18

Ich setzte Dietz an der städtischen Bibliothek ab und fuhr auf dem Freeway zu Malek Construction hinaus. Ich hatte eigentlich nicht vor, lange zu bleiben, aber als ich auf den Parkplatz einbog, sah ich Donovan in einen Firmentransporter steigen. Ich rief ihn beim Namen, winkte kurz und fuhr auf einen Besucherparkplatz zwei Lücken neben ihm. Er wartete, bis ich bei ihm angelangt war, und kurbelte dann das Fenster auf der Beifahrerseite herunter.

Sein Gesicht legte sich lächelnd in Falten, und seine Augen waren hinter der dunklen Sonnenbrille kaum zu sehen.»Wie geht’s?« fragte er. Dann schob er sich die Sonnenbrille auf den Kopf.

»Gut. Wie ich sehe, sind Sie gerade im Aufbruch. Bleiben Sie lange weg? Ich habe ein paar Fragen.«

»Ich habe im Steinbruch etwas zu erledigen. Es dauert nur etwa eine Stunde, falls Sie mich begleiten wollen.«

Ich überlegte kurz. »Kann ich machen«, sagte ich.

Er legte seinen Schutzhelm vom Beifahrersitz auf den Fußboden und machte mir die Seitentür auf. Ich hüpfte hinein. Er trug Blue jeans und eine Jeansweste über einem blaukarierten Freizeithemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Seine Füße steckten in schweren Arbeitsstiefeln, deren Sohlen so stark profiliert waren wie Autoreifen.

»Wo ist der Steinbruch?«

»Auf der Paßhöhe.« Er ließ den Pickup an und fuhr aus der Parklücke. »Was gibt’s Neues von Jack?«

»Ich habe nicht mit ihm gesprochen, aber Lonnie Kingman hat ihn gesehen, bevor sie ihn ins Gefängnis überstellt haben. Haben Sie mit Christie geredet?«

»Ich habe spät zu Mittag gegessen«, antwortete er. »Ich muß ungefähr zehn Minuten, nachdem Sie gegangen sind, nach Hause gekommen sein. Ich hatte keine Ahnung, was los ist. Wie sieht es denn zur Zeit aus?«

»Schwer zu sagen. Lonnie tüftelt noch an seiner Strategie. Ich werde wahrscheinlich später auf einen Sprung im Country Club vorbeischauen und die Mitglieder befragen, die am Dienstag abend da waren. Wir wären froh, wenn wir jemanden finden könnten, der Jack zwischen halb zehn und halb zwölf im Club gesehen hat.«

»Dürfte nicht allzu schwierig sein.«

»Sie würden sich wundern«, sagte ich.

Ich bin ausgelassen wie ein Kind, wenn ich in einem Lieferwagen mitfahren darf. Noch bevor wir die schmale Landstraße erreicht hatten, die sich den Paß hinaufschlängelte, merkte ich, wie die Anspannung von mir abfiel. Es hat etwas Beruhigendes, als Passagier in einem fahrenden Auto zu sitzen. Die Kombination aus tiefem Brummen und sachtem Rumpeln in Donovans Wagen schläferte mich beinahe ein. Ich war es leid, über den Mord nachzudenken, obwohl ich das Gespräch irgendwann auf diesen Punkt würde bringen müssen. In der Zwischenzeit befragte ich ihn über die Firma und ergötzte mich über die Maßen an der Länge seiner Antwort. Donovan steuerte mit einer Hand und sprach so laut, daß er das Rattern des Lastwagens übertönte.

»Wir haben mit dem Recycling von Bruchware angefangen, wozu wir gebrochenen Beton und Asphalt verwenden. In Colgate haben wir einen Platz, wo wir das Material lagern, und außerdem besitzen wir eine mobile Anlage — tja, inzwischen haben wir sogar zwei mobile Anlagen — , eine in Monterey und eine in Stockton. Ich glaube, wir waren hier in der Gegend unter den ersten, die das gemacht haben. Wir können die Stoffe zu Straßenuntergrund zermahlen, der den Vorschriften genügt. Die einzelnen Materialien hierher zu transportieren kostet mehr als das Endprodukt selbst, also hat man beim Transport einen Kostenvorteil.«

In diesem Stil redete er weiter, während ich mich beiläufig fragte, ob es sich wohl lohnte, seine Behauptungen über die Solvenz der Firma zu überprüfen. Als ich wieder zuhörte, sagte er gerade: »Zur Zeit produzieren wir draußen im Steinbruch etwa die gleiche Menge wie in der Sand- und Kiesgrube. Der weitaus größte Teil aus der Sand- und Kiesgewinnung wandert in die Herstellung von Asphaltbeton. Unser Asphaltbetonwerk ist von Santa Teresa aus das nächstgelegene. Früher hatten wir eines direkt in Santa Teresa, wohin wir Sand, Kies und Flüssigasphalt transportierten, und stellten ihn dort her, aber es war auch in diesem Fall wirtschaftlicher, das Produkt hier zu erzeugen und es nach Santa Teresa zu fahren. Ich bin vermutlich der einzige Mensch auf der Welt, der von Straßenuntergrund und Portlandzement schwärmt. Aber Sie wollten über Jack sprechen.«

»Ich würde lieber über Guy sprechen.«

»Also, ich kann Ihnen versichern, daß Jack ihn nicht umgebracht hat, weil das vollkommen unlogisch ist. Die ersten, die die Polizei unter die Lupe nimmt, sind wir drei. Es wundert mich, daß Bennet und ich nicht überprüft werden.«

»Das kommt vermutlich noch, aber im Moment scheinen alle Indizien auf Jack hinzudeuten.« Ich berichtete ihm von den Joggingschuhen und dem Baseballschläger. »Haben Sie eine Ahnung, wo die Harley-Davidson an diesem Abend war?«

»Zu Hause in der Garage vermutlich. Die Harley ist Jacks Baby, nicht meins. Ich hatte auch gar keine Gelegenheit, sie an diesem Abend zu sehen. Ich war oben und habe ferngesehen.«

Wir fuhren auf einer kurvenreichen Straße, die auf beiden Seiten von Buschwerk gesäumt wurde, die Paßhöhe hinauf. Die Luft war unbewegt und lag unter der heißen Sonne still auf den Bergen. Die holzigen Büsche waren trocken wie Zunder. Weiter oben in den felsigen Hängen hatten sich Unkraut und Ziergräser — Rispengras und Waldtrespe, Fuchsschwanz und Raigras — wie ein goldener Schleier über die Landschaft ausgebreitet und ließen die schroffen Felsen weicher wirken. Kaum ein Lüftchen regte sich, aber später am Tag würde die herabsinkende Warmluft von den Berghängen ins Tal wehen. Die relative Luftfeuchtigkeit würde fallen und der Wind, der durch die Canons blies, an Geschwindigkeit zunehmen. Jede noch so winzige Flamme eines Lagerfeuers, einer brennenden Zigarette, jeder unbemerkte Funken, der aus einem Gerät zur Unkrautbekämpfung schlug, könnte sich binnen Minuten zu einem Flächenbrand auswachsen. Die großen Feuer traten meist im August oder September auf, nach monatelangen Hochdrucklagen. Allerdings war das Wetter in letzter Zeit launisch und unberechenbar gewesen, so daß man unmöglich eine Prognose treffen konnte. Unter uns und in der Ferne erstreckte sich der Pazifik in blauem Dunst bis zum Horizont. Ich konnte die Unregelmäßigkeit der Küste in nördlicher Richtung verfolgen.

Donovan sagte: »Ich habe Jack an diesem Abend nicht mehr gesehen, seit er in den Club gefahren ist, also kann ich Ihnen da auch nicht weiterhelfen. Ich verstehe nicht, wonach Sie abgesehen von seinem Aufenthaltsort eigentlich suchen.«

»Wir können entweder beweisen, daß Jack es nicht war, oder jemand anders der Tat beschuldigen. Wo war Bennet an diesem Abend? Kann er nachweisen, wo er war?«

»Das müssen Sie ihn selbst fragen. Er war jedenfalls nicht zu Hause, das weiß ich. Er ist erst spät gekommen.«

»Als wir uns das erste Mal unterhalten haben, haben Sie mir von einigen von Guys Gesetzesverstößen erzählt. Könnte nicht jemand einen Groll gegen ihn hegen?«

»Sie möchten bis zu seinem Aufenthalt in der Besserungsanstalt zurückgehen?«

»Vielleicht. Aber auch auf spätere Zeiten. Sie haben eine Witwe erwähnt, die er um Geld betrogen hat.«

Donovan schüttelte den Kopf. »Vergessen Sie’s. Das ist eine Sackgasse.«

»Inwiefern?«

»Weil es die ganze Familie nicht mehr gibt.«

»Sie sind von hier weggezogen?«

»Sie sind alle tot.«

»Erzählen Sie es mir trotzdem.«

»Die Witwe war eine Mrs. Maddison. Guy war damals schon weg, und als unser alter Herr hörte, was Guy getan hatte, weigerte er sich, dafür aufzukommen. Es war eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen er hart blieb. Ich nehme an, er hatte schließlich die Nase voll davon, ständig die Schäden wiedergutzumachen, die Guy angerichtet hatte. Er empfahl der Frau, Klage einzureichen, aber ich weiß, daß sie das nie getan hat. Manche Menschen sind eben so. Sie unternehmen nichts, selbst wenn sie sollten.«

»Was ist denn nun passiert?«

Wir erreichten den Gipfel, und die Straße gab den Blick auf eine Aussicht frei, die ich liebe, ein karamelfarbenes Tal, getüpfelt mit dunklen Kuppen immergrüner Eichen. Ranches und Campingplätze verschmolzen mit der Landschaft, aber die meisten waren von hier oben unsichtbar. Die zweispurige Landstraße verbreiterte sich auf vier Fahrbahnen, und wir sausten über den Bogen der Cold Spring Bridge. »Guy hatte etwas mit einem Mädchen namens Patty Maddison. Maddison mit zwei d. Sie hatte eine ältere Schwester namens Claire.«

Ich vernahm den dumpfen Hall des Wiedererkennens, konnte den Namen aber nicht einordnen. Ich muß irgendeinen Laut ausgestoßen haben, da Donovan sich zur Seite wandte und mir einen kurzen Blick zuwarf. »Kennen Sie sie?« fragte er.

»Der Name kommt mir bekannt vor. Erzählen Sie weiter.«

»Ihr alter Herr besaß nie einen Penny, aber irgendwie war er an seltene Dokumente gekommen — irgendwelche Briefe — , die einen ganzen Batzen Geld wert waren. Er war krank, und es galt als abgemacht, daß die Mutter nach seinem Tod die Briefe verkaufen sollte, um die Ausbildung der Mädchen zu finanzieren. Die ältere Schwester hatte gerade im Osten ihren College-Abschluß gemacht und wartete nun darauf, daß sie ihr Medizinstudium beginnen konnte. Ein Teil des Geldes war für sie vorgesehen und ein anderer für Pattys Collegeausbildung.

Weihnachten bevor er verschwand, klopft Guy bei dieser Frau an die Tür. Er sagt, er sei ein Freund von Patty und stellt sich als Gutachter für wertvolle Dokumente vor. Er erzählt ihr, daß sie gefälscht seien, und er sei von Pattys Vater dazu bestellt worden, sie sich anzusehen.«

»Da hat der Vater noch gelebt?«

Er schüttelte den Kopf. »Damals war er bereits seit einem Monat tot. Er starb um Thanksgiving herum. Mom ist also ganz nervös, weil die Briefe wirklich ihr einziger Besitz sind. Sie hat keine Ahnung davon, daß ein Gutachter bestellt wäre, aber es klingt alles korrekt — ganz wie etwas, das ihr Mann kurz vor seinem Ende noch arrangiert hätte und so übergibt sie Guy die Briefe, und er nimmt sie mit.«

»Einfach so?« fragte ich. »Sie hat keinen Ausweis oder irgendwelche Papiere verlangt?«

»Anscheinend nicht. Er hatte sich ein paar Visitenkarten drucken lassen und ihr eine davon gegeben, und sie ist darauf reingefallen. Sie müssen wissen, daß die ganze Geschichte erst Monate danach Stück für Stück rekonstruiert worden ist. Was wußte sie schon? Sie hätte ohnehin ein Gutachten gebraucht, wenn sie die Briefe verkaufen wollte.«

»Nicht zu fassen, daß die Leute so leichtgläubig sind.«

»Dadurch bleiben Betrüger im Geschäft«, sagte er.

»Weiter.«

»Also, Guy behält die Briefe zwei Wochen lang. Er behauptet, er unterzöge sie einer Reihe wissenschaftlicher Tests, aber was macht er wirklich? Er fertigt Kopien an, raffinierte Fälschungen. Oder auch nicht so raffinierte, wie sich herausstellen sollte. Auf jeden Fall bastelt er einen Satz Fälschungen zusammen, der gut genug ist, um einer oberflächlichen Betrachtung standzuhalten. Nach zwei Wochen bringt er ihr die Kopien zurück und teilt ihr die schlechte Neuigkeit mit: >Herrje, Mrs. Maddison, es sind tatsächlich Fälschungen<, sagt er, >und sie sind keinen roten Heller wert.< Er erklärt ihr, sie könne jeden Fachmann fragen, und er würde ihr dasselbe sagen. Sie fällt vor Entsetzen beinahe tot um. Sie bringt sie zu einem anderen Experten, und der bestätigt ihr, was Guy gesagt hat. Ganz klar — die Briefe sind völlig wertlos. Wir haben es also mit einer Frau zu tun, deren Ehemann gestorben ist und die plötzlich vor dem Nichts steht. Und sofort klopft sie bei Dad an und verlangt eine Entschädigung.«

»Wie hat sie herausgefunden, daß Guy es war?«

»Er hat sich öfter mit Patty Maddison getroffen...«

Ich sagte: »Ahhh. Die Patty. Jetzt begreife ich es. Guy hat mir an dem Tag, als wir über das Anwesen spaziert sind, von ihr erzählt. Er sagte, er hätte mit ihr Schluß gemacht. Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche, aber es ist mir gerade wieder eingefallen, als ich den Namen gehört habe. Und woher wußten sie, daß er es war? Hat Patty ihn verraten?«

Donovan verneinte. »Ganz im Gegenteil. Patty hat versucht ihn zu schützen, aber Guy hatte sich soeben aus dem Staub gemacht, und Mrs. Maddison zählte zwei und zwei zusammen.«

»Mrs. Maddison hatte ihn nie zuvor gesehen?«

»Nur das eine Mal, als er als Gutachter kam. Natürlich hat er nicht seinen richtigen Namen benutzt.«

Donovan wurde langsamer und bog nach links von der Durchgangsstraße ab. Wir folgten eine Meile weit einer zweispurigen Straße, bis deren Belag nur noch aus Kies bestand und kleine Steinchen aufflogen, während der Pickup auf ihr entlangschaukelte. Vor mir konnte ich weißen Staub sehen, der wie Rauch über die Straße trieb, die sich nun nach links neigte und zum Steinbruch hin breiter wurde. Massive Bänke aus nackter Erde und Felsen waren in die Hügelflanke geschlagen worden. Kein Baum, keine Pflanze weit und breit. Der Lärm schwerer Maschinen erfüllte die stille Bergluft. Ein Großteil des Geländes war flach, von einem kalkigen Grau, das sich scharf von den grau-grünen Hügeln des Umlandes und dem blaßblauen Himmel abhob. Die Berge dahinter waren von dunkelgrüner Vegetation überwuchert, durchbrochen von goldenen Einsprengseln vertrockneten Grases. Überall erhoben sich steile Haufen aus Erde und Kies, Schiefer und Sandstein, abgetragener nackter Erde und Felsgestein. Förderbänder schleppten den Stein zur Brechmaschine hinauf, wo Felsbrocken, die so groß waren wie mein Kopf, in vibrierende Mahlzähne hinabgeschüttet wurden, die sie zu Geröll zerkleinerten. Robuste horizontale und schräg stehende Siebe sowie Zuführeinrichtungen sortierten die zerkleinerten Steine nach verschiedenen Größen.

Donovan fuhr neben einen Wohnwagen, stellte die Zündung ab und zog die Handbremse. »Lassen Sie mich das Geschäftliche erledigen, dann kann ich Ihnen die Geschichte auf dem Rückweg zu Ende erzählen. Hinten liegt noch ein Helm, wenn Sie sich ein bißchen umschauen wollen.«

»Gehen Sie nur. Ich bleibe hier.«

Donovan ließ mich im Pickup zurück und unterhielt sich mit einem Mann in Overall und Schutzhelm. Dann verschwanden die beiden in einem Wohnwagen. Aus der Ferne wirkten die Maschinen wie Spielzeugautos. Ich sah zu, wie das Förderband in einem ständigen Strom loses Gestein transportierte, das sich am Ende kaskadenartig zu einem Haufen ergoß. Ich hob das Kinn und betrachtete die Landschaft, die dunstigen Berge und das dunkelgrüne Buschwerk vor mir. Ich ließ den Blick über das Gelände schweifen und versuchte, einen Zusammenhang in dem zu erkennen, was Donovan gesagt hatte. Soweit ich mich an Guys Bemerkung über Patty erinnerte, betrachtete er seine Zurückhaltung ihr gegenüber als seine einzige gute Tat. Er hatte sie als instabil und gefährdet beschrieben — so hatte er sich ungefähr ausgedrückt. Es war schwer vorstellbar, daß er versucht hätte, mich von seiner Anständigkeit zu überzeugen, wenn er eine so ausgeklügelte Masche benutzt hätte, um ihre Mutter auszunehmen. In Wirklichkeit hatte er auch Patty ausgenommen, da der Erlös aus den Briefen ja ihr zugute kommen sollte.

Die Sonne brannte auf die Fahrerkabine des Pickups herab. Donovan hatte die Fenster offengelassen, damit die Luft ein wenig zirkulieren konnte. Weißer Staub hing in der Luft, und das dumpfe Brummen der schweren Maschinen durchdrang die Stille. Ich hörte das Klirren von Metall und das hohe Jaulen der Gangschaltung, wenn ein Kipplader über die Ebene fuhr, die so kahl war wie eine Mondlandschaft. Ich löste meinen Sicherheitsgurt, rutschte auf dem Sitz nach unten und stützte die Knie gegen das Armaturenbrett. Ich wollte nicht, daß Guy eines Verbrechens dieser Größenordnung schuldig war. Was geschehen war, war geschehen, aber das hier war ausgesprochen schlimm. Ich war auf Streiche gefaßt und auch bereit gewesen, kleinere Delikte hinzunehmen, aber über schweren Diebstahl konnte ich nicht hinwegsehen, nicht einmal nach so langer Zeit.

Ich hatte gar nicht gemerkt, daß ich döste, bis ich das Knirschen von Arbeitsstiefeln hörte und Donovan die Tür auf der Fahrerseite aufmachte. Ich schreckte zusammen und rappelte mich hoch. Er trat mit den Seiten seiner Stiefel gegen den Türrahmen, um die Steinchen loszuwerden, bevor er sich hinters Lenkrad setzte. Ich richtete mich auf und legte meinen Sicherheitsgurt wieder an.

»Tut mir leid, daß es so lang gedauert hat«, sagte er.

»Keine Sorge. Ich habe solange meine Augen ausgeruht«, erwiderte ich trocken.

Er schlug die Tür zu, ließ seinen Sicherheitsgurt einschnappen und drehte den Zündschlüssel um. Im Handumdrehen polterten wir schon wieder die Schotterstrecke in Richtung Landstraße entlang. »Wo war ich stehengeblieben?« fragte er.

»Guy hat mehrere gefälschte Briefe gegen die echten ausgetauscht und ist anschließend verschwunden. Sie haben gesagt, daß Ihr Vater sich geweigert hätte, für den Schaden aufzukommen.«

»Allerdings. Die Briefe waren an die fünfzigtausend Dollar wert. Damals hatte Dad gar nicht soviel Geld, und er hätte es auch nicht bezahlt.«

»Was ist mit den Briefen passiert? Hat Guy sie verkauft?«

»Das muß er wohl, denn soweit ich weiß, sind sie nie wieder aufgetaucht. Paul Trasatti kann Ihnen mehr darüber sagen. Sein Vater war der Gutachter, der nach dem Austausch hinzugezogen wurde.«

»Dann war er es also, der Mrs. Maddison die schlechte Nachricht überbrachte?«

»Genau.«

»Und was ist mit ihr passiert?«

»Sie war seit jeher eine 'Säuferin und hatte auch schon seit Jahren Tabletten geschluckt. Sie hat es nicht mehr lang gemacht. Vom Alkohol und den Zigaretten war sie fünf Jahre später tot.«

»Und Patty?«

»Das war schlimm. Im Mai desselben Jahres — also zwei Monate, nachdem Guy verschwunden war — stellte sich heraus, daß Patty schwanger war. Sie war erst siebzehn und wollte nicht, daß es irgend jemand erfährt. Sie hatte eine Menge psychische Probleme, und ich glaube, sie fürchtete, man werde sie in eine Anstalt bringen, was vermutlich auch geschehen wäre. Auf jeden Fall hat sie illegal abtreiben lassen und ist an einer Sepsis gestorben.«

»Was?«

»Sie haben mich schon richtig verstanden. Sie hatte eine sogenannte Flinterzimmerabtreibung — was verbreiteter war, als Sie glauben — bei irgendeinem Kurpfuscher in San Diego. Sie bekam Blutvergiftung und ist daran gestorben.«

»Sie machen wohl Witze.«

»Es ist die Wahrheit«, sagte er. »Wir haben Guy nicht grundlos die Hölle heiß gemacht. Ich weiß, daß wir in Ihren Augen nur ein Haufen feindseliger Blödmänner sind, aber mit dieser Geschichte haben wir leben müssen, und das war nicht leicht.«

»Warum wurde das bis jetzt nie erwähnt?«

»In welchem Zusammenhang denn? Die Sache kam nie aufs Tapet. Wir wußten alle, was geschehen war. Wir haben es unter uns besprochen, aber wir laufen nicht herum und waschen unsere dreckige Wäsche vor anderen Leuten. Meinen Sie, es macht uns Spaß zuzugeben, daß er daran beteiligt war?«

Ich grübelte darüber nach und starrte auf den vorbeifliegenden Straßenrand hinaus. »Es fällt mir wirklich schwer, das zu glauben.«

»Das wundert mich nicht. Sie möchten eben nicht glauben, daß Guy zu so etwas imstande war.«

»Stimmt, das möchte ich nicht«, sagte ich. »Guy hat mir erzählt, daß Patty in ihn vernarrt war. Er rechnete es sich als seine einzige gute Tat an, daß er sie nicht verführt hat, als er die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Warum sollte er das behaupten?«

»Er wollte Sie eben beeindrucken. Liegt doch auf der Hand«, sagte er.

»Aber es gab keinen Anlaß dazu. Es war eine beiläufige Bemerkung, ein Thema, das er selbst angeschnitten hatte. Er hat es nicht weiter ausgeführt. Was sollte mich daran beeindrucken?«

»Guy war ein Lügner. Er konnte es nicht lassen.«

»Er mag ja damals ein Lügner gewesen sein, aber warum sollte er so viele Jahre später bezüglich dieses Mädchens eine Lüge erzählen? Ich kannte sie nicht. Ich habe ihn nicht um diese Auskunft bedrängt. Warum sollte er sich die Mühe machen, zu lügen, wenn er gar nichts davon hatte?«

»Hören Sie, ich weiß, daß Sie ihn mochten. Die meisten Frauen mochten ihn. Zu Beginn tut er euch leid. Ihr möchtet ihn beschützen. Ihr wollt nicht einsehen, daß er total verkorkst war. Genau diesen Scheiß hat er allen weisgemacht.«

»Das ist es nicht«, widersprach ich gekränkt. »Er hat sich einer intensiven Gewissensprüfung unterzogen. Er hat sein Leben Gott gewidmet. Es gab überhaupt keinen Grund dafür, ein Lügenmärchen über Patty Maddison zu erfinden.«

»Er war schwer damit beschäftigt, die Geschichte umzuschreiben. Das tun wir doch alle. Man bereut seine Sünden, und dann fängt man in der Erinnerung an, seine Vergangenheit zu bereinigen. Schon bald ist man davon überzeugt, daß man nicht annähernd so schlimm war, wie alle sagen. Die Bösen sind immer die anderen, aber man selbst hatte einen guten Grund für alles, was man getan hat. Natürlich ist das nichts als Schwachsinn, aber wer von uns erträgt es schon, sich selbst ins Gesicht zu sehen? Wir beschönigen. Das ist die menschliche Natur.«

»Sie sprechen von Guy Malek, wie er früher war. Nicht von dem, den ich kennengelernt habe. Ich kann nur sagen, daß es mir schwerfällt, mir vorzustellen, daß Guy das getan hat.«

»Sie kannten ihn nicht mal eine Woche und haben alles geglaubt, was er gesagt hat. Er war ein faules Ei.«

»Aber Donovan, sehen Sie sich doch an, was er für Verstöße begangen hat. Nichts davon war wie das hier«, wandte ich ein. »Als Junge war es Vandalismus. Später hat er Autos und Stereoanlagen geklaut, um für die Drogen bezahlen zu können. Fälschung ist ein viel zu kompliziertes Vergehen für jemanden, der seine Tage damit verbringt, sich zuzudröhnen. Glauben Sie mir. Ich habe auch mal Drogen genommen. Man bildet sich ein, man sei tiefsinnig, dabei kann man kaum klar sehen.«

»Guy war ein schlaues Kerlchen. Er lernte schnell.«

»Ich rede lieber mal mit Paul«, sagte ich, weil ich nicht einlenken wollte.

»Er wird Ihnen dasselbe sagen. Ja, durch ihn ist Guy wahrscheinlich überhaupt erst auf die Idee gekommen. Wenn man einen guten Freund hat, dessen Vater mit seltenen Dokumenten handelt, muß man seinen Kopf nicht groß anstrengen, um sich einen Plan zurechtzulegen.«

»Ich höre, was Sie sagen, aber es klingt irgendwie schief.«

»Kennen Sie sich mit Lügnern aus?« fragte Donovan.

»Sicher, das kann ich wohl behaupten. Was ist mit ihnen?«

»Ein Lügner — ein wirklich überzeugter Lügner — lügt, weil er es beherrscht, weil er gut darin ist. Er lügt aus reinem Vergnügen, weil es ihm Spaß macht, damit zu spielen. Genauso war Guy. Wenn er Ihnen eine Lüge erzählen konnte — selbst wenn sie nichts bedeutete, selbst wenn dadurch nichts zu gewinnen war — , konnte er nicht widerstehen.«

»Sie behaupten also, er war ein pathologischer Lügner«, sagte ich und formulierte in skeptischem Tonfall seine Aussage um.

»Ich behaupte, daß ihm das Lügen Spaß gemacht hat. Er konnte es nicht lassen.«

»Das glaube ich nicht«, sagte ich. »Ich bin nämlich davon überzeugt, daß ich Lügner ziemlich gut durchschauen kann.«

»Sie wissen, wann manche Leute lügen, aber nicht alle.«

»Was macht Sie denn zu einem solchen Experten?« fragte ich und war langsam wirklich beleidigt. Donovan war ebenso verärgert über mich.

Er winkte ab. Ich nahm an, er war es nicht gewohnt, daß ihm Frauen widersprachen. »Vergessen Sie’s. Denken Sie, was Sie wollen«, sagte er. »Ich merke ja, daß ich Sie von rein gar nichts überzeugen kann.«

»Ich Sie auch nicht«, gab ich giftig zurück. »Was ist mit der älteren Schwester passiert?«

Donovan verzog genervt das Gesicht. »Glauben Sie mir das dann, oder soll das ein Vorwand für einen weiteren Streit sein?«

»Ich streite mich wegen Guy, nicht wegen der Maddisons, okay?«

»Okay. Claire — die ältere — mußte ihre Pläne für ein Medizinstudium aufgeben. Sie hatte kein Geld, und ihre Mutter verfiel zusehends. Sie kam eine Zeitlang zurück und kümmerte sich um sie. Das dauerte vielleicht sechs Monate oder so. Nachdem die Mutter gestorben war, ging sie wieder an die Ostküste — Rhode Island oder da in der Gegend. Könnte auch Connecticut gewesen sein. Sie hat irgendeinen Kerl geheiratet, aber die Ehe ging nicht gut. Vor einem Jahr hat sie dann Schluß gemacht.«

»Sie hat Selbstmord begangen?«

»Ja, das hat sie. Ihre ganze Familie war dahin. Sie hatte niemanden. Die Familie war schon immer ein bißchen wackelig — ein manisch-depressiver Haufen. Irgend etwas muß sie dann wohl in den Abgrund getrieben haben.«

»Was hat sie denn gemacht — ist sie von einem Gebäude gesprungen?«

»Ich weiß nicht, wie sie es gemacht hat. Es war nicht wörtlich gemeint. In der Zeitung war eine kleine Meldung darüber. Es ist irgendwo im Osten passiert.«

Ich schwieg erneut. »Dann hat ja vielleicht jemand von den Maddisons Guy umgebracht. Wäre das nicht schlüssig?«

»Sie suchen vergebens. Ich habe Ihnen gerade gesagt, daß sie alle tot sind.«

»Aber woher wollen Sie denn wissen, daß niemand mehr übrig ist? Cousinen zum Beispiel? Tanten und Onkel? Pattys beste Freundin?«

»Kommen Sie. Würden Sie allen Ernstes jemanden umbringen, der eine Verwandte von Ihnen übers Ohr gehauen hat? Eine Schwester vielleicht. Aber eine Cousine oder Nichte?«

»Tja, ich nicht, aber ich stehe meinen Verwandten auch nicht nahe. Stellen Sie sich nur vor, so etwas würde Ihrer Familie zustoßen.«

»Meiner Familie ist ja etwas zugestoßen. Guy wurde ermordet«, sagte er.

»Wollen Sie keine Rache?«

»So sehr, daß ich einen Mord begehen würde? Ganz bestimmt nicht. Außerdem — wenn es mir so wichtig wäre, daß ich jemanden umbringen würde, würde ich nicht so lange warten. Hier waren es volle siebzehn Jahre.«

»Aber Guy war die ganzen Jahre über vermißt. Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, daß er binnen weniger Tage tot war, nachdem er erst einmal nach Hause gekommen war.«

»Das ist wahr«, räumte er ein.

»Paßt der Name Max oder Maximilian Outhwaite irgendwie in diese Geschichte hinein? Es könnte sogar Maxine sein. Das Geschlecht kann ich nicht beschwören.«

Donovan wandte sich um und sah mich verblüfft an. »Wo haben Sie denn diesen Namen her?«

»Sie kennen ihn?«

»Tja, natürlich. Maxwell Outhwaite ist der Name, den Guy auf die Visitenkarten drucken ließ, mit denen er Mrs. Maddison übers Ohr gehauen hat.«

Ich sah ihn ungläubig an. »Sind Sie sicher?«

»So etwas würde ich nie vergessen«, sagte er. »Wie sind Sie denn auf den Namen gestoßen?«

»>Max Outhwaite< war derjenige, der die Briefe an den Dispatch und die L. A. Times geschrieben hat. Daher wußte die Presse, daß Guy wieder zu Hause war.«