Kapitel 4

Wie etwas zu Ende geht

Coreys Chef war Michael Daffey.

Daffey war zwar erst Mitte dreißig, aber ein rasch aufgehender Stern bei Goldman Sachs. Er war Australier und als Quereinsteiger aus einer anderen Bank zu uns gestoßen, die Ende der neunziger Jahre für Goldman in Asien tätig war. Als ich im Sommer 2000 mein Praktikum ableistete, war er als Vice President nach New York versetzt worden. Ende des Jahres hatte er es zum Managing Director gebracht. 2002 wurde er Partner – ein nahezu beispielloser Karrieresprung in nur zwei Jahren.

Daffey war knapp eins neunzig groß, hatte schütteres Haar, einen athletischen Körperbau und ein freundliches, offenes Gesicht. Er war ein Sitzzwerg, weil er sich in seinem Schreibtischstuhl extrem zusammensinken ließ und dann unerwartet groß war, wenn er sich erhob. Mehr Strahlkraft als er hatte keiner im Handelssaal. Alle mochten und respektierten ihn.

Wie sehr, illustriert die folgende Daffey-Anekdote:

Einmal betrat Gary Cohn höchstpersönlich den Handelssaal – der spätere GS-President war damals Global Co-Head der Abteilung Securities. Daffey saß gerade an seinem Terminal und war in ein Gespräch mit einem genialen Strategen namens Venky vertieft, einem fünfundzwanzigjährigen Inder und Absolventen des legendären Indian Institute of Technology (IIT). Gesprächsthema war eine von Venky erstellte (und von Daffey in Auftrag gegebene) Tabelle. Ein wahres Wunderwerk: Sie bildete – in Echtzeit – jede mögliche Statistik jedes damaligen Teilnehmers am Masters-Golfturnier ab. Daffey, der mit Vorliebe aufs Masters wettete, war im Golf-Nirwana. Er blickte auf, sah Gary Cohn und rief: «Gary, kommen Sie mal rüber!»

Im Raum wurde es totenstill. Es war einer dieser Momente, wenn in einem Western der Revolverheld den Saloon betritt. Nur wenige kannten Gary Cohn gut genug oder hätten sich getraut, ihn auf diese Weise herbeizuzitieren. Doch Cohn kam.

«Gary, darf ich Ihnen Venky vorstellen. Venky, das ist Gary», sagte Daffey. Der hünenhafte Gary sah auf den kleinen Strategen runter. Dann gab er Venky die Hand. «Venky ist schlauer als Sie und ich zusammen», eröffnete ihm Daffey.

Venky strahlte. Es war der Ritterschlag für ihn. Dann führte Venky Gary vor, wie der Algorithmus seiner Tabelle funktionierte. Und siehe da: Auch Gary war beeindruckt. «Schicken Sie mir die Tabelle», meinte er. (Ein paar Jahre später machte Venky von sich reden als Kopf hinter der Entwicklung des heutigen Volatilitätsindex der Chicago Board Options Exchange. Der Index gilt weithin als Angstmesser für den Markt.)

Daffeys große Popularität stützte sich in erheblichem Maß auf die blanke Ehrfurcht, die sein Kundenstamm in der Chefetage erregte. Zu seinen Kunden gehörten die größten und erfolgreichsten Makro-Hedgefonds der Welt. Hedgefonds sind Investmentfonds, die sich einer breiten Palette von Strategien bedienen können, sowohl auf der Long-Seite (also durch Kaufen, wenn man erwartet, dass der Wert steigt) als auch auf der Short-Seite (durch Leerverkäufe, ohne den jeweiligen Vermögenswert tatsächlich zu besitzen – sodass der Fonds profitiert, wenn das betreffende Wertpapier an Wert verloren hat). Weil solche Fonds nicht so stark reguliert sind, stehen sie nur den ganz großen Investoren offen wie Pensionskassen, Stiftungen von Universitäten oder hochvermögenden Privatkunden.

Die meisten Hedgefonds handeln liquide Wertpapiere an öffentlichen Märkten. Eine Ausnahme bilden Makro-Hedgefonds, die so heißen, weil sie gewöhnlich auf Ereignisse setzen, die das Gesamtbild beeinflussen – wie Veränderungen bei Zinsen oder Währungen statt bei Aktienkursen –, und die besondere Hochachtung genießen. In aller Regel wurden sie von einem Investor gegründet, der seinen klangvollen Namen dem Umstand verdankt, dass er einmal im großen Stil richtiglag. Daffeys Kunden waren die Größten dieser Hedgefonds. Namentlich die folgenden:

Tudor unter der Leitung eines legendären Investors aus den Südstaaten: Paul Tudor Jones. Er verwaltet mehr als 10 Milliarden Dollar an Vermögenswerten. Jones ist selbst Milliardär und zählt zu den Top-100 reichsten Menschen der Welt. Er verdiente sich seine Sporen zunächst durch seine besonderen Fähigkeiten im Warentermingeschäft und konnte bald mit einer über Jahre anhaltenden erstaunlichen Erfolgsbilanz aufwarten. Er gründete «Robin Hood», die berühmte gemeinnützige Organisation der Finanzbranche, die alle möglichen Anliegen in und um New York unterstützte (und weiterhin unterstützt), und organisierte jedes Jahr eine große Benefizveranstaltung.

Moore Capital, gegründet von Louis Bacon, ebenfalls ein Milliardär, der ebenfalls mehr als 10 Milliarden Dollar an Vermögenswerten verwaltet. Er kam ganz groß heraus, weil er sowohl im Crash von 1987 als auch in der anschließenden Erholung den richtigen Riecher gehabt hatte. Er unterhält Büros auf der ganzen Welt, in New York, London, Genf und anderswo.

Duquesne Capital, aufgebaut von Stanley Druckenmiller aus Pittsburgh. Druckenmiller hatte als oberster Portfoliomananger im Quantum Funds für George Soros gearbeitet, wo die beiden bekanntermaßen 1992 einen Milliardengewinn erzielten, indem sie mit Leerverkäufen gegen das Britische Pfund wetteten. Danach wurde er mit seinem eigenen Fonds einer der erfolgreichsten Hedgefondsmanager aller Zeiten. Er sah sich sogar in der Lage, ein Angebot für die National-Football-League-Mannschaft Pittsburgh Steelers abzugeben. Wie seine Investorenkollegen war auch er sehr im Bereich Wohltätigkeit engagiert und förderte die medizinische Fakultät der New York University, die Harlem Children’s Zone sowie das Bowdoin College, dem er einen Bau für die naturwissenschaftliche Fakultät stiftete und nach seinem Großvater benannte (der wie er selbst auch Bowdoin-Absolvent war).

Die Fortress Investment Group ist eine Mischform aus Wagniskapitalgeber und Hedgefonds. Daffeys Kontaktmann dort war Michael Novogratz, ehemaliger Ringer der Princeton University und Hubschrauberpilot der US Army. Novogratz (oder «Novo», wie er genannt wurde) war vor dem Börsengang Partner bei Goldman gewesen – als einer der Jüngsten in der Unternehmensgeschichte. Fortress ging 2007 schließlich ebenfalls an die Börse und verwaltet mehr als 30 Milliarden Dollar in Anlagewerten.

Daffey entwickelte eine enge Beziehung zu diesen vier Kunden, und zwar nicht nur auf menschlich-freundschaftlicher Basis (etwa indem er mit ihnen über lange Zeit mit hohen Einsätzen in einer Fantasy-Football-Liga wettete, deren Gewinne wohltätigen Zwecken zuflossen). Vielmehr betätigte er sich auch als Informationsmakler zwischen den Gruppen, die im Grunde genommen Konkurrenten waren. Diesen Balanceakt beherrschte er meisterhaft – und hielt beständig ihr Interesse wach, indem er ihnen Äußerungen der anderen über aussichtsreiche Geschäfte zuspielte.

Weil seine Kunden wussten, was für ein schlauer Kopf Daffey war, und begriffen, dass bei ihm diese wichtigen Informationsströme zusammenflossen, gelang es ihm problemlos, sie zu Abschlüssen nach seinen Wünschen zu überreden. Auch über größte Summen. Dazu brauchte er manchmal keine zwei Minuten. Er hatte das zur Kunstform entwickelt.

Daffey: «Mensch, die implizite Korrelation ist zu hoch. Die Märkte normalisieren sich. Du musst die Korrelation shorten.»

Mehr brauchte Daffey eigentlich nicht zu sagen. Im Wesentlichen beruhte sein Geschäft darauf, dass sich die Aktienkurse infolge weltweit herrschender makroökonomischer Ängste im Gleichklang bewegten. Daffey setzte darauf, dass diese Korrelation nicht ewig Bestand hatte und erste Einzeltitel ausscheren würden. Ein entsprechendes Engagement ließ sich auf komplizierte Weise durch Derivate herstellen. Doch so genau musste Daffey das gar nicht erklären.

Kunde (mit ausgeprägtem Südstaatenakzent): «Glaubst du, Michael?»

Daffey: «Ich weiß es. Alle gehen mit. Das ist zurzeit die Idee, die uns am meisten überzeugt.»

Kunde: «Alles klar. Ich bin mit einer halben Milliarde dabei.»

Einfach so. Ich habe das mehr als einmal erlebt – bei allen möglichen Transaktionen. Spricht man mit einem Milliardär, der einen milliardenschweren Hedgefonds leitet, kann dieser schnelle Entscheidungen treffen. Daffey musste sich nicht erst durch fünf Hierarchieebenen von Portfoliomanagern kämpfen. Er hatte den direkten Draht zum Chef. Das verlieh Daffey die Reputation, die Lloyd Blankfein (der spätere CEO von GS) und Gary Cohn so schätzten.

Kunden und Kollegen respektierten Daffey, weil er eine seltene Mischung darstellte: ein Kumpeltyp mit hervorragender Menschenkenntnis, der zufällig auch noch der Hellste im ganzen Handelssaal war. Bei Goldman waren Mitarbeiter gewöhnlich entweder hochintelligent (und eher introvertiert), oder sie waren in erster Linie geschickte Taktierer. Daffey vereinte die positiven Eigenschaften der beiden Typen, was seinen kometenhaften Aufstieg erklärte. Ich sollte später noch mehr über diese Ausnahmeerscheinung erfahren. Damals wusste ich lediglich, dass er Australier war, seit 2002 frischgebackener Partner und Leiter von US Equity Derivatives Sales.

Nach allem, was ich von ihm gehört hatte, hatte ich mich auf eine «Very Important Person» eingestellt, die ständig auf die Uhr schauen und mir ein paar oberflächliche Fragen stellen würde. Wie die meisten anderen leitenden Goldman-Mitarbeiter. Im besten Fall war ihre Aufmerksamkeitsspanne kurz, im schlimmsten hörten sie gar nicht zu. Daffey dagegen schien alle Zeit der Welt für mich zu haben. Er plauderte mit mir, als wären wir alte Freunde. Er blendete die Umgebung komplett aus – schaute nicht ein einziges Mal auf seinen BlackBerry oder ließ sich sonstwie ablenken. Ich merkte später, dass er eine Art soziales Genie war. Er konnte mit jedem. Er hatte den Pine-Street-Test bestanden, von dem ich Jahre später in einem Goldman-Sachs-Programm für Führungsentwicklung erfuhr. Bei diesem Test wurde die sogenannte «Onstage/Offstage Authenticity» gemessen, das heißt, wie sich jemand veränderte, wenn er mit einer Führungskraft sprach und wenn er mit einem Postboten oder einem Wachmann sprach. Wie authentisch jemand ist, wenn er im oder außerhalb des Rampenlichts steht, macht den Charakter vielbewunderter Führungspersönlichkeiten aus. Ich stand ungefähr zehn Hierarchiestufen unter Michael Daffey, doch ihm schien das nicht bewusst zu sein.

Er fragte mich nach den Aussichten des Basketballteams von Stanford. Dann spielte er spöttisch auf die haushohe Überlegenheit Australiens im Rugby und im Cricket gegenüber Südafrika an (in beiden Sportarten besteht zwischen diesen Nationen seit jeher eine ausgeprägte Rivalität). Ich entspannte mich in der Situation und in seiner Gegenwart und konterte: «Ihre Mannschaft hat die beiden letzten Cricket-World-Cups doch nur mit Glück gewonnen.»

«Das war kein Glück, mein Lieber. Das war Können», versetzte er.

Dann fragte er: «Sagen Sie mal – warum wollen Sie diesen Job haben?»

Ich hatte das Gefühl, dass ich ehrlich sein konnte. Also erklärte ich: «Ich finde die Aufgabe spannend. Derivate sprechen mich an. Ich interessiere mich für ein stärker quantitativ ausgerichtetes, schnelleres Geschäft.» Emerging Markets Sales hatte mich damals angezogen, doch dabei ging es manchmal tagelang um ein und dieselbe Aktie. Bei Derivaten konnte sich innerhalb von Minuten alles ändern.

«Tja, dann sind Sie hier richtig», meinte Daffey und lächelte.

 

Ich bekam den Job bei Corey und war heilfroh. Doch damals stand ja auch noch das Rhodes-Stipendium im Raum.

Ich hatte mich im September schriftlich beworben – kurz vor meinen Gesprächen mit Corey und Daffey. Danach erfuhr ich, dass ich in die zweite Runde gekommen war, die sogenannte Staatsrunde. Dafür musste ich im November zu einer zweitägigen Evaluierung nach Johannesburg fliegen. Bei dieser Gelegenheit wollte ich auch meiner Familie einen Frühlingsbesuch abstatten. (Ich lebte schon so lange in den Staaten, dass ich mir bewusst machen musste, dass in Südafrika im November Frühling war.) Trotz der verhörartigen Atmosphäre bei meinem offiziellen Bewerbungsgespräch mit dem Auswahlgremium, das an einem großen ovalen Tisch stattfand – mit mir auf der einen Seite und der achtköpfigen Jury auf der anderen –, bewahrte ich die Ruhe. Im Anschluss wurde mir mitgeteilt, dass ich einer der drei Kandidaten aus Johannesburg war, die in die Endausscheidung kamen.

Anfang Dezember flog ich (auf eigene Kosten) zu den abschließenden Gesprächen nach Kapstadt. Sie wurden von etlichen Größen der südafrikanischen Gesellschaft geführt: dem Vorsitzenden Richter des Obersten Gerichtshofs und den Geschäftsführern von einigen der größten Unternehmen des Landes. Vom ersten Moment an hatte ich den Eindruck, dass meine Antworten nicht gut ankamen. Ich stieß auf eine Mauer der Skepsis. Der Grund war, dass ich ihnen zu amerikafreundlich war.

Die Gespräche fanden im Vorfeld des US-Einmarsches im Irak statt, und ich spürte sofort, dass sämtliche Rhodes-Juroren und insbesondere der Oberste Richter die Reaktion der Vereinigten Staaten auf die Anschläge vom 11. September kritisch bewerteten. Sie interpretierten Amerikas Verhalten einhellig als gefährliches Säbelrasseln. Schlimmer noch, sie sahen dahinter die klare Absicht, tatsächlich zu den Waffen zu greifen. Sie betrachteten Amerika als imperialistische Macht, vergleichbar mit dem alten Rom, die außenpolitisch auf Kolonisierung ausgerichtet war. Das sagte mir einer der Gesprächsteilnehmer am Tisch auf den Kopf zu.

Ich widersprach – und zwar leidenschaftlich. Ich hatte den 11. September selbst miterlebt. Ich hatte Schrecken und Leid am eigenen Leib erfahren. Die USA mussten die Urheber aufspüren und bestrafen. Wie konnte die Jury von einem verständlichen Wunsch nach Gerechtigkeit auf imperialistische Machtgelüste schließen? Ich stand zu meiner Liebe zu Amerika. Das Land war keinesfalls vollkommen, doch es war ein Land voller Optimismus und voller Möglichkeiten, was man nicht von vielen Ländern auf der Welt behaupten konnte. Mir war es dort gut ergangen, an der Uni und im Beruf, und dafür war ich dankbar.

Die Jurymitglieder warfen sich verkniffene Blicke zu. Am Ende (wie der Direktor meiner High School von mehreren Juryangehörigen erfuhr) hatte ich sie zu sehr gegen mich aufgebracht. Vier von zehn südafrikanischen Bewerbern wurden als Rhodes-Stipendiaten ausgewählt. Ich gehörte nicht dazu.

Das war eine Riesenenttäuschung. Dabei neigte ich aber grundsätzlich zu der Auffassung – vielleicht wegen meiner jüdischen Erziehung –, dass nichts ohne Grund passiert. Immerhin hatte ich eine wichtige neue Aufgabe, und ich war bereit dafür. Am 16. Dezember 2002, fünf Tage nach meinem vierundzwanzigsten Geburtstag, begann ich, im neunundvierzigsten Stock im One New York Plaza für Corey Stevens zu arbeiten.

 

Der Umzug vom achtundvierzigsten in den neunundvierzigsten Stock war zu vergleichen mit dem Aufstieg einer Triple-A-Mannschaft in die Major League beim Baseball. Wenn einem der achtundvierzigste wie ein Campingausflug nach Yosemite vorkam, dann war der neunundvierzigste, als würde man ohne Überlebensausrüstung – nur mit dem, was man am Leibe trug – im Amazonasdschungel ausgesetzt. Bei Emerging Markets Sales im achtundvierzigsten Stock hatte ich den Tag meist am Telefon zugebracht und mit institutionellen Kunden über Aktien gesprochen. Ich hatte viel zu tun gehabt, doch es war nicht hektisch zugegangen, denn meine Tätigkeit war nicht sehr transaktionslastig. In der Abteilung Emerging Markets Sales hatte ich zwei Bildschirme gehabt. An meinem neuen Platz, gleich neben Corey in der Abteilung Futures, standen vier Monitore. Ich hatte mir mehr Tempo gewünscht, und das bekam ich.

Abgesehen von den vielen Computerbildschirmen erinnerte die neunundvierzigste Etage des One New York Plaza so gar nicht an das ebenso glanzvolle wie sterile Ambiente eines Handelssaals aus einem Hollywoodfilm. Der Handelsbereich von Goldman kurz nach der Jahrtausendwende wirkte eher ein bisschen schäbig. Auf den Schreibtischen türmten sich Fastfood-Verpackungen, leere Limoflaschen und zerknülltes Papier. Der graue Teppich war abgetreten und fleckig. Steril war hier gar nichts. Die fünfhundert oder sechshundert Mitarbeiter drängten sich wie die Sardinen in der Büchse, Schulter an Schulter, Schreibtisch an Schreibtisch. Man saß mitten zwischen den Familienfotos und Sporttrophäen, den Privatgesprächen und Essensgerüchen aller anderen. Privatsphäre gab es nicht. Es war deshalb eindeutig ein Vorteil, wenn man seinen Nebenmann gut leiden konnte.

Die Abteilung Futures Execution befand sich inmitten einer rechteckigen Anordnung von achtundzwanzig Derivateverkäufern. Corey und ich saßen nebeneinander am Ende einer Tischreihe. Unsere zentrale Position erleichterte es den Verkäufern um uns herum, uns Trades zur Ausführung zuzurufen. Vor uns erstreckten sich in Längsrichtung zwei Reihen mit sieben Verkäufern. Weitere Verkäufer saßen in zwei Reihen direkt hinter uns, waren aber versetzt positioniert, sodass sie freien Blick auf unsere Hinterköpfe hatten. Das Beste an dieser chaotischen Verteilung war, dass die Herrentoilette keine zehn Schritte von meinem Schreibtisch entfernt lag. Ich hatte gern ungehinderten Zugang.

In jeder Reihe saß ein anderes Derivate-Verkaufsteam. Die Untergruppen wurden danach eingeteilt, welche Kunden sie betreuten. Es gab Teams für Makro-Hedgefonds, für Long-/Short-Hedgefonds, für Anlageverwalter, für Investmentfonds, für Pensionskassen, für Versicherungsgesellschaften, für kanadische Kunden. Jedes Team hatte andere Komplexitäten und seinen ganz eigenen Charakter. Und Corey und ich managten den Termingeschäftsverkehr für sie alle.

An meinem ersten Tag – einem Dienstag – rief Corey Goldmans Leute an der Chicago Mercantile Exchange an, Patrick Hannigan und Bob Johnson, und sagte: «Ich möchte euch Greg Smith vorstellen. Er ist ab sofort meine rechte Hand. Bitte seid nett zu ihm, während er sich einarbeitet.»

Chicago als Stadt spielte in der Firmengeschichte von Goldman Sachs schon immer eine wichtige Rolle. Etliche der erfolgreichsten Topmanager – unverhältnismäßig viele sogar – waren aus dem Büro in Chicago gekommen. Um nur ein paar zu nennen: Hank Paulson, ehemaliger Goldman-CEO und US-Finanzminister; Bob Steel, vormals Vizevorstandschef von Goldman, später CEO von Wachovia; Byron Trott, der als «Warren Buffetts Lieblingsbanker» bekannt wurde. John Thain war in der Nähe von Chicago geboren worden, und Jon Corzine hatte dort studiert. Informationen über die beiden Letztgenannten finden Sie auf Google, jeweils unter «antike Anrichte (68 000 Dollar)» beziehungsweise «MF-Global-Debakel». Welche Verbindungen ich dorthin habe? Mittlerweile lebt der größte Teil meiner Familie dort, und ich finde, Chicago ist eine tolle Stadt.

Anfang des neuen Jahrtausends, als sich der elektronische Futures-Handel noch nicht durchgesetzt hatte, wurden die Termingeschäfte unserer Kunden überwiegend in den Pits der Merc (wie die Chicago Mercantile Exchange genannt wurde) ausgeführt. Wir verließen uns daher auf Patrick und Bob, die präzise arbeiteten, die Märkte kannten und Geschäfte schnell und reibungslos ausführen konnten. Durch sie konnten wir vor unseren Kunden gut dastehen. Die beiden hatten die sichersten Hände in der Branche.

Hannigan und Johnson, verriet mir Corey, waren schon fünfzehn beziehungsweise zwanzig Jahre bei Goldman. Sie waren für mich die moralischen Instanzen der Derivate-Abteilung. Beide waren warmherzig, humorvoll und charakterfest – gestandene Familienväter. Patrick – damals Mitte vierzig – war kahl rasiert, hochintelligent, ein bisschen verschroben und sehr belesen. Bob, der «Captain» genannt wurde, weil er den Bereich leitete, war etwas älter – ein grauhaariger, charismatischer Typ, immer ehrlich und korrekt.

An der Merc, wie ich bald selbst feststellen konnte (es war Tradition, Junganalysten nach Chicago zu schicken, damit sie sich eine der letzten Bastionen des altmodischen Handels in der Finanzwelt anschauen konnten), wurde immer noch gearbeitet wie schon seit undenklichen Zeiten: durch Zuruf, Augenkontakt und Handzeichen.

Der Handel war vollkommen transparent, und Patrick und Bob als Ausführende waren es ebenso – sie wollten vor allem den Kunden zufriedenstellen. In ihrem Geschäft wurde nicht getrickst. Ihr Ruf beruhte auf einem einfachen Anspruch: Niemand konnte einen Kundenauftrag besser ausführen oder den Kunden in den Pits besser repräsentieren als Goldman Sachs. Sie setzten sich engagiert für ihre Kunden ein, sicherten ihnen den besten Preis und vertraten ihre Interessen selbstbewusst und loyal.

Außerdem galt: Wen Patrick und Bob in ihr Herz geschlossen hatten, für den setzten sie sich ein und halfen ihm, wo sie nur konnten. Sobald die Arbeit getan war, waren sie große Klatschmäuler und verpassten sämtlichen Derivateverkäufern aus New York, mit denen sie zu tun hatten, einen Spitznamen. Ich war eigentlich der Springbock gewesen, doch damit war es vorbei, als ich in die Hände von Hannigan und Johnson fiel. Sie nannten mich «Gregor MacGregor», mit schottisch-rollendem R. Eine Verballhornung meines Vornamens. Abgesehen davon fanden sie vermutlich einfach, dass es gut klang.

Andere hatten sie aus ähnlichen Gründen mit anderen Spitznamen bedacht. Ein indischer Verkäufer namens Nitin – ein großer Kerl, sehr sympathisch, der bei Frauen gut ankam – wurde zu «Nitin the Kitten» – das Kätzchen. Ein rothaariger Hüne wurde von Patrick und Bob ohne ersichtlichen Grund «Kakao» getauft. Vielleicht weil er mit Kakao-Kontrakten gehandelt hatte? Vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall hasste er diesen Namen. Ein anderer baumlanger Associate wurde wegen seiner Vorne-kurz-hinten-lang-Frisur «Mullet» gerufen.

Ein paar Reihen weiter im Handelssaal saß ein Typ, den sie den «jüdischen John Kennedy» nannten (sie meinten JFK junior). Ich will ihn Bobby Schwartz nennen. Er war ein Jahr älter als ich, ein bisschen schusselig und neigte zu Handelsfehlern. Er verfügte aber über enormes theoretisches Wissen und war mit einem fotografischen Gedächtnis gesegnet. Bobby hatte eine absolut unbegreifliche Wirkung auf Frauen. Er musste sie überhaupt nicht ansprechen – sie drängten sich ihm förmlich auf. Ich wollte es nicht glauben, bis ich es schließlich selbst mit ansehen konnte.

Manche Spitznamen waren wenig schmeichelhaft, aber schlimmer dran war, wer von den Händlern der Merc keinen Spitznamen erhielt. Gewöhnlich waren es Junganalysten, denen Hannigan und Johnson rasch anmerkten, dass sie sich nicht durchsetzen würden. Leute, die wiederholt Fehler machten, die Millionen kosten konnten. Wandelnde Katastrophen. Wie ich rasch merken sollte, waren Derivate stark gehebelte Produkte. Wer nicht aufpasste, dem konnte leicht passieren, dass er kaufte, wenn er verkaufen sollte, oder den falschen Multiplikator einsetzte und verhängnisvolle Fehlurteile abgab. Analysten in ihrem ersten und zweiten Jahr machten ständig solche Fehler, oft aus reiner Gedankenlosigkeit. Bevor die Merc-Händler daher mit jemandem scherzten – oder ihn mit einem Spitznamen auszeichneten –, musste der Betreffende erst einmal unter Beweis stellen, dass er präzise arbeitete. Und Präzision war in diesem Fall überlebenswichtig.

 

Meine neue Ausbildung begann. (Gleichzeitig bereitete ich mich auf die «Series 3»-Prüfung vor – eine weitere aufsichtsbehördliche Anforderung, die ich für den Derivatehandel erfüllen musste.) Corey war mir mit seinen Ausführungen immer drei Schritte voraus, weil er davon ausging, dass ich den Trading-Jargon verstand. «Bitte setzen Sie nichts voraus», bat ich. «Fangen Sie ganz von vorn an.»

Und so saßen Corey und ich morgens um sieben, vor Beginn des Handelstages, oder abends um sechs, nach Handelsschluss, zusammen und redeten uns die Köpfe heiß. Oberste Priorität, so schärfte er mir ein, hatte die richtige Ausdrucksweise. Man durfte auf keinen Fall schwammig formulieren, nichts sagen, was nur zu achtzig Prozent stimmte. Man musste sich immer hundertprozentig korrekt äußern. Keine Zweideutigkeiten, keine Fehler, das war sein Mantra. Immer und immer wieder predigte er mir: «Das muss Ihnen in Fleisch und Blut übergehen!»

Anfangs lernte ich aus Coreys Telefongesprächen mit Kunden.

Das war übliche Praxis bei Neulingen. Jeder in der Abteilung hatte einen sogenannten «Gefechtsstand» – eine große, rechteckige Telefonanlage mit mehreren Tastenreihen und einem kleinen Display. Damit konnte man Gespräche mit Kunden und Börsen tätigen, entgegennehmen und nach Priorität ordnen. Bestimmte Tasten stellten Direktverbindungen zu wichtigen Kunden wie T. Rowe Price, Fidelity oder Wellington her. Hinter anderen verbargen sich interne Anschlüsse von Mitarbeitern. Wieder andere verbanden den Anrufer mit Maklern wie Hannigan und Johnson an der Mercantile Exchange. (Gespräche mit ihnen wurden bevorzugt auf laut gestellt, denn da bekam man nicht nur die fetten Abschlüsse mit, sondern gleich auch noch die neuesten Gerüchte: Wer nach der Weihnachtsfeier besonders verkatert gewesen war, welche Veränderungen im Management anstanden, wie hoch die Prämien ausfallen würden. Solche Informationen kamen in erster Linie über die beiden Veteranen aus Chicago.)

Jeder Verkäufer hatte zwei Telefone: einen konventionellen Hörer und eine Hörmuschel oder ein Headset. Wenn Corey mit einem Kunden sprach, gab er mir ein Zeichen. Dann drückte ich die Stummtaste an meinem Apparat und schaltete mich zu. Ich hörte alle seine Kundengespräche mit, und am Ende des Tages stellte ich dann Fragen zu den Details, die ich nicht verstanden hatte. Die Sprache der Wall Street, das merkte ich sofort, beherrschte man nicht intuitiv. «Zum Geldkurs kaufen»? «Zum Briefkurs»? Ich bat Corey um Nachhilfeunterricht.

Der Geldkurs, rekapitulierte er, gibt an, wie viel jemand für ein Finanzprodukt zu zahlen bereit ist. Der Briefkurs sagt aus, für wie viel jemand ein Produkt verkaufen würde. Auf dem Markt, so erfuhr ich, gibt es für jedes Wertpapier einen Geld-und einen Briefkurs. Nehmen wir an, ich will 50 Dollar für eine Aktie zahlen und würde sie für 55 Dollar verkaufen. Fragt ein Kunde nach dem «Markt», lautet die korrekte Antwort: «50 Dollar Geld, 55 Brief.» Oder kurz: «50 zu 55.» Nun kann sich der Kunde überlegen, was er tun will. Nehmen wir an, er will verkaufen. Dann sagt er: «Geld.» Das bedeutet, er verkauft mir den Titel für 50 Dollar. Oder aber er will kaufen. Dann sagt er: «Brief.» Das bedeutet, er kauft mir das Papier für 55 Dollar ab.

Dann gab es da noch die Handzeichen.

Obwohl der Handelssaal von Goldman Sachs schon vollständig auf Computer umgestellt war, als ich dort anfing, verwendeten Verkäufer und Händler dort wie anderswo an der Wall Street – und an der Merc ebenso – instinktiv immer noch die Handzeichen für «Brief» (der Käufer zieht die offene Hand zu sich her und schließt sie zur Faust) und «Geld» (der Verkäufer führt die offene Hand von sich weg und ballt sie dann zur Faust). Wer zum ersten Mal das Parkett der Merc betrat, musste sie – so Corey – unweigerlich chaotisch finden. Dabei war das System in Wirklichkeit durch und durch geordnet. Menschen kauften und verkauften Terminkontrakte über Augenkontakt und durch Handzeichen.

Da ich während meiner ersten anderthalb Jahre bei Goldman Sachs nur mit einfachen Aktien gehandelt hatte, war es für Corey ein ordentliches Stück Arbeit, mir meine neuen Produkte begreiflich zu machen. Futures – so mein Lehrmeister – sind die Urform der Derivate. Es gibt sie schon seit Jahrhunderten. Erfunden wurden sie für Landwirte, die sich gegen Ernteeinbußen durch Dürre, Sturm und ungewisse Nachfrage absichern mussten. Zu diesem Zweck trafen sie Vereinbarungen mit ihren Käufern. Statt das Risiko einzugehen, dass ihr Weizen nur 20 Dollar den Scheffel wert sein könnte, wenn sie ihn verkaufen mussten, statt der erwarteten 100 Dollar oder der erhofften 200 Dollar, vereinbarten sie einen Preis von, sagen wir, 120 Dollar pro Scheffel für einen bestimmten Liefertermin in der Zukunft. Sie nahmen in Kauf, dass der festgesetzte Preis zu niedrig sein konnte, sicherten sich dadurch aber gegen die Gefahr ab, dass sie ihr Getreide später gar nicht verkaufen konnten.

Terminkontrakte gab es daher zunächst für die ganze Bandbreite an Rohstoffen wie Weizen, Milch, Orangensaft, Schweinebäuche, Gold, Silber oder Eisenerz, die irgendwann dann auch physisch geliefert werden mussten. Dann kam jemand auf den Gedanken: «Das müsste doch eigentlich mit allem anderen auch funktionieren. Probieren wir es mal mit einer Aktie.» So entstanden Aktienindex-Futures. Man verpflichtete sich, einen Indexwert zu einem zukünftigen Zeitpunkt zu kaufen beziehungsweise zu verkaufen, spekulierte also damit, wo der S&P 500 – oder in Deutschland der DAX, in England der FTSE (sprich: Futzi) und in Frankreich der CAC – künftig stehen würde. Es gab auch Zins-Futures und Währungs-Futures. Die Einführung von Termingeschäften für andere Anlagekategorien sorgte für verstärkte Spekulation, bot aber Investoren auch zusätzliche Möglichkeiten, sich gegen Risiken abzusichern.

Auf den Derivatemärkten – und im Grunde auf jedem Markt – gibt es zwei Gruppen von Investoren: die Hedger – Marktteilnehmer, die das Produkt wirklich brauchen und sich absichern möchten gegen Preisschwankungen – und die Spekulanten, also Marktteilnehmer, die von Preisschwankungen profitieren. Die Spekulanten, so Corey, übernehmen für den Hedger freundlicherweise das Preisrisiko. Eine ideale Symbiose. Nur weil es Hedger und Spekulanten gab, so meinte er, würden die Märkte reibungslos und effizient funktionieren und liquide bleiben. Dadurch wurden Käufer und Verkäufer zusammengeführt.

Corey erklärte mir, dass unsere Abteilung zur Hälfte mit Aktienindex-Futures auf den S&P 500 oder den NASDAQ handelte. Die andere Hälfte des Geschäfts entfiel zu rund fünfzig Prozent auf Rohstoff-Futures auf Getreide, Orangensaft und Schweinebäuche und zu fünfzig Prozent auf Währungen und Zinsen – wenn Marktteilnehmer etwa auf den künftigen Kurs von Staatsanleihen, Dollar, Yen oder Euro wetteten.

Als erste praktische Übung ließ mich Corey Informations-Mails über die Ströme (die täglichen Käufe und Verkäufe unserer Kunden) und Trends verfassen, die wir auf dem Markt beobachteten. Diese musste ich dann an die übrigen Mitglieder des Derivate-Teams verschicken. Das war ein gutes Training, denn es zwang mich, in unserem Geschäft Themen zu erkennen. Außerdem hatten mich die anderen aus der Abteilung auf diese Weise schon auf dem Schirm, obwohl ich selbst noch nicht handeln durfte. Die Bedeutung der Versorgung mit einfachen, aber verlässlichen Informationen ist nicht zu unterschätzen. An einem Tag, an dem der Technologiesektor stark nachgefragt wurde, Rohöl abgestoßen und deutsche Index-Futures ge-und verkauft wurden, hätte eine solche E-Mail vielleicht folgendermaßen ausgesehen:

 

Aktivitäten im Tech-Sektor: 2 : 1 mehr Käufer von März-NASDAQ-Futures (Ticker: NQH3). Rohstoffe: bei März-Rohöl-Futures 5 : 1 mehr Verkäufe. Europa: reger Handel mit März-DAX-Futures in beide Richtungen. Aktiv war eine Mischung aus schnellem Geld [Hedgefonds] und Vermögensverwaltern [institutionellen Investoren]. Fragen richten Sie bitte an die Abteilung.

 

Die Mails wurden zunächst von Corey gründlich überprüft, doch als er sah, dass ich sehr gewissenhaft arbeitete, vertraute er mir bald. Als Nächstes musste ich lernen, eigene Orders auszuführen.

Es war Anfang Januar 2003 um 6 : 30 Uhr. Die Telefone klingelten bereits – die ersten Kunden wollten handeln. In Europa waren die Märkte seit mehreren Stunden geöffnet. Die asiatischen Börsen schlossen gerade. Ich hatte schon angefangen, Kundengespräche zu führen, Ordertickets auszufüllen und Transaktionen vorzunehmen. Anfangs stand Corey noch hinter mir und verfolgte aufmerksam, wenn ich die Aufträge in unser Handelssystem eingab, das wir «Spider» nannten. Er prüfte meine Ordertickets und vergewisserte sich, dass sie korrekt ausgefüllt waren.

Solche Tickets wurden dreifach ausgefertigt, waren etwa so groß wie Starbucks-Servietten und hatten Kohlepapier zwischen den Seiten. Das Original war weiß, der mittlere Durchschlag rosa, der unterste blau. Jedes Ticket war von oben bis unten durch eine Linie unterteilt. Die linke Hälfte war mit «Kauf» überschrieben, die rechte mit «Verkauf». Rief ein Kunde an, zog man sofort ein Ticket heraus und wartete auf die Order. War sie erteilt, trug man – je nachdem – links oder rechts auf dem Ticket den Namen des Terminkontrakts (oder der Option) und das Transaktionsvolumen ein. Dann schob man das Ticket schnell in den Zeitstempel – ein Gerät, das einer Stechuhr glich.

Es war wichtig, das Ticket unverzüglich abzustempeln, denn man musste genau nachweisen können, wann man die Order vom Kunden entgegengenommen hatte. War der Trade ausgeführt, stempelte man das Formular erneut. Kam es auf volatilen Märkten zu unvorteilhaften Bewegungen für den Kunden, konnte man so schriftlich belegen, dass man den Kunden korrekt bedient und seinen Auftrag bestmöglich ausgeführt hatte. Hatte ein Kunde um 15 : 15 Uhr eine Order erteilt und man hatte sie um 15 : 45 Uhr noch nicht ausgeführt, während der Markt in diesen dreißig Minuten 100 Ticks zugelegt hatte (ein Tick ist die kleinstmögliche Kursänderungseinheit eines Terminkontrakts), konnte das großen Ärger bedeuten.

Während des Handelstages wuchs der Ticketstapel. Am Ende des Tages, wenn alle Tickets abgestempelt waren (und auch der Ausführungspreis auf jedem Ticket vermerkt war), riss man den mittleren Durchschlag aller Tickets zur Archivierung heraus und schickte Original und hinteren Durchschlag an die Compliance-Abteilung weiter, wo sie fünf Jahre lang im Tresorraum aufbewahrt wurden für den Fall, dass ein Kunde Einspruch einlegte oder eine Aufsichtsbehörde Ermittlungen durchführte.

In aller Frühe am nächsten Morgen begann der nächste Handelstag. Es war das kontrollierte Chaos. Unablässig riefen Kunden an. Ständig standen meine Verkäuferkollegen aus der Derivate-Abteilung auf und riefen mir Orders zu, begleitet von den jeweiligen Handzeichen für Kaufen oder Verkaufen. Und solche Aufträge kamen nicht nur von den Händlern. Michael Daffey, der sich gern mit dem Fußvolk ins Getümmel stürzte (und sich so die Achtung von Nachwuchskräften verschaffte, die sahen, dass sich der Chef nicht zu fein war, selbst Hand anzulegen, und genau wusste, was er tat), rief ebenfalls manchmal: «Greg Smith, kaufen Sie mir 2000 Juni-S&P-Futures!» Eine Order über 2000 Kontrakte war auf den ersten Blick vielleicht nicht groß, stand aber für ein Aktienmarktengagement von rund einer halben Milliarde Dollar, was zeigt, wie riskant und wie stark gehebelt Futures sein können. Und jeder wusste, wenn Daffey die Order selbst entgegengenommen hatte, kam sie von Tudor Jones, Druckenmiller, Soros, Novogratz, Bacon oder einem anderen Hedgefonds-Giganten. Daffey liebte den großen Auftritt und brüllte lauter als alle anderen.

Dann musste ich Patrick Hannigan oder Bob Johnson in den Pits der Merc anrufen und dranbleiben. «Also gut, wo stehen Juni-S&P-Futures? Ich brauche insgesamt 2000 Stück, muss aber vorsichtig agieren.» Dann verließ ich mich auf Patricks oder Bobs Schilderung der Stimmung in den Pits. Wurde sie aggressiver? Sollten wir Tempo herausnehmen oder Druck machen? Entsprechend lauteten meine Anweisungen: «Kaufen Sie noch 100. Kaufen Sie weitere 100 zu maximal 950. Warten Sie ab.» Schließlich konnte man schlecht alle 2000 Stück auf einmal kaufen, ohne seine Absichten zu deutlich zu machen. Aufträge dieser Größenordnung konnten auf dem Markt Angst oder gar Panik auslösen oder alle anderen Trader in den Pits zu gegenläufigen Transaktionen veranlassen. Doch inzwischen waren schon wieder zwei weitere Anrufer in der Leitung …

Sprach man gerade mit einem Kunden, während ein anderer, wichtigerer anrief, verlangte das Protokoll, demjenigen, der den Anruf entgegengenommen hatte, ein Handzeichen zu geben. Rief Fidelity an und man wollte das eigene Gespräch rasch beenden und den Anruf durchstellen lassen, signalisierte man das korrekt mit einem erhobenen Zeigefinger für «einen Moment». War das nicht möglich und man wollte stattdessen zurückrufen, drehte man den Finger im Kreis. Einmal hatte ich schon zwei Kunden in der Leitung und alle Hände voll zu tun, als ein dritter anrief. Ich wollte das Rückrufsignal geben, ließ im Eifer des Gefechts aber die ganze Hand kreisen anstelle des Fingers. Ein paar meiner erfahreneren Kollegen fanden das höchst amüsant, allen voran «Mullet». Meine übereifrige Handbewegung wurde schnell bekannt als «der Hubschrauber».

Eines Morgens passierte mir dann ein echter Schnitzer.

Es war halb sieben. Ich trank gerade Kaffee und war eigentlich noch im Halbschlaf, als mich ein Kunde anrief. Es war eine Pensionskasse mit einem Miniauftrag. «Kaufen Sie bitte sieben nächstfällige DAX-Futures.» Versehentlich verkaufte ich stattdessen sieben Kontrakte. So ein Missgriff ist schnell passiert. Man klickt einfach auf die falsche Schaltfläche – auf Verkaufen statt Kaufen. Mir war aber sofort klar, was ich da angestellt hatte, und ich reagierte schnell. Allen Analysten wird eingeschärft, dass man seine Karriere am schnellsten dadurch sabotieren kann, wenn man nicht erkennt, wann man um Hilfe rufen sollte. Man musste seinen Stolz runterschlucken und sagen können: «Hören Sie, ich stecke in der Klemme. Ich brauche Ihre Hilfe – jetzt gleich.»

Also wandte ich mich an Corey, der neben mir am Telefon saß, und sagte ruhig, aber sehr ernst, dass ich dringend seine Hilfe brauchte. Er legte auf. «Sie müssen mir helfen», sagte ich. «Ich habe diese Futures verkauft statt gekauft. Was mache ich jetzt?»

Corey blieb so ruhig wie immer. Wir hatten schon sehr früh gemerkt, dass wir trotz unseres sehr unterschiedlichen Hintergrunds beide die Eigenschaft besaßen, in Krisensituationen gelassen zu bleiben. Er stand auf, stellte sich hinter mich und legte mir den Arm auf die Schulter. Dann zeigte er auf den Bildschirm und sagte: «Also gut, sehen wir zu, wie wir da rauskommen. Kaufen wir sie zurück.» Das machten wir zusammen. Wir prüften alles doppelt und dreifach. Wir stellten die irrtümlich eingegangene Position glatt und führten das Geschäft korrekt aus. In der Zwischenzeit (das Ganze hatte vielleicht eine Minute gedauert, mir kam es allerdings erheblich länger vor) hatte sich der Markt nur um einen Tick bewegt. Mein Fehler hatte Goldman Sachs 80 Dollar gekostet.

Hätte der Markt sich um ein Prozent bewegt, hätte der Verlust 8000 Dollar betragen können. Wären es ein paar Prozent mehr gewesen, hätten es auch 80 000 Dollar sein können. Immer noch nicht die Welt, aber ein Fehler war ein Fehler. Ich leistete Abbitte bei Corey. Ich wollte, dass er stolz auf mich war, und meinte es ernst. Er reagierte freundlich, aber er nahm die Sache ebenfalls ernst. «Schon gut», sagte er. «Wir kriegen das hin. Wir lernen daraus – und jetzt müssen Sie das Fehlermemo schreiben.»

«Muss ich es Daffey sagen?», fragte ich.

Corey nickte. «Gehen Sie zu ihm und bringen Sie’s hinter sich.»

Das tat ich. Daffey hörte mir aufmerksam zu, als ich ernst und zerknirscht die Geschichte von dem Patzer erzählte, der 80 Dollar gekostet hatte. «Es ist gut, dass Sie es mir gesagt haben», meinte er schließlich. «Passen Sie einfach auf, dass es nicht noch einmal vorkommt.»

Als ich mich bedankte, merkte ich, dass er ein Lächeln unterdrückte. «Keine Sorge», meinte er.

Ich lächelte nicht. Ich war fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass mir das nicht noch einmal passierte.

Es gab Analysten, die solche Gespräche mit Daffey unter weit unangenehmeren Umständen führen mussten. Ich erinnere mich noch an einen Fehler, der eine Million Dollar gekostet hatte.

Was damals geschehen war, war der schlimmste Albtraum jedes Derivatehändlers. Der Fehler wurde erst am Folgetag bemerkt. Nehmen wir an, der Kunde – Manager einer Pensionskasse, meinetwegen aus Kansas – sagt: «Kaufen Sie mir über Nacht, wenn der französische Markt öffnet, 10 CAC-Futures.» Sie führen die Order aus. Am nächsten Morgen merken Sie, dass Sie statt 10 Stück 10 000 Stück gekauft haben. So einen Tippfehler bezeichnet man an der Wall Street als «fat finger» – wenn man mit dem «dicken Finger» statt einmal gleich dreimal auf die Null drückt.

Als der betreffende Analyst am Tag darauf zur Arbeit erschien, hatte die Europäische Zentralbank über Nacht die Zinsen angehoben, und der Markt hatte um fünf Prozent angezogen. Für den Kunden bedeutete das eine Million Dollar Verlust, was er natürlich nie hingenommen hätte. Also musste Goldman Sachs dem Kunden die Million erstatten. Es war schließlich nicht sein Fehler gewesen, sondern der der Firma.

Der Analyst wurde für diesen Fehler aber nicht entlassen. Tatsächlich unterläuft fast jedem Analysten in seinen ersten Monaten irgendein größerer Schnitzer. Das wird akzeptiert. Wenn das im Anschluss noch zwei-oder dreimal vorkommt, sieht die Sache schon anders aus.

Meine 80-Dollar-Panne sollte meine letzte bleiben – während meiner gesamten beruflichen Laufbahn.

Detailversessen war ich schon immer gewesen. Corey brachte mir bei, nachgerade paranoid zu sein. «Es ist besser, etwas richtig zu machen und zehn Sekunden länger zu brauchen, als schnell fertig zu werden», erklärte er mir. «Ärgert sich der Kunde, weil Sie so lange brauchen, sagen Sie ihm einfach, dass Sie sich so viel Zeit lassen, damit auch alles stimmt. Überprüfen Sie immer alles dreifach – einmal geprüft, zweimal geprüft, richtig gemacht.»

Corey lehrte mich, wie ein Trader zu denken und zu handeln: schnell, aber genau. So war es zum Beispiel entscheidend, die Multiplikatoren zu kennen, die zur Berechnung des Nominalwerts (des gesamten finanziellen Risikos) eines Futures-Kontrakts herangezogen werden. Das bläute mir Corey ein: Überprüf die Multiplikatoren immer dreifach – und zwar mit dem Kunden. War diesem klar, dass er im Begriff stand, für eine Milliarde Dollar zu kaufen oder zu verkaufen? Oder hatte er falsch multipliziert? Soll alles schon vorgekommen sein.

Corey stellte mich allen Maklern vor, mit denen wir in den Pits der verschiedenen Terminbörsen zusammenarbeiteten – neben der Merc war dies das Chicago Board of Trade, die Chicago Board Options Exchange, die American Stock Exchange (AMEX), die Pacific Exchange an der Westküste –, sowie den Leuten, mit denen ich in der Derivate-Abteilung und in unserem Handelssaal im One New York Plaza zu tun haben würde.

Nach den ersten paar Wochen im neuen Job waren meine Monitore rundum mit grünen Klebenotizzetteln beklebt, auf denen all die Daten, Fakten und Namen standen, die ich mir merken musste. Die Schlusszeiten aller Märkte in Europa und Asien. Die Multiplikatoren für alle Futures-und Optionenkontrakte. Die Rufnummer unseres Maklers für Devisengeschäfte. Jede Kleinigkeit war außerordentlich wichtig, und ich musste das alles griffbereit haben, damit ich gute Leistungen zeigen konnte.

Bald war mein Terminal so mit Klebezetteln bepflastert, dass ich kaum noch den Bildschirm sehen konnte. Ich sagte mir, dass ich unbedingt ein System entwickeln musste, um all das auswendig zu lernen. Am Ende gab es aber kein System. Ich lernte durch Zuhören, Zuschauen und Machen, tagein, tagaus. Ein Notizzettel nach dem anderen wanderte in den Papierkorb.

 

Der 80-Dollar-Verlust durch meinen Fehler war schnell vergessen. Schon bald hielt ich mir auf meine Zuverlässigkeit und Genauigkeit viel zugute. Corey, der in dem Ruf stand, nie Fehler zu machen, bezeichnete mich inzwischen als seinen «franchise pick» – eine Art Mannschaftskapitän beim Football. Den Begriff kannte ich damals nicht, wusste ihn aber bald zu würdigen. Wir beide galten auf dem Parkett als diejenigen, denen man notfalls auch kurz vor dem Abpfiff noch den Ball zuspielen konnte, ohne dass sie unter dem Druck versagten.

Diese Vergleiche mit der Sportwelt sind durchaus passend. Corey war im College in der Basketballmannschaft Point Guard gewesen. Corey und ich hatten die ganze Zeit über so viel zu tun, dass es sich anfühlte, als würde man mit hundert Bällen gleichzeitig spielen. Man musste ständig Prioritäten setzen. Was war wichtiger: diese Transaktion auszuführen, dem Kunden den Preis mitzuteilen oder auf die E-Mail aus der Abteilung Operations zu antworten, damit die Transaktion verbucht werden konnte? Trotzdem führten wir mehr Trades aus als jeder andere. Das Telefon klingelte unaufhörlich, und wir beide stempelten den ganzen Tag lang Ordertickets, bis der Stapel am Abend dreißig Zentimeter hoch war.

Die Verwendung der Tickets wirkte beinahe lächerlich vorsintflutlich. Dergleichen hätte man vielleicht vor dem Ersten Weltkrieg an der Wall Street sehen können. Doch in der Aktienbranche wurden sie aus Compliance-Gründen verlangt. Wir wurden wahre Meister in dieser Disziplin. Vielen bereitete es Probleme, den mittleren Durchschlag herauszureißen. Wir waren einigermaßen stolz darauf, dass wir es jedes Mal schafften, ihn mit schlafwandlerischer Sicherheit glatt herauszutrennen. Viele zerdrückten oder verknickten die Dreifachformulare bei dem Versuch, sie in den schmalen Schlitz des Zeitstempels zu stecken. Immer mal wieder, wenn es gerade etwas ruhiger zuging, versuchten Corey und ich, uns in der Kunst des Stempelns zu übertrumpfen. Ziel war, das Ticket mit einer fließenden, geschmeidigen Bewegung einzuführen und – sssst! – wieder herauszuziehen.

Irgendwer spuckt einem aber immer in die Suppe. Lloyd Blankfein, der Anfang 2003 Vice Chairman war und die Bereiche Fixed Income, Currency and Commodities sowie Equities leitete, schaute gern in unserer Abteilung vorbei, um Daffey hallo zu sagen und das Neueste über seine Freunde Jones, Bacon und Druckenmiller zu erfahren. Lloyd wollte wissen, was die Insider machten.

Eines Tages blieb er an meinem Tisch stehen und zog eine Augenbraue hoch. «Was sind denn das für Tickets, die ihr da verwendet?», fragte er. «Bei Fixed Income gibt es das nicht mehr.»

Das stimmte – das Reich von Lloyd Blankfeins Welt war ein paar Jahre zuvor komplett digitalisiert worden. Corey und ich erklärten ihm, in der altmodischen Aktienbranche sei das eben so.

 

Als ich anderthalb Monate in der Abteilung war, sah Corey mich an und sagte: «Sie machen sich gut – Zeit für die Feuertaufe.»

Er meinte damit, dass er sich einen Tag freinehmen und mir das ganze Trading-Geschäft allein überlassen wollte. Er hatte mir viel beigebracht, aber er wusste, am meisten würde ich lernen, wenn ich das Chaos allein bewältigen müsste. Obwohl natürlich immer noch alles Mögliche ganz furchtbar schiefgehen konnte, war ich so weit, dass er mir das zutraute. Der Alleingang würde mein Durchhaltevermögen und meine Konzentration auf die Probe stellen und – wenn ich ihn heil überstand – meinem Selbstvertrauen einen kräftigen Schub geben.

Ich sah dieser Bewährungsprobe nervös und angespannt entgegen. Zusammen hatten Corey und ich rund hundertfünfzig Transaktionen pro Tag ausgeführt. Nur weil er einen Tag außer Haus war, würde der Ansturm nicht kleiner werden. Doch der Wettkämpfer in mir nahm diese Herausforderung an.

Ich konnte ja nicht ahnen, was mir bevorstand.

Am betreffenden Morgen kam ich um halb sechs – eine Stunde früher als sonst –, um die Aufträge unserer asiatischen Niederlassungen abzuarbeiten, deren Handelstag zu Ende ging. In meinem Posteingang warteten mindestens zwanzig Mails von meinen Kollegen aus Tokio, Hongkong und Sydney. Da war zum Beispiel zu lesen: «Kaufen Sie mir 250 NASDAQ-Futures bei Handelsschluss für den Sydney Teachers Retirement Fund.»

Ich schüttelte den Kopf. Bei welchem Handelsschluss? War der Handelsschluss in denUSAgemeint? In Asien? Am Terminmarkt? Am Kassamarkt? Corey und ich hatten versucht, diesen Typen beizubringen, unmissverständlich zu formulieren, aber das klappte nicht immer. Und er hatte mich gewarnt. Wenn sie uns einen Fehler anlasten konnten, würden sie das tun, weil sie alle Risiken grundsätzlich gern anderen aufs Auge drückten. Wenn es sein musste, würde ich die Kerle aus dem Schlaf reißen, um genaue Anweisungen zu erhalten. Besser man klärte solche Dinge gleich, als es später zu bereuen.

Um sieben Uhr fand eine Telefonkonferenz mit allen Mitarbeitern unseres Bereichs im Handelssaal statt, um das anstehende Tagesgeschäft zu besprechen. Was für Katalysatoren lagen vor? Worauf mussten wir besonders achten? Welche Ideen sollten wir Kunden nahebringen? Jeder kam an die Reihe und ließ die anderen wissen, was er dachte.

Als um 8 : 20 Uhr dann der Rentenmarkt öffnete, hieß es: Alle Mann an Deck. Dumm war nur, dass ich der einzige Mann war.

Sekunden später hatte ich schon drei Anrufer in der Leitung. Das Telefon klingelte den ganzen Tag. Von 8 : 20 Uhr bis 16 : 30 Uhr aß ich an diesem Tag Ende Januar 2003 nichts, trank nichts und fand nicht einmal Zeit, zur Toilette zu gehen. Doch das merkte ich kaum.

Ich arbeitete auf Hochtouren, voll konzentriert, mit vollem Einsatz. So stelle ich mir den sogenannten «Zen-Zustand» vor – drei Telefone, die gleichzeitig klingeln, ein Kollege, der mir aus dem Handelssaal zuruft: «Ich muss für 200 Millionen Dollar Futures auf US-Schatzanleihen kaufen (oder verkaufen)!», noch ein Kunde, der auf meinen Rückruf wartet, weil er einen Preis braucht, und Patrick Hannigan, der anruft, um mir diesen Preis mitzuteilen …

Bloß keinen Fehler machen, bloß keinen Fehler machen, nur ja nichts vermasseln.

Ich musste bei der Sache bleiben, aufpassen, dass ich auch alles aufschrieb und nichts vergaß. Die schlimmstmögliche Panne war, dass man übersah, eine Order auszuführen – ein solcher Fehler konnte sich ebenso schnell zu einem Millionenschaden summieren wie ein «dicker Finger».

Ich musste genau zuhören, weil alle in Hektik waren. Corey hatte mir eingebläut, dass man hektische Menschen herunterbremsen musste, denn wenn sie in der Eile eine falsche Anweisung gaben, würden sie mir am Ende die Schuld dafür in die Schuhe schieben. Wenn einer sagte: «Kaufen Sie mir 1000 Kaufoptionen auf Microsoft mit Fälligkeit 30. Juni», wiederholte ich: «Also gut, Sie wollen 1000 Kaufoptionen auf Microsoft mit Fälligkeit 30. Juni kaufen – richtig?» Dann musste der Kunde antworten: «Genau». Erst dann – und nur dann – würde ich die Transaktion ausführen.

Von 8 : 20 Uhr bis 16 : 30 Uhr verlor ich jedes Zeitgefühl. Ich hatte mich noch nie im Leben so verausgabt.

Als der Tag vorüber war, hatte ich keinen Fehler gemacht. Ich war so euphorisch, als wäre ich gerade über die Ziellinie eines Marathons gesprintet.

 

Am 14. August 2003, einem glühend heißen Tag in New York, flackerte kurz vor 16 : 10 Uhr das Deckenlicht im Handelssaal von Goldman Sachs. Und kurz darauf noch einmal. Das war der einzige Hinweis auf den massiven Stromausfall, der große Teile des Nordostens der Vereinigten Staaten lahmlegte. Unsere Terminals liefen weiter. Der Notfallgenerator von Goldman sprang nahtlos ein. Ein, zwei Minuten später konnten wir auf CNBC (der Sender läuft ständig auf Monitoren im ganzen Handelssaal) und Bloomberg (an unseren Terminals) sehen, was geschehen war. Beide Kanäle unterbrachen ihre üblichen durchlaufenden Nachrichtenticker und blendeten stattdessen in roter Schrift die Dauerschlagzeile ein: «WEITE GEBIETE IM NORDOSTEN OHNE STROM … WARTEN AUF BERICHTE DER FEMA …»

Es war ein grässlicher Moment. Der 11. September 2001 lag noch keine zwei Jahre zurück. Die USA waren im Frühling im Irak einmarschiert. Und wir befanden uns im neunundvierzigsten Stock eines der höchsten Gebäude im Zentrum von Manhattan. Ironischerweise ging gerade das Sommerpraktikantenprogramm zu Ende. Ich war für mehrere Teilnehmer zuständig, die meiner Abteilung zugewiesen waren. Sie wirkten verängstigt. Ich schickte sie nach Hause. Alle rannten zu den Aufzügen. Manche nahmen die Treppe, weil ihnen die Vorgänge Angst machten.

Der Vorfall hätte zu keinem unpassenderen Zeitpunkt kommen können. Erstens ereignete er sich an einem der eher seltenen Tage, an denen Corey nicht im Büro war. Ich war als Einziger im ganzen Handelssaal mit seinen sechshundert Mitarbeitern für den Handel mit Futures-Kontrakten zuständig. Und zweitens schlossen die Futures-Märkte gerade. Die Zeit zwischen 16 : 15 Uhr und 16 : 30 Uhr benötigte die Mercantile Exchange für Buchhaltungszwecke. Wer auf den Märkten schnell reagieren will, handelt nicht mit einzelnen Aktien oder Anleihen – er kauft oder verkauft Futures-Kontrakte, weil sie die liquidesten, transparentesten Instrumente sind, die zur Verfügung stehen. Zwischen 16 : 15 Uhr und 16 : 30 Uhr mussten die Investoren zwangsläufig eine Auszeit nehmen. Der Handel war ausgesetzt.

Und genau in dieser Viertelstunde kamen die ersten schnellen Reaktionen. Schon von 16 : 10 bis 16 : 15 Uhr hatte ich auf meinem Bildschirm gesehen, dass Futures nachgaben – die Investoren verkauften. An der Wall Street wird die Wahrnehmung größerer Ereignisse unter anderem durch einen Blick auf die Futures beurteilt. Setzen diese zum Sturzflug an, bedeutet das, dass der Markt wirklich Angst bekommt. Dieser Markt war angstgesteuert. Die Telefone begannen zu klingeln. Kunden wollten wissen: «Seid ihr da, wenn wir reagieren möchten, sobald die Märkte um 16 : 30 Uhr wieder aufmachen?» Und: «Wir brauchen Sie an Ihrem Platz!»

Über das Lautsprechersystem plärrte immer wieder dieselbe Ansage: «Bitte verlassen Sie ruhig das Gebäude …» Die meisten meiner Kollegen waren bereits fort. Es drohte ein Chaos. Jemand musste bleiben. Um 16 : 30 Uhr waren im neunundvierzigsten Stock nur noch Michael Daffey und ich. Der Handelssaal war wie ausgestorben.

Während der Futures-Handel ausgesetzt war, hatte ich mit mehreren Kunden gesprochen. Sie redeten von großen Transaktionen, die sie ausführen wollten – richtig dicken Geschäften –, sobald die Märkte wieder geöffnet waren. Alle wollten verkaufen – shorten, weil sie davon ausgingen, dass der Grund für den Stromausfall ein Terroranschlag war. Insbesondere ein Kunde, ein Hedgefonds, wollte ein sehr umfangreiches Geschäft über die Bühne bringen: über S&P-Futures für 2 Milliarden Dollar. Der Verkauf sollte nicht über E-Mini-Kontrakte erfolgen, sondern über ein weniger liquides Produkt – einen sogenannten Big-Futures-Kontrakt. Diese großen Kontrakte hatten das fünffache Volumen, mit 250 000 Dollar pro Kontrakt statt 50 000 Dollar beim E-Mini. Und sie waren viel unhandlicher. E-Mini-Kontrakte waren erfunden worden, um Investoren die Möglichkeit zu geben, wendiger zu agieren und in kleineren Einheiten zu handeln. Elektronisch konnten sie rund um die Uhr gehandelt werden. Es war, als plane der Kunde eine Flucht im Auto und hatte die Wahl zwischen seinem vertrauten alten, klapprigen Toyota und einem brandneuen Lexus. Im Grunde sagte der Kunde: «Ich möchte uns lieber mit dem alten Toyota hier rausbringen, weil wir so daran gewöhnt sind.» Wir Fachleute wussten aber, dass er mit dem Lexus viel besser bedient wäre, weil er sich damit geschickter durchs Gewühl manövrieren könnte und schneller ans Ziel käme. Nebenbei bot dieser auch noch überlegene Sicherheitsmechanismen … Darin lag der Unterschied. Der Kunde wollte mit einem Produkt handeln, das ihm vertraut war, das aber nicht sehr funktionell war. Außerdem würde die Transaktion auf den Märkten Folgen zeitigen, die ihm am Ende schaden konnten.

Ich musste einen Partner hinzuziehen.

Ich ging zu Daffeys Schreibtisch, der vielleicht zwanzig Meter von meinem entfernt stand, und sagte: «Gleich öffnet der Markt, und dieser Kunde will für 2 Milliarden S&P-Futures verkaufen, aber mit dem falschen Kontrakt. Ich habe ihm das klar und deutlich gesagt – dass es nicht in seinem Interesse ist und dass er mit dem großen Kontrakt auf dem Markt größere Bewegungen auslösen wird als mit dem Mini.»

Daffey war ganz meiner Meinung. «Rufen wir ihn an», sagte er.

Da Daffey den Kunden nicht kannte, riefen wir gemeinsam an. «Hören Sie», sagte Daffey, «hier spricht Michael Daffey. Ich bin der für Derivate zuständige Goldman-Partner. Es ist nicht in Ihrem Interesse, den großen Kontrakt zu handeln – Sie machen den Markt kaputt. Sie nehmen besser E-Minis.»

Der Mann war nervös, hörte eine Stimme, die mit Autorität sprach und protestierte nicht.

«Also gut», sagte er.

Doch Daffey wollte die Transaktion ausdrücklich abgesegnet haben. «Ihnen ist klar, dass Sie E-Mini-Kontrakte über 2 Milliarden Dollar verkaufen?»

«Ich bestätige das», sagte der Kunde.

Daffey und ich hätten um 16 : 30 Uhr mit den anderen das Gebäude verlassen können. Wir hätten den Kunden die Transaktion so durchführen lassen können, wie er es ursprünglich vorhatte. Weil wir als Futures-Händler als Auftragnehmer auftraten (die auf Provisionsbasis arbeiten), nicht als Auftraggeber (die mit dem Geld der Firma als Kontrahent der Kundentransaktion agieren), hätten wir in beiden Fällen eine ähnlich hohe (nicht besonders hohe) Provision verdient. Geblieben sind wir, weil wir unseren Kunden beweisen wollten, dass wir sie nicht im Stich lassen, wenn sie uns brauchen. Wir hielten das für richtig. Zu einem anderen Kontrakt haben wir den Kunden überredet, weil es in seinem Interesse war – nicht in unserem.

Um 16 : 30 Uhr öffnete der Markt wieder. Seit der Schließung hatte er ein paar Prozent verloren, und ich führte die Transaktion aus, ohne größere Marktreaktionen auszulösen.

 

In der folgenden halben Stunde führte ich etwa zehn Transaktionen aus, alle für verängstigte Kunden, die sich auf Short-Seite engagieren wollten – jeweils über kleinere, aber dennoch maßgebliche Summen: über Nominalbeträge zwischen 50 und 500 Millionen Dollar. Gegen fünf Uhr hörte das Telefon auf zu klingeln. Daffey kam an meinen Platz. «Ich gehe jetzt», sagte er. «Das sollten Sie auch tun.» Noch wusste niemand, was den Stromausfall ausgelöst hatte. Doch inzwischen hatte sich die Klimaanlage im neunundvierzigsten Stock ausgeschaltet. So langsam wurde es heiß.

Jede Faser meines Körpers wollte gehen, doch mein Kopf zwang mich zu bleiben.

Corey hatte mir eingeschärft, dass ich mir bei hundertfünfzig täglichen Transaktionen abends unbedingt eine Stunde Zeit dafür nehmen sollte – auch wenn ich erschöpft war (und das war ich immer) –, jeden einzelnen Abschluss dreifach zu überprüfen, damit ich nicht am nächsten Morgen mein blaues Wunder erlebte, weil ich eine Null zu wenig oder eine zu viel eingetragen hatte – was Millionen kosten konnte.

Um 17 : 30 Uhr machte ich Schluss. Bevor ich ging, rief ich noch meine zwei, drei wichtigsten Kunden an und sagte: «Ich bin im Aufbruch. Brauchen Sie noch irgendetwas?» Sie meinten: «Nein, wir gehen jetzt auch.» Ich war der Letzte im neunundvierzigsten Stock. Die Temperatur war inzwischen unerträglich. «Höchste Zeit, dass ich hier verschwinde», dachte ich.

Ich schickte Michael Daffey eine E-Mail, aus der hervorging, was ich nach 16 : 30 Uhr noch erledigt hatte. «Kunde hat für 2 Milliarden Dollar verkauft. Alles reibungslos abgelaufen. Anbei die übrigen Transaktionen», schrieb ich und fasste alles Weitere kurz zusammen. «Ich gehe jetzt.»

Er schrieb zurück: «Gute Arbeit, mein Junge. Mehr kann man nicht erwarten. Wenn Sie nicht wissen, wohin – ein paar Leute treffen sich bei mir in Tribeca.»

Doch ich hatte zu diesem Zeitpunkt wirklich kein Bedürfnis nach der Gesellschaft von Arbeitskollegen. Ich wollte nur noch raus und nach Hause.

Die Aufzüge funktionierten nicht, also stieg ich sämtliche Stockwerke zu Fuß hinunter. Das Treppenhaus wirkte im Schein der Notbeleuchtung unheimlich und war stickig und heiß. Als ich im Erdgeschoß ankam, waren meine khakifarbene Hose und mein blaues Brooks-Brothers-Hemd schweißnass.

Auf der Straße drängten sich erhitzte, zermürbte Menschen. Manche saßen auf den Stufen vor dem Gebäude. Ich erkannte zwei der Sommerpraktikanten, die ich in unserer Abteilung betreut hatte. Plötzlich schoss mir durch den Kopf, dass sie ihr zehnwöchiges Praktikum am folgenden Tag beenden würden. Sie standen unter Strom und warteten auf die Nachricht, ob sie übernommen würden.

Sie sahen mich erwartungsvoll an. «Wissen Sie, was los ist?», fragte einer. Ich war nicht sicher, was er meinte – den Stromausfall oder die Entscheidung der Firma.

Ich konnte nur den Kopf schütteln. «Tja, Jungs, ein verrückter Abschluss eines Sommers», meinte ich.

Während ich in den Asphaltofen von Lower Manhattan hineinlief, wurde mir klar, dass mein eigenes Sommerpraktikum nur gefühlte fünf Minuten zurücklag, doch in Wirklichkeit drei Jahre vergangen waren. Gerade hatte ich während eines Stromausfalls Futures-Transaktionen über mehr als 2 Milliarden US-Dollar über die Bühne gebracht. Damit gehörte ich jetzt wohl endgültig zu den Erwachsenen.