Kapitel 2

Fall und Aufstieg

Dass man die «Series 7»-Prüfung auf Anhieb besteht, ist nicht nur wünschenswert – bei Goldman Sachs wird es erwartet. Diese Prüfung ist die erste große Bewährungsprobe an der Wall Street – ein Initiationsritus, der Neulinge dazu befähigt, Kundengespräche zu führen und endlich produktiv zu arbeiten. Der Test dauerte sechs Stunden, und der abgefragte Stoff füllte zwei dicke Lexikonbände – eine ehrfurchtgebietende Menge an Informationen, die ich mir einverleiben musste. An einem Dienstagmorgen im September setzte ich mich vor meiner Wohnung in der Chambers Street ins Taxi und fuhr stadteinwärts, um mir diese Sporen zu verdienen. Es war ein schöner Morgen, klar, frisch, wolkenlos – so ganz anders, als ich mich fühlte: zittrig, nervös und schlecht vorbereitet.

Mein Magen rebellierte, als ich auf der Rückbank eines der gelben New Yorker Taxis saß, das mich zum Ort der Prüfung bringen sollte, One Penn Plaza in der Innenstadt. Die Morgensonne blendete mich. Sie schien wie ein überdimensionaler Suchscheinwerfer durch die Straßenschluchten von Manhattan. Unfreiwillig hörte ich aus dem Autoradio eine verrückte Geschichte über Michael Jordans mögliches Basketball-Comeback bei den Washington Wizards. Warum tat er das, fragte ich mich. Er war bei den Bulls ausgestiegen, als er als Spieler alles erreicht hatte – auf dem absoluten Höhepunkt. Da konnte es doch bloß noch bergab gehen.

Ich dagegen hatte noch alles vor mir. Zwei Wochen nach Beendigung meines Sommerpraktikums, Ende August 2000, hatte ich den ersehnten Anruf von Goldman Sachs erhalten. Vor meinem Abschlussjahr an der Uni war ich noch für zwei Wochen nach Südafrika geflogen, um meine Familie zu besuchen. Das Ticket hatte Goldman Sachs spendiert – ein enormer Vorteil des Praktikums. Goldman Sachs zahlte jedem Praktikanten eine Heimfahrt, egal wohin auf der Welt. Wegen des sechsstündigen Zeitunterschieds zwischen New York und Johannesburg wartete ich sprichwörtlich Tag und Nacht auf den entscheidenden Anruf. Quälend war, dass ich keine Ahnung hatte, wann genau er kommen würde. Und wenn ich nichts hörte, bedeutete das, dass ich nicht übernommen würde?

An einem Donnerstagabend um siebzehn Uhr Johannesburger Zeit klingelte endlich das Telefon – mit guten Nachrichten. «Wir freuen uns, Ihnen eine Vollzeitstelle bei Goldman Sachs anzubieten», sagte die Frau von der Personalabteilung freundlich. Sie bedauerte, dass sie mich nicht zu Mike – dem Praktikumsleiter, der von meinem Auftritt im Scores erfahren hatte –, durchstellen könne, meinte aber, er freue sich sehr für mich. Sicher nicht halb so sehr, wie ich selbst mich freute. Das war das Ticket in eine goldene Zukunft, ein Traumjob für jeden, der an der Wall Street Karriere machen wollte. Goldman Sachs war absolut erste Wahl – der Rolls-Royce unter den Investmentbanken, wie es einer meiner Johannesburger Freunde formuliert hatte. Ich hatte das natürlich umgehend bescheiden relativiert, wusste aber, dass es stimmte. Ich war unglaublich stolz, dass ich mich in einer der größten Arenen gegen manche der härtesten, klügsten Konkurrenten aus aller Welt durchgesetzt hatte.

«Akzeptieren Sie unser Angebot einer Analystenstelle in New Markets Sales on the wire?», wollte die Personalsachbearbeiterin wissen. «On the wire» bedeutete im Wall-Street-Jargon «unverzüglich». Doch ich habe keine On-the-wire-Mentalität. Ich war schon immer vorsichtig und besonnen gewesen. Wenn ich in der Schule eine Aufgabe zwanzig Minuten vor der Abgabe fertig hatte, überprüfte ich meine Lösung wieder und wieder, bis die Zeit um war. Nun beschloss ich, dass ich mir die drei bis vier Wochen nehmen wollte, die mir die Firma zugebilligt hatte, um meine Entscheidung gründlich zu überdenken – auch wenn ich praktisch sicher war, dass ich am Ende zusagen würde. Später erfuhr ich, dass ich damit viele gegen mich aufgebracht hatte. An der Wall Street galt, auf sofortige Belohnung folgte sofortige Dankbarkeit. Man wollte jetzt gleich eine Zusage hören – und ein begeistertes Dankeschön.

Es war toll, schon so früh zu wissen, wie ich nach der Uni mein Geld verdienen würde – zu einem Zeitpunkt, an dem sich viele meiner Kommilitonen noch den Kopf darüber zerbrachen, was sie beruflich machen sollten. Das war ein großer Pluspunkt des Praktikums. Man bekam einen Vorgeschmack auf die Wall Street und einen Eindruck davon, ob es einem in dem Unternehmen gefiel. Man hatte Gelegenheit, zehn Wochen lang zu zeigen, was man wert war, statt es in einem dreißigminütigen Vorstellungsgespräch nur zu behaupten.

Ich verließ das College mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Meine vier Jahre in Stanford waren schön gewesen. Als Vollstipendiat hatte ich mich privilegiert gefühlt und ging nicht gern fort. Mir waren die Augen geöffnet worden für Dinge, die ich in Johannesburg nie kennengelernt hätte. Ich hatte gute Freunde fürs Leben gefunden, und jetzt zerstreuten wir uns in alle Himmelsrichtungen.

Ich hatte zwar viel Zeit aufs Lernen verwandt, aber auch Spaß gehabt. In meinem Abschlussjahr hatte ich die Veranstaltungen der Casa Italiana organisiert. Theoretisch war das die Anlaufstelle für alle, die im Haupt-oder Nebenfach Italienisch studierten und sich genauer mit der Sprache und Kultur beschäftigen wollten. Dank ihrer Lage mitten auf dem Campus war die Casa aber auch ein toller Veranstaltungsort für Partys, mit dem besten Koch in Stanford. Mir stand pro Quartal ein Budget von 2000 US-Dollar für uniweite Partys zur Verfügung, und das brauchte ich bis zum letzten Penny auf. Wir veranstalteten eine Jazznacht, einen Sake-Abend, eine Karaoke-Party …

In meinem letzten Jahr hatte ich vormittags keine Vorlesungen. Ich dachte oft: «Schon komisch – in ein paar Monaten wird um fünf Uhr früh der Wecker klingeln. Wie soll ich dann bloß aus dem Bett kommen?» Ich hatte den klassischen Tagesrhythmus eines Studenten, blieb auf bis in die Puppen und schlief bis mittags. Das genoss ich, solange ich konnte.

Die Abschlusswoche war eine ganz besondere Zeit. Meine Mutter reiste aus Johannesburg an, meine Cousins und Cousinen aus Chicago und meine Tante aus Florida. Am Tag, als meine Mutter ankam, nahmen wir an einem kleinen Grillfest teil. Plötzlich fuhr ein Konvoi aus drei schwarzen SUVs vor, und Chelsea Clinton stieg aus, die ich vom Sehen aus dem Wohnheim kannte, in dem ich als Studienanfänger untergekommen war. Sie kam in Begleitung ihres Vaters, der nur Monate zuvor aus dem Amt geschieden war, und ihrer Mutter Hillary. Wir hatten alle Gelegenheit, uns mit den Clintons zu unterhalten und ihnen die Hand zu geben. Sie posierten geduldig für zahllose Fotos mit aufgeregten Müttern und Vätern, die ihren Stolz auf den eigenen Nachwuchs darüber ganz vergaßen. Bill und Hillary freuten sich und waren sichtlich stolz auf Chelsea. Mir hat immer gefallen, wie natürlich Chelsea war und wie gefasst sie damit umging, als sich in unserem ersten Stanford-Jahr im Weißen Haus diese unwürdige Seifenoper abspielte.

Die Abschlussrede für den Jahrgang 2001 hielt Carly Fiorina, Stanford-Absolventin, CEO von Hewlett-Packard und die erste Frau, die ein Fortune-20-Unternehmen leitete. Sie war ein paar Jahre zuvor von der Zeitschrift Fortune zur «mächtigsten Frau in der Wirtschaft» gekürt worden. Ihre Rede hat mich tief berührt. Sie verglich ihr Leben mit einem Romanmanuskript, das sie immer und immer wieder überarbeitet hatte, bis die Quintessenz auf einer Seite Platz fand. Sie empfahl uns für unseren Lebensweg einen ähnlichen Prozess. Diese Rede hatte enorme Wirkung auf mich, und ich habe sie im Lauf der Jahre immer wieder gelesen. Mit ein paar Freunden ergatterte ich bei der Begrüßungsrede einen Platz ganz vorn und bin deshalb auf einem Schnappschuss zu sehen, der in unserem Jahrbuch einen Sonderplatz einnimmt. Egal wo es uns auf der Welt hinverschlagen hat – wir alle haben eine gerahmte Kopie davon an der Wand hängen. Ich blickte damals optimistisch in die Zukunft. Ich empfand wirklich so. Ich stand noch ganz am Anfang, war traurig, dass ich die ersten Kapitel abschließen musste, war aber gespannt auf die folgenden. Die Vorstellung, in New York zu leben, unabhängig zu sein und mein eigenes Geld zu verdienen, war ungeheuer reizvoll. Bei meinem Abschluss in Stanford hatte ich nicht einmal 3000 Dollar auf dem Konto.

Goldman Sachs unterstützt neue Mitarbeiter großzügig bei der Wohnungssuche und bezahlt sogar einen Makler dafür. Im Mai flog ich also mit meinem Freund Adam und einem weiteren Freund von ihm nach New York, um uns eine Bleibe zu suchen. Ich legte mich ins Zeug, weil ich die beiden unbedingt überreden wollte, mit mir in die Upper West Side zu ziehen – wegen des jüdisch geprägten Umfelds. Ich dachte, dort konnte man bestimmt leicht jüdische Mädchen kennenlernen. Außerdem gab es jede Menge Synagogen und natürlich Barney Greengrass (den «Störkönig») an der Ecke 86. und Amsterdam, der den besten Räucherlachs und die herrlichsten Kartoffel-Latkes in ganz New York verkaufte.

Doch Adam und seinen Freund zog es wegen der trendigen Downtown-Atmosphäre an den Union Square. So fuhren wir hin und her und fanden nicht das Richtige. Unverrichteter Dinge kehrte ich nach Palo Alto zurück. Meine Goldman-Starthilfe war verplempert. Am Ende fand Adam für sich allein eine Wohnung in Murray Hill. Als ich Ende Juni zum Trainee-Programm von Goldman wieder nach New York kam, ließ mich ein Freund aus Bangladesch, der im vorigen Sommer mit mir Praktikum gemacht hatte (doch am Ende bei Morgan Stanley gelandet war), netterweise auf einer Luftmatratze in seiner Wohnung Ecke 62. und First Avenue übernachten, bis ich etwas Eigenes fand.

Am ersten Tag des Trainee-Programms lernte ich JF kennen, einen Frankokanadier und ehemaligen Wasserball-Nationalspieler aus Montreal. Er war der absolute Frauenliebling und sprach kaum ein Wort Englisch. Goldman hatte ihn trotz der Sprachbarriere mutig eingestellt, weil er mit seiner Entschlossenheit und Lernfähigkeit gepunktet hatte. Und das Risiko zahlte sich aus. Er sollte sich als absolut unfehlbarer Stock-Picker erweisen. (Er war so gut, dass sogar mancher altgediente VP seinen Kunden schon JFs Ideen vorlegte, als dieser erst wenige Wochen dabei war.) Für ihn war es das Höchste, Bilanzen und Gewinn-und Verlustrechnungen zu analysieren und daraus optimale Empfehlungen für seine Kunden abzuleiten.

Während die meisten von uns noch nicht einmal die Plastikfolie von den Lehrbüchern für die «Series 7»-Prüfung abgefummelt hatten, erstellte JF schon Bottom-up-Analysen und studierte Kerzencharts, um festzustellen, ob die von ihm ausgewählten Titel aus ihrer Handelsspanne ausbrechen würden. Sein einziges Problem war seine extreme Ungeduld und Unbeherrschtheit, die er auch am Arbeitsplatz nicht immer im Griff hatte. Er hatte noch einen Freund aus Montreal, der als Wirtschaftsprüfer bei KPMG arbeitete. Wir beschlossen, zu dritt zusammenzuziehen.

Aber nicht irgendwohin. Ein Immobilienmakler erzählte uns von Tribeca Pointe. Das Gebäude war damals nagelneu und gehörte zu den höchsten Wohnbauten im Finanzdistrikt. Es erhob sich zweiundvierzig Stockwerke hoch an der Ecke Chambers Street und West Side Highway, gleich am Hudson River, und bot einen herrlichen Blick aufs Wasser und auf Manhattan, vor allem in den oberen Etagen. Im neununddreißigsten Stock war eine Dreizimmerwohnung frei, wie uns der Makler verriet. Die Monatsmiete betrug 3750 Dollar, ganz schön viel für zwei Analysten, die gerade erst bei Goldman anfingen. (Unser Grundgehalt lag im ersten Jahr bei 55 000 Dollar – das waren etwa 750 Dollar pro Woche nach Steuern.) Wenn wir die Miete durch drei teilten, konnten wir sie uns so gerade leisten. Der Haken war: Die Wohnung hatte nur zwei Schlafzimmer.

Doch je länger wir darüber nachdachten, desto mehr reizte uns der Gedanke, im neununddreißigsten Stock dieses außergewöhnlichen Gebäudes zu wohnen. Wir stellten uns vor, wie das Freunde und Gäste beeindrucken würde. Und wir hofften natürlich auch, Mädchen mit dem spektakulären Ausblick zu imponieren. Als uns der Makler versicherte, er habe einen russischen Bauunternehmer an der Hand, der für nur 1000 Dollar eine Zwischenwand zwischen der offenen Küche und dem Wohn-und Essbereich einziehen und so für ein zusätzliches kleines Schlafzimmer sorgen könne (eine bei Wall-Street-Neulingen im hochpreisigen Manhattan durchaus übliche Praxis, wie wir später erfahren sollten), schlugen wir zu und schrieben die Schecks aus. Am 1. August zogen wir in die Wohnung Nr. 4004, River Terrace 41 ein. Am folgenden Sonntag nahmen meine beiden Mitbewohner und ich Drinks und Zigarren mit auf die Dachterrasse im zweiundvierzigsten Stock und prosteten uns zu, während wir den herrlichen Blick über den Hafen und auf die nahen Zwillingstürme des World Trade Center in uns aufnahmen. Wir zahlten schrecklich viel Geld, doch es war uns jeden Penny wert. (Und wir waren in guter Gesellschaft. Wir merkten bald, dass die River-Terrace-Wohnanlage im Grunde ein Edel-Wohnheim für das Wall-Street-Fußvolk war.)

Währenddessen hatte der schwere Einstieg in eine Karriere bei Goldman Sachs begonnen.

Denn die Firma stellte sich für mich ganz anders dar, als ich sie aus dem Praktikum kannte. Es gab keine Obstschalen mehr und auch keine TShirts, Flip-Flops und anderen Schnickschnack mit GS-Logo. Die Technologieblase, die den Handelssaal noch im Vorsommer zum Kochen gebracht hatte, war Anfang 2001 geplatzt. Unternehmen, die eben noch milliardenschwer gewesen waren, wurden jetzt für ein paar Cent auf den Dollar gehandelt. Die Wirtschaft rutschte in die erste Rezession des 21. Jahrhunderts. In der Abteilung New Markets Sales waren drei Teammitglieder entlassen worden – sechzig Prozent der Belegschaft. Außer Rudy war nur noch eine Mitarbeiterin übrig: eine ziemlich aggressive Slowakin. Sie war wie ich Junior Analyst, aber ein Jahr älter. Ihr Englisch war mittelmäßig, und sie sprach sehr schnell und sehr laut. Vielleicht dachte sie, dass man sie dann besser verstehen würde. Rudy hatte sie nicht eingestellt, konnte sie aber vorerst auch nicht loswerden. Sie hatte ihre «Series 7»-Prüfung bereits bestanden und versuchte, mir das eine oder andere beizubringen, hielt mich ansonsten aber auf Distanz. Wenn ich um 5 : 30 Uhr zur Arbeit kam, war sie schon um 5 : 29 Uhr da. Da ich nicht einmal ans Telefon gehen durfte, musste sie sich keine großen Sorgen machen.

Rudy hätte meinen vollen Einsatz gebraucht. Doch da es mir gesetzlich untersagt war, auch nur mit Kunden zu sprechen, geschweige denn Transaktionen auszuführen, musste ich erst meine «Series 7»-Prüfung bestehen – und auch die «Series 63»-Prüfung, eine zwar kürzere, doch in Wirklichkeit schwerere aufsichtsbehördliche Prüfung. Dafür musste ich enorm viel auswendig lernen.

Mein Team brauchte mich am Schreibtisch. Die Firma wollte, dass ich mich im Unterricht mit behördlichen Bestimmungen für Kommunalobligationen zur Vorbereitung auf die «Series 7»-Prüfung befasste. Und dann war da noch der Umstand, dass andere Investmentbanken ihren Kandidaten ein oder zwei Anläufe zugestanden, um die Prüfung zu bestehen. Bei Goldman wird aber vorausgesetzt, dass das beim ersten Mal klappt. Sobald die Testergebnisse bekannt sind, werden sie im ganzen Unternehmen publik. Im Handelssaal laufen sogar halbernste Wetten darauf, wie die verschiedenen Trainees abschneiden. Bei einer solchen Prüfung durchzufallen ist eine äußerst demütigende Erfahrung. Der Druck auf einen Wall-Street-Neuling ist entsprechend hoch.

Zur Vorbereitung auf die Prüfung erhielten wir eine Woche Blockunterricht, in dem uns von neun bis siebzehn Uhr knochentrockener Stoff vermittelt wurde: Welche Gesetze regeln den Verkauf von Unternehmensanleihen an eine Pensionskasse? Welche Voraussetzungen gelten für die Eröffnung eines neuen Handelskontos für einen Investmentfonds? Der Investment Company Act von 1940 – was ist darunter zu verstehen? Wann wurde die US-amerikanische Börsenaufsichtsbehörde SEC gegründet? Es gab nur wenige praktische Themen wie die Methoden zur Berechnung von Hedging-Kosten. An der Wall Street wurde gelästert, das allermeiste davon würden wir bis zum Ende unserer Laufbahn nie wieder brauchen. Trotzdem mussten wir alles auswendig können. Wir mussten die Prüfung bestehen, damit der aufsichtsbehördlichen Vorschrift Genüge getan war. Es war eine Quälerei. Man brauchte literweise Kaffee, um sich wach zu halten. Wenn ich jetzt, zwölf Jahre später, darüber schreibe, erinnere ich mich buchstäblich an keine konkreten Fakten mehr, die in der Prüfung abgefragt wurden.

Damals ging ich mit meinem Sony-CD-Walkman auf die Dachterrasse im zweiundvierzigsten Stock unseres Wohnhauses, setzte mich in dem kleinen Clubhaus an einen Tisch, hörte Sinatra Reprise: The Very Good Years und bläute mir fünf, sechs Stunden am Stück Wertpapiervorschriften ein. Ich stellte den Player auf «Repeat» und ließ die CD immer wieder laufen – das hat mir oft geholfen, einen Lernrhythmus zu finden. «Summer Wind» und «It Was A Very Good Year» muss ich an die tausendmal gehört haben. Trotzdem mag ich beide Songs noch heute. Für mich sind sie untrennbar mit der «Series 7»-Prüfung und meiner ersten Zeit in New York verbunden.

Es war eine wirkliche Tortur. Immer wieder machte ich den Übungstest für die Prüfung und schnitt nicht besonders glorreich ab. Das machte mir Angst. Wer in die Prüfung ging, sollte so knapp wie möglich über der 70-Punkte-Grenze fürs Bestehen liegen. Das ist eine Frage des persönlichen Stolzes. Wer zu gut abschneidet, hat zu viel gelernt. Knapp über 70 ist perfekt. Ein Ergebnis von 69, die höchstmögliche Punktzahl, um durchzufallen, ist dagegen ziemlich peinlich.

Währenddessen liefen im Handelssaal im Juli und August die Wetten. Trader wetteten auf alles: auf Wimbledon, auf das Masters und darauf, wie viele White-Castle-Burger ein Nachwuchsanalyst verdrücken konnte. Selbst das Platzen der Technologieblase gebot dem Treiben keinen Einhalt. Ich erinnere mich da an einen Trader, einen dürren Kerl namens Tommy, über den sich alle lustig machten. Plötzlich wurden wie wild Wetten darauf abgeschlossen, wie viel Tommy beim Bankdrücken stemmen könnte. Es wurde so ein Hype daraus, dass sogar «over the hoot» – also über die Lautsprecheranlage des Handelssaals, die gewöhnlich geschäftlichen Mitteilungen vorbehalten war, auch «Hoot-and-Holler» genannt – Wetten ausgerufen wurden. Jeder hatte eine Meinung. Die eher Gefühlsbetonten meinten, dass Tommy mit 1,75 Metern Größe und maximal 65 Kilo zwar schwächlich wirke, doch vermutlich mehr stemmen könne, als man annahm. Es gab aber auch eine rationale Fraktion, die ganz anderer Ansicht war. Es wurde eifrig gewettet und hin und her diskutiert – womöglich auch um Flauten auf den echten Märkten zu überbrücken. In den schleppenden Handel an einem späten Vormittag hinein sagte ein Managing Director plötzlich: «Also gut, jetzt klären wir das. Tommy, ab ins Fitnessstudio.» Es entbrannte eine heftige Diskussion über die Zahl der nötigen Zeugen. Am Ende wurden drei Zeugen abgeordnet, und natürlich stemmte Tommy viel mehr, als ihm irgendwer zugetraut hatte. An jenem Tag wechselte eine Menge Geld den Besitzer. Tommy sollte übrigens später Managing Director werden.

Im Sommer 2001 konzentrierten sich die Wetten im Handelssaal auf die Ergebnisse der neuen Analysten in der «Series 7»-Prüfung.

Das Ganze lief ab wie das übliche Trading. Wenn auf dem Markt gerade wenig los war, gewöhnlich zwischen elf und halb zwölf, stand einer auf und rief jemandem in der nächsten Reihe zu: «Bald ist Prüfung – was meinst du? Wie steht der Markt für Series 7?» Und zwar so laut, dass es alle hören konnten. «Wie Greg wohl abschneiden wird? Und Mulroney? Oder JF?»

Wie beim Trading würde einer antworten: «Tja, mein Markt für Greg ist 72 zu 77.» Markt war gleichbedeutend mit dem Bid-Ask-Spread, der Geld-Brief-Spanne. Das hieß, der Betreffende war bereit, zu 72 zu kaufen – weil er davon ausging, dass Greg besser abschnitt – und würde zu 77 verkaufen, weil er Greg mehr nicht zutraute.

Sein Wettgegner konnte dann kaufen oder verkaufen. Wenn er davon ausging, dass ich unter 72 blieb, würde er sagen: «Ich kaufe zum Geldkurs für 72.» Dass bedeutete, 72 war nun der Bogey. War mein Ergebnis besser, würde der Käufer gewinnen. War ich schlechter als 72, würde der Verkäufer gewinnen.

Wie viel? Der Mindesteinsatz in der Firma waren gewöhnlich 100 Dollar (ein «Hundo», wie es an der Wall Street hieß). Doch in Wirklichkeit ging es gar nicht ums Geld. Man wollte die jungen Analysten einschüchtern und provozieren. Man wollte den Druck erhöhen und ihnen klarmachen: «Setzt die Prüfung bloß nicht in den Sand.»

Doch ich hatte das ungute Gefühl, dass mir genau das passieren könnte. Am Vorabend der Prüfung hatte ich in der Bibliothek gesessen und gelernt – in der riesigen, einschüchternden Bobst Library der New Yorker Universität im Village (zu der ich mir mit einem alten Studentenausweis aus Stanford Zutritt verschafft hatte). Ich rief einen befreundeten Analysten an, einen Schweden namens Kris Ekelund, und meinte: «Hör mal, ich schaffe bei den Übungsprüfungen immer nur Werte um 70 oder 72. Wenn das mal nicht ins Auge geht.» Für meinen Geschmack war das ziemlich knapp.

«Mach dir keine Gedanken», entgegnete Kris. «Wir schaffen es – und nur darauf kommt’s an.»

 

Als mein Taxi vor dem One Penn Plaza vorfuhr, hatten sich die anderen Junganalysten schon alle vor dem Gebäude versammelt und zappelten nervös herum. Ein paar saßen auf den Betonbänken und versuchten, schnell noch ein paar knifflige Fragen zu klären. Ich ging zu Starbucks und kaufte mir eine Flasche Wasser. Ich war zu angespannt, um Kaffee zu trinken. Jetzt keinen Mist bauen. Du darfst das auf keinen Fall vermasseln …

Zum Lernen fand ich es zu spät. Also stand ich herum, unterhielt mich mit Bekannten und versuchte, einen klaren Kopf zu behalten. Mir war flau im Magen. Dann endlich fuhren wir gruppenweise in den sechzehnten Stock.

Es war Viertel vor acht. Vor den Fenstern des Warteraums im Prometric Testing Center schimmerten die Bürotürme in der Morgensonne. Sie reichten von der 34. Straße bis nach Lower Manhattan. An Tischen saßen Mitarbeiter, die Ausweise prüften. Wer am Test teilnehmen wollte, musste sich mit zwei Dokumenten ausweisen können. Ich hatte meinen südafrikanischen Reisepass dabei und meinen kalifornischen Führerschein. Wir mussten eine eidesstaatliche Erklärung unterzeichnen, dass wir auch wirklich wir selber waren, dann wurden wir eingetragen und erhielten ein nummeriertes Schloss mit Schlüssel. Wir mussten unsere Taschen ausleeren und den Inhalt in den uns zugewiesenen Spind sperren. Im Prüfungsraum durften wir nicht einmal eine Uhr tragen oder einen Stift dabeihaben. Das alles war nicht dazu angetan, meine Nerven zu beruhigen.

Dann führten die Prüfungsbetreuer im Testing Center jeden Kandidaten einzeln zu einem Rechner in dem fensterlosen Prüfungsraum. «Series 7» dauerte sechs Stunden und umfasste zweihundertfünfzig Fragen im Multiple-Choice-Verfahren, die in zwei dreistündigen Sitzungen mit einer kurzen Mittagspause dazwischen zu bearbeiten waren. Sie werden auf dem Bildschirm gestellt statt in Papierform. Der Vor-oder auch Nachteil dieses Verfahrens war, dass nach Beendigung der Prüfung unmittelbar das Ergebnis angezeigt wurde. (Der Computer brauchte quälende fünf Sekunden, um die erreichte Punktzahl auszurechnen.) Wir bekamen sogar Ohrstöpsel, die wir auf Wunsch verwenden durften (wollte ich nicht), zwei Bleistifte im Härtegrad 2 und Schmierpapier zum Rechnen. Miteinander zu sprechen wurde uns ausdrücklich untersagt. Wer aufs Klo musste, musste sich abmelden und bei der Rückkehr wieder anmelden …

Dann begann mit ein paar Mausklicks die «General Securities Representative Qualification Examination (Series 7)».

Etwa eine Stunde später, wir steckten gerade mitten in den Multiple-Choice-Fragen, erklang aus der Sprechanlage des Raums eine Stimme. Ein Mann sagte ruhig: «Bleiben Sie bitte alle an Ihrem Platz. Das Gebäude wird nicht evakuiert.»

Was war das denn – Feueralarm? Weitere Meldungen kamen nicht. Komisch, dachte ich. Doch dann konzentrierte ich mich wieder auf die Prüfung. Zehn Minuten später meldete sich der Mann noch einmal, diesmal mit einer etwas klareren Ansage: «Bitte verlassen Sie nicht das Gebäude. Wir warten auf Nachricht aus dem Bürgermeisteramt.» Wieder fragte ich mich, ob das eine Übung war, doch auch diesmal kamen keine weiteren Durchsagen.

Zehn Minuten später sagte dieselbe Stimme aus dem Lautsprecher: «Wir warten auf Nachricht von der New Yorker Polizei und dem Bürgermeisteramt. Bitte bleiben Sie ruhig.» Wir sahen uns verwundert an. Da stürzte plötzlich eine weinende Frau ins Zimmer und schrie aus Leibeskräften: «Wir müssen hier alle raus, raus, raus! Jetzt gleich!»

Es war die Prüfungsbetreuerin, die vor dem Zimmer gesessen hatte und bei der sich jeder ab-und wieder anmelden musste, der zur Toilette ging. Wir waren alle schockiert. Niemand wusste, was los war. Wir hatten uns auf sechs Stunden Prüfung eingestellt. «Was wird aus der Prüfung? Läuft die Uhr weiter?» Abgesehen von der Verwirrung empfand ich sogar eine gewisse Erleichterung. Die Prüfung war nach meinem Gefühl gar nicht gut gelaufen. Wir gingen in den Wartebereich des sechzehnten Stocks hinaus, wo die Prüfungsbetreuer Leute in die Aufzüge winkten. Was zum Teufel war da los?

Da sah ich, wie sich viele an den raumhohen Fenstern drängten, murmelten und gestikulierten. Ich ging zu ihnen.

Ganz im Süden über dem rechten Turm des World Trade Center, dem North Tower, quoll im Sonnenlicht Rauch in den klaren Morgenhimmel. Keiner wusste, was passiert war. Es war ein verstörender, unwirklicher Anblick.

Eine Gruppe von uns drängte sich in einen Aufzug, und wir fuhren hinunter.

Draußen auf der 33. Straße war es warm. Noch strahlte die Sonne. Der Verkehr floss. Die Infrastruktur der Stadt funktionierte offenbar. Doch irgendetwas stimmte nicht. Die Menschen blieben in Gruppen auf dem Fußweg stehen und unterhielten sich. Um ein parkendes Auto, aus dem bei offenen Fenstern das Radio plärrte, hatte sich eine Menschentraube gebildet. Ein Sprecher sagte etwas von einem Flugzeug, das ins World Trade Center gestürzt sei. Keiner wusste Genaueres. Alle spekulierten. Ein Unfall? Ein Terroranschlag?

Eins war mir klar: In meine Wohnung konnte ich nicht zurück, denn sie lag nur ein paar Blocks von den Zwillingstürmen entfernt. Also gesellte ich mich zu Kris Ekelund und mehreren anderen Goldman-Analysten, die sich auf dem Fußweg versammelt hatten. Wenn es ein Terroranschlag war, so überlegten wir, wäre es vermutlich am sichersten, nicht zwischen den Wolkenkratzern im Zentrum zu bleiben, sondern Richtung Greenwich Village zu gehen, wo Kris wohnte.

Wir bogen nach rechts in die Seventh Avenue ein und wandten uns nach Süden. Ein Taxi war natürlich nicht zu bekommen. In der 23. Straße bogen wir in östlicher Richtung in die Sixth Avenue ab und liefen dann nach rechts in Richtung Village. Die Sixth Avenue ist eine der Straßen, über die man freien Blick auf Lower Manhattan hat. Daher konnten wir sehr genau die riesigen Rauchwolken sehen – und die furchtbaren Flammen, die aus beiden Türmen schlugen. An jeder Kreuzung standen Menschen in Grüppchen zusammen und schauten die Straße hinunter auf das Unvorstellbare. Wir gingen einfach weiter darauf zu, um uns in den niedrigeren Gebäuden des Village in Sicherheit zu bringen. Rückblickend hätten wir uns nach Norden wenden sollen, nicht nach Süden. Doch in der Situation konnten wir keinen klaren Gedanken fassen. Wir marschierten weiter, spekulierten wild herum, was da passiert sein mochte – und starrten dabei unverwandt auf die brennenden Hochhäuser.

Kurz vor zehn geschah vor unseren Augen etwas absolut Irreales: Der Südturm stürzte ein. Mit einem gewaltigen Grollen zerfiel er wie in Zeitlupe zu grauem Staub. Es war unfassbar.

Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Dann fingen die Menschen an zu schreien und rannten los. So etwas hatte noch niemand auf der Welt erlebt. Keiner wusste, wie er darauf reagieren sollte. Ich jedenfalls ganz sicher nicht. Einen Moment lang stand ich reglos da und versuchte, Ruhe zu bewahren. Es waren surreale Minuten, die sich für immer und ewig in mein Gedächtnis gebrannt haben. Zwei große Afroamerikaner standen bei uns und stierten den einstürzenden Turm an. Die Tränen liefen ihnen übers Gesicht. Auch mein Freund Kris weinte. Ich wusste nicht, was ich sagen oder tun sollte. Mir war speiübel. In meinem Kopf rasten die Gedanken wild durcheinander. Tausende mussten in den Gebäuden gestorben sein. Ich war wütend über diesen Anschlag auf Amerika und gleichzeitig dankbar, am Leben zu sein.

«Schnell, lasst uns in meine Wohnung gehen», drängte Kris. «Es wird eng, aber ihr könnt bleiben, solange es nötig ist.» Die ganze Stadt stand jetzt zusammen.

Ich versuchte, meine Familie zu erreichen, um sie wissen zu lassen, dass es mir gutging. Meine Angehörigen saßen Tausende Kilometer weit entfernt in Südafrika. Ich hatte keine Ahnung, wie viel sie mitbekommen hatten. Ich hoffte, sie würden die Katastrophe nicht live mitverfolgen. Doch das Mobilfunknetz war zusammengebrochen, und so würde es noch stundenlang bleiben. Als wir endlich in Kris’ Wohnung ankamen, versuchte ich, über das Festnetz meine Mutter in Johannesburg anzurufen, doch sie besaß damals kein Handy und war nicht zu Hause. Der Erste, den ich erreichte, war mein Bruder Mark, der zu jener Zeit an der Universität von Kapstadt studierte. Ich erinnere mich sehr genau daran. Mein Bruder ist kein emotionaler Typ, doch er hatte sich kaum gemeldet, als er auch schon zu weinen anfing. Mir erging es nicht anders. Wie er mir später erzählte, hatte er befürchtet, ich könnte im World Trade Center gearbeitet haben.

Nach südafrikanischer Zeit am Abend erreichte ich endlich auch meine Mutter. Es stellte sich heraus, dass sie erst spät am Tag von dem Anschlag erfahren hatte. Sie hatte sich daher nur so lange sorgen müssen, bis sie meinen Bruder erreichte, der ihr bestätigen konnte, dass ich in Sicherheit war. Sie hat immer gesagt, sie sei sehr dankbar gewesen, dass sie sich nicht den ganzen Tag hatte ängstigen müssen.

Wir saßen in Kris’ Wohnung beieinander, während es langsam Abend wurde. Wie hypnotisiert verfolgten wir Aaron Brown und Paula Zahn auf CNN. Irgendwann schlief ich erschöpft auf der Couch ein. Am nächsten Morgen ging ich – es war surreal – zum 2nd Avenue Deli (in guten Zeiten meine bevorzugte Anlaufstelle für koschere Köstlichkeiten an der Ecke Second Avenue und 10. Straße). Wider Erwarten war geöffnet. Da ich am Vorabend nichts mehr gegessen hatte, verspürte ich plötzlich einen Riesenhunger. Ich bestellte mir ein Cornedbeef-Sandwich. Während ich wartete, diskutierten ein Afroamerikaner und ein älterer Jude lautstark über die Gründe für den Anschlag auf Amerika. Ein noch surrealeres Bild boten die Straßen im East Village. Sie waren leergefegt wie in einem postapokalyptischen Science-Fiction-Film. New York kam mir vor wie eine Geisterstadt.

Am selben Vormittag erhielt ich jedoch einen ebenso überraschenden wie willkommenen Anruf von einem Personalsachbearbeiter der Londoner Goldman-Sachs-Niederlassung. Er sagte: «Wir wissen, dass Ihre Wohnung nur ein paar Straßen vom World Trade Center entfernt liegt. Wir haben uns um die Notfallversorgung gekümmert. Sie bekommen erstens 2000 Dollar, um Kleidung und alles Nötige zu kaufen. Zweitens hat die Firma Hotelzimmer in der ganzen Stadt gebucht, die wir Ihnen in den nächsten Tagen zur Verfügung stellen können. Und drittens werden wir Ihnen Bescheid sagen, wann die Märkte wieder öffnen.»

Diese Nachricht löste viele Probleme, denn ich konnte nicht in meine Wohnung, mein Bargeld wurde knapp, und ich wusste nicht, woher ich Kleidung fürs Büro nehmen sollte. Ich hatte weder Hemden noch Unterwäsche – noch nicht einmal eine Zahnbürste. Das war sicher nicht dramatisch, doch für mich persönlich bedeutete es eine große Erleichterung, dass ich mich bald wieder wie ein richtiger Mensch fühlen durfte.

Ich legte auf und schüttelte verwundert und dankbar den Kopf. Stunden nach dem Anschlag hatte das Londoner Büro die Initiative ergriffen, festgestellt, wo ich wohnte, mich aufgespürt und mir Hilfe angeboten. Das war Goldman Sachs von seiner besten Seite. Ich weiß noch, wie ich dachte, dass Goldman Sachs wirklich der Goldstandard war, wenn es um Effizienz, Ausführung und Organisation ging. Dort arbeiteten die klügsten, findigsten Leute. Da kam keine andere Bank an der Wall Street heran.

Es war seltsam, in dieser aufwühlenden Situation an sachliche Themen wie die Wiedereröffnung des Marktes zu denken. Trotzdem war es wichtig. Bürgermeister Giuliani hatte das erkannt. Osama Bin Laden hatte Amerikas Finanzzentrum attackiert, nur ein paar Blocks von der New York Stock Exchange entfernt, dem globalen Symbol des Kapitalismus schlechthin. Wenn die Märkte zügig, effizient und geordnet wieder eröffnet werden konnten, wäre das die beste Möglichkeit zurückzuschlagen, New York und Amerika wieder auf die Beine zu bringen und unsere kollektive Unbeugsamkeit unter Beweis zu stellen.

Ich weiß noch, dass ich zu meinem Freund Kris sagte: «Die Welt hat sich für immer verändert. Ich wünschte, es könnte alles wieder so sein wie gestern morgen.» Es war, als wären wir aus einem schönen Traum gerissen worden und in einem Albtraum erwacht. Und wir konnten nichts dagegen tun. «Ich wünschte, die Zeit verginge schneller», dachte ich und: «Wann wird mir die Welt wohl wieder normal vorkommen?»

Es sollte lange dauern.

 

Mein erster Arbeitstag nach dem Anschlag war Montag, der 17. September 2001. Weil ich immer noch nicht in meine Wohnung zurückdurfte, hatte ich ein paar Tage lang bei Kris kampiert, dann eine Nacht in einem von Goldman gebuchten Hotel verbracht (The Beekman, Ecke 49. Straße und First Avenue), und schließlich war ich zu einem anderen Freund gezogen, der jenseits des Hudson River in Jersey City wohnte. Ich hätte auch länger im Beekman bleiben können, doch Goldman hatte beim Verzicht auf das Hotel eine weitere Barabfindung angeboten, und auf meinem Konto waren keine 7500 Dollar mehr. Da mir klar war, dass schwere Zeiten bevorstanden, nahm ich das Geld.

An jenem Morgen saß ich noch vor 5 : 30 Uhr im PATH-Zug aus Jersey City. Mit dem Geld von Goldman Sachs hatte ich mir bei Banana Republic neue Sachen gekauft, aber ich war unrasiert und übermüdet. Nach allem, was sich ereignet hatte, war es ein eigenartiges Gefühl, zur Arbeit zu fahren. In der Firma angekommen, rief ich meinen Freund Mark Mulroney an und bat ihn, sich den elektrischen Rasierapparat, den ich in meinem Schreibtisch aufbewahrte, zu schnappen und sich mit mir auf einer anderen Etage zu treffen. Am ersten Tag nach meiner Rückkehr wollte ich respektabel aussehen.

An diesem 17. September erlebten die Märkte einen der schlimmsten Tage in ihrer Geschichte. Der S&P 500 (der von Wall-Street-Investoren am häufigsten herangezogene Referenzindex Standard&Poor’s) verlor fünf Prozent, und der Dow sackte um sieben Prozent ab. Seltsamerweise fühlte sich das aber gar nicht nach Panik oder Crash an. Die Investoren waren sogar hochzufrieden damit, wie geregelt die Märkte funktionierten. Die NYSE und die NASDAQ eröffneten reibungslos, die Rentenmärkte arbeiteten, und in den Pits der Mercantile Exchange von Chicago und New York wurden Rohstoffe gehandelt. Es war ein guter Tag. Alle hatten mit weit mehr Chaos und mit Panikstimmung gerechnet, doch Amerika demonstrierte, dass es wieder im Geschäft war. Das erfüllte mich mit Genugtuung.

Ich war auch stolz darauf, wie Goldman Sachs rund um die Uhr gearbeitet hatte, um zu gewährleisten, dass unsere Technik funktionierte und unser Betrieb lief und dass unsere Kunden ungehindert handeln konnten. Goldman hatte auch maßgeblich dazu beigetragen, dass die NYSE so schnell wieder öffnen konnte – keine Woche nach den schlimmsten Terroranschlägen, die je auf amerikanischem Boden stattgefunden hatten.

Zwei Wochen nach den Anschlägen zogen wir endlich wieder in unsere Wohnung zurück. Nur vier Blocks südlich rauchten noch immer die Trümmer des World Trade Center. Hartnäckiger Brandgeruch hing in der Luft. Es war ein Gestank, wie ihn keiner von uns zuvor jemals gerochen hatte – eine Mischung aus versengtem Stahl, verschmortem Kunststoff und verbranntem Fleisch. Einfach furchtbar. Bautrupps mit Kränen und schwerem Gerät arbeiteten Tag und Nacht, um das Gelände zu räumen. Der Schutt wurde auf Frachtkähne verladen, die auf dem nahen Hudson lagen – gleich vor unserer Haustür. Monatelang wurde rund um die Uhr gearbeitet. Der Lärm setzte nie aus.

Es war nicht leicht, in dieser Umgebung zu leben. Wir dachten an einen Umzug. Ich fragte mich immer wieder: «Warum sind wir bloß nicht gleich weggezogen?» Doch unsere Welt war auf den Kopf gestellt worden. Wir hatten gerade an der Wall Street angefangen und wollten einfach weitermachen, so gut es ging.

Die ersten Wochen zurück am Arbeitsplatz waren in verschiedener Hinsicht schwierig. Zum einen standen alle unter Schock. Zum anderen hatte sich die nach der Technologieblase und vor dem 11. September ohnehin schon heikle Lage noch deutlich verschlimmert. Die Märkte setzten zum Sturzflug an. Die Kunden bekamen Angst. Die Schwellenmärkte – für die mein Team zuständig war – reagierten nervös. Die Börsen straften uns ab. Unser Bereich war der, für den alle eine Rezession befürchteten.

Obendrein mussten wir einen Monat später noch einmal zur «Series 7»-Prüfung antreten. Der 11. September hatte deutlich gemacht, was im Leben wirklich wichtig war. Eine Stimme in mir sagte: «Das ist doch nur ein lächerlicher Test.» Doch wenn ich meine Karriere richtig – oder überhaupt – in Gang bringen wollte, musste ich ihn bestehen, so war es nun einmal. Ich konnte schließlich nicht auf Dauer Kaffeebestellungen aufnehmen und Fotokopien machen. Gleichzeitig fiel es mir unendlich schwer, mich wieder in meine Bücher zu vertiefen. In der Stadt – und auch in der Firma – griff nach den Anschlägen die Paranoia um sich. Stand ein weiterer Terrorakt bevor? Eine Kollegin kam nach dem 11. September gar nicht mehr an ihren Arbeitsplatz zurück. Sie setzte keinen Fuß mehr ins Büro. Wir befanden uns einfach viel zu nah an den qualmenden Trümmern, zu nah am Trauma.

Viele waren mit den Nerven am Ende. Gleichzeitig war es berührend, wie alle dennoch zusammenhielten und sich gegenseitig unterstützten – und auch unsere Kunden. Über allem stand die Botschaft: «Jetzt zeigt sich, dass wir anders sind. Das macht Goldman Sachs aus. Kümmern wir uns besonders intensiv um unsere Kunden. Helfen wir ihnen, wieder auf die Füße zu kommen – auch wenn wir nicht unmittelbar davon profitieren. Denn das werden sie sich merken.»

Diese Botschaft entsprach der altehrwürdigen Goldman-Sachs-Tradition. Und wir konnten sie so überzeugend vertreten, weil die alte Garde noch immer präsent war. Viele Managing Partners aus der Zeit vor dem Börsengang waren noch in Amt und Würden. Hank Paulson war erst vor kurzem alleiniger CEO geworden. Es war noch nicht lange her, dass er Jon Corzine aus dem Amt gedrängt hatte. (Corzine, der die Entscheidung für den Börsengang der Firma wortgewaltig befürwortet hatte, wurde später Gouverneur von New Jersey, US-Senator und dann CEO von MF Global, einem Futures-Maklerhaus, das pleiteging nach der Veruntreuung von Kundengeldern in dreistelliger Millionenhöhe.) Paulsons Brief an die Aktionäre im Geschäftsbericht 2001, der kurz nach dem 11. September veröffentlicht wurde, betonte wieder zentrale Unternehmenswerte wie Integrität und Engagement für die Kunden. Die Firma richtete sogar einen Hilfsfonds für Menschen und Organisationen ein, die durch die Anschläge Verluste erlitten hatten. Goldman-Mitarbeiter zahlten 5,5 Millionen Dollar ein, die die Firma um die gleiche Summe aufstockte.

Das war der Makrokosmos. Im Kleinen versuchte ich auch in dieser Ausnahmephase, mich in meinen Job einzuarbeiten. Jeden Morgen um 5 : 30 Uhr drängten sich alle neuen Analysten im Kopierraum. Das war unsere erste Interaktion des Tages. Wir wetteiferten um das Gerät, da wir stapelweise Kopien für die höherrangigen Mitglieder unserer Teams parat haben mussten, wenn diese um sechs ins Büro kamen. Wir kopierten Research-Berichte über Aktien, die von Goldman-Analysten durchleuchtet worden waren. Wir fassten Artikel aus dem Wall Street Journal oder von Bloomberg zusammen, die für das Tagesgeschäft bedeutsam waren. Hinter dem Zusammentragen und Kuratieren all dieser Daten stand der Gedanke, dass man seinen Vorgesetzten Arbeit abnahm. Sie mussten nicht selbst Hand anlegen, um all das Material zu durchforsten. Das war der Mehrwert eines jungen Analysten.

Ein gewisse Bekanntheit als Junior Analyst erlangte ich durch eine Beobachtung, die ich schon bald nach meinem Eintritt in die Firma gemacht hatte. Sobald ein Unternehmen seine Ergebnisse bekannt gab, wollte jeder an der Wall Street die Zahlen zur Hand haben. Waren sie gut oder schlecht ausgefallen? Als ich zu Goldman kam, fiel mir auf, wie sich alle um die Research-Berichte rissen, um die Zahlen in Erfahrung zu bringen. Ich kam auf die Idee, allen Sales-Tradern und Tradern im achtundvierzigsten Stock vor der Herausgabe einer Gewinnmeldung per E-Mail einen schlichten Fünfzeiler zukommen zu lassen. Er lautete: «Heute Vormittag meldet Apple seine Ergebnisse. Hier unsere Erwartungen; die Zahlen aus dem letzten Quartal; der iMac-Absatz; unsere Absatzprognose.» Diesen kleinen «Spickzettel» hatten alle Händler vor sich, bevor die neuen Zahlen bekannt wurden.

Mit so etwas konnte sich ein Analyst beschäftigen, der die «Series 7»-Prüfung noch nicht bestanden hatte. Sie mochten banal und albern wirken, doch wenn die anderen sahen, was man tat, dachten sie vielleicht: Der Kerl hat Ideen – er versucht, sich nützlich zu machen.

Außerdem lernte ich damals, wie man einem Kunden möglichst optimal Voicemail-Nachrichten hinterlässt. Ich lernte dabei noch einmal ganz neu, wie man über Aktien sprach. Ich übte jeden Tag, bis alles passte, denn so eine Nachricht durfte maximal neunzig Sekunden lang sein und musste vier oder fünf tagesaktuelle Kernpunkte abdecken. Welche Ereignisse bewegten den Markt? Was musste der Kunde wissen? Welche Auffassung vertraten wir? Ich lernte von einem wahren Meister dieses Fachs: Rudy. Mein Mentor wurde auch deshalb «das Tier» genannt, weil er mehr solche Nachrichten an Kunden absetzte als jeder andere – stets hochengagiert und mit fundiertem Marktwissen.

Rudy wusste sehr genau, warum er diese Kurzberichte mündlich ablieferte statt per E-Mail. Er fand, dass er durch seinen Tonfall jeden Aspekt genau richtig akzentuieren konnte. Als ich eine Weile im Geschäft war, hielt ich offen gestanden nicht mehr viel von Voicemails. Wenn ein Kunde davon jeden Morgen hundert Stück bekam, wie hoch war dann die Wahrscheinlichkeit, dass er ausgerechnet auf meine besonders achten würde? Sobald ich meine Kunden besser kannte, war meine Beziehung zu ihnen ohnehin so gut, dass sie den Anruf annahmen, wenn sie meinen Namen auf dem Display sahen.

Nach dem 11. September waren die Wetten auf die «Series 7»-Kandidaten sichtlich erlahmt. Niemand im Handelssaal war mehr in der Stimmung. Ich auch nicht. Nachdem ich gesehen hatte, wie schwer die Prüfung war, vergrub ich mich noch tiefer in meine Bücher – so lange, bis ich bei den Übungstests 82 oder 83 Punkte schaffte. Es fiel mir aber sehr schwer, mich in dieser Zeit zum Lernen zu motivieren.

Einen Monat nach den Anschlägen fanden wir uns erneut im One Penn Plaza ein. Wir fuhren mit demselben Aufzug in den sechzehnten Stock. Warteten in demselben Warteraum. Trafen auf dieselben Betreuer, die die Prüfung überwachten. Ich schaute durch dasselbe hohe Fenster, durch das ich den brennenden Nordturm gesehen hatte. Es war ein unwirkliches Gefühl. Doch auf die Prüfung war ich diesmal besser vorbereitet. Ich fand es damals ziemlich unbarmherzig von Goldman, uns nur einen Monat später wieder zur Prüfung antreten zu lassen. Das finde ich auch heute noch. Doch realistisch betrachtet half alles nichts. Wir brauchten sie einfach.

Als ich nach meiner letzten Antwort auf die entsprechende Schaltfläche klickte, lautete die freudige Botschaft: 86 Punkte. Endlich konnte ich Geschäfte machen.

Ich brauchte nur noch Kunden.

Nach und nach setzte Rudy mehr Vertrauen in mich. Er übertrug mir ein paar Kunden, die ich betreuen durfte. An der Wall Street nennt man sie «Practice Clients» – Übungskunden. Die Firma verdient nicht viel an ihnen, hat aber auch wenig zu verlieren. Im Idealfall wird so ein Kundenkontakt auf beiden Seiten von Nachwuchskräften gepflegt, die noch in der Ausbildung sind.

Währenddessen kämpfte meine slowakische Kollegin ganz offensichtlich mit härteren Bandagen. Wenn das Telefon klingelte, war es normalerweise die Aufgabe des jüngsten Analysten, den Anruf entgegenzunehmen. Sie versuchte ständig, mir zuvorzukommen. Wenn ich bei zehn Kunden Nachrichten hinterließ, schaffte sie zwölf. Mir kam das alles etwas widersinnig vor. Wir zogen doch am gleichen Strang, und ich stellte für sie keinerlei Bedrohung dar.

Oder doch?

Im vorigen Sommer hatten wir den Börsengang eines türkischen Telekommunikationsunternehmens betreut. Rudy brauchte jemanden, der ihren CEO zu Besuchen bei den großen Hedgefonds und Investmentfonds begleiten würde, die zu unseren Kunden zählten. Er musterte mich von oben bis unten und meinte dann: «Das übernehmen Sie, Springbock.»

Spitznamen waren wichtig bei Goldman Sachs, und Rudy das Tier hatte mir einen guten verpasst. Der Springbock ist eine flinke Gazelle und so eine Art nationales Maskottchen Südafrikas. Es war das Symbol der Rugby-Nationalmannschaft.

Da war ich also, kaum aus der Uni, allein mit dem Chef eines Milliardenunternehmens, dem ich die Tasche hinterhertrug, während wir kreuz und quer durch Kalifornien und Texas reisten. Er war aalglatt bis hin zu seinem zurückgekämmten Haar, und man merkte ihm an, dass er in seiner türkischen Heimat eine große Nummer war. Er hätte Wirbel machen können, weil man ihm nur einen kleinen Nachwuchsanalysten zur Seite stellte. Ich glaube allerdings, er fühlte sich bei seinem Amerikabesuch ein bisschen befangen. Zum einen sprach er kaum Englisch (ich allerdings noch weniger Türkisch), zum anderen war er noch nie in San Francisco, San Diego oder San Antonio gewesen. Obwohl ich selbst erst seit vier Jahren in den Staaten lebte, kannte ich mich sehr viel besser aus als er.

Anfangs wusste ich nicht genau, wie stark ich mich bei Kundenterminen ins Gespräch einbringen durfte. Sollte ich lieber den Mund halten? Sollte ich jeden Kundenkontakt mit ein paar Worten über das türkische Unternehmen einleiten? Ich stellte fest, dass der türkische CEO jede Hilfestellung dankbar annahm. Und ich lernte jeden Tag dazu.

Diese Dienstreise bescherte mir noch ein weiteres kleines Erfolgserlebnis. Nach einem vollen Tagesprogramm in San Francisco konnte ich Stanford und ein paar alte Freunde besuchen – nicht nur als ehemaliger Student, sondern als Mitarbeiter von Goldman Sachs. Stolz erzählte ich allen, dass ich geschäftlich in der Stadt war. Zufällig fand an dem bewussten Wochenende das traditionelle «Big Game» statt, und wir besiegten unseren Football-Erzrivalen Cal Berkeley zum siebten Mal in Folge mit 35 : 28. (In den nächsten Jahren sollte es allerdings aus sein mit dieser Glückssträhne.) Rudy das Tier wusste, dass er mir mit diesem Auftrag einen großen Gefallen getan hatte, und ich honorierte das.

In jenem Herbst ging ich mehrfach auf Geschäftsreise. Im Scherz sagte Rudy oft, er würde mich zu all den langweiligen Städten wie San Antonio und Dallas schicken, weil er keine Lust hatte, selbst hinzufahren. Ich fand es aufregend. Wenn Rudy sagte: «Springbock, Sie fahren nach Columbus, Ohio», verdrehte ich nicht die Augen. Für mich war das die Chance, mehr von dem Land zu sehen, dass ich so liebte. Auf jeder Geschäftsreise – auch später, als ich nach London geschickt wurde und Termine in Dubai, Frankfurt oder Paris wahrnahm – versuchte ich, mir abends ein paar Stunden freizunehmen, ein nettes Lokal zu finden, um womöglich ein bisschen mit den Leuten in Kontakt zu kommen – auf die Gefahr hin, dass ich am nächsten Morgen ziemlich gerädert war.

Ich war gern geschäftlich unterwegs und genoss es, Goldman Sachs zu repräsentieren. Das war einer der großen Vorteile der Tätigkeit in einem so kleinen Team. Mein frankokanadischer Wohnungsgenosse gehörte zur Abteilung Canadian Equity Sales, die fünfzehn Mitarbeiter hatte. Er wurde noch nicht so früh auf Reisen geschickt. Ich fühlte mich privilegiert. Dass ich herumkam, verschaffte mir nicht nur Vorsprung vor anderen Nachwuchsanalysten, sondern auch viele Kundenkontakte. Diese Erfahrungen brachten mich näher an die Ausführung meiner ersten Transaktion heran.

 

Das erste Geschäft an der Wall Street ist eine große Sache. Für mich war das ein stolzer Moment, auch wenn die Firma daran insgesamt nur 600 Dollar verdiente – vermutlich weniger, als Goldman Sachs jeden Tag für das Nachfüllen seiner Seifenspender ausgab. Ein Investmentfonds-Kunde, den ich sechs Wochen lang täglich angerufen hatte, beschloss, mich für meine Mühe zu belohnen, und orderte 500 kleine Aktien von South African Breweries (SAB). (Setzte man der Aktienanzahl das Adjektiv «klein» hinzu, hieß das, es waren tatsächlich nur 500 Stück gemeint – und nicht 500 000, wovon ein Trader ohne diese Zusatzinformation ausgehen würde. Rudy ist hoch anzurechnen, dass er die Bedeutung dieses Augenblicks erkannte und beschloss, ihn entsprechend zu würdigen.)

Rudy das Tier war ein «Kulturträger». Und er fand den Anlass wichtig genug, um ihn in klassischer Wall-Street-Manier zu feiern: indem er die Krawatte des Händlers abschnitt und den abgeschnittenen Teil an die Decke hängte.

Es gab da nur ein Problem – ich trug an dem betreffenden Tag gar keine Krawatte.

Dazu muss man wissen: Bis Ende der neunziger Jahre hatten Verkäufer und Händler bei Goldman Sachs stets Anzug und Krawatte getragen, doch während der Technologieblase musste Goldman mit dem Silicon Valley um die besten und fähigsten Bewerber konkurrieren. Die Sitten der New Economy hatten ein bisschen auf die alte Wall Street abgefärbt. (Goldman war da Vorreiter. Bei manchen Banken wie Lehman Brothers galt noch lange danach Anzug-und Krawattenzwang.)

Als mein Sommerpraktikum begann, hatte Goldman seine Kleiderordnung schon von förmlicher «Geschäftskleidung» auf weniger formelle «Bürokleidung» umgestellt. Ein paar übereifrige Praktikantinnen hatten den Bogen aber überspannt und waren in Miniröcken und schwarzen Disco-Hemdchen im Handelssaal aufgekreuzt. Es kam so weit, dass die Personalabteilung eine Rundmail an alle Praktikanten schreiben musste, die klarstellte: «Dies hier ist Goldman Sachs und kein Club Goldman.»

Im folgenden Sommer, als ich fest bei Goldman angestellt wurde, nahm ein Analyst im zweiten Jahr uns Neulinge beiseite und sagte: «Ich will Ihnen einen nützlichen Rat geben», sagte er. «Nur zwei Worte: Brooks Brothers. Das ist die Wall-Street-Uniform.» Und im Großen und Ganzen richteten wir uns alle danach. Man ging los und kaufte sich fünf Paar khakifarbene Anzughosen von Brooks Brothers. Wagemutigere vielleicht auch ein oder zwei Paar von Banana Republic. Ein oder zwei Hosen konnten auch dunkelbraun sein statt khaki. Dazu kamen zehn Oberhemden in unterschiedlichen Blautönen. Bis heute sind solche Kombinationen bei neunzig Prozent der männlichen Mitarbeiter in den Handelssälen der Wall Street Standard.

Ein Partner oder Managing Director von Goldman Sachs trug meist teure, aber unaufdringliche Anzüge oder Kombinationen von Marken wie Brioni (für Herren) – oder Maßanfertigungen aus der Savile Row oder aus Hongkong. Bei Krawatten, Tüchern und Accessoires waren für Damen und Herren Hermès oder Ferragamo üblich. Das ungeschriebene Gesetz für Partner und MDs von Goldman Sachs lautete, sich grundsätzlich dezent, in neutralen Farben und nicht zu protzig zu kleiden. Aber auf jeden Fall sichtlich edel. Ein solcher Anzug hätte mich mehr gekostet als drei Monatsmieten. Deshalb hielt ich mich an die beiden, schon leicht ausgebeulten Brooks-Brothers-Anzüge, die ich mir geleistet hatte, als ich übernommen worden war. Ich trug sie immer, wenn ich mit Kunden zusammentraf – also in der Regel einmal die Woche.

Das Schicksal wollte es aber, dass ich an jenem bedeutungsvollen Tag, als ich mein erstes Geschäft abschloss und meine abgeschnittene Krawatte feierlich an die Decke gehängt werden sollte, lediglich Bürokleidung trug.

Wie jeder gute Manager improvisierte Rudy. Er erhob sich neben mir von seinem Stuhl am Ende einer langen Reihe von Händlern und verkündete den wenigen, die es mitbekamen: «Okay, Springbock, aus gegebenem Anlass schneide ihn Ihnen hiermit einen Knopf ab.» Er winkte mich heran. «Kommen Sie her», sagt er. Er griff nach meinem Hemdkragen (es war zufällig eines der dunkelblauen Hemden, die ich mir für das Sommerpraktikum gekauft hatte), schnitt den obersten Knopf ab und platzierte ihn unter dem Beifall der anderen auf meinem Monitor. Ich schüttelte Rudy kräftig die Hand.

Er tat aber noch etwas Unerwartetes. Er nahm sich die Freiheit, eine E-Mail an rund fünfundzwanzig Mitarbeiter der Abteilung International Equitites zu senden, darunter auch solche an höherer Stelle. Sie lautete: «Heute ist ein großer Tag und ein wichtiger Meilenstein in der Karriere von Springbock. Er hat mit South African Breweries sein erstes Geschäft über die Bühne gebracht. Die Transaktion bringt der Firma 600 Dollar. Bitte schließen Sie sich meiner Gratulation und meinen guten Wünschen für eine lange, erfolgreiche Karriere an der Wall Street an. Zu Ehren dieses besonderen Tages habe ich ihm statt der Krawatte einen Hemdknopf abgeschnitten.» Die E-Mail war kaum verschickt, da strömten schon die Gratulanten herbei – darunter auch der eine oder andere Managing Director –, um mir feierlich die Hand zu schütteln. Ich wurde offiziell in den Club aufgenommen. Für mich war das ein stolzer und glücklicher Augenblick.

Dabei war Rudy Glocker alles andere als sentimental. Während meiner ersten Arbeitswochen drückte er mir ein Exemplar von Hardball von Chris Matthews in die Hand, mit praktischen Ratschlägen zum Überleben in der knallharten Welt der Politik. Rudy war selbst knallhart und legte großen Wert auf Pünktlichkeit und Perfektion. Er hasste alles Vulgäre und hatte eine Spardose auf seinem Tisch, in die jeder, dem ein Schimpfwort herausrutschte, einen Vierteldollar zahlen musste. Vor allem aber hasste er Verspätungen. Anfangs passierte es mir mehrmals, dass ich mit Research-Analysten Kunden aufsuchte und die Termine überzog, weil die Kunden noch Fragen hatten, sodass der ganze Zeitplan durcheinandergeriet. Rudy war stinksauer – was er auch ohne jeden Kraftausdruck sehr deutlich kommunizieren konnte. Ich gewöhnte mir schnell an, alle Termine stets planmäßig abzuwickeln.

Aus diesem Grund kam seine Glückwunsch-Mail für mich so unerwartet – und hatte umso mehr Gewicht. Er hätte mir auch einfach den Knopf abschneiden, ihn auf den Monitor legen und sagen können: «Gut gemacht.» Doch er hatte es der ganzen Handelsabteilung mitgeteilt. Als Traditionalist schätzte er das Ritual, doch als Mensch gefiel es ihm auch, einem Anfänger ein gutes Gefühl zu geben.