Kapitel 1

«Keine Ahnung, finde ich aber raus»

Am 12. Juni 2000 saß ich in einem Konferenzraum in der Broad Street 125, dreißig Stockwerke über Lower Manhattan. Ich war zwanzig Jahre alt und begann an diesem Tag mein Sommerpraktikum bei Goldman Sachs. Vorn am Whiteboard stand ein Praktikant namens Josh, der nach allen Regeln der Kunst durch die Mangel gedreht wurde. Er sollte erklären, wie Risikoarbitrage funktioniert, scheiterte aber kläglich. Dass sein Vater Milliardär war und wahrscheinlich einer der mächtigsten Finanziers der Welt, wusste ich damals nicht. Aber wir waren bei Goldman Sachs, wo es keine Rolle spielte, was der Vater machte, weil sich jeder selbst beweisen musste – ohne Ausnahme.

So sah ein «Open Meeting» aus. Es war eine Art Trainingscamp für die fünfundsiebzig Teilnehmer des Sommerpraktikums und gleichzeitig eine altehrwürdige Firmentradition. Vorn saß ein Goldman-Sachs-Managing-Partner mit einer Namensliste und rief willkürlich Teilnehmer auf, um sie im Schnellfeuermodus mit Fragen zur legendären Unternehmenskultur der Firma, zu ihrer Geschichte und zu den Aktienmärkten zu bombardieren. Man musste auf Zack sein, hellwach und bestens informiert. Das Open Meeting war eine explosive Mischung aus Schulung, Indoktrination und subtilen Schikanen, was uns auf den Umgang mit heiklen Kunden vorbereiten sollte. Wir lernten, dass jede Antwort sitzen musste. Für zwei Teilnehmer endete diese Inquisition in jenem Sommer mit Tränen. Doch es half nichts: Wer eine Anstellung bei Goldman Sachs anstrebte, der musste diesen Härtetest bestehen, Woche für Woche.

Die Open Meetings dienten der Firma als Auswahlkriterium, welche der Kandidaten nach ihrem Studienabschluss von der angesehensten Investmentbank der Welt übernommen werden würden. Außerdem erwartete man, dass die Praktikanten in den zehn Wochen des Praktikums einen geneigten Mentor fanden und sich diesem als künftigen Mitarbeiter empfahlen. Man musste sich bewähren, und dies selbstverständlich, ohne dabei den feinen Grat zwischen Wettbewerbsdenken und Kollegialität zu verlassen. Das Management hielt stets Ausschau nach Praktikanten, die das Zeug zum «Culture Carrier» hatten – zum «Kulturträger». Das war Goldman-Jargon für einen Mitarbeiter, der den richtigen Umgang mit Kunden und Kollegen beherrschte, um dem Ruf der Firma als Kaderschmiede für Senatoren, Finanzminister und Zentralbankgouverneure gerecht zu werden.

Demütigung war eine Erfahrung, die dieser erlauchte Kreis kaum kannte. Ich war umgeben von Überfliegern, wie sie in den Mensas von Eliteuniversitäten ehrfürchtiges Aufsehen erregten – Studenten, die ihren Hochschulzulassungstest mit voller Punktzahl bestanden hatten, die mit fünfzehn bereits die High School abgeschlossen hatten, im Olympiateam schwammen und zur Entspannung auf Meisterniveau Schach spielten. Und dann war da natürlich noch Mark Mulroney, der Sohn des ehemaligen kanadischen Premierministers. Aber selbst für die Asse war das hier der Härtetest. Wer sich hier behauptete, dem standen künftig Türen von Unternehmen offen, wo man selbst auf mittlerer Managementebene 250 000 Dollar verdiente und Macht und Einfluss besaß.

Mein Vater war Apotheker in Johannesburg in Südafrika, und ich hatte noch nie vom Investmentbankgeschäft gehört, bis ich das Stipendium für die Universität Stanford erhielt und meine Heimat verließ.

Neben Josh vorn am Whiteboard stand noch ein weiterer Praktikant: Adam. Er sollte einer meiner besten Freunde werden und schon bald Milliarden von Dollars in einem Hedgefonds verwalten. Doch zu diesem Zeitpunkt standen die beiden unter Beschuss. Adam war rot angelaufen, aber eher vor Eifer. Er studierte Angewandte Mathematik im Hauptfach, er beherrschte die Materie. Josh dagegen studierte schwerpunktmäßig Englisch und hatte ganz offensichtlich keinen blassen Schimmer.

Das Open Meeting fand zweimal wöchentlich nach Handelsschluss statt, in aller Regel dienstags und donnerstags. Gewöhnlich wurden die neunzigminütigen Sitzungen (nach Rangfolge) von einem Partner, einem Managing Director oder einem Gespann von drei grimmigen Vice Presidents geleitet, die ehrfurchtgebietend vorn an einem langen Tisch saßen. Je nach Laune und Charakter des Federführenden konnten die Sitzungen schlimme Formen annehmen. Nervenaufreibend waren sie immer.

Ein Open Meeting begann pünktlich um achtzehn Uhr – keine Minute später. In der Regel tauchten drei oder vier Teilnehmer erst um 18 : 03 Uhr oder um 18 : 05 Uhr auf und mussten dann draußen warten. Verspäteten sich zu viele, hatten wir alle am nächsten Morgen um fünf Uhr zu einer Ersatzveranstaltung anzutanzen. Der Managing Partner ebenfalls. Wieder galt: Wer fünf Minuten zu spät kam, der wartete draußen. Das wurde streng gehandhabt. Es gab Leute, die es einfach nicht pünktlich schafften, was kein gutes Licht auf sie warf.

Die Praktikanten nahmen an langen Tischreihen Platz. Vor sich hatten sie einen Block liegen mit ihren Notizen, die sie sich zur Vorbereitung gemacht hatten. Vorn saß der Sitzungsleiter mit einer Liste der Namen aller Praktikanten. Zum Auftakt erhob er sich und rief nach dem Zufallsprinzip Teilnehmer auf. Jeder im Raum betete: «Bitte nicht mich!»

Ich war nervös, aber wild entschlossen. Meine Strategie war, mich sofort freiwillig zu melden, wenn ich eine Antwort wusste. Damit sank die Wahrscheinlichkeit, dass mich der Sitzungsleiter später drannahm bei Fragen, die ich nicht beantworten konnte. Einige Teilnehmer blieben ganz gelassen, wenn sie an die Reihe kamen, andere dagegen gerieten regelrecht in Panik – Männer wie Frauen:

VICE PRESIDENT (zeigt mit dem Finger): Also gut, Sie da, dritte Reihe, zweiter Stuhl.

PRAKTIKANTIN (steht auf, schluckt): Brynn Thomas, Brown University.

VP: Was hält unser Research-Analyst von Microsoft?

PRAKTIKANTIN: Äh, finden wir gut, glaube ich.

VP: Was empfehlen wir? Kaufen? Verkaufen?

PRAKTIKANTIN (zögert)

VP: Na los, ich brauche schnelle Antworten! Da ist doch nichts dabei – Microsoft ist eines der größten Unternehmen der Welt!

PRAKTIKANTIN (verunsichert): Kaufen?

VP: Mit welchem Kursziel? Welche Katalysatoren stehen an? Wie sieht die Kursentwicklung aus?

Die Praktikantin öffnet den Mund, doch es kommt kein Ton heraus. Ihre Augen füllen sich mit Tränen, und sie verlässt fluchtartig den Raum …

Es ging darum, die Kandidaten auszuquetschen. Das Open Meeting war ein Verhörraum, in dem die Sitzungsleiter die Bewerber löcherten, um ihre Kenntnisse auf den verschiedensten Gebieten zu prüfen. Vor allem ging es um die Märkte. Fragen lauteten etwa: «Wo steht der S&P 500?», oder: «Warum hat Rohöl heute drei Prozent verloren?», oder: «Warum hat Alan Greenspan die Zinsen gesenkt?»

Die zweite Fragenkategorie betraf die Geschichte von Goldman Sachs. Ich freute mich immer, wenn Fragen gestellt wurden wie: Wann wurde die Firma gegründet? Von wem? Auf welcher Grundlage? Wer waren die Senior Partner seit den sechziger Jahren? Wer ist der amtierende CFO? Da kannte ich mich bestens aus. Ich wusste, dass Goldman Sachs in der Vergangenheit von legendären Gestalten wie Sidney Weinberg geleitet worden war – dem Mann, der den Börsengang von Ford Motors betreut hatte – oder John Whitehead, der nach seinem Rücktritt als Senior Partner im Außenministerium tätig war und später Chef der New Yorker Niederlassung der US-Notenbank Federal Reserve wurde. Und ich konnte jede Menge Beispiele für die bewundernswerte Unternehmenskultur der Firma anführen. So hatte es Goldman Sachs viele Jahre lang abgelehnt, Beratungsleistungen für feindliche Übernahmen zu erbringen, weil die Firma solche Geschäfte für abträglich hielt, da sie das Vertrauen der Kunden untergruben.

Die dritte Kategorie betraf Fragen zum Management und allgemeine Fragen zum Tagesgeschäft. Die Leiter der Sitzung feuerten Fragen ab wie: Wie quantifiziert ein Händler Risiken? Was macht ein Derivateverkäufer? Welche beiden Managing Directors leiten die Abteilung Credit Derivatives Trading? Welche Unterschiede im Market-Making bestehen zwischen NASDAQ und NYSE? Welcher Partner ist zuständig für die Abteilung Emerging Markets?

Wie wir nach und nach herausfanden, sollten wir aus diesen Sitzungen lernen, wie wir uns zu verhalten hatten, wenn uns ein anspruchsvoller Kunde am Telefon in die Zange nahm – und Goldman Sachs hatte jede Menge anspruchsvolle Kunden. Der größte Fehler bei einem Open Meeting war, sich etwas aus den Fingern zu saugen, wenn man die Antwort nicht wusste. Wer das versuchte, gehörte am Ende oft zu denen, die unter Tränen die Flucht ergriffen.

Der gefürchtetste Sitzungsleiter war ein altgedienter Vice President namens Valentino Carlotti. Er war ein Mann der zwei Gesichter: in den Open Meetings knallhart (manche Sitzungsleiter rissen auch mal einen Witz – Val nie), doch im persönlichen Umgang ein netter Kerl. In jenem Sommer ging er manchmal mit den Praktikanten aus – eines Abends kam er sogar mit uns in einen Nachtclub. Ich stellte fest, dass seine strenge Art kein Wesenszug von ihm war. Er trat so auf, weil das Management der Ansicht war, dass es eine harte Hand brauchte, um die Praktikanten zu Offenheit und Ehrlichkeit zu erziehen, aber auch um ihre Kreativität und ihren Teamgeist zu fördern – alles Eigenschaften, die ein zukünftiger Nachwuchsanalyst mitbringen musste. Gleichzeitig waren das die Eigenschaften, die Kunden bei einem Berater schätzten – und die Offenheit stand dabei an erster Stelle. Die Kunden wollten nicht, dass man ihnen etwas vormachte. Sie wollten, dass man ihnen die Wahrheit sagte.

Was Val am meisten hasste, war jede Art von Herumgedruckse. Wer etwas nicht wusste, sagte am besten geradeheraus: «Keine Ahnung, finde ich aber raus.» Wir sollten lernen, dass ein verärgerter Kunde am Telefon keine Ausflüchte oder schwammigen Antworten hören will. Er will, dass man der Frage kompetent nachgeht und ihn fünf Minuten später wieder zurückruft. Wer bei einem Open Meeting eine Antwort schuldig blieb, musste umgehend mit dem Aufzug nach unten fahren, die Broad Street überqueren und rüber in den Handelssaal laufen, um sich die Antwort zu besorgen, und damit noch vor Ende der Sitzung zurückkommen. Da wir im Praktikum nicht zuletzt durch die verschiedenen Abteilungen des Handelssaals geschleust wurden, wurde auf diese Weise getestet, ob wir gute Beziehungsarbeit leisteten. Wir brauchten Verbündete, Menschen, an die wir uns wenden konnten, wenn wir im Schlamassel steckten. Mentoren. Schließlich konnten wir nicht einen leitenden VP wie Val so einfach aus einer wichtigen Angelegenheit herausreißen. «Lassen Sie mich in Ruhe!» wäre vermutlich noch die höflichste Reaktion gewesen.

Nach jedem Open Meeting wurde dessen Verlauf vom Moderator bewertet. Hatte er gute Antworten bekommen? Hatten die Kandidaten, die Informationen beschaffen mussten, die nötige Initiative gezeigt? Ein paarmal kam es vor, dass die Leiter eine Sitzung verheerend fanden. Das hatte die gleichen Konsequenzen wie zu häufiges Zuspätkommen: Wir mussten am nächsten Morgen um fünf Uhr antreten – oder manchmal auch spätabends, ganz gleich, ob wir privat verabredet waren. Wir sollten daraus lernen.

Die Sitzungen waren hart, aber ich muss gestehen, dass sie mir durchaus Spaß machten. Mir gefiel, dass Goldman Sachs seine Unternehmenskultur so ernst nahm. Ich fand gut, wie eindringlich uns vermittelt wurde, dass wir Kunden korrekt informieren mussten. Erzählt den Kunden keinen Mist! Das wurde uns in den Open Meetings eingetrichtert. Versprecht ihnen nicht das Blaue vom Himmel. Bleibt sachlich. Seid offen und ehrlich. Wenn ihr etwas nicht wisst, findet es möglichst geschickt heraus. Mehr wird nicht verlangt. Und wenn ihr einen Fehler macht, gebt ihn zu. Sofort. (Das predigt Goldman seinen Analysten bis heute: Wenn ihr einen Fehler macht, vor allem im Handel, gibt es nichts Schlimmeres, als ihn zu verheimlichen. Wer nicht gleich reinen Tisch macht, verursacht unweigerlich weit größere finanzielle Verluste – und verspielt damit seine Glaubwürdigkeit bei den Kunden.)

Zwei Tage vor einem Open Meeting setzten sich die Praktikanten zum Lernen zusammen. Jeder befasste sich mit einem anderen Marktbereich. Wir prüften uns gegenseitig und dachten uns mögliche Fragen aus. Dass wir zehn Wochen lang zweimal die Woche so erbarmungslos zur Brust genommen wurden, schweißte uns zusammen. Und Teamgeist stand bei Goldman Sachs als Unternehmenswert hoch im Kurs.

Mir war klar, dass man uns nach allen Regeln der Kunst indoktrinierte, doch ich hatte nichts dagegen. Ich war schon bekehrt gewesen, bevor ich die Firma das erste Mal betrat. Man sah es mir vielleicht nicht am Outfit an, doch ich war überzeugt davon, dass ich mich mit der gleichen Berechtigung um eine Stelle bei Goldman Sachs bewarb wie jeder andere.

 

Hätte man mich damals im Sommer 2000 gefragt, wer die Brooks Brothers waren, hätte ich geantwortet: die beiden kleinen Rabauken aus unserer Straße. Am Tag vor dem Abschluss meines dritten Studienjahrs in Stanford war ich zu Macy’s nach Palo Alto gefahren und hatte mich neu eingekleidet – mit acht Hemden, drei Paar Hosen und einem blauen Blazer mit Goldknöpfen. Ich hatte noch ein paar Anzüge aus dem vorigen Sommer, als ich bei der Maklerfirma Paine Webber in Chicago ein Praktikum gemacht hatte. Mein Lieblingsstück war ein hellgrauer Anzug im Miami Vice-Look aus einem glänzenden Stoff, der aussah wie Haifischhaut. Für Chicago war er absolut in Ordnung gewesen, doch für Goldman Sachs kam er nicht in Frage, so viel war mir immerhin klar.

Trotzdem ist mir der Gedanke an die Hemden, die ich damals in Palo Alto kaufte, bis heute peinlich: zwei dunkelbraune, ein schwarzes und ein dunkelgrünes. Fast alle hatten Streifen in einer kontrastierenden Farbe. Nicht gerade der Stil von Goldman Sachs. Wie so vieles, was ich erlebt hatte, seit ich nach Amerika gekommen war, war auch die Wall Street eine ganz neue Welt für mich. Im August 1997 war ich aus Johannesburg nach Stanford gekommen – mit einem ausgesprochen positiven Bild von den Vereinigten Staaten, das mir amerikanische Filme und Fernsehsendungen vermittelt hatten. In den achtziger Jahren hatte die Serie Wer ist hier der Boss? mit Tony Danza ihren Weg nach Südafrika gefunden und war für mich zu einer wichtigen Wissensquelle geworden.

Ich wuchs als ältestes von drei Geschwistern in Edenvale auf, einem bürgerlichen Vorort von Johannesburg. Mein Bruder Mark war anderthalb Jahre jünger als ich und meine kleine Schwester Carly ganze neun Jahre. Meine Mutter war Hausfrau, und mein Vater schuftete sich ab, um unseren Lebensunterhalt zu bestreiten. Das Geld war immer knapp, vor allem als alle drei Kinder auf der Privatschule waren. Wir besuchten die King David School, eine teure jüdische Tageseinrichtung, in der die Schüler Schuluniformen trugen – wir Jungen khakifarbene Safarianzüge im Sommer und Blazer, blaue Krawatten und graue Flanellhosen im Winter.

In der achten Klasse beschlossen mein bester Freund, Lex Bayer, und ich, dass wir später einmal aufs College gehen würden – und zwar nach Amerika. Dort waren wir zwar noch nie gewesen, die Sache stand aber für uns fest. Dummerweise war der Umtauschkurs extrem ungünstig, und unsere Eltern hätten sich das nie leisten können (Lex’ Familie stand finanziell nicht besser da als meine). Lex hatte eine hochbegabte ältere Schwester, Kelly, die vor vier Jahren mit einem Vollstipendium nach Stanford gegangen war. Uns war klar, dass wir eine ähnliche finanzkräftige Unterstützung brauchten, woher wir sie bekommen sollten, war uns allerdings schleierhaft. Fünf Jahre lang bereiteten wir uns vor. Wir liehen uns Kellys zerfleddertes Übungsbuch zur Vorbereitung auf den Aufnahmetest und fragten uns gegenseitig ab. Wir bereiteten uns sowohl auf die amerikanischen Standardtests als auch auf die landesweiten südafrikanischen Prüfungen vor. Wir schlossen die High School als die beiden Jahrgangsbesten ab und hatten das unerhörte Glück, unter den zweiunddreißig von dreitausend internationalen Bewerbern zu sein, die mit einem Vollstipendium zum Studium in Stanford in Kalifornien zugelassen wurden.

Ursprünglich wollte ich Medizin studieren, aber wie so viele Möchtegern-Ärzte scheiterte ich kläglich an der Anorganischen Chemie. Im ersten Quartal besuchte ich allerdings einen Grundkurs in Wirtschaftswissenschaft bei John B. Taylor, und war begeistert. Taylor war eine Koryphäe. Er hatte die berühmte Taylor-Regel entwickelt, nach der sich der Zinssatz der Zentralbanken ableiten lässt. Er hatte außerdem ein Lehrbuch verfasst, das an allen amerikanischen Universitäten zum Standardwerk für die Einführung in die Wirtschaftswissenschaft wurde. Und einmal im Jahr hielt er in Stanford eine Vorlesung, die einen legendären Ruf genoss.

Der Kurs, den ich besuchte, beschäftigte sich mit der Theorie vom «Komparativen Kostenvorteil». Konkret ging es darum, warum Kalifornien in der Weinproduktion besser war als Wisconsin. Taylor trat zu der ersten Sitzung vor siebenhundert Zuhörern verkleidet als überdimensionale kalifornische Traube an, und aus den Lautsprechern dröhnte «I Heard It Through The Grapevine». Dann legte Taylor los. Komparative Kostenvorteile seien, erklärte er, dass Kalifornien anders als Wisconsin die Witterungsbedingungen und die Flächen und schlicht die größere Affinität habe, Wein herzustellen. Die komparativen Kostenvorteile waren dafür verantwortlich, dass bei gleichen absoluten Produktionskosten nicht jeder in der Lage war, ein kostengünstiges Produkt herzustellen, da zu den absoluten Kosten noch die relativen kamen, die abhängig waren vom Klima und so weiter. Während er uns all das erläuterte, hingen meine Augen wie gebannt an seinem Traubenkostüm.

Ich nahm die Theorien begierig in mich auf, sie faszinierten mich. Wir sprachen nicht über irgendwelche Bindungen in unsichtbaren Molekülen wie in der Chemie. Unsere Themen waren beispielsweise: «General Motors verkauft Autos. Toyota auch. Warum differieren ihre Absatzzahlen, und welches Unternehmen arbeitet effizienter?»

Außerdem hatte ich sehr gute Noten. Es war mein erstes Quartal in Stanford, und mein Erfolg gab meinem Selbstbewusstsein enormen Auftrieb. Von den siebenhundert Studienanfängern, die den Kurs belegten, gehörte ich am Schluss zu den fünf Besten. Ein tolles Gefühl – und gleichzeitig der Höhepunkt meiner akademischen Laufbahn, denn so weit vorn lag ich später nie wieder. Je stärker man sich spezialisiert, desto besser und klüger wird eben auch die Konkurrenz. Das war ein Anfängerkurs gewesen. Vielleicht war das der Grund für meine guten Leistungen. Auf jeden Fall hatte ich meine Liebe zur Wirtschaftswissenschaft entdeckt. Ich beschloss, Wirtschaft als Hauptfach zu nehmen.

Im zweiten Studienjahr wollte ich mein theoretisches Wissen in der Praxis auf die Probe stellen und bewarb mich um einen Praktikumsplatz in der Finanzbranche. Meine Chancen standen denkbar schlecht. Diese begehrten Stellen vergeben Finanzinstitute gewöhnlich an Studenten, die ihr drittes Studienjahr beendet haben, erfahrener sind und ein Jahr später angeworben werden können. Trotzdem gelang es mir, einen Platz zu ergattern, indem ich dreist dreißig oder vierzig Leute bei Banken und Maklerhäusern antelefonierte. («Hallo, mein Name ist Greg Smith, ich studiere im zweiten Jahr in Stanford und würde gern praktische Erfahrungen sammeln, bieten Sie für diesen Sommer Praktikumsplätze an?») Als ich schließlich bei Paine Webber landete, erklärte ich, dass ich bereit sei, für den Mindestlohn zu arbeiten. Damit kam ich durch. Ich arbeitete im Chicagoer Büro in der Abteilung Private Wealth Management für zwei Makler, die ihren eigenen Kundenstamm betreuten. Größtenteils verwalteten sie das Vermögen leitender Mitarbeiter eines großen Haushaltsgerätekonzerns aus dem Mittleren Westen.

Ich bewunderte meine beiden Chefs sehr. Ihr Ziel war immer die langfristige Ertragssteigerung für ihre Kunden. Sie arbeiteten ruhig und überlegt und versuchten nicht, durch häufiges Umschichten (sogenanntes «Churning») auf Kosten der Anleger Provisionen zu schinden. Sie pflegten engen Kontakte zu ihren Kunden, berieten sie und besuchten sie. Sie kannten sie so gut, dass sie sogar die Namen ihrer Kinder und Enkel wussten. Vor allem aber beherrschten sie ihr Geschäft und wussten alles über ihre Aktien. Es war das althergebrachte Modell nach dem Motto: «Wir kennen uns jetzt seit fünfzehn Jahren – Sie können uns vertrauen.» Gleichzeitig war es das klassische Treuhandmodell, mit den entsprechenden Anreizen: Den Maklern ging es gut, wenn es den Kunden gutging. Sie gaben ihren Kunden die Ratschläge, die sie selbst für gut und richtig hielten.

Die beiden Makler betrauten mich mit Recherchen, durch die ich lernte, wie man Aktien bewertete und aussichtsreiche Anlagen ermittelte. Sie sagten: «Hier haben Sie zwanzig Aktien. Stellen Sie uns eine Übersicht mit einer einseitigen Empfehlung für jeden Titel zusammen. Wie hoch ist die Marktkapitalisierung? Welche Katalysatoren zeichnen sich ab? Welches Unternehmen spricht Sie an?» Die Arbeit machte mir viel Spaß. Ich saß da in meinem Miami Vice-Haifischanzug, analysierte Aktien und kam mir vor wie Don Johnson. (Obwohl ich mich von dem schulterlangen Pferdeschwanz getrennt hatte, den ich mir im zweiten Studienjahr zugelegt hatte – andernfalls hätte ich die Stelle vermutlich nicht bekommen.) Als der Sommer vorbei war, lobten mich die beiden Makler und wollten mich fürs nächste Jahr wiederhaben. Ich lehnte ab, durchaus mit Bedauern, aber ich wollte meine Angel nach einem größeren Fisch auswerfen.

Das Auswahlverfahren für eine Stelle, welcher Art auch immer, bei Goldman Sachs war extrem anspruchsvoll. Im Schnitt erhielt nur einer von fünfundvierzig Bewerbern auf ein Praktikum oder eine Stelle ein Angebot. In Stanford musste man sich sogar um ein Vorgespräch bewerben. Goldman Sachs forderte zwar herkömmliche Bewerbungsunterlagen an, erhielt diese jedoch in solchen Mengen, dass viele Bewerbungen einfach untergingen. Es gab aber noch eine andere Möglichkeit. Es war bekannt, dass zwei Gesprächstermine für die ersten Online-Bewerber vorgemerkt waren, die sich innerhalb einer bestimmten Frist anmeldeten. Am betreffenden Tag im Frühling 2000 begab ich mich daher um Mitternacht in den Computerraum, loggte mich auf der Website ein und drückte immer wieder die «Aktualisieren»-Taste, bis die magische Schaltfläche angezeigt wurde. Ich klickte sie blitzschnell an und hatte meinen Gesprächstermin. Das Bewerbungsgespräch fand im Career Center auf dem Campus statt.

Das Gespräch gestaltete sich erfreulich – aus zwei Gründen. Zum einen hatte ich sofort einen guten Draht zu der Frau, die es führte. Damals wusste ich nur wenig über Finanzwirtschaft, doch wir unterhielten uns fast ausschließlich über persönliche Dinge, und zwischen uns stimmte die Chemie. Sie stellte mir keine heiklen Fragen. Zum anderen hatte ich mich sehr sorgfältig vorbereitet. Ich hatte Goldman Sachs – Erfolg als Unternehmenskultur gelesen, eine Geschichte der Firma von Ex-Goldman-VP Lisa Endlich. Auch hatte ich mit mehreren Kommilitonen gesprochen, die das Praktikum im vorigen Sommer absolviert hatten.

Ich war also gerüstet, als mir meine Gesprächspartnerin die alles entscheidende Frage stellte: Warum ich für Goldman Sachs arbeiten wollte? «Weil es das beste und angesehenste Unternehmen der Welt ist, weil ich mir selbst ehrgeizige Ziele gesteckt habe und weil mich das Finanzgeschäft begeistert. Die Märkte faszinieren mich», antwortete ich. Ich erzählte ihr von meinem Praktikum bei Paine Webber in Chicago, erklärte aber, dass ich echte Wall-Street-Erfahrung sammeln wollte. Und das konnte ich am besten bei Goldman Sachs. Was ich ihr sagte, entsprach hundertprozentig der Wahrheit. Trotzdem war ich nicht sicher, ob ich die nächste Hürde nehmen würde, denn von den fünfzehn Bewerbern, die zum Vorstellungsgespräch eingeladen worden waren, würden nur drei oder vier weiterkommen.

Doch ich gehörte dazu. Am nächsten Tag tönte aus meiner Mailbox: «Sie haben es in die nächste Runde geschafft. Ihnen steht ein Supertag in San Francisco bevor.» Damit war aber nicht gemeint, dass ich mir in Fisherman’s Wharf ein Anchor Steam Beer nach dem anderen genehmigen durfte. Vielmehr wartete ein Marathon von mehreren dreißigminütigen Gesprächen in der dortigen Goldman-Sachs-Niederlassung auf mich. Diese Feuerprobe heißt an der Wall Street «Supertag».

Ich hatte damals kein Auto, aber ich war an der Uni als «RA», als «Resident Advisor», aktiv, zusammen mit fünf weiteren «RA»s (wir betreuten die Studienanfänger in Studentenwohnheimen). Wir wurden gute Freunde, und einer von ihnen lieh mir für gewöhnlich sein Auto, wenn ich eins brauchte, einen klapprigen, fünfzehn Jahre alten roten Mazda mit Schaltgetriebe.

Die Fahrt in die Stadt verlief an jenem Tag nicht ganz problemlos. Damals gab es noch kein Navi, sodass ich nach einer Karte fuhr, die bei offenen Fenstern wild in der Zugluft flatterte (eine Klimaanlage hatte ich natürlich ebenfalls nicht). Außerdem war ich ein ungeübter Fahrer, was die Sache nicht besser machte. Ich trug einen blauen Anzug und schwitzte. Es war der 10. März 2000 – der Tag, an dem der NASDAQ Composite auf dem Höhepunkt der Internetblase sein Allzeithoch von 5408,62 erreichte.

Obwohl meine Nerven blank lagen, kam ich pünktlich und unversehrt in der California Street 555 in der Innenstadt von San Francisco an. Das Gebäude war das zweithöchste der Stadt. Aus den Goldman-Büros mit ihren raumhohen Fenstern rund um den vierundvierzigsten Stock hat man einen wirklich atemberaubenden Blick auf San Francisco und die Bucht. Es wirkte beeindruckend und einschüchternd zugleich.

Beeindruckend war auch der erste Mensch, mit dem ich dort zusammentraf – aber durchaus nicht einschüchternd: eine tolle Frau, Senior Associate und ehemalige Stanford-Absolventin. Wie sich herausstellte, gehörte ihr Vater, ein ehemaliger Goldman-Sachs-Partner, dem Stiftungsrat meiner Universität an. Wir unterhielten uns sehr nett. Sie war gerade aus Südafrika zurück, wo sie ihre Flitterwochen verbracht hatte, und darüber sprachen wir. Ich war absolut überrascht, wie unverstellt und sympathisch alle waren, die ich an jenem Tag kennenlernte. Ich hatte schon Vorstellungsgespräche bei anderen Finanzunternehmen absolviert – der Deutschen Bank, Salomon Smith Barney. Die Leute, mit denen ich dort gesprochen hatte, hatten aalglatt gewirkt. Ihnen war es ganz offensichtlich mehr darum gegangen, mich bei falschen Antworten auf knifflige fachliche Fragen zu ertappen, statt mich kennenzulernen. Bei Goldman Sachs war das anders.

Als Nächstes sprach ich mit einem Mitarbeiter direkt im Handelssaal an seinem Schreibtisch. Er war so beschäftigt, dass er nicht wegkonnte. Deshalb sagte er: «Setzen Sie sich doch bitte auf den Hocker hier.» Für ein Bewerbungsgespräch war das eine denkbar ungünstige Situation. Erstens war es peinlich, auf so einem kleinen Hocker zu sitzen. Ich kniete fast vor meinem Gesprächspartner. Fehlte bloß noch die Frage: «Darf ich bitte bei Ihrem ach so wichtigen Telefongespräch zuhören?» Zweitens legte jeder Bewerber Wert auf die ungeteilte Aufmerksamkeit seines Gegenübers, damit er sich von seiner besten Seite zeigen konnte. Doch die Aufmerksamkeit meines Gesprächspartners war ganz und gar nicht ungeteilt. Er kaute an einem Sandwich, wickelte währenddessen seine Transaktionen ab, und die ganze Zeit über klingelten unablässig all seine Telefone.

«Gut», sagte er. «Empfehlen Sie mir doch mal eine Aktie.»

Zum Glück hatte ich mit genau dieser Frage gerechnet und mir sogar eine These zurechtgelegt. Also versuchte ich, ihm News Corp schmackhaft zu machen – Rupert Murdoch hatte damals gerade für neue Übernahmegerüchte gesorgt. (Wie eigentlich immer.)

Da klingelte schon wieder das Telefon. Mit erhobenem Finger bat mich mein Gesprächspartner um einen Moment Geduld und nahm den Anruf an. Eine Minute lang plauderte er mit dem Kunden – über Basketball-Ergebnisse –, dann führte er einen Trade aus. Endlich legte er auf.

«Tut mir leid», sagte er. «Fahren Sie fort.»

Ich wurde noch häufiger in meinen Ausführungen unterbrochen. Das hätte mich aus der Fassung bringen oder ärgern können, doch so war es nicht. Mein Gegenüber veranstaltete keine Show, um bei mir Eindruck zu schinden. Er wollte mich auch nicht abservieren. Er kam nur nicht vom Schreibtisch weg. So war das Geschäft nun mal. Und wenn ich Glück hatte, würde ich eines Tages auch an solch einem Schreibtisch sitzen.

 

Außer mir schafften es noch vier andere Stanford-Studenten durch die vielen «Supertage» und ins Praktikumsprogramm. Da unser Studium nicht in Semester, sondern in Quartale aufgeteilt war, kamen wir eine Woche später als die anderen in New York an. Die meisten Praktikanten wohnten den Sommer über in Wohnheimen der New Yorker Universität, doch weil ich so spät dran war, war kein Bett mehr frei. Stattdessen mietete ich mir – online, unbesehen – ein Zimmer bei einer jüdischen Familie, die ich nicht kannte, im zweiten Stock eines schicken Stadthauses in der 96. Straße zwischen Columbus und Amsterdam. Die Miete betrug 1000 Dollar im Monat, Essen nicht inbegriffen. Verdienen würde ich den Sommer über insgesamt 5000 Dollar – nach Steuern. Das war nicht schlecht für einen Praktikanten, doch ich merkte bald, wie schnell einem das Geld in New York durch die Finger rann. 1000 Dollar Miete erschien mir erst reichlich hoch, doch ich war so naiv zu glauben, dass es nett wäre, bei einer jüdischen Familie unterzukommen – der «Mischpoke»-Faktor. Ich dachte: «So schlecht kann das nicht sein.»

Mein Flug aus San Francisco verspätete sich, und zwar erheblich. Eigentlich hätte ich um zweiundzwanzig Uhr am JFK Airport landen sollen, doch am Ende kam ich um halb zwei in der Nacht an. Mein Praktikum sollte am nächsten Tag um Punkt sieben Uhr beginnen. In New York war es eindeutig Sommer – dreißig Grad und schwül, und das noch spät in der Nacht. Ich nahm ein Taxi nach Manhattan, kam an der Wohnung an, klingelte – und niemand öffnete. Ich telefonierte, doch keiner hob ab. Ich klingelte noch einmal. Vergeblich. Ratlos wartete ich eine halbe Stunde vor der Tür. Schließlich – es war kurz vor drei – drückte ich noch einmal auf den Klingelknopf. Da meldete sich ein Mann über die Sprechanlage. Er kam herunter, um mich einzulassen.

Mein Vermieter trug ein langes Nachthemd, war ziemlich verschlafen und leicht ungehalten, weil ich so spät kam. Wir stiegen zur Wohnung hinauf, er öffnete die Tür, und wir gingen durch den Flur. Es war sehr ruhig. Und heiß. Er öffnete eine Tür und sagte: «Das ist Ihr Zimmer.»

Es war winzig. Das grüne Sofa nahm fast den ganzen Raum ein. Ich fragte: «Wo ist das Bett?» Er erklärte: «Das ist ein Schlafsofa.» Ich hatte es halb ausgezogen, als ich an die andere Wand stieß. Mein Gastgeber und ich mussten das Sofa herumdrehen, damit ich es ausklappen konnte. Als mein Vermieter schließlich wieder schlafen gegangen war, schaltete ich die Klimaanlage ein. Sie sah vorsintflutlich aus und war es vermutlich auch. Sie machte einen solchen Lärm, dass ich irgendwann beschloss, sie auszuschalten und einfach das Fenster aufzumachen.

In der Familie gab es sonderbare Regeln. Man teilte mir mit: «Wenn Sie sich ein Glas Orangensaft aus dem Kühlschrank holen, müssen Sie das aufschreiben.» Aber ich beruhigte die guten Leute: «Keine Angst, ich brauche keinen Orangensaft. Vermutlich bekommen Sie mich ohnehin kaum zu Gesicht. Ich werde viel arbeiten.»

 

Der Aktienhandelssaal von Goldman Sachs im neunundvierzigsten Stock des Gebäudes One New York Plaza war ein riesiger offener Raum von der Größe eines Fußballplatzes mit Panoramablick über Lower Manhattan. Durch Fenster, die vom Boden bis zur Decke reichten, konnte man den New Yorker Hafen und die Freiheitsstatue sehen, die Zwillingstürme des World Trade Center und den Hudson. Doch zur ruhigen Betrachtung lud der phantastische Ausblick nicht ein, denn man befand sich im Innern eines Bienenstocks: Fünfhundert bis sechshundert Händler waren hier untergebracht, die riefen, gestikulierten oder angespannt ins Telefon sprachen. Sie rannten, liefen, grinsten, runzelten die Stirn, sprangen auf und gaben sich seltsame Handzeichen. Hier wurde mit allem gehandelt, von der aktuellen Neuemission einer brandheißen Internetfirma bis zu traditionellen Standardwerten wie General Motors oder Citigroup. Diese Händler arbeiteten nicht für Einzelkunden, sondern für die größten Vermögensverwalter, Pensionskassen, Regierungsstellen und Hedgefonds der Welt. Wer von den Tradern nicht gerade herumrannte, starrte auf seine Bildschirme. Im Sommer 2000 hatte jeder im Handelssaal drei oder vier Monitore und außerdem noch ein Bloomberg-Terminal für Marktdaten. (Inzwischen gibt es Bloomberg Market Data als Software, die in einem Fenster auf einem der Händlerbildschirme erscheint.)

Ich betrat dieses Parkett erstmals nach nur drei Stunden Schlaf. Meine Augen fühlten sich an wie mit Sandpapier geschmirgelt, als ich aus der U-Bahn stieg und zur Adresse Ecke Water und Broad Street an der Südspitze von Manhattan ging, keine Viertelstunde Fußweg vom World Trade Center entfernt. Ich klammerte mich an meinen extragroßen Kaffee und schaute an dem ehrfurchtgebietenden Wolkenkratzer empor – dem Hauptsitz von Equities Trading von Goldman Sachs. O Mann, dachte ich, ich hab’s an die Wall Street geschafft. Besser geht’s wirklich nicht.

Die Praktikanten, die wie ich im Quartalssystem studierten, waren ebenfalls mit einer Woche Verspätung eingetroffen. Man brachte uns in ein Zimmer, damit wir uns der Personalabteilung vorstellen konnten. Ich weiß noch, wie ich den Raum betrat und ein paar vertraute Gesichter aus Stanford erkannte. Die Luft knisterte förmlich. Für uns alle war es der erste Kontakt mit der Wall Street. Wir unterhielten uns aufgeregt und konnten kaum stillsitzen. Die Personaler gaben uns stapelweise Formulare zum Ausfüllen. Außerdem erhielten wir Goldman-Sachs-E-Mail-Adressen und Firmenausweise. Auf den Ausweisen – laminierte Karten mit grellorangem Rand, die an einem ebenfalls orangen Schlüsselband um den Hals getragen wurden – standen in großen schwarzen Lettern unsere Namen und Universitäten. Uns wurde eingeschärft, dass wir die Namensschilder ständig um den Hals tragen müssten, sobald wir das Firmengelände betraten. Andernfalls gäbe es Ärger. Goldman Sachs wollte sichergehen, dass die Praktikanten im Handelssaal zweifelsfrei als solche erkannt würden.

Goldman nahm in jeder seiner Sparten Sommerpraktikanten auf: im Bereich Aktien, im Bereich festverzinsliche Papiere, Währungen und Rohstoffe, im Bereich Investmentmanagement, im Bereich Research und so weiter. Nachdem ich die Auswahlgespräche gemeistert hatte, waren mir zwei Stellen angeboten worden: eine im Aktienhandel in New York und eine im Investmentmanagement in Chicago oder New York. Über Vermögensverwaltung hatte ich im vorigen Sommer bei Paine Webber schon einiges gelernt. Es ist ein bedächtigeres Geschäft in kleinerem Rahmen. Man hat mit Einzelkunden zu tun. Doch das Aufregende an der Wall Street waren für mich die großen Fische – die institutionellen Investoren. Deshalb entschied ich mich für Aktien. Ich wollte praktische Erfahrung auf dem Börsenparkett sammeln, die Hektik erleben, das Geschrei durch den Saal. Und dieser Wunsch sollte sich erfüllen.

Für einen Praktikanten war es aufregend, beängstigend und verwirrend zugleich, den Handelssaal zu betreten. Nicht jeder ist dafür gemacht, doch ich fühlte mich auf Anhieb wohl dort. Ich sah mich um und spürte die energiegeladene Atmosphäre. Ich liebte das Chaos, den Lärm, die Spannung. Ich fand es unglaublich, dass hier de facto Milliardenbeträge zwischen den größten und geschicktesten Investoren der Welt hin und her geschoben wurden. Ich wollte das alles unbedingt durchschauen und dazugehören. Angst empfand ich nicht. Vielleicht war das ein Fehler, aber ich fühlte mich wie zu Hause.

Am Tag nach dem ersten Open Meeting begann das sogenannte Speed Dating. Im Handelssaal gab es etwa dreißig Gruppen oder Abteilungen. Jedes der Teams hatte rund fünfzehn Mitglieder: einen Partner, zwei oder drei Managing Directors, ein halbes Dutzend Vice Presidents, drei Associates und drei Analysten. Die fünfundsiebzig Praktikanten wurden in Vierer-oder Fünfergruppen aufgeteilt. Im Laufe des Sommers wurden die Gruppen durch so viele Abteilungen wie möglich geschleust. Wir sollten die Abteilungen «beschatten», wie es genannt wurde, und dafür hatten wir immer kleine schwarze Klapphocker dabei. Wir «beschatteten» jedes Team jeweils zwei oder drei Tage lang und versuchten, in groben Zügen seine Tätigkeit zu erfassen, zu helfen und möglichst mehr zu tun, als nur im Weg zu sein.

Der Hocker. Wir trugen ihn praktisch ständig mit uns herum, denn nirgendwo an den Tischen im Handelssaal gab es Stühle für «Besucher». Wie unsere großen orangen Ausweise an den orangen Bändern verriet der Hocker sofort unseren Status. Er zeigte jedem, dass wir Fußvolk waren, Neulinge, ahnungslose Anfänger. Aufgeklappt war er keine fünfzig Zentimeter hoch. Neben einem der Verkäufer, Händler oder Sales-Trader saß man darauf wie ein Schuhputzer, während der große Meister seinem wichtigen, mysteriösen Tagesgeschäft nachging.

Dass die Hocker chronisch knapp waren, kam erschwerend hinzu. Ob das vom Management gezielt so eingerichtet worden war, sozusagen als darwinistische Reise nach Jerusalem, habe ich nie herausgefunden. Auf jeden Fall griff sich morgens jeder schnell einen der verfügbaren Hocker. Ein paar Praktikanten gingen dabei unweigerlich leer aus. Das konnte unangenehm werden – vor allem wenn man dann von einem Trader mit den magischen Worte angesprochen wurde: «Setzen Sie sich doch zu mir.» Dann stammelte man eine Entschuldigung und rannte los, um sich irgendwo einen Hocker zu erbetteln, auszuleihen oder zu klauen. Im Handelssaal gab es ein paar Verstecke, insbesondere einen Abstellraum, wo manchmal ein oder zwei Ersatzhocker aufzutreiben waren …

Das Praktikum war im Grunde eine Tortur. Der Arbeitstag begann morgens um Viertel vor sechs, um sechs oder um halb sieben, je nachdem, wann uns die jeweiligen Teams einbestellten. Tagsüber machten wir uns nach Möglichkeit nützlich. Wie wir unsere Zeit verbrachten – vor allem wie produktiv – hing vom eigenen Einfallsreichtum ab. Weil wir die vorgeschriebene «Series 7»-Prüfung noch nicht abgelegt hatten, durften wir nicht selbst handeln. Wir konnten auch keine Kundengespräche führen oder Anrufe annehmen. Und doch befanden wir uns im Trading-Geschäft, unter vielbeschäftigten Menschen in diesem riesigen Handelssaal. Für einen Sommerpraktikanten machte es einen kleinen, aber feinen Unterschied, ob er nur eine Belastung war – im Weg stand oder hockte und den Leuten auf die Nerven ging – oder ob er irgendeinen Mehrwert für das Unternehmen brachte.

Anfangs hatten wir noch Orientierungsschwierigkeiten. Die Abteilungen waren nicht gekennzeichnet. Es gab keine Schilder, auf denen «Abteilung Emerging Markets Sales» oder «Abteilung Latin America Sales Trading» oder «Abteilung US Equity Trading» stand. Wir mussten uns durchfragen und mit Hilfe selbstangefertigter Skizzen in diesem Dschungel zurechtfinden.

Wir mussten Eigeninitiative entwickeln und kreativ werden. Der Mehrwert eines Praktikanten im Unternehmen bestand durchaus schon darin, dass er dem Team jeden Tag den Kaffee brachte. Nicht selten besorgten die Praktikanten auch das Frühstück oder das Mittagessen. Wir klapperten tatsächlich mit Zettel und Stift alle zehn oder fünfzehn Teammitglieder ab und nahmen ihre Bestellungen auf. Eine seltsame Vorstellung, aber an der Wall Street wird auch dies als Hinweis auf die Leistungsfähigkeit eines Mitarbeiters gedeutet. Einer, der ständig die Bestellungen fürs Mittagessen durcheinanderbrachte, würde früher oder später vermutlich auch an anderen Aufgaben scheitern.

Ich weiß noch, dass es einen Managing Director gab, als ich schon ein paar Jahre für Goldman Sachs arbeitete, der sehr heikel war, wenn es um sein Mittagessen ging. Er mochte weder Zwiebeln noch diverse andere Zutaten. Eines Tages bestellte er bei einem Praktikanten ein Cheddar-Sandwich. Voller Stolz präsentierte ihm dieser stattdessen einen Salat: «Hier ist Ihr Cheddar-Salat.» Ich saß zufällig gerade neben dem MD, deshalb erinnere mich so genau. Er öffnete die Schachtel, sah erst den Salat an und dann den Praktikanten, klappte die Schachtel wieder zu und ließ sie mitsamt Inhalt in den Mülleimer fallen. Das war vielleicht nicht sehr nett, aber lehrreich. Der Managing Director scherzte später mit dem Praktikanten darüber und machte kein Drama daraus. Der Kandidat hatte kapiert.

Praktikanten konnten sich durch alle möglichen Kleinigkeiten nützlich machen – indem sie das richtige Essen besorgten etwa oder Kopien anfertigten und vor allem indem sie sich selbst echte Aufgaben suchten. Wenn man einen Verkäufer oder Händler sagen hörte: «Mein Kunde interessiert sich für Biotech-Werte», war es klug, die Initiative zu ergreifen und vorzuschlagen: «Soll ich ein paar Biotech-Aktien für Sie recherchieren? Wäre das hilfreich?» Viele Goldman-Mitarbeiter nahmen das Angebot gern an. Eine tolle Sache für einen Praktikanten, der dann zeigen konnte, was er draufhatte. Wer seine Tage nur damit zubrachte, mit den Mitarbeitern der jeweiligen Abteilung zu plaudern, lief Gefahr, als Klette oder Klotz am Bein zu gelten.

 

Die Klapphocker hatten natürlich ihren guten Grund. Man konnte sie leicht unter den Arm klemmen und damit von Ort zu Ort ziehen. Schließlich saßen wir nicht den ganzen Tag lang einem Trader zu Füßen. Den Sommer über fanden täglich Vorträge und Podiumsdiskussionen statt – mit Teilnahmepflicht für alle Praktikanten. Ein Redner ließ sich über Derivate aus, der nächste über die verschiedenen Funktionen in der Aktien-Abteilung: Was war der Unterschied zwischen einem Verkäufer und einem Sales-Trader? Wie erwarb man die dafür nötigen Kompetenzen?

Diese Vorträge sollten nicht nur Wissen vermitteln, sondern uns auch dabei helfen, den Bereich zu finden, in dem wir später arbeiten wollten. Nicht jeder eignete sich zum Trader oder zum Verkäufer. Nicht jeder hatte ein Händchen für Anleihen. Manchem lagen Aktien mehr. Die Mathefreaks wurden in aller Regel Händler oder «Quants» (quantitative Analysten, auch «Strats» – Strategen – genannt). Sportskanonen entwickelten sich oft zu aggressiven Tradern oder geschickten Verkäufern. Wir Übrigen lagen irgendwo im Mittelfeld und mussten uns entscheiden.

Arbeitsscheu durfte keiner sein. Jeden Tag kam es vor, dass man gerade mit dem Managing Director oder einem Vice President des Teams sprach, wenn eine der Pflichtveranstaltungen anstand. Dann musste man sich bei seinem Gegenüber geschickt aus der Affäre ziehen. Manchmal war man gerade mit etwas beschäftigt, auf das der andere ungeduldig wartete – eine Tabelle zum Beispiel –, und musste sagen: «Tut mir leid, aber ich muss jetzt zu diesem Vortrag.» Daran führte keine Weg vorbei. Die Anwesenheit wurde kontrolliert. Außerdem wurde immer unsere inhaltliche Beteiligung bewertet. Es war eine von zig Hürden, die man erfolgreich nehmen musste.

Neben unserem straffen Tagesprogramm übertrug man uns häufig noch umfangreiche Zusatzaufgaben – eine zwanzigseitige Präsentation zum Für und Wider des Glass-Steagall-Gesetzes zum Beispiel. Daran konnten wir tagsüber nicht arbeiten. Wir konnten uns nicht einfach zwischendurch ein paar Stunden lang ausklinken und Folien erstellen. Dafür blieben nur die Abende, wenn die anderen nach Hause gegangen waren – nach neunzehn Uhr – und die Wochenenden. Unter der Woche waren Arbeitszeiten bis Mitternacht nicht ungewöhnlich. Oft gingen wir auch samstags oder sonntags – oder an beiden Tagen – ins Büro. (Wir arbeiteten hart in diesem Sommer, aber wir unternahmen auch viel. In unserer kostbaren Freizeit machten wir die Stadt unsicher, manchmal alle zusammen, manchmal in kleineren Gruppen. An den Wochenenden stürzten sich viele ins Nachtleben. Am 4. Juli ging ein ganzer Pulk zum Fluss hinunter, um das Feuerwerk anlässlich des Nationalfeiertags anzuschauen. Manche verliebten sich in dieser Zeit. Ich weiß von mindestens zwei Pärchen, die sich in jenem Sommer im Praktikum kennengelernt und später geheiratet haben.)

Jede Woche mussten wir Kurztermine bei fünf Goldman-Mitarbeitern wahrnehmen und abhaken. Diese Leute würden unsere Leistung bewerten. Die wöchentlichen Berichte wurden gesammelt und katalogisiert, und zur Halbzeit setzten wir uns mit dem Leiter des Praktikumsprogramms zusammen und erhielten eine Leistungsbewertung. (Als ich das Programm im Sommer 2006 leitete, war ich für die Beurteilungen zuständig.) Der Praktikumsbeauftragte sagte: «Folgendes machen Sie nach Ansicht unserer Leute richtig. Die nachstehenden Punkte sind verbesserungsbedürftig. Diesbezüglich müssen Sie an Ihrer Einstellung arbeiten. Und das sind Ihre Schwächen.» Meine Halbzeitkritik war sehr allgemein gehalten. Wie ich später erfuhr, war das ideal. Man sagte mir Dinge wie: «Sie sind nicht dumm, müssen aber mehr aus sich herausgehen.» Das hieß, dass man mich bei Goldman Sachs dynamischer sehen wollte. Ich sollte auf andere zugehen, mich vorstellen und noch mehr Händler und Verkäufer «beschatten».

Das Gegenteil hätte vielleicht ein Praktikant zu hören bekommen, der zu forsch auftrat und alle Teammitglieder nervte, weil sie dachten: «Für wen hält der sich?» Es gibt da eine legendäre Geschichte über einen Sommerpraktikanten von der Harvard Business School, der zu der damaligen Partnerin und Chefin der Abteilung Government Bond Trading trat – einer kleinen chinesischstämmigen Amerikanerin, die als gefürchtetste Händlerin im ganzen Saal galt – und sagte: «Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich ein wenig zu Ihnen kommen?» Der Frager wusste eindeutig nicht, welchen Ruf sie genoss, und das war ihr auch nicht anzusehen, aber alle hatten einen Heidenrespekt vor ihr. Und ganz offensichtlich wusste der Praktikant auch nicht, dass der Zeitpunkt, den er für seine «Beschattung» gewählt hatte – 8 : 30 Uhr an einem bestimmten Freitag im Juli –, exakt der Moment war, an dem die Zahl der US-Beschäftigten ex Agrar (ohne Landwirtschaft) veröffentlicht wurde – für einen Trader effektiv der wichtigste und arbeitsreichste Tag des Monats. Sie sprang ihm förmlich ins Gesicht: «Für wen halten Sie sich eigentlich? Wissen Sie nicht, dass heute die Wirtschaftsdaten veröffentlicht werden? Bleiben Sie mir bloß vom Leib!» Der Betreffende erhielt am Ende eine Abmahnung. Die Wall Street tickt so. Das Urteil lautet: «Tja, der Mann hat keinerlei Gespür. Von den Marktdaten hätte er wissen müssen.» Andererseits, vielleicht hat er ja etwas daraus gelernt und hat später mehr Gespür gezeigt. Allerdings nicht bei Goldman Sachs, denn er wurde nicht übernommen.

Ich merkte, dass Erfolg bei Goldman, ob im Praktikumsprogramm oder später, viel stärker vom Urteilsvermögen abhing als vom Wissen. Zu Goldman Sachs kamen die intelligentesten Studenten der Welt, die ihre Zulassungstests mit 1600 Punkten bestanden und in Harvard als Jahrgangsbeste abgeschlossen hatten, und dennoch konnten sie sich als absolute Blindgänger entpuppen, die noch im ersten Jahr wieder vor die Tür gesetzt wurden. Das passierte dauernd, denn das Urteilsvermögen ist nicht erlernbar.

Im Sommer 2000 flogen gleich mehrere Praktikanten. Nach fünf oder sechs Wochen erwischte es einen Princeton-Studenten, der unbotmäßiges Verhalten an den Tag gelegt hatte. Er hatte im Beisein von Vorgesetzten mehrfach sarkastische Kommentare abgegeben.

Auch ein Praktikant aus Harvard, der später professioneller Online-Pokerspieler wurde, zeigte einen wahrhaft denkwürdigen Mangel an Urteilsvermögen. Das Ganze ereignete sich gegen Ende des Sommers bei einer Teambildungsschulung, die außerhalb, in einem Naturschutzgebiet knapp hundert Kilometer nördlich von New York, stattfand. Es war ein Freitag Ende Juli. Alle waren in Feiertagsstimmung. Zu Beginn des Praktikums hatte jeder von uns eine Goldman-Sachs-Sporttasche voller Artikel mit GS-Logo bekommen: Brieftasche, T-Shirt, Sonnencreme, Sonnenbrille, Flip-Flops. Heute war der Tag, an dem diese Tasche zum Einsatz kommen sollte. Wir sollten Flagge zeigen für Goldman.

Für die Schulung wurden wir in Sechsergruppen aufgeteilt und mussten in verschiedenen Disziplinen gegeneinander antreten: im Rudern, beim Dreibeinlauf, mit Denksportaufgaben. Letzter Punkt auf der Tagesordnung war, ein Lied zu schreiben – klingt albern und war es auch –, aus dessen Text hervorgehen sollte, was wir den Sommer über dazugelernt hatten. Mr. Harvard beschloss, mit seiner Gruppe einen Rap im Stil von Eminem zu schreiben.

Keine gute Idee.

Der Text hatte zwei anstößige Passagen. Eine bezog sich auf Vice President Val Carlotti, der bekanntlich nicht zu scherzen beliebte und der definitiv mit über unser Schicksal entschied. Der ungefähre Wortlaut war: «Dotty, dotty, I want to shoot Val Carlotti with my shotty.»

Die Krönung aber war eine Strophe, in der das Team rappend zum Ausdruck brachte, wie gern man mit allen «chics» aus der Personalabteilung schlafen wollte. Die beiden hübschesten wurden sogar namentlich erwähnt.

Wir waren schockiert. Keine Ahnung, was den Harvard-Mann geritten hatte. Noch rätselhafter war, wie er die anderen in der Gruppe zum Mitmachen animiert hatte. Aus dieser Gruppe wurde keiner übernommen. Vielleicht war es Zufall, ich glaube aber eher nicht.

Josh, Sohn des Wall-Street-Milliardärs, leistete sich ebenfalls ein paar spektakuläre Schnitzer. Im vierzigsten Stock gab es einen Raum für die Praktikanten, der scherzhaft «der Sumpf» genannt wurde. Man musste ins Erdgeschoß runter und dann mit einem speziellen Aufzug wieder hochfahren, um dort hinzugelangen. Das war unser Reich. Der Sumpf war mit zehn Reihen Rechnerplätzen ausgestattet, an denen wir arbeiten, E-Mails schreiben oder im Internet recherchieren konnten, da im Handelssaal in der Regel keine Tische frei waren. Eines Nachmittags schob Josh drei Stühle zusammen, legte sich darauf und schlief ein – mitten am Tag. Sein Pech war, dass genau in diesem Moment ein VP dem Sumpf einen Besuch abstattete …

Doch Josh konnte das noch toppen. Er erlaubte sich eine Entgleisung, die zu einer Regel führte, die bis heute für alle Sommerpraktikanten von Goldman gilt: Im Aufzug wird nicht gesprochen. Kein Witz, keine Bemerkung über das Wetter – kein Wort. Schließlich weiß man nie, wer mit einem fährt. An dem Tag, als der Leiter der Goldman-Niederlassung in Chicago einen Vortrag vor den Praktikanten halten sollte, fuhr Josh im vollen Aufzug nach oben. Es kam die Rede auf die bevorstehende Veranstaltung, und Josh tönte: «Der Chef aus Chicago? Wer interessiert sich denn für den?» Und natürlich stand besagter Herr gerade mit in der Kabine.

Josh erhielt kein Stellenangebot, als der Sommer vorüber war. Dabei war er wirklich ein netter Kerl, den alle Praktikanten mochten. Er versuchte nie, sein Herkommen irgendwie zu seinem Vorteil zu nutzen. Er hatte später großen Erfolg als Jurist.

 

Am Anfang hatte man uns gesagt, dass nur etwa fünfzig Prozent der Teilnehmer das Praktikum erfolgreich bestehen und übernommen werden würden. In Wirklichkeit waren es eher noch ein bisschen weniger. Die meisten Teams stellten nur einen Mitarbeiter ein – manche zwei. Das bedeutete, von uns fünfundsiebzig würden im Herbst etwa fünfunddreißig ein Übernahmeangebot erhalten.

Das war uns allen klar. Das Management hielt sich zwar bewusst bedeckt, was die genauen Zahlen anging, doch man ließ uns unmissverständlich wissen, dass nicht einmal die Hälfte Aussichten auf einen Posten hatte. Sie wollten einen gewissen Druck aufrechterhalten, ohne bei uns gleich aggressives Konkurrenzverhalten zu erzeugen, sodass wir uns gegenseitig zerfleischten. Schließlich wurde ja ständig betont, wie wichtig Teamwork war.

Aber die Praktikanten waren nicht auf den Kopf gefallen. Sie konnten nicht alle übernommen werden, also musste man geschickt taktieren. Bewähr dich als Teamplayer, sei kein Kameradenschwein, aber nimm deine Interessen wahr und such dir deine Nische, denn schließlich geht es ums Ganze. Ironischerweise war in jenem Frühjahr gerade die Reality-Fernsehserie Survivor angelaufen. Ganz ähnlich kam uns unser Leben oft vor – nur dass unsere «Reality» das wahre Leben war.

Alle wussten es, doch keiner sprach es aus: Jeder trat hier gegen jeden an. Im Laufe des Sommers merkten wir, wofür sich die anderen interessierten, welche Abteilungen besonders gefragt waren, und wir rechneten uns unsere Chancen aus. Wenn zwanzig Leute auf einen bestimmten Posten scharf waren, doch nur einer eingestellt wurde, wie sah es dann für mich aus? Sollte ich mir lieber einen weniger begehrten Bereich aussuchen, in dem ich bessere Aussichten auf Erfolg hatte? Ich erinnere mich an eine Stanford-Kommilitonin. Sie wollte in ein Team, für das sich neun Leute interessierten, das aber nur zwei Stellen zu vergeben hatte. Statistisch war das kein besonders klug gewähltes Ziel, doch sie war zuversichtlich. Unter dem Strich zählte aber die Persönlichkeit, und zwei andere Bewerber kamen besser an. Glück spielte ebenfalls eine große Rolle. Vielleicht hatte der Managing Director an dem Tag, an dem er sie kennenlernte, seinen Kaffee noch nicht bekommen.

Oberste Priorität hatte für mich, den richtigen Mentor zu finden – jemanden, der mich mochte, eine gute Meinung von mir hatte, gern mit mir arbeiten und mich fördern wollte. Auch das hatte uns niemand vorher klipp und klar gesagt, doch genau das war der Zweck des Praktikumsprogramms. Das war zunächst verwirrend. Liefen wir einen Marathon – zehn Wochen sind schließlich eine lange Zeit – oder doch eher einen Sprint? Was war das Ziel? Eine Anstellung. Und wie war es zu erreichen? Auf kurze Sicht musste man ständig einen guten Eindruck machen. Man konnte schließlich nicht wissen, wer sich am Ende zu Wort melden und sagen würde: «Wir brauchen Greg Smith.» Man musste sich einen Förderer suchen.

Viele Praktikanten erlagen dem Trugschluss, dass man sie schon einstellen würde, wenn sie nur den ganzen Sommer über gute Leistungen zeigten. Doch ein Jobangebot bekam in Wirklichkeit nur derjenige, der jemanden gefunden hatte, der ihn haben wollte. So einfach – und so grausam – war das. Da konnte der begabteste Überflieger daherkommen, bei den Open Meetings glänzen und mit seinem Wissen beeindrucken – wenn nach zehn Wochen kein Managing Director bereit war, einen Partner davon zu überzeugen, dass er der richtige Kandidat war, war alles umsonst gewesen. Manche Praktikanten begriffen das erst am Ende des Sommers – und da war es zu spät.

 

Die Firma drehte uns zwar durch die Mangel, doch gleichzeitig umwarb sie uns. Weil die Wall Street im Jahr 2000 mit dem Silicon Valley um fähige Hochschulabsolventen konkurrierte, musste Goldman seine Kandidaten bei Laune halten. Daher verbrachten wir zwei bis drei Abende pro Woche mit Vorbereitungen für die Open Meetings oder unseren nächsten Einsatzbereich, doch an den übrigen Abenden nahmen wir an gesellschaftlichen Veranstaltungen der Firma teil. Unsere Anwesenheit wurde vorausgesetzt. Manche Anlässe boten Gelegenheit, Kontakte zu knüpfen. In einem großen Raum traf man sich beim Bier in zwangloser Atmosphäre mit Angehörigen aller Teams. Dabei ging es auch darum, auf Leute zuzugehen, die in einem Bereich tätig waren, für den man sich interessierte.

Doch es gab auch Veranstaltungen, die nur zu unserer Unterhaltung gedacht waren. So gingen wir zu mehreren Spielen der Yankees. Wir sahen Shows am Broadway – Riverdance oder Lord of the Dance (irgendwas in der Art). Und wir wurden kulinarisch verwöhnt! Zu jeder Sitzung, bei jedem Treffen am Tag wurde das volle Verpflegungsprogramm aufgefahren – nicht bloß Kekse und Tee, sondern riesige Platten mit Sandwiches, Getränke und Süßspeisen. Viele von uns fanden das übertrieben. Da hatten wir gerade Mittag gegessen, und schon gab es wieder einen Berg Sandwiches. Uns kam das unglaublich verschwenderisch vor.

Damals gab es bei Goldman auch noch frisches Obst, in großen Schalen, die überall im Handelssaal herumstanden – in solchen Mengen, dass es unmöglich jemals aufgegessen werden konnte. Ich sehe noch bergeweise faulende Früchte, mit Schwärmen von Obstfliegen. Später erfuhr ich, dass die Firma buchstäblich mehrere hunderttausend Dollar im Monat nur für Obst ausgab. Als die Technologieblase platzte, war das Obst das Erste, was gestrichen wurde.

 

Doch im Sommer 2000 war sie noch nicht geplatzt. Der Technologie-Boom war noch in vollem Gang. Alle schrien nach Dotcoms. Damals musste ein Unternehmen lediglich die magische Nachsilbe an seinen Namen hängen oder ihm ein «E-» voranstellen, und sein Wert stieg in zum Teil astronomische Höhen. In jenem Sommer sah man auf den Schreibtischen im Handelssaal von Goldman jede Menge Trophäen stehen – futuristische Plexiglaswürfel zur Erinnerung an spektakuläre Transaktionen, Baseballmützen mit den Logos von Technologieunternehmen –, und es wurde in einer Tour abgeklatscht.

Inmitten dieser allgemeinen Euphorie entdeckte ich eine Insel der Stabilität: Ich fand meinen Mentor.

Zu Beginn des Praktikums sprachen wir auf Sitzungen und untereinander viel darüber, in welchem Bereich wir in der Firma arbeiten wollten. Ich hatte bereits früh beschlossen, dass mich der Bereich Vertrieb und Handel, die letzte Bastion des wahren, unverfälschten Kapitalismus, mehr interessierte als Vermögensverwaltung (ein ruhiges Geschäft, wo man das Geld größerer Institutionen oder reicher Leute anlegte) und auch mehr als Investmentbanking (also die Unterstützung von Unternehmen bei der Kapitalbeschaffung oder der Umstrukturierung). Im Vertrieb und Handel gab es drei verschiedene Funktionen: Verkäufer, Händler (oder Trader) und Quants (oder Strategen). Letzteres kam für mich (wie für die meisten anderen Praktikanten) von vornherein nicht in Frage. Ich war zwar nicht schlecht in Mathe, aber auch kein Genie. Außerdem fehlte mir der Doktortitel. Blieb also die Frage: Verkäufer oder Händler? Diese Entscheidung musste man möglichst schnell treffen, und die Antwort lag nicht auf der Hand. Wenn man den Handelssaal betrat, erkannte man nicht sofort, wer was war. Überall waren Tischreihen mit Menschen. Erst nach ein paar Wochen bekam man richtig mit, wer was machte und warum.

Die Verkäufer betreuten natürlich die Kunden. Ob es sich dabei um einen Investmentfonds aus Boston, einen Makro-Hedgefonds aus New York oder einen staatlichen Investitionsfonds aus dem Nahen Osten handelte – diese Kunden verwalteten Milliardenvermögen, tätigten häufig Transaktionen mit Goldman Sachs und zahlten dafür in aller Regel Provisionen, die sich zwischen mehreren hunderttausend Dollar und zweistelligen Millionenbeträgen pro Jahr bewegten. Die Verkäufer telefonierten täglich mit den Kunden, berieten sie, hörten sich ihre Wünsche an und konzipierten Anlageideen für sie. Wichtig war dabei, eine Vertrauensbeziehung zum Kunden herzustellen und ihn an die Bank zu binden, denn danach wurde die eigene Leistung beurteilt: Wie viel Geschäftsvolumen brachte der Kunde der Firma? Der typische Verkäufer war sympathisch, offen und kontaktfreudig. Er bewahrte in der Hitze des Gefechts einen kühlen Kopf und konnte mit mehreren Bällen auf einmal jonglieren. Ein Verkäufer musste es mögen, den ganzen Tag über mit Menschen zu kommunizieren.

Die Händler waren eher introvertiert. Sie saßen an ihren Tischen und steuerten Risiken. Würde der Markt zulegen oder nachgeben? Sollten sie abstoßen oder kaufen? Sie versuchten, das Kapital des Unternehmens zu schützen, und sorgten dafür, dass nichts Unverantwortliches getan wurde und dass wir durch eine unbedachte Transaktion nicht plötzlich um 10 Millionen Dollar ärmer waren. Trading war eher quantitativ geprägt. Man musste schnell, entschlossen und aggressiv agieren. Ich merkte bald, dass das Trading nichts für mich war – den ganzen Tag ohne jeden Kundenkontakt allein an einem Tisch zu sitzen. Die Vorstellung, Kontakt zu knüpfen zu einigen der erfolgreichsten Investoren der Welt, gefiel mir dagegen sehr.

Wir bekamen auch schnell mit, dass Verkäufer und Händler tendenziell gegensätzliche Interessen verfolgten. Die Trader versuchten, das Kapital der Firma zu schützen, die Verkäufer dagegen das ihrer Kunden, weil sie auf eine langfristige Beziehung bauten. Es leuchtete in der Tat nicht immer ein, dass es für die Bank von Vorteil war, wenn man dem Kunden einen Vorteil verschaffte. Oft war es sogar von Nachteil für die Bank. Wer seinen Kunden schützen wollte, musste ihm mitunter von riskanten Geschäften abraten und auf einen kurzfristigen Vorteil für das eigene Unternehmen verzichten. Deshalb hatte Goldmans langjähriger Chef Sidney Weinberg gefordert, das Unternehmen müsse «long-term greedy» sein – gierig mit Weitsicht.

Gewöhnlich war die Verteilung unter den Praktikanten ungefähr fifty-fifty: In den ersten Wochen des Sommers konzentrierte sich in etwa die eine Hälfte der Programmteilnehmer auf den Handel, die andere auf den Verkauf.

Ich freundete mich mit einem israelischen Praktikanten an. Er erzählte mir von einer kleinen, etwas unauffälligen Handelsgruppe im Saal, der Emerging Markets Sales, einer Untergruppe von New Markets Sales. Emerging Markets Sales verkaufte Aktien aus Schwellenländern aus Lateinamerika und Südostasien, aber auch aus Israel, Südafrika, Russland, Polen und der Türkei an institutionelle Investoren aus den USA wie Hedgefonds, Investmentfonds und Pensionskassen. New Markets Sales passte zu mir. Ich fand die Schwellenmärkte spannend und stammte selber aus Südafrika. Außerdem sprach ich ziemlich gut Hebräisch.

In der fünften Woche hatte ich dann Glück. Mein kleines Team und ich wurden für drei Tage dem Bereich Emerging Markets Sales zugeteilt.

Ein Praktikant, der schlau ist (was bedeutet: wild entschlossen), lässt sich immer wieder in dem Bereich blicken, der ihm besonders gefallen hat. Also fand ich mich in jeder Kaffeepause beim New-Markets-Sales-Team ein. Ich ließ mir Aufträge geben, um zu zeigen, was ich konnte. Ich erstellte Tabellen und schrieb Aktienberichte. Ich lernte denVPkennen, der den Bereich leitete: eine Frau, ziemlich unterkühlt, aber immer sachlich-korrekt. Und ich hatte auch mit ihrem Stellvertreter zu tun, einem Associate namens Rudy Glocker.

Rudy war fast zwei Meter groß und hatte an der Penn State für Joe Paterno als Tight End und Linebacker Football gespielt. Sein Spitzname war «das Tier». Irgendein Vorgesetzter hatte ihn so getauft – nicht nur wegen seiner Größe, sondern auch weil Rudy einfach nicht zu bremsen war. Vor sechs Uhr früh hatte er bereits mit mehreren Kunden telefoniert. Er war Anfang dreißig, schon ein bisschen alt für seine Position, doch er war viel herumgekommen. Nach dem College hatte er sich eine Auszeit genommen und in der ehemaligen Sowjetunion Sportartikel verkauft, als Football-Trainer gearbeitet und dann an der Harvard Business School studiert. Rudy war in gewisser Weise alte Schule. Er stammte aus dem ländlichen Pennsylvania und vertrat – politisch wie ökonomisch – konservative Werte. Er war ernst und puritanisch. Er spielte jeden Donnerstagabend Basketball. Seine Systeme waren immer tipptopp. Für Rudy war der Kunde König.

Rudy trat anderen auf die Füße. Er konnte bissig sein, und dabei war es ihm egal, mit wem er gerade sprach. Es kursiert eine Geschichte über Rudy und einen Goldman-Partner aus dem Bostoner Büro, wo Rudy später hinversetzt wurde. Er sollte mit dem Partner alle Goldman-Kunden aufsuchen, um Research-Perspektiven zu besprechen. Der Partner kam mit einem ganz offensichtlich schweren Aktenkoffer voller Unterlagen an, setzte diesen ab und sagte: «Rudy, nehmen Sie bitte den Aktenkoffer? Das macht Ihnen doch sicher nichts aus?» – «Kein Problem», entgegnete Rudy. «Und wenn Sie mir noch Ihre Schuhe geben, dann putz ich die auch noch schnell.» Rudys Chef, der dabeistand, reagierte prompt: «Rudy, in mein Büro – sofort.»

Zu Rudys Hauptaufgaben gehörte der Verkauf von IPOs (Initial Public Offerings), also Erstemissionen. Zu einem IPO kommt es, wenn eine zuvor nicht börsennotierte Gesellschaft erstmals öffentlich Aktien anbietet und diese Aktien erstmals an einer Börse wie der New York Stock Exchange (NYSE) gehandelt werden. Solche Erstemissionen können Interessenkonflikte bergen für eine Firma wie Goldman Sachs. Geht ein Unternehmen an die Börse, stellt die Bank, die den Börsengang betreut, ein Memo zusammen, in dem sie alle Gründe auflistet, weshalb ihre Kunden von der Transaktion begeistert sein sollten. Das Problem dabei ist, dass die Bank auf beiden Seiten steht. Zum einen sind ihr vielleicht Details bekannt, die gegen das Unternehmen sprechen, das an die Börse will, zum anderen versucht sie gleichzeitig, ihren Kunden die neuen Aktien schmackhaft zu machen und sich objektiv zu geben.

Rudy wägte das Für und Wider ab und sagte dann: «Stimmt, diese drei Aspekte sprechen für das Unternehmen, aber es gibt da auch drei Aspekte, die dagegen sprechen – und wir sollten unsere Kunden auch darüber informieren.» Es kam oft vor, dass ein Kunde anrief und fragte: «Was halten Sie von dieser Emission?» Dann sagte Rudy: «Gehen wird doch heute Nachmittag mal zusammen einen Kaffee trinken.» Beim Kaffee sagte er dann: «Ich will ehrlich zu Ihnen sein – das ist kein so gutes Geschäft. Investieren Sie nicht in dieses Unternehmen.» Rudys Offenheit, die seine Kunden so schätzten, sollte ihn später um seinen Posten bringen.

Am Ende des Sommers waren drei oder vier Praktikanten hinter der New-Markets-Sales-Stelle her, und sie brachten ganz ähnliche Qualifikationen mit wie ich.

Die ganze Zeit während des Praktikums spielte sich ein eigenartiges Ritual ab, so eine Art Balztanz. Der Praktikant und das Team, für das er arbeiten wollte, zeigten nach Möglichkeit Interesse aneinander – aber gleichzeitig nicht zu großes Interesse. Man sagte uns die Übernahme nicht definitiv zu (denn das ging nicht) – umgekehrt machten wir auch nicht deutlich, dass wir ein eventuelles Angebot auf jeden Fall annehmen würden, denn schließlich hatte man uns eingeschärft, stets einen Plan B parat zu haben. Ich fühlte mich allerdings so sehr zu New Markets Sales hingezogen, dass ich, soweit ich mich erinnere, keinen Plan B hatte.

Um also mein Interesse zu zeigen, bemühte ich mich ständig, Zeit mit Rudy und seiner kleinen Gruppe zu verbringen und sie zu unterstützen. In der achten Woche wies die Abteilungsleiterin von New Markets Rudy schließlich an: «Gehen Sie doch mal mit Greg essen.» Das sollte wohl zwei Zwecke erfüllen: «Fühlen Sie ihm noch mal gründlich auf den Zahn und signalisieren Sie ihm, dass wir an ihm interessiert sind.»

Die Angelegenheit wurde allmählich ernst. Mir war klar, was da vor sich ging, und ich war total aufgeregt. Ich wollte so gern in Rudys Team arbeiten. Es ging um Südafrika, um Israel. Die Abteilung bot mir den idealen Karriereeinstieg. Mit nur fünf Leuten fühlte ich mich dort gut aufgehoben. Ich wusste, dass ich mit ihnen auskommen würde. Und das Klima im Team war ebenfalls angenehm. Außerdem hatten Rudy und ich uns auf Anhieb verstanden. Je mehr ich über das Geschäft lernte, desto klarer erkannte ich, wie sehr es auf die Persönlichkeit ankam, und wir lagen da ganz auf einer Linie.

Wir gingen essen. Erst legten wir aber einen Zwischenstopp ein, um Rudys Wäsche von der Reinigung abzuholen. Die deponierte er dann in seiner Wohnung an der Ecke 62. und Lex. Ich war überrascht, dass alles so ungezwungen ablief. Ich hatte keine Vorstellung gehabt, was mich erwartete. Da sagte Rudy: «Wie wäre es mit Sushi?»

Heute, zwölf Jahre später, esse ich nichts lieber als Sushi. Damals hatte ich mich aber noch nicht an rohen Fisch herangewagt und zögerte. «Müssen Sie mal probieren», meinte Rudy. «Es wird Ihnen schmecken.» Nach den ersten Bissen Gelbschwanzfisch-Sashimi war meine Skepsis schnell verflogen.

Ich war ein bisschen nervös, doch im positiven Sinne. Rudy wollte mehr über mich und meinen Hintergrund wissen – das war der Prüfungsteil des Abends –, doch im Großen und Ganzen führten wir ein zwangloses Tischgespräch bei Sushi und Sapporo-Bier. Wir unterhielten uns auch über die anderen Mitglieder von Rudys Team. Dann merkte ich, dass ich am Zug war. Noch ein verzwicktes Detail des Rituals: Eins war uns Praktikanten sehr früh eingeschärft worden – wir durften nie voraussetzen, dass die Leute, für die wir arbeiteten, wussten, dass wir gern bei ihnen unterkommen würden. «Wenn Sie gern bei uns arbeiten wollen, dann sagen Sie das klar und deutlich», hatte es geheißen. Die Frage war nur, wann man es tat. Und für mich war der Moment gekommen. Ich beschloss, meine Karten auf den Tisch zu legen. Ich sagte, dass ich furchtbar gern für New Markets arbeiten würde. Rudy lächelte.

 

Am letzten Abend unseres Sommerpraktikums gingen etwa fünfzehn von uns – darunter auch ein paar Mädchen – abends ins Scores, den New Yorker Stripclub, den Howard Stern in seiner Radiosendung berühmt gemacht hatte. Wir plauderten, tranken und ließen die Blicke schweifen. Da winkte mir ein Praktikant – ein Asiate namens Jon – aus dem VIP-Bereich zu. (Jon war ein großer Genießer, der immer stolz davon berichtete, wenn er wieder im Le Bernardin oder im Daniel gegessen hatte, den besten Restaurants von New York. Er sollte später für einen Hedgefonds Milliarden Dollar verwalten.) Mit einem befreundeten Praktikanten, einem Perser, ging ich zur Absperrung, und Jon winkte uns am Türsteher vorbei. Eine aufregende Erfahrung. Nachdem wir eine Weile ein paar heißen Blondinen beim Tanzen zugesehen hatten, wollte man meinem persischen Freund und mir 750 Dollar pro Nase abknöpfen. Siebenhundertfünfzig! Das sprengte nun wirklich mein Budget. Ich wäre am nächsten Tag pleite gewesen. Mit drohenden Blicken und unfreundlichen Bemerkungen expedierte uns der Rausschmeißer durch die Hintertür nach draußen. Wir hatten noch Glück, dass er nicht handgreiflich wurde.

 

Abgesehen von kleineren Missgeschicken war es ein toller Sommer gewesen. Ich wusste, dass ich zu Goldman Sachs wollte. Doch wollte Goldman Sachs mich haben? Das Prozedere sah vor, dass die Firma sich nicht sofort festlegte. Wir mussten daher ein paar Wochen auf die schicksalhafte Entscheidung warten. Ich rechnete mir eine Chance von fünfundachtzig Prozent aus. Am letzten Tag kam ich zur Arbeit, verabschiedete mich von allen, die ich kannte, und bedankte mich für alles. Ich suchte meinen Praktikumsleiter auf, einen VP namens Mike, der mich vermutlich irgendwann anrufen und mir die Zu-oder Absage erteilen würde.

«Danke für alles, Mike», sagte ich.

«Sie haben sich wacker geschlagen, Greg. Wir melden uns», sagte er. Hoffnungsvoll wandte ich mich ab. «Oh, noch etwas», schickte Mike hinterher und grinste breit. «Sehen Sie zu, dass Sie genug Geld einstecken, wenn Sie das nächste Mal ausgehen.»

Manche Dinge sprechen sich an der Wall Street eben schnell herum.