ich hatte früher schon mit Süchtigen zu tun, und glauben Sie mir, er sah nicht wie einer aus. Und Lügnern komme ich auch auf die Schliche.«

»Keine Kritik«, sagte er. »Ich bin von Natur aus skeptisch, wenn es um Guy geht. Er konnte schon immer eine tolle Schau abziehen.« Er trank seinen Martini aus und behielt das Glas in der Hand. Die letzten Spuren des Gin bildeten eine deutliche Wellenlinie am Glasrand. Er griff nach dem Krug und schenkte sich den nächsten Drink ein.

»Mit wem haben Sie sonst noch gesprochen?« wollte Donovan wissen und schob sich wieder in den Vordergrund. Er führte eindeutig die Regie bei dieser Veranstaltung und wollte dafür sorgen, daß Bennet dies bewußt blieb. Bennet für sein Teil schien sich mehr für seinen Martini zu interessieren als für das Gespräch. Ich konnte sehen, wie sich die Anspannung in seinem Gesicht glättete. Seine Fragen hatten seine Selbstdisziplin demonstrieren sollen.

Ich zuckte die Achseln. »Ich habe im Ort kurz haltgemacht und Guy beiläufig gegenüber der Besitzerin des Gemischtwarenladens erwähnt. Es sind kaum mehr als fünf- oder sechshundert Einwohner, und ich nehme an, daß jeder über jeden Bescheid weiß. Sie hat nicht mit der Wimper gezuckt und keinerlei Kommentar über ihn abgegeben. Der Pfarrer und seine Frau schienen ihn aufrichtig gern zu haben und sprachen voller Stolz davon, wie gut er sich gemacht hat. Sie hätten natürlich lügen, mir Theater Vorspielen können, aber das bezweifle ich. Die meisten Leute sind nicht so gut im Improvisieren.«

Jack nahm sich einen Cracker und ließ den Klecks Käsecreme von dessen Oberfläche in seinem Mund verschwinden, als leckte er die Füllung aus einem Schokoladenkeks. »Also, was ist nun Sache? Ist er ein Wiedergeborener? Hat er sich taufen lassen? Glauben Sie, daß er unseren Herrn Jesus in sein Herz eingelassen hat?« Sein Sarkasmus war widerlich.

Ich wandte mich ihm zu und starrte ihn an. »Haben Sie damit ein Problem?«

»Warum soll ich ein Problem haben? Es ist sein Leben«, erwiderte Jack.

Donovan rutschte auf seinem Sitz herum. »Hat sonst noch jemand eine Frage?«

Jack warf sich den Cracker in den Mund und wischte sich die Finger an einer Serviette ab, während er kaute. »Ich finde es toll. Ich meine, vielleicht will er dann das Geld gar nicht. Wenn er ein so guter Christ ist, stellt er vielleicht das Spirituelle über das Materielle.«

Bennet schnaubte vor Wut. »Daß er ein Christ ist, hat überhaupt nichts damit zu tun. Er ist abgebrannt. Du hast doch gehört, was sie gesagt hat. Er hat keinen Penny. Er ist absolut pleite.«

»Ich weiß nicht, ob er pleite ist. Das habe ich nicht gesagt«, warf ich ein.

Nun starrte Bennet mich an. »Glauben Sie im Ernst, daß er einen Riesenbatzen Kohle ablehnen wird?«

Donovan schaltete sich ein. »Gute Frage«, sagte er. »Was ist denn Ihre Meinung zu diesem Thema?«

»Nach dem Geld hat er überhaupt nicht gefragt. Ich glaube, im ersten Moment war die Vorstellung, daß Sie jemanden engagiert haben, um ihn zu finden, interessanter für ihn. Er wirkte zuerst gerührt und dann verlegen, als ihm klarwurde, daß er da etwas mißverstanden hatte.«

»Was mißverstanden?« fragte Christie.

»Er hat gedacht, ich sei aus Interesse oder Besorgnis von seiten der Familie für die Suche nach ihm engagiert worden. Allerdings wurde ihm ziemlich schnell klar, daß der Zweck meines Besuchs der war, ihn vom Tod seines Vaters zu unterrichten und ihm mitzuteilen, daß er im Sinne von Baders Testament ein möglicher Begünstigter ist.«

»Wenn er denkt, von uns aus ist alles Bussi-Bussi, verzichtet er vielleicht auf das Geld und wählt statt dessen die Liebe«, sagte Jack.

Donovan ignorierte ihn. »Hat er irgendwie erwähnt, daß er mit einem Anwalt sprechen will?«

»Eigentlich nicht. Ich habe ihm gesagt, er solle sich mit Tasha in Verbindung setzen, aber sie verwaltet den Nachlaß und kann ihn in dieser Angelegenheit nicht beraten. Wenn er sie anruft, wird sie ihn an einen anderen Anwalt verweisen, es sei denn, er hat bereits einen.«

Donovan sagte: »Anders formuliert teilen Sie uns also mit, daß wir keine Ahnung haben, wie er sich verhalten wird.«

Bennet meldete sich zu Wort: »O doch. Das ist ja wohl sonnenklar. Er will das Geld. Er ist doch nicht blöd.«

»Woher willst du wissen, was Guy will?« erwiderte Christie mit plötzlich aufflammendem Zorn.

Bennet fuhr unbeirrt fort. »Kinsey hätte ihn einen Anspruchsverzicht unterschreiben lassen sollen. Ihn einfach ausmanövrieren. Eine Vereinbarung treffen, bevor er dazu kommt, zuviel nachzudenken.«

Donovan sagte: »Danach habe ich Tasha schon gefragt. Ich habe vorgeschlagen, eine Verzichtserklärung aufzusetzen, weil ich dachte, die könnte Kinsey gleich mitnehmen. Tasha war dagegen. Sie sagte, eine Verzichtserklärung wäre bedeutungslos, weil er später jederzeit behaupten könne, daß er nicht angemessen unterrichtet worden sei oder unter außerordentlicher Anspannung stand, übermannt von plötzlichen Gefühlswallungen, irgend so einen Scheiß, womit das Ganze hinfällig wäre. Ich fand ihren Einwand stichhaltig. Dem Mann erzählen, daß sein Vater tot ist und ihm dann eine Verzichtserklärung unter die Nase halten? Das ist ja, als schwenkte man eine rote Fahne vor einem Stier.«

Erneut meldete sich Christie zu Wort: »Kinsey hatte eine gute Idee. Sie hat darauf hingewiesen, daß die beiden Testamente ja nur mit drei Jahren Abstand voneinander unterzeichnet wurden und daher vielleicht die Zeugen für das zweite Testament dieselben waren wie die für das erste. Wenn wir die Zeugen ausfindig machen, wäre es doch möglich, daß einer von ihnen über die Bestimmungen Bescheid weiß.«

»Zum Beispiel eine Sekretärin oder eine Anwaltsgehilfin?« fragte Donovan.

»Warum nicht? Oder vielleicht ist eine Büro- oder Schreibkraft als Zeugin eingesprungen. Irgend jemand muß an der Erstellung dieses Dokuments beteiligt gewesen sein«, sagte ich.

»Falls es je existiert hat«, warf Jack ein.

Donovans Mundwinkel verzogen sich nach unten, als er das in Betracht zog. »Einen Versuch wäre es wert.«

»Zu welchem Zweck?« wollte Jack wissen. »Ich sage ja nicht, daß wir es nicht versuchen sollen, aber es wird vermutlich nichts nützen. Man kann ein Testament bezeugen, ohne zu wissen, was darin steht. Und außerdem: Was, wenn im zweiten Testament Guy Alleinerbe ist? Dann wären wir wirklich ruiniert.«

Bennet verlor die Geduld. »Ach, komm schon, Jack. Auf wessen Seite stehst du eigentlich? Die Zeugen könnten zumindest bestätigen, daß das zweite Testament unterzeichnet wurde. Ich habe Dad ein halbes Dutzend Mal sagen hören, daß Guy keinen Penny bekommt — wir alle haben das gehört — , also wäre das doch von Gewicht.«

»Weshalb denn? Dad hatte das Testament. Er bewahrte es oben in einem Ordner auf. Woher willst du wissen, daß er es nicht am Schluß widerrufen hat? Mal angenommen, er hat es vor seinem Tod zerrissen? Er war lange genug darauf gefaßt. Er wußte, daß seine Tage gezählt waren.«

»Das hätte er uns gesagt«, wandte Bennet ein.

»Nicht unbedingt.«

»Herrgott, Jack! Ich sage dir, er hat erklärt, daß Guy nichts bekommen würde. Wir haben das hundertmal besprochen, und sein Entschluß stand felsenfest.«

»Es spielt keine Rolle, was er gesagt hat. Du weißt doch, wie er war, wenn es um Guy ging. Da ist er nie hart geblieben. Wir mußten vielleicht spuren, aber doch nicht Guy.«

Donovan räusperte sich und stellte sein Glas betont laut ab. »Okay. Hört auf, ihr beiden. Wir haben das schon oft genug durchexerziert. Warten wir einfach ab, was Guy macht. Vielleicht ergibt sich gar kein Problem. Das wissen wir ja jetzt noch nicht. Tasha hat gesagt, sie würde sich mit ihm in Verbindung setzen, wenn er sich nicht bei ihr meldet. Ich könnte ihm ja einen kurzen Brief schreiben und dann sehen wir, wie weit wir kommen.«

Bennet setzte sich aufrecht hin. »Moment mal. Wer hat gesagt, daß du das bestimmst? Warum können wir nicht darüber diskutieren? Es betrifft uns doch alle.«

»Du möchtest darüber diskutieren? Schön. Fang an«, sagte Donovan. »Wir kennen alle deine Meinung. Für dich ist Guy ein Drecksack. Du bist hundertprozentig gegen ihn, und mit dieser Einstellung treibst du ihn mit dem Rücken gegen die Wand.«

»Du weißt auch nicht mehr über ihn als ich«, sagte Bennet.

»Ich spreche nicht von ihm. Ich spreche von dir. Was macht dich so sicher, daß er das Geld will?«

»Weil er uns gehaßt hat. Deshalb ist er ja überhaupt erst von hier verschwunden, oder nicht? Er würde alles tun, um es uns heimzuzahlen, und was gäbe es für einen besseren Weg als diesen?«

»Das weißt du nicht«, sagte Donovan. »Du weißt nicht, was damals vor sich ging. Womöglich ist er gar nicht mehr schlecht auf uns zu sprechen. Wenn du gleich auf ihn eindrischst, geht er in die Offensive.«

»Ich habe Guy nie etwas getan. Warum sollte er mich hassen?« sagte Jack unbekümmert. Er schien sich über das Wortgefecht seiner beiden Brüder zu amüsieren, und ich fragte mich, ob er sie vielleicht regelmäßig dazu aufstachelte.

Bennet schnaubte noch einmal, und er und Jack starrten einander an. Irgend etwas blitzte zwischen ihnen auf, aber ich konnte nicht sagen, was.

Donovan griff erneut mit einem warnenden Blick an beide ein. »Könnten wir bitte beim Thema bleiben? Hat irgend jemand etwas Neues beizutragen?«

»Donovan regiert die Familie. Er ist unser König«, sagte Bennet. Er sah mich mit den leicht wäßrigen Augen von jemandem an, der zuviel getrunken hat. Ich hatte ihn in nicht einmal einer Viertelstunde zwei Martinis hinunterstürzen sehen, und wer wußte schon, was er konsumiert hatte, bevor er den Raum betrat? »Er hält mich für eine Niete. Andauernd tut er so, als würde er mich unterstützen, aber er meint kein Wort davon ernst. Er und mein Vater haben mir nie genug Geld gegeben, um mit irgend etwas Erfolg zu haben. Und dann, als ich gescheitert bin, als eine Firma baden ging, waren sie ganz schnell damit bei der Hand, darauf hinzuweisen, wie schlecht ich sie geführt hätte. Dad hat mich immer zu kurz gehalten, und wenn ich mir vorstelle, daß Guy jetzt daherkommen und seinen Anteil verlangen kann, dann geht das in meinen Augen genau in die gleiche Richtung. Wer kümmert sich denn um unsere Interessen? Er garantiert nicht«, sagte er und wies mit dem Daumen auf Donovan.

»Einen Moment. Jetzt mach mal halblang! Wie kommst du denn darauf?«

»Ich bin nie aufgestanden und habe das verlangt, was mir zusteht«, sagte Bennet. »Ich hätte schon lange darauf bestehen sollen, aber ich habe euch alles abgekauft, das ganze Märchen, das du und Dad mir aufgetischt habt. >Hier, Bennet, du kannst diese paar Kröten haben. Mach das Beste aus dieser erbärmlichen Summe. Mach etwas aus dir, und dann gibt es noch mehr von dort, wo das hier herkommt. Du kannst nicht von uns erwarten, daß wir das ganze Unternehmen finanzieren.< Bla bla bla. Das ist alles, was ich ständig zu hören bekommen habe.«

Donovan sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an und schüttelte den Kopf. »Es ist nicht zu fassen. Dad hat dir Hunderttausende von Dollars gegeben, und du hast alles in den Sand gesetzt. Was glaubst du, wie viele Chancen du noch bekommst? Keine Bank in dieser Stadt hätte dir auch nur die ersten zehn Cents gegeben —«

»Schwachsinn! Nichts als Schwachsinn. Ich habe gearbeitet wie ein Pferd, und das weißt du genau. Herrgott, Dad hat jede Menge geschäftliche Pleiten erlebt, und du auch. Und jetzt plötzlich muß ich hier sitzen und jeden beschissenen Schritt, den ich mache, rechtfertigen — nur um ein bißchen Grundkapital zu bekommen.«

Donovan starrte ihn ungläubig an. »Wo ist denn das ganze Geld, das deine Geschäftspartner investiert haben? Das hast du doch auch verpulvert. Du bist dermaßen damit beschäftigt, den dicken Maxe zu spielen, daß du dich nicht um die Geschäfte kümmerst. Die Hälfte von dem, was du tust, ist der reine Betrug, und das weißt du auch. Und falls nicht, ist es um so bedauerlicher, weil du dann noch im Gefängnis landen wirst.«

Bennet deutete mit einem Finger auf ihn und stieß mehrmals damit in die Luft, als drückte er auf einen Aufzugknopf. »He, ich bin derjenige, der Risiken eingeht. Ich bin es, dessen Arsch in Gefahr ist. Du stellst dich ja nie in die Schußlinie. Du gehst auf Nummer Sicher. Du warst Daddys Liebling, das kleine Schweinchen, das zu Hause geblieben ist und genau das getan hat, was Daddy verlangt hat. Und jetzt möchtest du auch noch dafür gelobt werden, daß du so supererfolgreich bist. Darauf ist doch geschissen. Fahr zur Hölle.«

»Paß auf, was du sagst. Es sind Damen anwesend«, sagte Jack in einem Singsang.

»Halt’s Maul, du Wichser. Kein Mensch redet mit dir!«

Christie warf einen Blick in meine Richtung und hob dann eine Hand. »He, Jungs«, sagte sie. »Könnten wir das nicht auf später verschieben? Kinsey hat keine Lust, hier zu sitzen und sich das anzuhören. Wir haben sie auf einen Drink zu uns gebeten, nicht um einem Boxkampf beizuwohnen.«

Ich nahm das als Stichwort und nutzte die Gelegenheit, mich zu erheben. »Ich lasse Sie jetzt lieber allein über die Sache diskutieren, aber ich glaube wirklich nicht, daß Sie sich wegen Guy Sorgen machen müssen. Er macht einen netten Eindruck. Das ist das Fazit, das ich aus meiner Perspektive ziehen kann. Ich hoffe, es wird sich alles klären.«

Ein Schwall verlegener Floskeln ergoß sich über mich: Entschuldigungen wegen des unbeherrschten Ausbruchs, hastige Erklärungen, unter welcher Anspannung sie alle durch Baders Tod stünden. In meinen Augen waren sie ein Haufen von Rüpeln mit schlechten Manieren, und wenn meine Rechnung bereits bezahlt gewesen wäre, hätte ich ihnen das auch gesagt. So jedoch versicherten sie mir, daß es nicht böse gemeint gewesen sei, und ich versicherte ihnen, daß ich es nicht übelgenommen hätte. Ich kann so gut wie jeder andere schwindeln, wenn Geld auf dem Spiel steht. Ich schüttelte allen die Hände. Dann dankten sie mir dafür, daß ich mir die Zeit genommen hatte. Ich dankte ihnen für den Wein und verabschiedete mich.

»Ich bringe Sie hinaus«, sagte Christie.

Einen Augenblick lang herrschte Stille, während wir das Wohnzimmer verließen. Mir war nicht bewußt gewesen, daß ich den Atem angehalten hatte, bis sich die Tür hinter uns geschlossen hatte und ich tief durchschnaufen konnte.

»Lassen Sie mich kurz eine Jacke holen«, sagte Christie, als wir die Halle durchquerten. Sie machte einen Umweg zum Kleiderschrank und schlüpfte in einen kurzen, dunklen Wollmantel, während wir in die Nachtluft hinausschritten.

Die Temperatur war gefallen, und aus den Pflastersteinen schien Feuchtigkeit aufzusteigen. Mittlerweile brannte die Außenbeleuchtung zwar, aber sie spendete nur wenig Helligkeit. Ich konnte die vagen Umrisse meines Autos auf der anderen Seite des Hofes erkennen, während wir darauf zugingen. Die erleuchteten Fenster der Vorderfront warfen stumpfe Rechtecke aus gelbem Licht auf die Einfahrt vor uns. Im Wohnzimmer waren die Malek-Brüder inzwischen höchstwahrscheinlich zu Handgreiflichkeiten übergegangen.

»Danke, daß Sie mich da losgeeist haben.«

»Tut mir leid, daß Sie das mit ansehen mußten. So ein Affenzirkus«, sagte sie. Sie schob die Hände in die Manteltaschen. »Andauernd geht das so, und es macht mich noch wahnsinnig. Es ist, als sei man umgeben von raufenden Vorschulkindern. Sie sind allesamt drei Jahre alt und prügeln immer noch wegen eines Spielzeugautos aufeinander ein. Die Spannung in diesem Haus ist unerträglich.«

»Bennets Alkoholkonsum macht es auch nicht besser.«

»Das ist es nicht allein. Zu Beginn meiner Ehe dachte ich, ich hätte in eine liebevolle Familie eingeheiratet. Ich hatte selbst keine Brüder, und anfangs fand ich die Vorstellung faszinierend. Zuerst schienen sie sich sehr nahe zu stehen. Also, auf jeden Fall haben sie mir das weisgemacht. Vermutlich hätte ich von selbst darauf kommen können, daß es nicht gerade von psychischer Gesundheit spricht, wenn drei erwachsene Männer immer noch gemeinsam unter Daddys Dach zusammenleben, aber was wußte ich schon? Meine Familie ist dermaßen durchgedreht, daß ich eine gesunde Familie nicht einmal dann erkenne, wenn sie mich anspringt und beißt. Ich wollte Kinder. So wie’s aussieht, hab ich sie schon«, bemerkte sie sarkastisch. »Es ist mir zuwider, herumzusitzen und zuzusehen, wie die >Jungs< sich zanken und sich dann wieder miteinander verschwören. Sie müßten die drei mal erleben. Sie streiten sich wegen absolut allem. Egal, worum es geht, sie nehmen auf der Stelle die gegensätzlichsten Standpunkte ein. Dann ergreifen sie plötzlich Partei und bilden vorübergehende Koalitionen. Am einen Tag sind es Donovan und Jack gegen Bennet. Am nächsten Tag verbünden sich Bennet und Jack gegen Donovan. Die Bündnisse unterscheiden sich je nach Thema, aber es gibt nie Einigkeit. Es herrscht keinerlei Gefühl im Sinne von >alle für einen, einer für alle<. Jeder will recht haben — moralisch überlegen sein — und zugleich fühlt sich jeder komplett mißverstanden.«

»Ich bin nur froh, daß ich Waise bin.«

»Da kann ich Ihnen zustimmen.« Sie hielt lächelnd inne. »Oder vielleicht bin ich nur verärgert, weil keiner von ihnen je auf meiner Seite steht. Ich lebe mit permanenten Bauchschmerzen.«

»Und Sie haben keine Kinder?«

»Noch nicht. Ich versuche es immer wieder, aber irgendwie werde ich in dieser Atmosphäre nicht schwanger. Ich gehe langsam auf die Vierzig zu, und wenn nicht bald etwas passiert, ist es zu spät.«

»Aber heutzutage bekommen Frauen doch häufig ihre Babys erst später.«

»Ich nicht. Vergessen Sie’s. Das Leben ist ohnehin hart genug. Ich meine, welches Kind würde schon freiwillig in ein solches Haus kommen? Es ist ja widerlich.«

»Und warum bleiben Sie?«

»Wer sagt denn, daß ich bleibe? Letzten Herbst habe ich zu Donovan gesagt: >Noch eine Runde, Freundchen, und ich haue hier ab.< Und was passiert als nächstes? Auf einmal stirbt Bader. Ich finde, ich kann nicht einfach verschwinden, wenn alles in solchem Aufruhr ist. Außerdem hege ich vermutlich immer noch die vage Hoffnung, daß sich die Probleme irgendwie in Wohlgefallen auflösen.«

»Daß ich Guy gefunden habe, ist sicher keine Hilfe«, sagte ich.

»Das weiß ich nicht. Zumindest werden sich jetzt vielleicht die drei gegen ihn verbünden. Das könnte letztlich das einzige Thema sein, bei dem sie sich einig sind.«

Ich betrachtete die erleuchteten Wohnzimmerfenster. »Das nennen Sie >Einigkeit<?«

»Oh, sie kommen schon noch auf einen Nenner. Es geht doch nichts über einen gemeinsamen Feind, um die Kampfhähne zur Eintracht zu bewegen. In Wirklichkeit ist Guy derjenige, der mir leid tut. Sie werden ihn um den letzten Penny bringen, wenn sie nur halbwegs Gelegenheit dazu bekommen, und Ihren Angaben zufolge ist er noch der Beste von dem Haufen.«

»Donovan scheint doch in Ordnung zu sein«, sagte ich.

»Ha! Das dachte ich auch. Er weiß sich gut zu präsentieren, aber das ist schon alles. Er hat gelernt, wie man in der Geschäftswelt auftritt, und deshalb hat er ein bißchen mehr Schliff. Ich wette, es hat keiner gesagt, aber ich weiß, daß sie von Ihrer Leistung beeindruckt waren.«

»Tja, das freut mich, aber im Moment brauchen die drei keine Privatdetektivin —«

»Sie brauchen einen Ringrichter«, lachte sie. »Tasha hat Ihnen keinen Gefallen getan, als sie Sie in diese Geschichte verwickelt hat. Es tut mir leid, daß Sie die drei von ihrer schlechtesten Seite erlebt haben. Aber jetzt können Sie wenigstens beurteilen, womit ich fertig werden muß.«

»Keine Sorge. Mein Auftrag ist abgeschlossen«, sagte ich.

Wir sagten einander gute Nacht, und ich setzte mich hinters Lenkrad und ließ mir ein paar Minuten Zeit, bis der Wagen warm war. Durch die nachwirkende Spannung war mir eisig kalt, und auf dem Nachhauseweg ließ ich die Heizung des VW auf höchster Stufe laufen. Dies bedeutete eine schmale Zunge Warmluft, die an meinen Schuhsohlen leckte. Der Rest meines Körpers fror erbärmlich, da ein Rollkragenpullover aus Baumwolle und ein wollener Blazer nur wenig isolierende Wirkung besitzen. Als ich in meine Straße einbog, überlegte ich kurz, ob ich bei Rosie’s zu Abend essen sollte. Während der Cocktailstunde bei den Maleks war ich nicht dazu gekommen, auch nur eine einzige Olive zu verspeisen. Ich hatte mir üppig belegte Canapés vorgestellt, die ich mir anstelle eines Abendessens einverleiben könnte, doch das ganze Theater hatte selbst die Käsecreme alles andere als appetitanregend aussehen lassen. Im Hinterkopf war mir klar, daß ich dem Gedanken auswich, nach Hause in eine leere Wohnung zu gehen. Besser gleich als später. Es würde nur noch schlimmer werden.

Ich parkte den Wagen dicht an der Ecke und ging zu Fuß zu Henrys Einfahrt. Vom Strand her begann dichter Nebel aufzuziehen, aber mir wurde leichter ums Herz, als ich sah, daß ich im Wohnzimmer eine Lampe hatte brennen lassen. Wenigstens würde ich beim Betreten der Wohnung nicht das Gefühl bekommen, ich bräche ein. Mit dem Hausschlüssel in der Hand ging ich durch das quietschende Tor, sperrte die Tür auf und warf meine Handtasche auf den Küchentresen. Ich hörte, wie die untere Toilette gespült wurde, und ein Schwall von Angst stieg in mir auf. Dann ging die Badezimmertür auf, Robert Dietz kam heraus und sah genauso verblüfft drein wie ich. »Ich habe dich gar nicht kommen hören«, sagte er. »Ich habe vergessen, dir deinen Schlüssel zurückzugeben.«

»Was machst du denn hier? Ich dachte, du seist abgereist.«

»Ich bin nur bis Santa Maria gekommen, dann mußte ich umkehren. Ich war halb die Straße hinunter, und schon hast du mir gefehlt wie verrückt. Ich will nicht, daß wir in schlechter Stimmung auseinandergehen.«

In meiner Brust regte sich ein Schmerz, etwas Zerbrechliches und Spitzes, das mich tief Luft holen ließ. »Ich sehe keine Möglichkeit, unsere grundlegenden Differenzen zu klären.«

»Wir können doch auch ohne Klärung Freunde sein. Können wir doch, oder?«

»Woher soll ich das wissen?« Ich versuchte, mich abzuschotten, aber ich schaffte es nicht ganz. Ich empfand den unerklärlichen Drang, aus irgendeinem Grund zu weinen. Meist lösen Abschiede das aus, zärtliche Trennungen in Filmen, begleitet von Musik und dazu angetan, einem das Herz aus der Brust zu reißen. Das Schweigen zwischen uns war für mich genauso schmerzhaft.

»Hast du schon zu Abend gegessen?«

»Ich konnte mich noch nicht entschließen. Ich habe gerade bei den Maleks etwas getrunken«, sagte ich matt. Die Worte klangen seltsam, und ich hätte mir am liebsten selbst auf die Brust geklopft, um mich zu trösten. Ich wäre mit der Situation fertig geworden, wenn er nur nicht zurückgekommen wäre. Der Tag war hart gewesen, aber ich hatte ihn überstanden.

»Möchtest du etwas erzählen?«

Ich schüttelte den Kopf, da ich meiner Stimme nicht traute.

»Was dann? Du bestimmst. Ich mache alles, was du willst.«

Ich sah von ihm weg und dachte an die beängstigenden Risiken der Intimität, das Verlustpotential, den leisen Schmerz in jeder Verbindung zwischen zwei Wesen — Mensch oder Tier, was machte das schon für einen Unterschied? In mir bekriegten sich der Überlebensinstinkt und das Bedürfnis nach Liebe schon seit Jahren. Meine Vorsicht war wie eine Wand, die ich zu meinem eigenen Schutz aufgebaut hatte. Aber Sicherheit ist eine Illusion, und die Gefahr, zuviel zu empfinden, ist nicht schlimmer als die Gefahr, emotionslos zu sein. Ich schaute wieder zu ihm hin und sah meinen Schmerz in seinen Augen gespiegelt.

Er sagte: »Komm her.« Mit einer liebevollen Geste bedeutete er mir, näher zu kommen.

Ich durchquerte den Raum. Dietz lehnte sich an mich wie eine Leiter, die ein Dieb zurückgelassen hat.