Kapitel 7

Der Blick in den Abgrund

Aus den Augenwinkeln sah ich, wie unser CEO Lloyd Blankfein inmitten einer Menschentraube im Handelssaal erschien. Der ganze Pulk befand sich auf der anderen Seite des fußballfeldgroßen Saals, bewegte sich aber stetig in unsere Richtung, der Abteilung Derivatives Sales. Ein paar Fotografen und jemand mit einer Kamera waren auch dabei. Es war ein seltsamer Anblick. Bei uns gab es niemals Fotografen im Handelssaal, schon gar nicht in einem Moment, der uns wie das finanzielle Armageddon vorkam. Die Märkte brachen zusammen, und Lloyd grinste von einem Ohr zum anderen, ebenso wie alle anderen in der Gruppe. Als sie näher kam, erkannte ich, dass jede Menge hohe Tiere dabei waren: Harvey Schwartz, der globale Chef des Bereichs Securities, Enrico Gaglioti, der Verkaufschef für Nordamerika – es müssen sieben oder acht Partner gewesen sein, die in meine Richtung gingen. Aber keiner von diesen Eminenzen war so groß wie der Mann, der sich in ihrer Mitte befand. «Das Orakel von Omaha» – Warren Buffett. Ohne Zweifel der größte Investor seiner Zeit, vielleicht sogar aller Zeiten. Sein Unternehmen Berkshire Hathaway hatte sich für seine Fähigkeit, Wert zu erkennen und für die Anleger Jahr um Jahr Renditen zu generieren, einen legendären Ruf erworben.

Inmitten all der Turbulenzen war dies ein guter Tag für Goldman Sachs. Warren Buffett war gekommen, um die Firma vor der Auslöschung zu bewahren. Wir waren alle völlig überrascht: Nur zwei Tage nachdem wir in eine Bankenholding umgewandelt worden waren, warf uns Buffett eine Rettungsleine zu in Form von 5 Milliarden Dollar frischem Geld. Für ihn war es ein unglaublich attraktiver Deal, einer, den er nicht ausschlagen konnte. Er bekam eine jährliche Dividende von zehn Prozent (Goldman Sachs zahlte ihm über seine Investition hinaus zusätzliche 500 Millionen Dollar pro Jahr), obendrein räumte ihm die Firma Bezugsrechte (ähnlich wie Call-Optionen) auf Firmenaktien im Wert von weiteren 5 Milliarden Dollar zu einem ermäßigten Preis ein. Ein teurer Deal für Goldman, doch das Gütesiegel von Warren Buffetts Zustimmung war Gold wert. Es war ein Schub, der es uns erlaubte, rasch weitere 5 Milliarden Dollar Kapital bei unseren Kunden aufzunehmen, zu denen einige der größten institutionellen Anleger der Welt gehörten. Noch wichtiger als das 5-Milliarden-Dollar-Investment des «Orakels» war der mächtige Schub Selbstvertrauen, den wir daraus zogen, und die Botschaft, die es an die Märkte schickte. Sowohl das Geld wie auch die Geste hatten uns stabilisiert.

Die Menschentraube kam den langen Gang in der Mitte des Handelssaals entlang. Warren schaute sich um und lächelte. Lloyd zeigte ihm verschiedene Bereiche. Und dann entschlossen sie sich, stehen zu bleiben. Direkt an meinem Schreibtisch.

«Lloyd, lassen Sie mich ein paar Worte sagen», bat Buffett.

Ein Associate beeilte sich, Buffett das Tischmikrophon meines Schreibtischnachbarn in die Hand zu drücken, damit er über die Anlage für jeden einzelnen der sechshundert Trader im Raum zu hören sein würde.

In dem Moment, als er zu sprechen begann, brandete Applaus auf. Es war die Art von Applaus, die ich ansonsten in meiner Karriere nur einmal gehört hatte: am ersten Jahrestag des 11. September, als alle ebenso erleichtert wie begeistert applaudierten, dass New York sich nicht hatte in die Knie zwingen lassen. Auch jetzt stand jeder im Raum auf, strahlte und klatschte. Der Applaus schien nicht enden zu wollen.

«Ich möchte, dass Sie wissen, dass ich Goldman Sachs immer bewundert habe», sagte Buffett, das Mikro dicht am Mund. «Seit dem Tag, als ich im Alter von zehn Jahren mit meinem Vater nach New York City kam und wir dort Goldman Sachs besuchten. Ich habe Sidney Weinberg kennengelernt, und ich habe das Unternehmen seitdem immer bewundert.»

So etwas kann man nicht erfinden.

«Goldman Sachs hat die besten Leute, Sie sind das beste Unternehmen, und ich könnte nicht mehr Stolz empfinden oder glücklicher sein über mein Investment.»

Der Applaus brandete erneut auf und hörte erst auf, als Lloyd und Warren den Handelssaal verlassen hatten.

Es war ein Moment, den ich nie vergessen werde. Ich habe immer noch ein Foto, das ein Kollege mit seinem iPhone geschossen hat: Ich stehe rechts von Buffett, mit meinem weißen Hemd und hellblauer Krawatte, Lloyd zu seiner Linken. Dutzende meiner Kollegen drängen sich um das «Orakel», und jeder einzelne von ihnen strahlt Stolz und ein wenig neue Hoffnung aus. Für einen kurzen Augenblick war die Welt wieder in Ordnung.

Ein paar Tage vor Buffetts Besuch war Finanzminister Hank Paulson bekanntermaßen zu Nancy Pelosi gegangen, der Sprecherin des Repräsentantenhauses, und hatte ihr sein Programm «zur Rettung gefährdeter Vermögenswerte», das «Troubled Assets Relief Program» (TARP), vorgelegt, das 700 Milliarden Dollar bereitstellen sollte. Es umfasste gerade einmal drei Seiten, und die Abgeordneten waren sprachlos über seine Unverfrorenheit, aber Paulson hatte seinen Vorschlag kurz halten wollen, um eine schnelle Verabschiedung durch den Kongress zu ermöglichen. TARP erlaubte es der US-Regierung, den Banken toxische, illiquide Wertpapiere abzukaufen, in der Hoffnung, dass diese Maßnahme – die größte Rettungsaktion der Finanzgeschichte – die gelähmten Kapitalmärkte wiederbeleben würde. Es gab eine Menge Hin und Her im Kongress, eine ausführlichere Version wurde angefordert, und schließlich sollte über das Rettungsprogramm abgestimmt werden, als Rosch ha-Schana vor der Tür stand.

Ich bin nicht besonders religiös, aber ich war immer traditionsbewusst, und die jüdischen Feiertage sind mir wichtig. Ich hatte mir an Rosch ha-Schana und Jom Kippur immer freigenommen, um in die «Schul», die Synagoge, zu gehen, was vonseiten meiner Vorgesetzten auch nie Probleme gab. Die Familie meiner Freundin Nadine in Dallas hatte uns beide dorthin eingeladen, um das jüdische Neujahr mit ihnen zu feiern. Wir waren mittlerweile seit zwei Jahren zusammen und verbrachten die Feiertage abwechselnd bei meinen Cousins in Chicago und bei ihrer Familie in Dallas. Nadine war schon am Wochenende geflogen, aber ich hatte umgebucht, um bis zum letztmöglichen Moment abzuwarten. Und jetzt bebte die Erde. Es war Montag, der 29. September 2008. Rosch ha-Schana würde mit dem Sonnenuntergang beginnen, und die Abstimmung im Kongress stand an diesem Nachmittag an.

Ich ging zu einem Managing Director im Handelssaal, der praktizierender Jude war, um mir von ihm Rat zu holen. Sollte ich das Schiff verlassen, auch wenn ich das Gefühl hatte, dass es sank?

«Ich brauche Ihren Rat», sagte ich. «Ich müsste eigentlich jetzt gehen, um für Rosch ha-Schana meinen Flug nach Dallas zu erwischen. Ich habe das Gefühl, dass das ganze Finanzsystem jede Minute zusammenbrechen und uns alle mit in den Abgrund reißen kann. Ich habe noch nie vorher an einem Jom Tov gearbeitet, aber die Situation ist einfach eine besondere. Soll ich bleiben?»

Er zögerte keinen Augenblick. «Das ist gar keine Frage», sagte er. «Es ist völlig belanglos, ob Goldman Sachs in dieser Minute Bankrott macht. Weder Sie noch ich werden den Gang der Ereignisse beeinflussen. Rosch ha-Schana ist der größte Tag des jüdischen Jahres. Gehen Sie.»

Er hatte die Perspektive für mich wieder zurechtgerückt. Ich bestieg ein Taxi und fuhr zum Flughafen.

Ich war spät dran für meinen Flug, und unterwegs telefonierte ich mit einer Mitarbeiterin, die Associate in meiner Abteilung war, und fragte sie, wie die Märkte sich vor der Abstimmung verhielten. «Es sieht okay aus», sagte sie. «Der Markt hält stand. Der Markt erwartet, dass TARP verabschiedet wird.»

Ich erreichte den Flughafen und eilte durch die Sicherheitskontrollen, ich hatte Angst, dass ich meinen Flug verpassen würde. Aber ich schaffte es. Während ich zum Gate rannte, rief ich wieder in der Firma an. TARP war der einzige Hoffnungsschimmer des Marktes, dass ein wenig Stabilität zurückkehren würde und es einen Weg nach vorn gab. «Wie ist der letzte Stand?», fragte ich.

«Sie werden es nicht glauben!», rief meine Kollegin atemlos ins Telefon. Und noch einmal: «Sie werden es nicht glauben!»

«Was? Was?», fragte ich.

Sie klang erschüttert. «Das Gesetz ist abgelehnt worden.»

Das war allerdings unerwartet. Jeder hatte geglaubt, der Kongress hätte verstanden, dass der Patient im Sterben lag und dass TARP lebenswichtig war. Aber die Republikaner im Repräsentantenhaus revoltierten, änderten im letzten Moment ihre Meinung und brachten das Gesetz zu Fall.

«Ach du Scheiße», sagte ich. «Was macht der Markt?»

«Er stürzt ab, er stürzt ab, er stürzt ab», sagte meine Kollegin. Sie meinte den S&P 500. Zwischen unseren beiden Telefonaten war er um rund sechs Prozent gefallen. Ein schlechter Tag an der Wall Street bedeutet einen Rückgang von ein oder zwei Prozent, was aber nicht oft passiert. Ein furchtbarer Tag ist ein Nachgeben von drei Prozent, was nur ein paarmal im Jahr vorkommt. Die Märkte fallen nicht um sechs Prozent, während man eine fünf Minuten dauernde Unterhaltung führt. Das war Panik. Der Dow Jones fiel an diesem Tag um 777,68 Punkte – nach Punkten der größte Absturz in der Geschichte.

Als ich zum Gate kam, musste ich mein Handy ausschalten, was in gewisser Weise gut war, weil ich nun dreieinhalb Stunden lang von der ganzen Unruhe und Anspannung abgekoppelt sein würde. Andererseits war es schlecht, weil ich an kaum etwas anderes denken konnte. Als ich in Dallas landete, schaute ich nach den Märkten, die inzwischen geschlossen hatten. Wenn Blut auf den Straßen fließt 1, musste ich denken.

Ich fuhr mit dem Zug zum Wohnort von Nadines Eltern in einem Vorort von Dallas. Während ich aus dem Fenster auf die ungewohnte Landschaft starrte, klingelte mein Handy. Ich zuckte zusammen. Doch ich lächelte, als ich die Stimme meines besten Freundes Lex am anderen Ende hörte.

Nach Stanford hatten sich unsere Wege getrennt: Ich war zu Goldman Sachs gegangen, Lex war in Palo Alto geblieben, hatte einige Startup-Unternehmen gegründet und war jetzt als Unternehmer erfolgreich. Obwohl Lex nicht religiös war, rief er mich immer an Rosch ha-Schana an, um mir Schana Tova zu wünschen – ein frohes neues Jahr. Und wenn auch dieses Rosch ha-Schana alles andere als glücklich war, tat es mir gut, seine Stimme zu hören.

Seit die Finanzwelt aus den Fugen geraten war, hatte ich ständig SMS-Nachrichten und Mails von Freunden bekommen, die sich überzeugen wollten, dass es mir gutging. «Ich hoffe, du überlebst», hatte mir ein Freund erst am Tag zuvor geschrieben. Alle wussten, dass ich im Zentrum des Sturms saß, in der ersten Reihe. Nach den Wünschen zum Feiertag stellte Lex die gleiche Frage. Ich sagte ihm, dass ich mich nicht unterkriegen ließe.

Was dann kam, hatte ich nicht erwartet.

Statt zu sagen, was ich in der kurzen Zeit, die wir zum Plaudern hatten, von ihm hören wollte – etwas in der Art wie: «Ich hoffe, alles wird gut für Goldman und die Lage beruhigt sich wieder» –, fing Lex an, mich mit Fragen zu löchern.

«Glaubst du, dass TARP gerechtfertigt ist?», fragte er. «Schließlich waren es die Banken selbst, die sich und uns mit ihrer unverantwortlichen Risikopolitik dieses Schlamassel beschert haben, oder?»

«Ja, aber das sind nicht wir. Goldman hatte nicht diese Art von toxischen Papieren in den Büchern. Wir haben klügere Entscheidungen getroffen.» Ich brauchte jemanden, der auf meiner Seite stand. Nicht jemanden, der kritisch nachfragte.

«Was ist mit den Leuten, deren Altersversorgung schrumpft? Wo wird deren Rettungsplan herkommen?»

«Ich weiß es nicht, Lex – ich stecke gerade mittendrin in dieser Sache.»

Lex gehört zu den vernünftigsten und moralisch anständigsten Menschen, die ich kenne. Aber er ist auch ein sehr analytischer Denker, und deshalb war Lex in diesem Moment einfach Lex. Er findet immer gerne für jedes Argument ein Gegenargument. Später gab er zu, dass er bei unserem Gespräch sehr bewusst den Advocatus Diaboli gespielt hatte. Seine Fragen waren gut. Aber nicht unbedingt die Fragen, die man in einem solchen Moment von seinem besten Freund hören will.

«Und was ist mit Lehman Brothers?», fuhr Lex fort. «Was hatten die vor?»

«Lehman Brothers sind untergegangen, weil es eine Hexenjagd gab», erklärte ich ihm. «Die Leute haben spekuliert, dass denen das Geld ausgeht, und deswegen ist es auch passiert: Die Leute fingen an, ihr Geld herauszuziehen, und das entwickelte sich zu einem Run auf die Bank. Mehr war es nicht.»

«Tja, war das ein Run auf die Bank, oder hatten Lehman Brothers zu viele schlechte Risiken übernommen? Ich habe gelesen, dass sie ein paar wirklich schlimme Sachen in den Büchern hatten.»

Ich wusste auch davon, aber ich hatte das Gefühl, dass die ganze Sache noch zu frisch war, um ein abschließendes Urteil zu fällen. «Lex, ich stecke im Moment mitten in dieser Sache drin und bin echt im Stress», sagte ich. «Ich kann nicht fassen, was hier teilweise vor sich geht. Ich mache mir Sorgen.»

Ich meinte es ernst. Meine ganze Karriere stand auf der Kippe. Meine Zukunft stand auf der Kippe. Und nicht nur meine Zukunft. Im Sommer hatte ich beim Umzug meiner Schwester mitgeholfen, die ihr erstes Jahr am College in Chicago begann – ich war sehr stolz darauf, dass ich auch für ihr Studium zahlen konnte. Außerdem versuchte ich meine Mutter dazu zu bewegen, aus Johannesburg, wo die Verbrechensrate mit jedem Tag höher zu steigen schien, nach Amerika zu ziehen. (Mein Vater plante bereits herüberzukommen, um eine pharmazeutische Prüfung abzulegen und anschließend hier zu arbeiten.) Auch das würde Geld kosten, und ich war froh, dass ich das Geld hatte, um diese Dinge zu bezahlen. Momentan. Wenn Goldman Sachs den Bach runterging, würden das auch all meine Pläne tun. Was war mit meiner Beziehung zu Nadine? Ich liebte Amerika und wollte hierbleiben. Würde ich ein Visum bekommen, um mir woanders einen Job suchen zu können? Würde ich nach Südafrika zurückgehen müssen?

Außerdem, so albern sich das auch anhören mag, machte ich mir Sorgen um Goldman Sachs. Ich liebte die Firma und war sehr stolz auf sie – und ich wollte nicht, dass sie unterging. Für mich war das ein furchtbarer, ein unvorstellbarer Gedanke. Natürlich wusste ich, dass die Finanzkrise keine Frage von Leben und Tod war, trotzdem hatte ich das Gefühl, wir würden in einem Krieg kämpfen.

«Lex», sagte ich. «Wir haben nur fünf Minuten am Telefon. Ich brauch jetzt nicht die Spanische Inquisition. Ich brauche dich als Freund.»

Er entschuldigte sich. Ich dachte: Wenn ich sonst nichts mehr habe, dann habe ich immer noch Freunde und Familie.

 

Mitte Oktober rief Finanzminister Hank Paulson die Chefs der neun größten Banken nach Washington und teilte ihnen mit, dass die Regierung ihnen, ob sie es wollten oder nicht, eine Menge Geld geben würde: mehr als 100 Milliarden Dollar allein an diesem Tag. Die Banken waren systemrelevant und – wie die berühmt gewordene Phrase lautete – «too big to fail». Einige von ihnen – darunter auch Goldman Sachs, vertreten durch Lloyd Blankfein – sagten dem Finanzminister, dass sie das Geld nicht brauchten. Paulson antwortete, dass sie es in Empfang nehmen würden, ob sie nun glaubten es zu brauchen oder nicht.

Und sie nahmen es, alle. Der Gedanke, der dahintersteckte, war: Wenn nur einige Banken das Geld annahmen und andere nicht, wären die TARP-Mittel gleichsam ein Stigma, das besagen würde: Diese Bank hat so große Probleme, dass sie Geld aus dem Rettungsfonds braucht. Das Finanzministerium war der Meinung, dass die beste Möglichkeit, den Wettbewerb nicht zu verzerren, darin bestand, jeden zum Annehmen des Geldes zu bewegen. (Die meisten dieser Banken würden ihren Managern auch am Ende dieses Jahres beachtliche Boni zahlen – und viele Steuerzahler hatten das Gefühl, dass das mit ihrem Geld geschah.) Die Öffentlichkeit hingegen fragte sich: Ist es nicht der völlig falsche Weg, dass die Regierung Banken, die im großen Stil schlecht investiert hatten, nun Hunderte von Milliarden gibt?

In all diesem Chaos empfanden wir im Handelssaal einen gewissen Stolz darüber, dass es einer von uns war, der im Finanzministerium das Sagen hatte. Ich glaube, dank seiner Erfahrung als CEO von Goldman Sachs gab es nur wenige Menschen auf der Welt, die besser als Hank Paulson in der Lage gewesen wären, in «Echtzeit» Entscheidungen über derart schwierige Finanzprobleme zu treffen. Ich schauderte bei dem Gedanken, was passiert wäre, wenn entweder John Snow oder Paul O’Neill, Paulsons Vorgänger, auf dem Höhepunkt der Finanzkrise das Finanzministerium geleitet hätten. Ich glaube, die Geschichte wird ein positives Urteil über Hank fällen.

Den ganzen Herbst und Winter hindurch brachen die Märkte weiter ein, und so blieb auch das Gefühl, das gesamte Finanzsystem könne jede Minute zusammenbrechen. Die Vorahnung drohenden Unheils hing schwer über dem Handelssaal, wo nur sehr sporadisch gehandelt wurde. Man muss Lloyd Blankfein und Gary Cohn zugutehalten, dass sie ihr Bestes taten, um die Moral der Truppe in dieser Krise zu stärken. Sie waren oft im Handelssaal präsent und zeigten echte Führungsqualitäten. Doch unsere unmittelbaren Vorgesetzten, die Partner, gaben ein ganz anderes Bild ab. Viele schienen sich regelrecht in ihren Bunkern verbarrikadiert zu haben.

Ich kann mich an einen Zeitraum von mehreren Wochen erinnern, in dem einer meiner Chefs, Paul Conti – ein Mann, der zumindest seinem Titel nach eine Führungskraft war –, keine Kunden anzurufen schien, nicht mit seinen Angestellten redete und ganz offensichtlich nichts unternahm, um seine Leute aufzumuntern. Das Einzige, was ich von ihm im Verlauf der Krise mitbekam, war, dass er sich einer dieser einwöchigen Saft-Fastenkuren unterzog, die im höheren Management bei Goldman in diesem Sommer und Herbst in Mode gekommen waren.

Die obersten Chefs machten das, um abzunehmen. Conti dagegen war Gewichtheber und in Topform. Er schien dies als einen Akt der Selbstdisziplinierung zu verstehen. Ich erinnere mich, dass ich direkt hinter ihm saß, als er sich zu der Fastenkur entschloss. Es war Sonntagabend, der 14. September, und wir waren alle im Büro und warteten, ob Lehman unterging. Ich dachte: «Was für ein knallharter Bursche muss man sein, um sich während der größten Finanzkrise seit der Großen Depression auch noch eine Fastenkur anzutun?»

Eine ganze Woche lang – während Lehman, Merrill und AIG – bekam Conti täglich sechs Gemüse-und Fruchtsäfte von Blue-PrintCleanse – «100 % biologisch» – direkt ins Büro geliefert, und jeden Tag trank er brav alle sechs Flaschen. Sieben Tage lang nahm er keine feste Nahrung zu sich. Das war seiner Stimmung nicht gerade zuträglich.

Unser asketischer Chef war in Brooklyn geboren worden und aufgewachsen. Im College hatte er Football gespielt. Er war ein widersprüchlicher Charakter, einerseits sehr aktiv, dann wieder eher passiv. Unglücklicherweise war es während der Krise die letztere Eigenschaft, die in den Vordergrund trat. Im Rückblick kann ich verstehen, dass er Angst hatte, aber glaubte er denn, dass die einzige Verantwortung eines Partners darin bestand, in guten Zeiten fette Boni einzustreichen? Im gesamten Team wurde wochenlang darüber geredet, wie enttäuschend die Partner sich in den dunkelsten Tagen des Jahres 2008 verhielten. Jetzt war die Zeit, um vorzutreten und allen zu zeigen, wofür sie das dicke Geld verdienten. Zu zeigen, warum sie in Führungspositionen berufen worden waren.

Unser Asket saß stattdessen Tag für Tag wie erstarrt vor seinem Computer, verfolgte ängstlich die Entwicklung der Goldman-Sachs-Aktie und rechnete nach, wie sich das auf sein Nettoeinkommen auswirkte. Seine Passivität war besonders demoralisierend für die jüngeren Analysten, die gerade einmal drei Monaten bei Goldman und wirklich verunsichert waren. Einmal kam ein Partner aus einem anderen Stockwerk zu uns und tat sein Bestes, uns mit Worten ein wenig aufzumuntern.

Er lächelte und sagte: «Kommt schon, Leute. Ich weiß, die Situation ist schlimm. Aber die Firma wird jetzt erst recht zeigen, dass sie solchen Situationen gewachsen ist. Was wir jetzt nicht tun dürfen, ist, in die Defensive zu gehen, sondern wir müssen uns vor unsere Kunden stellen.» Seine Worte hatten eine geradezu magische Wirkung. Das war es, was wir brauchten.

Dieser kleine Auftritt des Partners war ein so außergewöhnliches Ereignis, dass die Leute noch Tage später darüber sprachen.

Das Führungsverhalten der Partner auf unserer Etage enttäuschte mich schwer. Ich hatte zur Riege der Partner aufgeschaut, hatte mir ausgemalt, selbst eines Tages dazuzugehören. Ich konnte nur hoffen, dass ich mich anders verhalten hätte, wenn ich in diesem schweren Herbst und Winter einer von ihnen gewesen wäre.

Da der Handel nun nur noch im Schneckentempo vonstattenging, begann Goldman eine weitere seiner regelmäßig wiederkehrenden Entlassungsrunden. Alle paar Wochen wurden mehr Leute entlassen. In einer Woche ging das Gerücht im Handelssaal um, dass man aus jeder Gruppe eine Person freisetzen würde. Mr. Fruchtsaft entschied sich für einen neuen Associate, der erst kürzlich zu unserer Gruppe gestoßen war. Der Betreffende, Anfang dreißig, hatte sich sehr bemüht, aber zu diesem Zeitpunkt hatte er wahrscheinlich die wenigsten Kundenbeziehungen in der Abteilung: Er brachte objektiv gemessen nicht den gleichen Mehrwert wie die anderen. Daran war nichts zu ändern. Doch als er hinausging, brach eine Kollegin namens Becky in Tränen aus, mitten im Handelssaal.

In einem Umfeld, das allgemein als hart und mitleidlos galt, war dies ein ungewöhnlicher Anblick. Im Handelssaal wurde erwartet, dass man sich jede Gefühlsregung verkniff – wenn einem zum Heulen war, so besagte das ungeschriebene Gesetz, dann ging man «kurz raus». Doch gerade in dieser beängstigenden Zeit war es traumatisch, mit anzusehen zu müssen, wie jemand, den man mochte, gefeuert wurde, seine Sachen zusammenpackte und das Haus verließ.

Mr. Fruchtsaft ging zu ihr hin und sagte: «Becky, was haben Sie an der Villanova studiert: Sentimentalismus? Hören Sie auf damit!» Dieser Satz wurde hinterher noch lebhaft diskutiert. Mr. Fruchtsaft, da waren sich alle einig, hatte sich wieder einmal wie ein Arschloch benommen.

Zu seiner Ehrenrettung muss man sagen, dass er dem gefeuerten Mitarbeiter später half, einen anderen Job zu finden – eine Geste, die mich beeindruckte.

 

Drei U-Bahn-Geschichten:

 

1. Eines Nachmittags im Oktober hatten ein Managing Director namens Doug Miller und ich einen Termin mit einem Kunden in Midtown, einem großen Vermögensverwalter mit Beteiligungen im Wert von etwa 200 Milliarden Dollar. Der Kunde war ausgesprochen konservativ – weswegen sein Fonds vergleichsweise gesund war –, und das Thema war ganz einfach: Wir wollten über ein Produkt sprechen, bei dem der Kunde ein wenig unterhalb der Kurve lag – ETFs, kurz für Exchange-Traded Funds.

ETFs, die vor Jahrzehnten entwickelt wurden, sind extrem aufgemotzte, spezialisierte Investmentfonds. Wenn man ein breites Engagement zum Beispiel im Bankensektor anstrebt, dann kann man Aktien der einzelnen Banken kaufen, zum Beispiel von der Bank of America, von Citigroup, Wells Fargo, JPMorgan Chase etc. Oder man kauft eben Aktien eines ETF mit dem Tickersymbol XLF, der Aktien all dieser Banken hält und die Performance des Bankensektors insgesamt abbildet. Obwohl ETFs inzwischen durchaus in der Kritik stehen wegen des Aspekts des möglichen Kontrahentenrisikos, war es für uns eine fast komische Vorstellung, dass wir uns mit einem Kunden hinsetzen und über diese eher großväterliche Anlagestrategie diskutieren sollten inmitten einer Krise, die von ultrakomplexen Derivaten ausgelöst worden war.

Die Zeiten waren hart. Doug und ich hatten Bedenken, dass der Kunde schlechter Laune sein könnte. Wir überlegten, ob wir das Treffen absagen sollten. Doch dann entschieden wir uns hinzufahren. Zum einen würde uns die Ablenkung guttun. Schließlich gab es nicht viel, was wir unternehmen konnten, um den Aufruhr, der um uns herum herrschte, einzudämmen. Warum nicht einen Kunden besuchen? Im Kundenkontakt bleiben und zeigen, dass wir uns nicht in unserem Bunker in Lower Manhattan verschanzten.

Kurz entschlossen nahmen wir die U-Bahn in den Norden von Manhattan. Es war sehr ungewöhnlich, mit der U-Bahn zu einem Kundentermin zu fahren, besonders mit einem Managing Director – normalerweise hätte man sich eine Limousine kommen lassen. Aber es war Rushhour, das Büro des Kunden befand sich in der Nähe einer Station der Linie 4, und Doug war ein guter Kerl, ein MD der alten Schule, der nicht das Gefühl hatte, auf Statussymbole achten zu müssen.

Das Meeting war für siebzehn Uhr angesetzt. Wir warteten, bis die Märkte um 16 : 15 Uhr schlossen, dann mussten wir uns sputen, wenn wir nicht zu spät kommen wollten. Als wir zusammen aus dem Büro gingen, waren wir beide noch ganz benommen. Jeden Tag in diesem Herbst musste man darauf gefasst sein, dass Institutionen, die seit Jahrhunderten existiert hatten, innerhalb von Sekunden verschwanden. Der Markt war nicht rational. Es war wahrhaftig eine furchterregende Zeit.

Als wir die vollgestopfte U-Bahn bestiegen, fragte ich Doug: «Was denken Sie?» Er war zehn Jahre älter und erfahrener als ich, und ich sehnte mich nach einer Stimme der Weisheit, nach jemandem, der mir erklärte, was gerade vor sich ging – besonders da Mr. Fruchtsaft, der Partner, der meine Gruppe leitete, mit niemandem redete. Außerdem dachte ich, Doug hätte vielleicht Informationen aus der Chefetage und wüsste, was die Firma plante.

Ich bekam nicht die Antwort, die ich erwartet hatte.

Miller starrte nur vor sich und sagte, vom Brausen der U-Bahn umtost: «Ich habe fast den ganzen Tag mit meiner Frau am Telefon verbracht und unser Geld verteilt.» Ich wusste sofort, wovon er redete. Die Federal Deposit Insurance Corporation (FDIC) sichert Einlagen bis zu einer Höhe von 250 000 Dollar ab – dieser Mann hatte neue Bankkonten eröffnet und versucht, dafür zu sorgen, dass keine seiner Kapitalanlagen dem rauen Wind ausgesetzt war, der überall auf den Märkten heulte. 250 000 hier, 250 000 da – die Panikreaktion eines Bankers.

«Ich frage mich bloß, was passiert, wenn das ganze Schiff untergeht», sagte Doug. Er sprach wie betäubt, starrte immer noch wie in Trance vor sich hin. «All diese Menschen, die im Finanzsektor arbeiten und zwei Millionen im Jahr verdienen – was werden die machen? Was ist unser Wert für die Gesellschaft? Welche Fähigkeiten haben wir erworben?» Er schüttelte den Kopf. «Die Gesellschaft braucht uns nicht», sagte er. «Wir können von Glück reden, wenn wir einen Job für achtzig Riesen im Jahr finden. Ich werde meinen Kindern sagen, sie sollen Naturwissenschaften studieren.»

Es war surreal. Einerseits waren wir in einer vollen U-Bahn und mussten vorsichtig sein, was wir sagten. Ich bin sicher, Doug war sich genauso wie ich der Tatsache bewusst, dass die Leute um uns herum mit halbem Ohr zuhörten und dass die Worte «Goldman Sachs» nicht ausgesprochen werden durften. Andererseits sprach er die Art von unverblümter Wahrheit aus, die man an der Wall Street niemals zu hören bekommt. Es war, als wäre der globale Tag der Abrechnung gekommen, als stünde der Tod der ganzen Branche und der Wirtschaft unmittelbar bevor. Und auf eine seltsame Weise erinnerte mich unser Gespräch in der U-Bahn an eine dieser Filmszenen, wo zwei Leute in einem Flugzeug sitzen, das gleich abstürzen wird, und sie endlich sagen können – sagen müssen –, was sie wirklich denken.

 

2. Nicht lange danach setzten meine Freundin Nadine und ich uns eines Abends zusammen, «weil wir reden mussten». Wir waren nun seit zweieinhalb Jahren zusammen (von einer fünfmonatigen Auszeit im Jahr 2007 abgesehen), und es war in der Tat an der Zeit, darüber nachzudenken, wenn wir denn zusammenbleiben wollten, ob es für den Rest unseres Lebens sein sollte.

Nadine ist ein direkter Mensch, und sie kam auch sofort auf den Punkt. Der Hintergrund war vermutlich, dass sie von ihren Freundinnen den Rat bekommen hatte, man müsse, wenn man ernsthaft darüber nachdenkt, jemanden zu heiraten, klipp und klar auf den Tisch legen, welche Pläne und Ziele man habe, aber auch wie die finanzielle Situation ausah. Wie gesagt, sie kam schnell auf den Punkt.

«Wie sollen unsere Kinder aufwachsen?», fragte sie.

Auf so eine Frage war ich nun wirklich nicht vorbereitet, alles, was mir im Kopf herumging, hing mit dem Chaos zusammen, das ich an diesem Tag auf den Märkten gesehen hatte.

«Ich weiß nicht», sagte ich. «Ich, äh …»

«Findest du, dass die Kinder auf eine Privatschule gehen sollten?», fragte Nadine.

«Müssen wir darüber jetzt reden, Nadine?»

«Stellst du dir vor, dass ich arbeite, wenn wir verheiratet sind?», fragte sie mich.

Das Kreuzverhör ging mir auf die Nerven. Ich wusste nur zu gut, dass es ihr ein Dorn im Auge war, dass ich meine Familie finanziell unterstützte, dass ich das Studium meiner Schwester in Amerika bezahlte und meinen Eltern Geld nach Hause schickte. Ich glaube, sie stellte sich die – natürlich berechtigte – Frage, ob sich das ändern würde, wenn – beziehungsweise falls – wir verheiratet waren. Würde dann mein erstes Interesse sein, meine eigene Familie zu unterstützen? Offensichtlich wollte sie sichergehen, dass das der Fall sein würde. Meine Standardantwort auf solche Fragen war: «So Gott will, werde ich genug Geld verdienen, dass sich diese Frage gar nicht stellt. Ich werde in der Lage sein, beides zu tun.» Doch Nadine bestand darauf, dass sie nicht mehr arbeiten wollte, wenn sie Kinder hatte.

Das Paradoxe war, dass ich im Grunde genommen völlig ihrer Meinung war. Ich war immer der Überzeugung, dass die Mutter meiner Kinder – wer immer das auch sein würde – zumindest anfangs ausschließlich daran arbeiten sollte, die Kinder großzuziehen. Für mich war das etwas ganz Besonderes, und ich hoffte, dass ich das meiner zukünftigen Frau und unserer zukünftigen Familie würde ermöglichen können. Aber Nadine wollte eine definitive Zusage.

Es war eines dieser Partnergespräche, bei denen es im Grunde egal ist, ob man einer Meinung ist oder nicht. Was mich störte, war die Tatsache, dass das Gespräch zu diesem Zeitpunkt stattfinden musste. Ich fühlte mich in die Ecke gedrängt. Also sagte ich das, was ich immer gesagt hatte: «Nun, es wird davon abhängen, ob wir in einer finanziellen Situation sind, in der es reicht, dass nur einer von uns arbeitet.» Der Blick, den sie mir zuwarf, sagte: Falsche Antwort. Ich versuchte, die Situation durch nähere Erklärungen zu retten. Nicht anders als Nadine versuchte ich lediglich, so ehrlich wie möglich zu sein. «Ich will einfach, dass wir ein Team sind. Meine Frau unterstützt mich auf die richtige Weise, und ich unterstütze sie auf die richtige Weise», sagte ich. «Das heißt nicht, dass wir beide arbeiten müssen. Es heißt einfach, dass wir beide unseren Beitrag zu dieser Beziehung leisten.»

Ein weiterer Blick. Es war klar, dass sie Antworten erwartet hatte, die so konkret waren wie ihre Fragen. Wir redeten noch endlos weiter und gaben schließlich beide zu, dass wir angesichts der größten Finanzkrise seit der Großen Depression kaum noch vernünftig denken konnten. Schließlich war nicht einmal klar, ob ich nächste Woche noch einen Job haben würde oder nicht.

Wir beschlossen, unsere Restaurantbesuche und Taxifahrten etwas einzuschränken (viele, die an der Wall Street arbeiten, geben im Jahr mehr als 10 000 Dollar allein für Taxis aus).

Statt zwei-oder dreimal die Woche essen zu gehen, könnten wir zumindest versuchen, nur einmal die Woche auszugehen. Wir fingen an, öfter selbst zu kochen – und Nadine war als Ernährungswissenschaftlerin eine sehr gute Köchin. Wir hielten nach kleinen Dingen Ausschau, mit denen wir Geld sparen konnten. Manchmal übertrieben wir auch und sparten am falschen Ende.

An einem kalten Samstagabend im November feierte mein guter Freund Adam (den ich von unserem gemeinsamen Sommerpraktikum kannte) seinen Geburtstag in einer Bar in der Lower East Side. Und zwar nicht in einem der luxussanierten Bezirke der Lower East Side, sondern mitten in Alphabet City, gute zehn bis fünfzehn Minuten von jeder U-Bahn-Station entfernt. (Adam hat ein gutes Händchen für Zahlen, aber ein lausiges Händchen für die Auswahl von Party-Locations, wie ich ihm schon mehr als einmal sagen musste.) Die Party begann spät, gegen 23 Uhr. Nadine war zu müde, um hinzugehen. Meine Wohnung war in der Upper West Side, Ecke 81. Straße und West End Avenue. Es wäre das Einfachste gewesen, runter auf die Straße zu gehen und ein Taxi anzuhalten. Aber der Fahrpreis bis zur 1. Straße und Avenue Z (oder wo zum Teufel die Bar war) hätte bei 30 Dollar gelegen. Und nach der Party, um zwei oder drei Uhr nachts, wer will da noch mit der U-Bahn fahren? Wieder 30 Dollar weg.

Ich beschloss, unsere Sparpläne in die Tat umzusetzen und die U-Bahn zu nehmen. Linie 1 bis Times Square, den Shuttle quer durch die Stadt bis Grand Central, die Linie 6 runter zur Bleecker Street und die F in östlicher Richtung bis Second Avenue. Dreimal Umsteigen. Dreimal lange Wartezeiten. Fünfzehn Minuten Fußweg bis zum Restaurant. Zurück das Ganze in umgekehrter Reihenfolge um zwei Uhr nachts. Und wie gesagt, es war kalt.

Ich sparte 60 Dollar.

Ich verdiente zwischen 400 000 und 500 000 Dollar im Jahr.

Doch wer wusste schon, ob ich das auch im Januar noch verdienen würde? Jede Sekunde konnte alles zu Ende sein.

 

3. Meine Eltern kamen aus Südafrika angereist. Mein Vater, um seine amerikanische Apothekerprüfung abzulegen, meine Mutter zu Besuch. Ich hatte meinen zweiundsechzigjährigen Vater davon überzeugt, für diese Prüfung zu lernen. Ich übte sanften, aber stetigen Druck auf meine Eltern aus, nach Amerika zu kommen und der zunehmenden Kriminalität in Johannesburg zu entfliehen. Es war ein Sonntagnachmittag im Dezember. Sie landeten auf dem JFK, und Nadine und ich fuhren hin, um sie abzuholen. Da wir wild entschlossen waren, unser selbstauferlegtes Sparprogramm durchzuhalten, beschlossen wir, mit dem Zug zum Flughafen zu fahren. Genauer gesagt: mit der U-Bahn.

Das war allerdings keine Spritztour zur Lower East Side. Es ging mit der Linie 1 nach Columbus Circle, dann umsteigen in einen A Train – und dann eine ewig lange Fahrt durch Brooklyn und hinaus nach Queens, vorbei am Howard Beach zum JFK Airport. Alles in allem anderthalb Stunden. Aber wir fühlten uns sehr tugendhaft. Mir kamen die ersten leisen Zweifel, als wir meine Eltern in Empfang nahmen, die gerade einen Zwanzig-Stunden-Flug von Johannesburg hinter sich hatten. Mein Vater hatte zwei riesige Koffer voller schwerer Lehrbücher dabei, um für seine Prüfung zu lernen. Sicher wäre es klüger, vom Flughafen aus ein Taxi zum Holiday Inn in Brooklyn zu nehmen, wo laut Vorgabe der Apothekenkette, die die Prüfung anbot, alle Teilnehmer abzusteigen hatten.

Meine Mutter, die sich immer Sorgen darüber machte, wie viel Geld ich für die Familie ausgab, wollte nichts davon hören. Nadine schlug sich auf ihre Seite. Also schleppten wir die Koffer in die U-Bahn und begaben uns in den Dschungel von Brooklyn – wo wir noch zweimal umsteigen und die Koffer jeweils treppauf, treppab tragen mussten. Es war Wahnsinn. Aber wir sparten an diesem Tag 120 Dollar.

 

Goldman ging nicht unter. Aber der Sturm tobte weiter. Wer überleben wollte, musste sich neu erfinden. Wenn man als Verkäufer das Glück hatte, noch ein paar Kunden zu besitzen, war eine Möglichkeit, den Turbo einzuschalten und einfach mehr Basisgeschäfte zu machen als alle anderen. Das war allerdings nicht so leicht, weil die Kunden nicht bereit waren, Risiken einzugehen. Sie waren erstarrt – saßen auf ihren Händen und warteten auf die nächste Hiobsbotschaft. Eine andere Methode bestand darin zu versuchen, die Kunden zum Kauf von strukturierten Derivaten (sogenannten «Blackboxes») zu überreden, die als eine Art Trostpflaster fungierten: «Schauen Sie, die Märkte sind wirklich in Panik, aber wenn Sie unser Produkt GoldDust2000 kaufen, dann werden Sie statt zehn Prozent nur zwei Prozent verlieren.» Da diese strukturierten Produkte von der Bank entwickelt wurden, die sie verkauften, und nur sehr begrenzt gehandelt wurden, war in ihnen der Aufschlag enthalten, den man von einem maßgeschneiderten Produkt erwartet. Solche undurchsichtigen Versprechen waren juristisch in Ordnung, weil irgendwo in den zwanzig Seiten des Kleingedruckten eine Zeile stand, die besagte: «Dies kann stimmen oder auch nicht – es kann sein, dass wir glauben, was wir Ihnen erzählen oder auch nicht – es kann sein, dass wir gegenteiliger Meinung sind oder auch nicht.»

Die ganzen nuller Jahre hindurch wurden an der Wall Street komplexe Derivate entwickelt, um europäischen Regierungen wie Griechenland und Italien zu helfen, ihre Schulden zu verstecken und ihren Haushalt gesünder aussehen zu lassen, als er wirklich war. Diese Deals generierten für die Banken Hunderte von Millionen Dollar an Gebühren, aber letzten Endes halfen sie diesen Ländern nur, ihre Probleme vor sich herzuschieben. Diese Weigerung, die Probleme anzugehen, gipfelte dann in der europäischen Schuldenkrise, mit der die Welt heute fertigwerden muss.

Doch die Tricksereien waren nicht auf Staaten beschränkt. Auch Städte und Gemeinden waren davon betroffen. Goldman verkaufte der Stadt Oakland, die sich vor steigenden Zinssätzen schützen wollte, ein Derivat, einen sogenannten Swap. Das Produkt ging letztendlich nach hinten los und kostet die Stadt nun jährlich Millionen Dollar. Im Jahr 2009 musste JPMorgan Chase nach der Überprüfung des Verkaufs von strukturierten Derivaten, die Jefferson County, den bevölkerungsreichsten Verwaltungsbezirk Alabamas, an den Rand des Bankrotts gebracht hatten, einem Vergleich zustimmen und der Börsenaufsichtsbehörde 700 Millionen Dollar zahlen.

In diesen strukturierten Derivaten-Produkten steckten gewaltige Potenziale für kurzfristige Gewinne – aber eben auch gewaltige Potenziale für kurzfristige Verluste. Doch wenn Kunden verängstigt sind, dann erzählt man ihnen nichts von möglichen Nachteilen. Diese sind versteckt im zehnseitigen Kleingedruckten am Ende des Vertrages. Die meisten Kunden lesen diese Verträge so aufmerksam wie unsereins, wenn wir den «Akzeptieren»-Button klicken, bevor wir bei iTunes einen Song herunterladen.

Solche strukturierten Derivate zu kaufen ist ein wenig so, als würde man in den Supermarkt gehen und eine Dose Thunfisch kaufen. Auf der Dose steht klar und deutlich «Bumble Bee Tuna», und vorne ist das hübsche Markenlogo zu sehen. Man nimmt die Dose mit nach Hause und kann dort in aller Regel den leckeren Thunfisch essen. Aber angenommen, man macht die Dose auf und findet darin Hundefutter. Wie kann das sein?, fragt man sich. Im Geschäft hat man mir gesagt, das sei Thunfisch. Doch dann schaut man auf die Rückseite der Dose. Dort steht in einer Schrift, die so klein ist, dass man sie fast nicht entziffern kann: «Enthält vielleicht keinen Thunfisch. Enthält vielleicht Hundefutter.»

Die Regierungen von Griechenland und Italien, der libysche Staatsfonds, die Stadt Oakland, der Staat Alabama und zahllose andere Einrichtungen und Organisationen haben ihre Dosen geöffnet und Hundefutter vorgefunden.

Und irgendwann hatte Goldman aufgehört, der Market-Maker zu sein, der das Unternehmen einmal gewesen war – ein Unternehmen, das sich positionierte und Risiken übernahm, um Kunden zu helfen, egal wie turbulent der Markt war. Goldman Sachs wurde wählerisch. Man überlegte sehr genau, welche Geschäfte man machen – und nicht machen – wollte. Die Firma war bereit, ihren Ruf aufs Spiel zu setzen, solange ihre Gewinn-und Verlustrechnung davon profitierte. Das war weit entfernt von der Zeit nach dem 11. September, als die erste Priorität der Firma darin bestanden hatte, Kundenpositionen zu stärken und die Märkte wieder zum Laufen zu bekommen. Damals hätte man es als verwerflich empfunden, die Schwächen unserer Kunden und Konkurrenten auszunutzen. Davon war jetzt nichts mehr zu spüren.

Damals sagten wir: «Kommen Sie zu uns! Wir sind bereit, uns die Hände schmutzig zu machen für Sie. Dafür sind wir da.» Jetzt rief ein Kunde bei uns an und bat uns, ihm zu helfen («Kann ich einen Preis auf 10 000 Vodafone-Put-Optionen bekommen?» – eine Strategie, um seinen Vodafone-Aktienbesitz zu schützen), und wir sagten: «Nein, tut uns leid. Die Marktlage ist zu schwierig. Es ist im Moment zu riskant.» Wir hatten die Zugbrücke hochgezogen und überließen unsere Kunden ihrem Schicksal. Ein Verkäufer, den ich kannte, erinnerte sich: «Die Kunden riefen an, und wir gaben ihnen durch unsere Weigerung, ihre Transaktionen durchzuführen, mehr oder weniger deutlich zu verstehen, dass sie sich ins Knie ficken sollten.»)

Schließlich war Goldman tatsächlich eher zu einem Hedgefonds geworden, mehr bemüht darum, sich selbst zu helfen als seinen Kunden. Das Unternehmen (zumindest der größte Teil) tätigte fast nur noch Geschäfte, von denen man glaubte, dass sie eine Menge Geld einbringen und den Überlebenskampf des Unternehmens erleichtern würden. Ein perfektes Beispiel war der kometenhafte Aufstieg von Bobby Schwartz.

Es gab ein ganzes Segment von Hedgefonds, das die falsche Strategie verfolgte – vor dem Untergang von Lehman Brothers. Diese Fonds waren in der Regel «short Volatilität» – das heißt, sie setzten darauf, dass die Märkte, auch wenn es zwischendurch einige Stolperer geben mochte, relativ ruhig bleiben würden. Wissenschaftliche Studien hatten gezeigt, dass diese Strategie über längere historische Zeiträume hinweg funktionierte. Das Problem war, dass diese Hedgefonds versäumten, sogenannte «Black Swan Events» mit einzuplanen (diesen Begriff hat der Philosoph Nassim Nicholas Taleb für Ereignisse geprägt, die nur einmal in tausend Jahren eintreten, die Menschen nicht erwarten und Modelle nicht vorhersagen können).

Was wir 2008 und 2009 erlebten, war eine Reihe mehrerer Black Swan Events, deren Eintreten die statistischen Modelle aufgrund der historischen Daten für unmöglich erklärt hätten. Statt durchschnittlicher prozentualer Schwingungen von einem Prozent pro Tag aufzuweisen, schwankte der S&P 500 über längere Zeiträume um mehr als fünf Prozent pro Tag – das Fünffache des normalen Wertes. Kein Computermodell hätte das vorhersagen können.

Die Volatilität der Märkte explodierte, und jene Fonds wurden einfach zerquetscht. Im Grunde genommen gingen sie pleite, weil der Druck auf ihre Portfolios so groß war. Plötzlich mussten sie alles abwickeln, mussten aus all ihren Derivat-Positionen aussteigen. Das war der Punkt, an dem Bobby Schwartz ins Spiel kam.

Wenn ein Kunde anrief und mit panikerfüllter Stimme sagte: «Ich muss sofort da aussteigen. Was ist Ihr Preis?», dann sagte Bobby ihm den Preis, und der Preis war deftig. Goldman knöpfte diesen Kunden wirklich hohe Gebühren ab. Es gab eine Zeit während der Finanzkrise, da brachten die Transaktionen von Bobby der Firma jeden Tag zwei Millionen Dollar ein. Ein Zyniker könnte argumentieren, dass Goldman durch die Summen, die den Kunden berechnet wurden, die Pleiten dieser Kunden beschleunigte. Doch andererseits: Der Markt war in Aufruhr, und natürlich mussten wir hohe Gebühren erheben, weil wir ein großes Risiko eingingen, indem wir diese Transaktionen durchführten. Allerdings gibt es auch so etwas wie einen Mittelweg.

Doch Bobby war nicht interessiert an einem Mittelweg. Nichts zwang ihn dazu. Im Gegenteil: Die Kunden mussten aus ihren Positionen aussteigen, ihnen blieb keine Wahl, und es musste schnell gehen. Es war fast wie ein Ausverkauf. Und die Firma belohnte Bobby dafür, dass er diese Geschäfte machte. Ende 2008, in einem Jahr, als nur sehr wenige Leute befördert wurden, einem Jahr mit der kleinsten Zahl von MD-Ernennungen seit langer Zeit, stand Bobbys Name mit auf dieser Liste.

Ich neidete ihm seinen Erfolg nicht, er tat wirklich nur seinen Job. Aber ich dachte: So sehen also die neuen Kulturträger von Goldman Sachs aus. Die alte Unternehmenskultur und Moral schien der Vergangenheit anzugehören. Um den großen Philosophen Puff Daddy zu zitieren: «It’s all about the Benjamins» – es ging nur noch um die Hunderter. Wenn man zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, wenn man der Trader mit der «heißen Ware» (Credit Default Swaps zum Beispiel) oder der Verkäufer war, dessen Kunden verzweifelt zum Notausgang rannten, und wenn man den richtigen Instinkt hatte und wusste, wie daraus Kapital zu schlagen war: zack! – wurde man von der Firma beförderte und belohnt und war plötzlich eine Führungskraft.

Bobbys Bonus in diesem Dezember ließ ihn einen innerlichen Riesenluftsprung machen. Vor vier Jahren war es gewesen, 2004, als unser Derivate-Team beim Teambildungstreffen in den Hamptons war – Bobby und Daffey hatten sich den Football gegenseitig zugeworfen, und Daffey hatte gewitzelt: «Mann, Sie werfen wie ein Mädchen. Das kostet Sie zehn Riesen dieses Jahr.» Der Hintergrund war, dass Daffey, weil er für jeden Mitarbeiter die Bonushöhe festlegte, ohne weiteres jemandem am Ende des Jahres 10 000 hätte abziehen können. Jetzt, vier Jahre später, waren zehntausend für Bobby nicht mehr als ein Rundungsfehler. Er spielte jetzt in der ersten Liga. Mit einem Teil seines Bonus für 2008 kaufte er sich ein Apartment in der Park Avenue. Es war der Höhepunkt der Finanzkrise, aber er redete gern und oft über dieses Apartment.

 

Ich war in diesem Herbst genauso ängstlich wie alle anderen. Meine Strategie war, mich in meinem Arbeitsfeld zumindest teilweise neu zu orientieren. Wenn es eine Flaute beim Handeln gab – und es gab viele Flauten beim Handeln –, versuchte ich mich an Marktanalysen.

Meine Idee war, einfach meine Gedanken über die Märkte zu notieren – wie sie meiner Meinung nach auf bestimmte Nachrichten reagieren würden, welche Muster ich sah, ob sich Anzeichen einer Erholung zeigten – und meine knappen Ausführungen als interne E-Mails zu verschicken. Mein Urteil sollte völlig unbeeinflusst von dem sein, was Goldman sagte. Ich wollte exakt das aufschreiben, was ich dachte, ohne Angst vor Konsequenzen. Das Schlimmste, was passieren konnte, war, dass die Leute nicht meiner Meinung waren.

Meine Vorbilder waren zwei Managing Directors der Abteilung Derivatives Sales, die schon seit Jahren ähnliche Berichte schrieben. Ich bewunderte die objektive Art, mit der sie ihre Inhalte präsentierten. Immer fügten sie einige Diagramme an, um ihre Konzepte zu illustrieren. Sie zitierten öffentliche Quellen, anstatt sich nur auf unsere internen Informationen zu beziehen. Und sie formulierten ihre Texte mit einem Schuss Ironie, sodass ein trockenes Thema wie Derivate gleich viel interessanter klang.

Im Oktober und November versuchte ich mich an den ersten Artikeln. Ich brauchte jeweils drei oder vier Tage für das Schreiben, teilweise in den erwähnten Flauten, doch den größten Teil schrieb ich abends nach der Arbeit. Nachdem ich sie ausformuliert und gestrafft hatte, ging ich in unsere Compliance-Abteilung, um sie freigeben zu lassen. Obwohl die Artikel ursprünglich nur für die Augen von Goldman-Mitarbeitern gedacht waren, konnte ich nicht wissen, an welche Kunden man sie vielleicht weitergeben würde. Natürlich durften die Namen vertraulicher Kunden nicht genannt oder spezifische Transaktionen offengelegt werden, deshalb achtete ich darauf, nur frei zugängliche Informationen zu benutzen und immer aus der Sicht eines äußeren Beobachters zu formulieren.

Dann zeigte ich die Artikel meinen beiden MD-Mentoren und bat sie um Rat und konstruktive Kritik. Ich fragte: «Was halten Sie von meiner Argumentation in diesem Punkt? Gibt es eine Möglichkeit, sie noch mehr zu stützen?» Oder: «Können Sie mir helfen, das ein bisschen aufzupeppen?» Ich wollte so viel wie möglich von ihnen lernen.

Beide glaubten von Anfang an mich, und beide schickten meine Analysen an ihre größten Kunden, was mich sehr freute. Einer der MDs schickte einen Artikel an Paul Tudor Jones und sein Team mit dem Kommentar: «Das ist vom Real-Money-Guru meines Teams – es wird Ihnen gefallen.» (Der Begriff «Real Money» gefiel mir. Er bezog sich auf die Kategorie langfristig orientierter institutioneller Anleger, die ich betreute – Anlagenverwalter, Investmentfonds, Pensionsfonds –, und Staatsfonds. Einige nannten es auch «Slow Money» – im Gegensatz zu «Fast Money», womit Hedgefonds gemeint waren, die mehr mit gehebelten Instrumenten arbeiteten und schneller in Positionen ein-und wieder ausstiegen.) Tudor Jones schrieb tatsächlich zurück. Zwar nur um «Danke» zu sagen, doch ging aus seiner Mail hervor, dass er den Artikel tatsächlich gelesen hatte. Das von einer solchen Hedgefonds-Ikone zu hören fühlte sich ausgesprochen gut an. Noch besser war allerdings die Tatsache, dass dieser Managing Director genug Vertrauen in mich als Kommentator hatte, dass er meinen Artikel mit seiner Empfehlung an seinen wichtigsten Kunden schickte.

Mein Ehrgeiz war es, der «Real-Money Guy» zu werden, das Sprachrohr für das, was die Real-Money-Kunden umtrieb – so wie meine MD-Mentoren dafür bekannt geworden waren, dass sie darüber schrieben, was die Makro-Hedgefonds taten und dachten. Ich versuchte, mir eine Nische zu erobern und zu einem internen Experten für Kapitalfluss zu werden, ein Thema, das viele Menschen beschäftigte. Wer kaufte und wer verkaufte was am Markt? Investierten Kleinanleger in Investmentfonds? Waren die Pensionsfonds dabei, ihre Anlagenstruktur von festverzinslichen Papieren auf Aktien umzugewichten? Erhöhten Hedgefonds ihre spekulativen Short-Positionen in E-Mini-Futures? Konnten Mengen oder Trends zu bestimmten Tageszeiten uns irgendetwas darüber verraten, in welche Richtung der Markt sich bewegen würde? Ich hatte eine Methode gefunden, sämtliche Parameter zusammenzufassen und in einer These zu bündeln, die eine Aussage darüber erlaubte, welchen Effekt sie auf die Kapitalmärkte haben konnten.

Die Makro-Hedgefonds waren naturgemäß sehr daran interessiert, was das «Real Money» machte. Obwohl Hedgefonds eine Menge Umsatz machen, repräsentieren sie nur etwa fünf Prozent des Aktienbesitzes am amerikanischen Markt. Die wirklichen Schwergewichte am Markt sind die Investmentfonds, Pensionsfonds und Staatsfonds, die Anlagen im Wert von Billionen und Aberbillionen von Dollars verwalten. Das ist das «richtige» Geld. Und wenn richtiges Geld sich über einen gewissen Zeitraum hin in Bewegung setzt, dann bewegt sich der gesamte Markt mit. Und umgekehrt waren natürlich auch meine Kunden daran interessiert zu erfahren, was die Hedgefonds machten, weil diese in der Lage waren, den Markt von einer Minute auf die andere entscheidend zu beeinflussen.

Dann landete ich einen Volltreffer. Jeder Schriftsteller wird das kennen, diese Verwunderung, wenn das, was man im stillen Kämmerlein geschrieben hat, plötzlich große Resonanz findet. Besonders natürlich, wenn man erst angefangen hat zu schreiben. Am 11. Dezember 2008 – zufälligerweise genau an meinem dreißigsten Geburtstag – verschickte ich meinen dritten Artikel mit Marktanalysen, und er erregte innerhalb und außerhalb der Firma mehr Aufmerksamkeit, als ich je für möglich gehalten hätte.

Es war einen Monat nach der Wahl von Barack Obama zum Präsidenten, und trotz seiner Wahlversprechen, seiner «Yes, we can»-Beschwörungsformel und seiner engen Verbindung zu wichtigen Figuren an der Wall Street wie Jamie Dimon, dem Chef von JPMorgan Chase, und Robert Wolf, dem damaligen Amerika-Chef der UBS, herrschte am Markt nach wie vor Weltuntergangsstimmung. Auch ich selber suchte nach einem Hoffnungsschimmer, und ich hatte sogar eine konkrete Idee, wo ich ihn finden könnte.

Mein Artikel konzentrierte sich auf ein Konzept, von dem viele Leute eine vage Vorstellung hatten, das aber kaum jemand wirklich verstanden hatte: das sogenannte «Dry Powder». Das Erste, was alle Investmentfonds und Pensionsfonds während der Krise machten, war verkaufen. Und sie verkauften immer weiter, was die Krise verschärfte. Das Ergebnis war, dass die Fonds eine enorme Liquiditätsbasis aufbauten, die man als «Wall of Money» oder auch als «Dry Powder» bezeichnet. (Der Begriff kommt aus dem militärischen Bereich, aus der Zeit, als es wichtig war, die Schießpulvervorräte vor Feuchtigkeit zu schützen.) Hunderte von Dollarmilliarden saßen gewissermaßen auf der Reservebank.

Mein Artikel basierte auf der These, dass gegenwärtig zwar noch jeder verkaufte, dass aber irgendwann der Liquiditätsüberschuss so groß werden würde, dass er in den Markt zurückschwappen musste – egal wie gut oder wie schlecht es in diesem Moment um die Welt bestellt sein mochte –, was einen signifikanten Effekt auslösen würde. Also formulierte ich einen Beobachtungsrahmen, um zu zeigen, wie sich verfolgen ließ, wann das «trockene Pulver» tatsächlich anfing, Wirkung zu zeigen, und was das über die Marktentwicklung aussagte.

Bei Goldman reagierte man geradezu elektrisiert. Als ich den Artikel an diesem Tag in unserer internen Morgenbesprechung in einem der neben dem Handelssaal gelegenen Konferenzräume vorstellte (alle Partner und Managing Directors waren anwesend), stimmte mir einer der angesehensten Verkäufer im ganzen Handelssaal sofort zu. «Jungs, dieser Artikel wird heute Pflichtlektüre sein», sagte er. «Jeder an der Wall Street wird darüber reden. Ich habe ihn schon an meine drei größten Kunden geschickt, und sie sind begeistert. Ich will, dass jeder von euch den Artikel an all seine Kunden schickt.»

Und das taten sie: Der Artikel wurde an Hunderte, wenn nicht gar Tausende, von Kunden verschickt. Im Laufe der nächsten Tage kamen immer wieder Partner an meinem Schreibtisch vorbei und klopften mir auf den Rücken. «Tolle Sache», sagten sie. «Davon brauchen wir mehr.» Alle waren sich einig: Rundschreiben dieser Art waren ein Weg, im Kontakt mit den Kunden zu bleiben und ihnen zu zeigen, dass wir uns um sie kümmerten.

Aber ich glaube, es gab noch einen weiteren Grund dafür, dass der Artikel solchen Anklang fand: Die Leute hatten Angst und suchten nach einem Hoffnungsschimmer, und mit ruhigen und vernünftigen Worten hatte ich ihnen ein wenig Hoffnung gemacht.

Ich mailte dem Verkäufer, der mir vor versammelter Mannschaft dieses überraschende Lob gespendet hatte: «Danke, Mann! Ihr Lob bedeutet mir viel.»

«Das war absolut verdient», schrieb er zurück. «In der neuen Welt, in der wir leben, wird Content der Weg sein, auf dem wir uns von der Konkurrenz abgrenzen. Bleiben Sie dran!»