Nachwort

Am Erscheinungstag meines Artikels landete ich kurz vor Mitternacht am JFK Airport in New York. Da mein Foto veröffentlicht worden war, musste ich damit rechnen, erkannt zu werden, und hatte mich deshalb – etwas albern vielleicht – notdürftig verkleidet: mit einem dunkelbraunen Strohhut und einem Dreitagebart. Ich fuhr direkt zu Phils Wohnung an der Ecke 79. Straße und Third Avenue. Phil hatte eine große Luftmatratze für mich vorbereitet und mich gedrängt, nach der Landung gleich zu ihm zu kommen.

Ich wusste damals nicht, was mich erwartete, und hatte mir auch weiter keine Gedanken darüber gemacht. Was ich in meinem Artikel vorgebracht hatte, entsprach voll und ganz meiner Überzeugung, und ich hielt es für richtig, das alles öffentlich zu machen. Mit den Reaktionen darauf würde ich mich zu gegebener Zeit auseinandersetzen. Als sie kamen, war ich überwältigt: Ich erhielt Nachrichten aus aller Welt, aus dem ländlichen Texas, aus Russland und Indien, ja sogar aus China. Außerdem meldeten sich Dutzende ehemaliger Kollegen und Kunden.

Der Tenor war immer derselbe. Ich erhielt Zuspruch. Den Menschen gefiel die Idee, ein System zu reformieren, das auf Abwege geraten war. Ihnen gefiel der Gedanke, den Mächtigen die Wahrheit zu sagen. Ihnen gefiel die Vorstellung zu tun, was man für richtig hielt, auch wenn es Mut erforderte und persönliche Nachteile mit sich brachte. Ich war gerührt, wie viel ermunternde Anteilnahme mir zuteilwurde. Doch als das Trommelfeuer der Medien einsetzte, war ich froh, dass ich nicht meinem ersten Instinkt gefolgt war, ihnen allen zu antworten. Mein Bruder und meine besten Freunde, Lex und Dan, bestärkten mich darin – und zwar aus folgendem Grund:

Ich hatte fast fünf Monate lang an dem Artikel geschrieben, und er brachte genau das zum Ausdruck, was ich sagen wollte. Ich hatte mein Anliegen auf das Wesentliche reduziert. Ich hatte es gründlich durchdacht. Alles, was ich an jenem Tag hätte sagen können, hätte von der eigentlichen Aussage abgelenkt. Ich war stolz und aufgewühlt, weil ich mein Scherflein zur Debatte über verantwortungsloses Verhalten und Interessenkonflikte in der Finanzindustrie beigetragen hatte – einer Debatte, die meines Erachtens in der Öffentlichkeit unbedingt geführt werden musste. Angesichts des Medienrummels war es ausgesprochen tröstlich, dass ich nach meiner Ankunft in New York erst einmal bei einem guten Freund unterkommen konnte.

Als ich aus dem Taxi stieg und mein Gepäck an mich nahm, kam der junge Portier von Phils Wohnanlage heraus, um mir zu helfen. Plötzlich strahlte er übers ganze Gesicht und begrüßte mich überschwänglich.

«Sie sind doch Greg Smith, oder?», fragte er. Ich war einigermaßen schockiert, dass er mich erkannte. Ich hatte den ganzen Tag über im Flieger aus London gesessen und deshalb nicht mitbekommen, wie viel Aufmerksamkeit mein Artikel erregt hatte.

«Willkommen in New York», begrüßte er mich herzlich. «Sie sollen wissen, dass Sie hier viel Rückhalt haben. Einfache Bürger wie ich stehen hinter Ihnen – und danken Ihnen, dass Sie sich zum Sprachrohr für uns machen.» Was er sagte, rührte und beschämte mich. Während ich in Phils Vorkriegshaus auf den Fahrstuhl wartete, versuchte ich die Tragweite seiner Äußerungen zu begreifen. Dann bestieg ich die Aufzugskabine und freute mich auf das Wiedersehen mit meinem Freund.

Der Portier hieß Kelvin und war ein junger Afroamerikaner Anfang zwanzig, der selbst in die Finanzbranche einsteigen wollte. Er jobbte in Phils Wohnanlage, um die Abendschule zu bezahlen und seine Familie zu unterstützen. Die Finanzwelt interessierte ihn sehr. Er betrachtete sie sehr idealistisch. Er war fasziniert von den Aktienmärkten – von den Kräften, die sie nach oben oder unten trieben, von der Bewertung von Unternehmen und von den Komplexitäten einer Bilanz.

In den drei Wochen, die ich bei Phil auf der Luftmatratze schlief, unterhielt ich mich jedes Mal mit Kelvin, wenn ich das Gebäude betrat oder verließ. Wir redeten über die Fachbücher, die er lesen sollte, über die besten Wirtschaftsblätter und darüber, wie er sich optimale Voraussetzungen für seinen Einstieg in die Finanzwirtschaft schaffen konnte.

Kelvin führte mir vor Augen, was mich ursprünglich in diese Branche gezogen hatte und auch warum sich jemand überhaupt für irgendetwas entscheiden sollte – nämlich weil er davon begeistert ist. Ich wünsche ihm, dass er im Finanzwesen seinen Weg macht. Ich hoffe, er wird nicht enttäuscht. Denn wir brauchen Menschen wie Kelvin.

 

In Bezug auf die Finanzindustrie herrscht in breiten Bevölkerungsschichten die irrige Meinung vor, dass es an der Wall Street nur um die Elite geht, um Reiche, denen es recht geschieht, wenn sie ihr Geld verlieren, und dass der Normalbürger von den Eskapaden und fragwürdigen Praktiken der Branche im Grunde nicht betroffen ist. Die Wahrheit sieht leider anders aus.

Wenn die Chefs von Wall-Street-Unternehmen vor den Kongress gezerrt werden – wie Lloyd Blankfein im Zuge der Betrugsvorwürfe der SEC gegen Goldman Sachs oder Jamie Dimon, nachdem JPMorgan Chase mit dubiosen Geschäften 6 Milliarden US-Dollar in den Sand gesetzt hatte –, kommen sie gern mit dem Spruch: «We are all big boys.» Meint: Wir sind doch alle seriöse institutionelle Anleger. Wir wissen doch alle, was wir tun. Und vor allem: Wir treten doch alle zu den gleichen Bedingungen an.

Aber überlegen wir mal: Wessen Geld steht denn in Wirklichkeit auf dem Spiel?

Nehmen wir nur die letzten Skandale: Wer zahlt die Zeche, wenn ein Bezirk im US-Bundesstaat Alabama mit JPMorgan Geschäfte mit strukturierten Derivaten macht, wenn die Sache nach hinten losgeht und den kommunalen Haushalt an den Rand des Bankrotts führt? Wer muss bluten, wenn eine Regierung in Griechenland oder Italien mit Goldman Sachs oder JPMorgan Derivategeschäfte abschließt, um Schulden zu verschleiern und Probleme hinauszuschieben? Wer muss am Ende dafür büßen, wenn Morgan Stanley den Facebook-Börsengang falsch bewertet und Investmentfonds Milliarden von Dollar verlieren, die für die Alterssicherung angespart wurden? Genau: der Normalbürger.

Wer bekommt es zu spüren, wenn ein Staat wie Libyen mit Derivaten Milliarden Dollar verzockt, die eigentlich dem libyschen Volk gehören? Wer verliert, wenn Barclays und andere Großbanken den London Interbank Offered Rate, den LIBOR, manipulieren – den Referenzzinssatz für Studiendarlehen und Hypotheken in Billionenhöhe? Wessen Ersparnisse schmelzen dahin, wenn die Makler von JPMorgan ihren Kunden unterdurchschnittliche Investmentfonds andrehen, um ihre Gebühreneinnahmen in die Höhe zu treiben?

Diese Liste ließe sich endlos fortsetzen. Und letztlich ist stets der normale Bürger betroffen – die Lehrer, Pensionäre und Rentner, deren Schicksale von den Organisationen abhängen, die ihr Geld verwalten. Der Normalbürger wird vom Fehlverhalten an der Wall Street viel stärker in Mitleidenschaft gezogen als jeder andere, denn es ist sein Geld, um das es geht.

Doch wie schafft es die Wall Street überhaupt, so viel Geld zu verdienen? Muss sie nicht notgedrungen auch mal verlieren? Nicht unbedingt. In manchen Quartalen verdient eine Wall-Street-Bank an jedem einzelnen Tag Geld. Ganz recht: neunzig Tage am Stück. Sie erzielt also die ganze Zeit über Gewinne. Unlängst ist der Bank of America so ein Rundumschlag gelungen – ein veritabler Meisterstreich. Wie das geht?

Die Zauberformel lautet: asymmetrische Information. Die Bedingungen sind nämlich nicht für alle Akteure gleich. Eine Bank weiß genau, was jeder Kunde auf dem Markt tut – sie hat also einen Informationsvorsprung. Wenn Ihnen im Kasino die Bank immer in die Karten schauen oder gar festlegen dürfte, welche Karten Sie bekommen – wie könnte die Bank da je verlieren?

Das Ganze spielt sich folgendermaßen ab: Weil die Wall Street den raffiniertesten Hedgefonds, Investmentfonds, Pensionskassen, staatlichen Investitionsfonds und Unternehmen der Welt Geschäfte vermittelt, weiß sie, wer dabei auf welcher Seite steht. Im Grunde kann sie also allen in die Karten schauen. Und deshalb kann sie ihr eigenes Geld intelligenter investieren.

Noch dramatischer wird es, wenn die Wall Street Sie dazu verleitet, mit maßgeschneiderten strukturierten Derivaten zu handeln, die exakt den Bedürfnissen der Firma entsprechen. Damit teilt Ihnen die Bank quasi ein vorgegebenes Blatt aus. Das Verlustpotenzial für das Kasino ist unter solchen Umständen entsprechend gering.

Der Unterschied zum Glücksspiel im landläufigen Sinn: In einem echten Kasino zocken Sie in einer Spielbank, die lückenlos von Kameras überwacht wird. Auch wenn Sie Vorbehalte gegen Spielhöllen wie Las Vegas haben, so sind diese immerhin reguliert.

An der Wall Street lässt sich das Glücksspiel in dunkle Hinterzimmer verbannen, wo nichts aufgezeichnet, beobachtet oder verfolgt wird. Bei undurchsichtigen, im Freiverkehr gehandelten Derivaten gibt es keine Überwachungskameras. Im Halbdunkel dieser Räume ist die Versuchung besonders groß, Kunden zu übervorteilen und Interessenkonflikte im eigenen Sinne zu lösen. Diese Versuchung und die mangelnde Transparenz waren es, die 2008 zur globalen Finanzkrise führten.

Nicht zu vergessen die Händler. Der Kundenbetreuer in der Bank mag objektiv und besonders zuvorkommend wirken – wie ein zuvorkommender Croupier im Kasino, der Ihnen charmant nach dem Mund redet –, aber anders als ein Croupier dirigiert er Sie immer genau in die Richtung, die der Bank das meiste Geld einbringt. Anders als ein echter Croupier: Wenn Sie Blackjack spielen und 19 haben, würden Sie dann vom Bankhalter erwarten, dass er Ihnen rät, eine weitere Karte zu verlangen? An der Wall Street kann Ihnen das passieren.

Kurioserweise sind echte Kasinos tatsächlich strenger reguliert als die Banken der Wall Street. Die SEC und die U.S. Commodity Futures Trading Commission (CFTC) waren nicht in der Lage, die Krise im Vorfeld zu verhindern, und haben Mühe, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die beschriebenen Konflikte zu lösen. Kann die Wall Street angesichts so vieler Vorteile überhaupt verlieren? Dabei machen noch nicht einmal Spielbanken an jedem einzelnen Tag eines Quartals Gewinn.

Dass es den Informationsvorsprung gibt, belegt auch Folgendes: Warum entwickeln sich die Investmentfonds von Goldman Sachs und JPMorgan Chase, die in den jeweiligen Anlageverwaltungsbereichen auf der anderen Seite der «Chinesischen Mauer» angesiedelt sind, in ihrer Morningstar-Vergleichsgruppe unterdurchschnittlich? Warum machen sich Spitzentrader von Banken wie Goldman Sachs, Morgan Stanley und JPMorgan Chase mit eigenen Hedgefonds selbständig und scheitern? Weil sie jetzt nicht länger den Vorzug genießen, allen anderen in die Karten zu schauen. In Ermangelung asymmetrischer Informationen – auf sich allein gestellt und ohne unlautere Vorteile – ist der Erfolg eben nicht mehr garantiert.

Die Reformen, gegen die sich die Wall Street am heftigsten sträubt, betreffen die ihrer Erfahrung nach lukrativsten Bereiche: undurchsichtige Derivate und Eigenhandel. Zufällig sind das genau die Bereiche mit den größten Risiken für die Stabilität des Finanzsystems. Die Wall-Street-Lobby hat bereits über 300 Millionen Dollar ausgegeben, um Vorstöße zur Regulierung von Derivaten zu kippen (die Licht in solche Konstrukte bringen und sie durch Handel an der Börse transparenter machen würden). Gleiches gilt für die Volcker-Regel gegen den Eigenhandel, damit Banken nicht länger unter Nutzung ihres Informationssprungs gegen ihre eigenen Kunden wetten können. Die Wall Street verabscheut Transparenz und wird sich nach Kräften dagegen wehren.

Ich bin bekennender Kapitalist. Ich bin sehr dafür, dass Menschen reich werden und Unternehmen möglichst viel Geld verdienen. Das ist der Treibstoff, der unsere Wirtschaft wachsen lässt. Wohlstand sollte Motivation und Anreiz für Unternehmer in aller Welt sein. Ich möchte aber, dass das unter fairen Voraussetzungen geschieht. Ich glaube nicht, dass Kapitalismus automatisch bedeuten muss, ethische Grenzen so weit wie möglich auszudehnen. Und auch nicht, dass es notwendig ist, Kunden zu täuschen, um größtmögliche Erträge zu erzielen.

Ich glaube an ein Geschäftsmodell, das langfristig ausgerichtet ist – dem eine treuhänderische Verantwortung innewohnt, die darauf beruht, dass man Kunden anständig behandeln muss, damit sie wiederkommen. Das ist nicht nur moralisch richtig, sondern auch besser fürs Geschäft. Damit kann man genauso viel verdienen – nur eben langsamer, stetiger und nachvollziehbarer. Das sollte auch den Aktionären gefallen, die sich berechenbare Ertragsströme und eine stabilere Auftragslage wünschen. Das heute übliche Modell der schnell realisierten Gewinne ist weder verantwortungsbewusst noch nachhaltig.

Wie kann es sein, dass vier Jahre nach der Krise noch immer nichts geschehen ist, um diese Missstände zu beseitigen? Die Menschen sollten außer sich sein vor Empörung darüber, dass der politische Wille fehlt, ein Problem aus der Welt zu schaffen, das allen schadet – ausgenommen einer kleinen Elite, die sich bereichert, weil sie weiß, wie sie das Spiel manipulieren kann, und die mit ihrem verantwortungslosen Spiel die Welt jederzeit in das nächste große Schlamassel stürzen kann.

Jeder weiß, dass das System verhängnisvolle Mängel hat, doch nur wenige können diese klar benennen. Nach dem Crash von 1929 führte der US-Senat die Pecora-Anhörungen durch, um den Ursachen für den Kursrutsch auf den Grund zu gehen. Diese Untersuchung führte zu echten Reformen. Banken wurden zur Verantwortung gezogen, und die missbräuchlichen Praktiken, die zum Börsencrash geführt hatten, wurden abgeschafft. Darauf folgten Jahrzehnte der Sicherheit im Finanzsystem. Mit diesem Buch möchte ich vor allem eines erreichen: Ich möchte dem einen oder anderen so viel Einsicht vermitteln, dass er seinem Vertreter oder seiner Vertreterin in der gesetzgebenden Versammlung seines Landes folgende Frage stellt: Warum haben Sie zu Reformen nicht den Mumm?