Kapitel 6

Elefantenjagd

Die Weltöffentlichkeit sah erst ab 2008 die Anzeichen einer Finanzkrise, doch meine Kunden waren wie der Kanarienvogel im Bergwerk. Für unsere Abteilung wurde die Krise schon ein Jahr früher sichtbar. Ein erheblicher Teil meiner Kunden wurde ab dem Sommer 2007 Opfer einer sich massiv ausbreitenden «Quant-Kernschmelze», die ein Vorbote dessen war, was ein Jahr später passieren sollte.

Mit einem Quant (einem quantitativen Analysten) verbindet man an der Wall Street einen Computerfreak, der einen Doktortitel in einem Fach wie Physik, Angewandter Mathematik, Elektrotechnik oder Wirtschaftswissenschaft hat. In den Investmentbanken sind die Quants diejenigen, die die intellektuelle Schwerarbeit erledigen: Sie erstellen Finanzmodelle, mit denen Risiken abgesichert werden; sie erproben Formeln für die Preisgestaltung komplizierter Derivate; manchmal entwickeln sie strukturierte Produkte, die so komplex und undurchsichtig sind, dass ihr wahrer Wert für den Kunden unmöglich abzuschätzen ist – selbst dann nicht, wenn diese Produkte vielleicht genau auf ein Kundenbedürfnis hin entwickelt wurden. Solche strukturierten Produkte können den Banken der Wall Street Millionen an Profiten einbringen. Es ist nicht gerade eine glamouröse Arbeit, aber man darf sich davon nicht täuschen lassen: Quants können ihr Gewicht in Gold wert sein. Die besten von ihnen verdienen Millionen im Jahr. Das ist der Grund, warum viele Naturwissenschaftler und Ingenieure ihre Berufe aufgeben und dem Lockruf der Finanzbranche folgen, weil sie hier das Fünffache verdienen können.

Einige Quants haben sich selbständig gemacht und quantitative Hedgefonds gegründet. Sie verlassen sich auf ihre Intelligenz und auf die Modelle, die sie erstellt haben, um überdurchschnittliche Renditen für sich selbst und ihre Investoren zu erzielen. (Wenn Sie an der Wall Street jemanden von einer «Blackbox» reden hören, dann ist keine reale Kiste gemeint. Es ist das Computermodell, das einer dieser Quants entwickelt hat.) Mein Job war es, die größten Quant-Fonds der Wall Street zu betreuen – besonders Goldmans Vorzeigefonds Global Alpha, geleitet von Mark Carhart und Ray Iwanowski, AQR Capital, geleitet von Cliff Asness, und Bridgewater Associates, geleitet von Ray Dalio. Ich hatte vor allem mit der jeweiligen Trading-Abteilung dieser Fonds zu tun. Im Jahr 2007 hielten allein diese drei Manager Vermögenswerte von fast 100 Milliarden Dollar – und wenn man sagt, dass sie im Sommer 2007 ein paar Probleme bekamen, dann ist das ein riesiges Understatement.

Der Name Global Alpha war typisch Goldman Sachs: Alpha ist nicht nur ein Begriff, mit dem Primatenforscher den großen, an einem Ast schaukelnden Affen bezeichnen, den Chef der Horde – in der Finanzterminologie bezeichnet Alpha die Überrendite, die ein Investment im Vergleich zu seiner Benchmark einbringt.

Global Alpha war in den Neunzigern von Cliff Asness begründet worden. Asness hatte den Ruf, mehr als hochintelligent zu sein. Manche Leute sagten, er könne Löffel verbiegen, indem er sie nur anschaute. Er hatte in Chicago unter dem Wirtschaftsliberalen Eugene Fama studiert und einen Doktortitel in Finanzwirtschaft erworben. Asness hatte ein Blackbox-Computermodell entwickelt, das auf wirkungsvolle Weise die Prinzipien von Value Investing (man kauft unterbewertete Aktien, Obligationen, Währungen und Rohstoffe und hält sie, bis der Preis steigt) und Momentum Investing kombinierte (man kauft und verkauft Wertpapiere entsprechend ihrer Entwicklung über einen gewissen Zeitraum). Das Modell war entwickelt worden, um Anomalien (fehlbewertete Wertpapiere) auszunutzen, und es lieferte derart eindrucksvolle Resultate, dass Asness 1997, inmitten der immer größer werdenden Dotcom-Blase, Goldman verließ, um seinen eigenen Hedgefonds zu gründen: AQR Capital.

Nachdem er gegangen war, hatten seine beiden Stellvertreter Carhart und Iwanowski die Leitung übernommen. Sie behielten Asness’ Modell der quantitativen Strategien mehr oder weniger bei und versuchten, es im Lauf der Zeit immer weiter zu verbessern. Dieses Computerprogramm konnte schneller als jeder Mensch entscheiden, wann man kaufen und wann verkaufen sollte. Carharts und Iwanowskis Blackbox druckte die nächsten zehn Jahre lang praktisch Geld für die Firma – selbst während der Rezession von 2002 bis 2005. Von 2005 bis 2007 waren die Ergebnisse sogar noch spektakulärer. In den Medien wurde spekuliert, dass Mark und Ray um die 20 Millionen Dollar im Jahr verdienten. Global Alpha war der ganze Stolz (und eine stete Quelle riesiger Profite) der Firma – das ging so weit, dass Neider uns als einen einzigen riesigen Hedgefonds bezeichneten.

Ich hatte einen Logenplatz mit Blick auf diese Welt: Im Bereich Derivatives Sales stellten Quant-Hedgefonds einen großen Teil meines Kundenstamms, und einer meiner wichtigsten Kunden war Global Alpha. Das mag seltsam klingen – wie kann es angehen, dass ich eine Kundenbeziehung mit einem anderen Teil des Goldman-Reiches unterhielt? Doch die Chinesische Mauer, die zwischen den Abteilungen von Goldman Sachs gezogen war, machte es tatsächlich möglich. Ich durfte im Auftrag von Global Alpha Provisionsgeschäfte abwickeln mit Futures, Optionen oder Aktien an einer Börse wie der CME in Chicago oder der NYSE. Aus Compliance-Gründen durfte ich für diesen Kunden jedoch keinen «Eigenhandel» abwickeln – also Transaktionen, bei denen Goldman Sachs eigenes Geld hätte einsetzen müssen, um als Gegenseite in einem Handel mit Global Alpha aufzutreten. Solche Transaktionen können versteckte Kosten beinhalten, die man «Imbedded Spreads» nennt – im Gegensatz zu den pauschalen Gebühren, die im Provisionsgeschäft fällig wurden. 1

Doch lange Zeit waren die Provisionen, die Global Alpha generierte, ein großes Geschäft für unsere Abteilung und für mich – aufgrund der Größe des Fonds und der Dimension der Transaktionen summierten sie sich auf Millionen von Dollar. Und dann kam der Sommer 2007, und plötzlich musste ich mit ansehen, wie Carharts, Iwanowskis und Asness’ wunderbare Blackbox plötzlich einen Tag lang, zwei Tage lang, dann drei Tage und schließlich eine ganze Woche lang die Arbeit einstellte.

Das grundsätzliche Problem bei Computermodellen im Wertpapierhandel ist, dass sie die Außenwelt nicht mitberücksichtigen. Sie denken nicht. Die Psychologie bleibt bei ihren Berechnungen notgedrungen außen vor. Anders als Gary Cohn auf dem Rohstoffparkett können sie nicht das Weiße im Auge der anderen sehen. Und Gary hat sehr erfolgreich demonstriert, dass ein großer Teil des Handels darauf basiert, dass man die Emotionen anderer Händler versteht. Haben sie Angst? Sind sie in Panik?

Im Sommer 2007 schlich sich Angst in die Märkte ein, und die Computermodelle waren nicht in der Lage, auf diese Gefühlslage zu reagieren. Meine Kollegen und ich begannen, uns um Global Alpha und AQR Sorgen zu machen, als wir eine merkwürdige Veränderung an den Vitalfunktionen dieser Fonds bemerkten. Wir verfolgten immer, wie dicht die Performance dieser Fonds an einer Benchmark wie etwa dem S&P 500 blieb (jenem Index von fünfhundert Aktien, der als eine Art Blutdruckmessgerät für den Aktienmarkt fungiert). Normalerweise werden die Quant-Fonds mit nicht mehr als 10 bis 15 Basispunkten Unterschied zum S&P gehandelt (ein Basispunkt – kurz «Bp» – entspricht einem Hundertstel Prozentpunkt: 100 Basispunkte gleich ein Prozent).

Im Sommer 2007 wichen AQR und Global Alpha um mehr als 250 Basispunkte vom S&P 500 ab. Vollkommen unnormal.

Wir mussten herausfinden, was da vor sich ging – und um zu verstehen, was bei einer «Quant-Kernschmelze» tatsächlich passiert, muss man mit einem Quant reden. Glücklicherweise hatten wir eine Vertreterin dieser Zunft in unserem Team. Wie Cliff Asness hatte Helga einen Doktortitel in Wirtschaftswissenschaft der Universität Chicago, und sie kontaktierte andere Experten, die bei anderen Banken und Hedgefonds beschäftigt waren. Dann erklärte sie uns, dass die Quant-Fonds offenbar Opfer ihres eigenen Erfolges wurden. Es gab einfach zu viele von ihnen. Nicht nur AQR und Global Alpha benutzten dieses Modell. Es gab auch noch andere große, von «Wissenschaftlern» gemanagte Fonds, die mit Variationen von Cliffs Spezialrezept arbeiteten: Da gab es James Simons und Ray Dalio und D. E. Shaw und viele andere. Dass alle diese Unternehmen mit dem mehr oder weniger gleichen Modell arbeiteten, hatte zur Folge, dass Investmentchancen in stark kapitalisierten Märkten regelrecht belagert wurden, deshalb suchten die Computer zunehmend nach weniger liquiden und weniger breit gestreuten Investments. Je ausgefallener ein Wertpapier ist, desto weniger Käufer und Verkäufer gibt es dafür, deshalb kann es schwierig werden, eines dieser Investments zu realisieren. Obwohl Quants viel über die Gefahren von fehlender Liquidität nachdenken, unterlief ihnen an dieser Stelle ein Fehler: Sie konnten sich nicht vorstellen, dass alle zur gleichen Zeit aussteigen wollen. Sie waren so hypnotisiert von ihrem nicht enden wollenden Erfolg, dass sie einfach immer weiter das machten, was das Computermodell ihnen sagte.

Wenn der Computer ausspuckte: «10 000 Aktien von Lukoil kaufen», dann kauften Trader des Fonds den russischen Ölkonzern. Wenn der Computer sagte: «Maiweizen-Futures verkaufen», dann verkauften die Trader. Die Programme suchten nach immer ausgefalleneren Wertpapieren mit Bewertungsanomalien – und die FondsManager handelten weiter. Und es wurden keine Fragen gestellt.

Und dann plötzlich sagten alle Computer: Verkaufen. Ironischerweise steckte hinter dieser Angst im Markt eigentlich etwas ganz anderes. Es ging um Schwankungen im Markt der Subprime-Hypotheken. Das hatte nichts mit Mathematik zu tun, aber sehr viel mit Emotionen.

Aber das war den Computern natürlich egal. Sie hatten vorher gewusst, was zu tun war, und sie wussten es auch jetzt. Für den Computer war verkaufen sinnvoll, und es kommt sehr selten vor, dass Quants ihrem Computer widersprechen. Es gab zwei Probleme, und beide waren gewaltig: Erstens waren die ausgefallenen Wertpapiere, die die Computer realisieren wollten, illiquid, und zweitens gab es, weil alle Computer das Gleiche sagten, kaum Käufer.

Es war, als hätte jemand in einem überfüllten Theater mit verschlossenen Ausgängen «Feuer!» geschrien.

Auf einen Schlag begannen im August 2007 die Computermodelle der Quants zu implodieren. Jedermann versuchte zur gleichen Zeit, die gleichen Wertpapiere loszuwerden, und als die Preise immer weiter fielen, fingen die Fonds an, Geld zu verlieren. Hinzu kam: Investoren dieser Fonds gerieten in Panik und verlangten, ausbezahlt zu werden. Dieser Doppelschlag durch verrücktspielende Blackboxes und massiven Ausstieg von Investoren brachten einige der größten Kunden meiner Abteilung zu Fall. AQR überlebte, weil die Firma auch andere Arten von Fonds aufgelegt hatte, die vor allem Privatanleger ansprachen. Goldmans eigener Quant-Fonds hatte weniger Glück. Der Aktienbesitz von Global Alpha fiel in diesem Sommer um mehr als dreißig Prozent, und der Fonds erholte sich im Grunde nie mehr. Seine beiden Manager warfen 2009 hin, und die Firma schloss den Fonds im Jahr 2011.

Der Sommer 2007 zerrte an den Nerven. Was ist hier los?, fragte sich jeder. Dieser Markt ergibt keinen Sinn. Kollegen sagten ihren Urlaub ab, weil sie sich nicht trauten, ihren Schreibtisch zu verlassen, bevor die Schwankungen aufgehört hatten. Die Wall Street liebt Berechenbarkeit, und plötzlich war jegliche Berechenbarkeit zum Teufel gegangen. Jegliche Zuversicht war verschwunden. Kunden handelten nicht mehr. Es war traurig, mit anzusehen, wie der Auftragsfluss von Kunden wie Global Alpha immer spärlicher wurde. Bei einigen dieser Quant-Fonds, die zu den größten Provisionszahlern der Wall Street gehört hatten, schrumpften die jährlichen Provisionen von mehreren Millionen Dollar auf Tausenderbeträge zusammen. Das wirtschaftliche Umfeld war hart nach dem Sommer 2007. Wir alle suchten nach neuen Ideen.

Laut unserem Management bestand eine Lösung darin, auf «Elefantenjagd» zu gehen. In den sogenannten «Townhall-Meetings», die vierteljährlich intern in den einzelnen Abteilungen stattfanden, gab es oft einen eigenen Tagesordnungspunkt für das Belobigen von Verkäufern, die «Elefanten-Geschäfte» abgeschlossen hatten.

In guten Zeiten war das Provisionsgeschäft mit transparenten, festen Gebühren eine stetige Einnahmequelle, die dafür sorgte, dass die Lichter nicht ausgingen: Es war ein Volumengeschäft. Doch wenn die Kasse nicht klingelte – wie es nun der Fall war –, dann mussten neue Geschäftswege gefunden werden.

Womit könnte man verlorene Umsätze am schnellsten kompensieren? Produkte, die schnell griffen, in denen eine hohe Marge angelegt war. Eine Faustregel an der Wall Street lautet: Je weniger transparent ein Produkt ist, desto mehr Geld für die Firma ist darin versteckt. Sogenannte «OTC-Derivate», die außerbörslich («over the counter») gehandelt werden, und strukturierte Produkte (komplexe, intransparente Derivate mit allen möglichen Finessen) waren das Geschäft, dem man sich zuwenden musste.

Matt Ricci, der Chef meines Chefs, hatte den Begriff des «Elefanten-Geschäfts» geprägt – für Deals, bei denen für Goldman mindestens eine Million Dollar an verfügbarem Gewinn übrig blieb. Wenn man eine solche Transaktion abschloss, dann erschien der Profit neben dem eigenen Namen in Gestalt des sogenannten «Gross Credit» (GC). (Matt Ricci hatte die Firma bereits Anfang 2007 verlassen, um zu einer anderen Bank zu wechseln.)

Ein Kunde, der Goldman ein «Elefanten-Geschäft» bescherte, war die libysche Regierung, die der Bank 1,3 Milliarden Dollar gab, um sie in ein Produkt zu investieren, dass eine Währungswette mit Call-Optionen auf große liquide Aktien wie Citigroup, Unicredit, Santander oder Allianz verband. Diese Wette – abgeschlossen kurz vor der Finanzkrise – sollte Libyen schon bald bereuen. Seine 1,3 Milliarden waren in kürzester Zeit verdampft – einfach weg. Ich konnte nicht glauben, dass Goldman Sachs wirklich mit Muammar al-Gaddafi und seinem Finanzminister ins Bett steigen wollte. Solche Geschäfte hätte die Firma vor ein paar Jahren garantiert abgelehnt, aus Angst vor dem möglichen Rufschaden, wenn bekannt wurde, dass man ein Land zu seinen Kunden zählte, das von der US-Regierung offiziell als Terroristenstaat bezeichnet wurde. Doch die Margen waren so groß, dass es offensichtlich schwerfiel, nein zu sagen.

Die Zeiten hatten sich endgültig geändert. Goldman und die Wall Street insgesamt wurden immer besser darin, die Angst und die Gier der Kunden gleichermaßen zu schüren. Das Verkaufsargument geht ungefähr so: «Die Welt geht in Stücke. Sie brauchen ein Wundermittel, um sich zu schützen und um ihre Wettbewerber auszustechen. Sie sollten dieses strukturierte Derivat-Produkt handeln, dass wir speziell auf Ihre Bedürfnisse zugeschnitten haben.»

Das Problem war: Es gab kein Wundermittel. Klar, die Kunden waren dumm, wenn sie diese Produkte handelten, andererseits glaube ich aber nicht, dass sie das Fachwissen mitbrachten, um sie zu verstehen, und ich glaube auch nicht, dass Nutzen und Risiken ihnen objektiv präsentiert wurden.

 

Es war dieses Klima der Angst, das meinem Kollegen Bobby Schwartz, dem «jüdischen John Kennedy», einen kometenhaften Aufstieg bei Goldman Sachs ermöglichte.

Ich lernte Bobby Ende 2002 kennen, als ich im zweiten Jahr Analyst war, zu Beginn meiner Zeit bei Corey Stevens in der Futures-Abteilung. Bobby war Analyst im dritten Jahr, ein Jahr älter als ich und ein seltsamer Bursche. Er war gutaussehend und sportlich, hatte dichtes Haar und diesen typischen Kennedy-Haarschnitt (daher sein Spitzname), gleichzeitig aber war er sozial völlig unbeholfen. Vieles von dem, was er sagte, klang, als wäre er ein bisschen vertrottelt. Er hatte eine erstaunliche Fähigkeit, komplexe Berechnungen im Kopf anzustellen, gleichzeitig war er extrem zerstreut. Er war ein Mathe-Nerd im Körper eines Dressmans – die beiden Hälften von Jerry Lewis’ Verrücktem Professor in einer Person.

Bobby hatte keinen einfachen Start bei Goldman, er kam hin und wieder zu spät zur Arbeit, und beim Handeln unterliefen ihm Fehler. Er vergaß Orders, kaufte, anstatt zu verkaufen, vertippte sich bei Multiplikatoren. Wer ihn zu dieser Zeit sah, dachte sich: Der überlebt hier nicht lange. Jedenfalls dachte ich es. Und doch blieb er irgendwie dabei, lernte langsam, aber sicher die Kunst der sozialen Interaktion und schaffte es, dass ein paar Vorgesetzte ihn mochten.

Als die Kunden im Sommer 2007 anfingen, in Panik zu geraten, war Bobby der richtige Mann für sie. Mit seinen quantitativen Fähigkeiten war es ihm ein Leichtes, intelligente, aber verängstigte Menschen von Transaktionen zu überzeugen, die der Firma erhebliche Mengen Geld einbrachten: dem Handel mit extrem komplexen strukturierten Produkten. Wenn der Kunde sagte: «Können Sie mir das erklären?», sagte er: «Natürlich – hier ist die mathematische Formel.» Und dann ging er sie Schritt für Schritt mit dem Kunden durch, das heißt, manchmal übersprang er auch den einen oder anderen Schritt, weil sein Kopf so schnell arbeitete.

Während die Märkte fielen, war Bobbys Stern am Steigen. Er musste mit seinen Ideen nicht die Kunden anrufen, die verängstigten Kunden riefen ihn an, und er berechnete ihnen für das Privileg, mit uns handeln zu dürfen, enorme Imbedded Spreads – Aufschläge, die für den Kunden nicht immer transparent waren. Und mit dem Wachsen seiner Umsätze wuchs auch sein Ego.

Er kam um neun Uhr morgens ins Büro, wenn alle anderen bereits um 6 : 45 Uhr erschienen waren. Er ging pünktlich um 16 : 16 Uhr, eine Minute nachdem der amerikanische Markt für Aktien-Futures geschlossen hatte. In der Derivate-Abteilung gab es zwei junge Burschen, die ihm den Rücken frei hielten, sich aber oft beklagten: Sie machten die ganze Arbeit, und er heimste den Ruhm und das Geld ein.

Aber Geld regiert die Welt. Da Bobby es schaffte, diese ernormen Einnahmen zu machen, konnte er kommen und gehen, wie es ihm gefiel. Niemand wusste, wo er war. Wenn jemand ihn fragte, warum er erst mittags zur Arbeit erschienen war, erklärte er mit vollkommen ernster Miene, dass er bei der Physiotherapie gewesen sei. Er war Marathonläufer, also war das plausibel. Trotzdem wurde diese Antwort zum Running Gag: «Wo ist Bobby?» – «Physiotherapie.» Augen verdrehen. Er machte, was er wollte, und die Firma sagte nichts, weil man Angst hatte, ihn und seine Umsätze zu verlieren.

Und so war Bobby quasi im Handumdrehen vom Trottel zum coolen Typen geworden. Er nahm an Charity-Events in Manhattan und in den Hamptons teil. Er ging mit Models aus. Zu Tim Connors Hochzeit erschien er in Begleitung einer umwerfend gutaussehenden jungen Frau, die er eigens zu diesem Anlass aus London nach Martha’s Vineyard hatte einfliegen lassen. Ich stellte fest, dass sie ursprünglich aus Südafrika stammte (was an ihrem Akzent unschwer zu erkennen war), und ich erfuhr, dass sie eine Oppenheimer war, also aus einer der reichsten Familien der Welt stammte. Bobby fuhr mit einer Vespa zur Arbeit und kaufte einen Anteil an der Surf Lodge, die zu der Zeit der angesagte neue Szene-Club in Montauk war.

Die Partner liebten das alles. Einige von ihnen versuchten, sich an Bobby dranzuhängen, wenn er ausging (was er an fast jedem Abend der Woche tat), weil sie hofften, ein wenig von seiner Coolness würde auf sie abfärben. Und Bobby glaubte an seine eigene PR. Er prahlte mit dem Geld, das er verdient hatte, mit den Apartments, die er gekauft hatte. Er war ein «Master of the Universe» geworden, während die Finanzmärkte einbrachen. Ein Regenmacher inmitten des Hurrikans.

 

Am 16. März 2008 schaute ich mir im Fernsehen gerade die Ausgabe von Meet the Press vom vergangenen Sonntag an, die ich aufgezeichnet hatte, als ich auf meinem BlackBerry die Nachricht sah, JPMorgan Chase habe Bear Stearns für zwei Dollar pro Aktie gekauft. Zuerst hielt ich diese Zahl für einen Tippfehler. Noch im Januar 2007 war Bear Stearns für 172 Dollar pro Aktie gehandelt worden und vor gerade einmal einem Monat, im Februar 2008, immer noch für 93 Dollar. Das Unternehmen hatte kurz zuvor einen glänzenden neuen Büroturm an der Madison Avenue fertig gestellt. Schon das Gebäude war 5 Dollar pro Aktie wert.

Aber es handelte sich nicht um einen Tippfehler. Der Hintergrund war, dass die New Yorker Niederlassung der Federal Reserve JPMorgan Chase einen 30-Milliarden-Dollar-Kredit gewährt hatte (immer noch besichert durch die unbelasteten Vermögenswerte von Bear Stearns), um das Unternehmen für 2 Dollar pro Aktie zu kaufen – sieben Prozent des Marktwertes, den es vor dem Wochenende gehabt hatte.

Die Leute zählten zwei und zwei zusammen und erkannten sofort den Grund für den Spottpreis: Die Aktiva in der Bear-Stearns-Bilanz waren so toxisch, dass JPMorgan in Wirklichkeit Milliarden von Dollar an unmittelbaren Verlusten erwarb. Dennoch hatte der Verkauf den Ruch eines Gefälligkeitsdeals, und bald begann man in der Finanzwelt der Federal Reserve vorzuwerfen, sie habe das Unternehmen unter Wert an JPMorgan verscherbelt. Letztendlich erhöhte Jamie Dimon von JPMorgan den Kaufpreis auf 10 Dollar pro Aktie, was aber immer noch ziemlich günstig war.

Doch selbst zu diesem Zeitpunkt herrschte, trotz des taumelnden Hypothekenmarktes, noch immer die Ansicht vor, der Sturz von Bear Stearns sei nur eine Panne gewesen.

Im Handelssaal von Goldman war man sich an diesem Montag einig, dass Bear sich einfach zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte. Christopher Cox, der damalige Chef der Börsenaufsicht, erklärte, Grund für den Untergang von Bear Stearns sei eine Vertrauenskrise der Investoren gewesen und weniger ein Mangel an Kapital, kurz gesagt: ein Run auf die Bank. Darin steckte mehr als ein Körnchen Wahrheit, doch in unserer Abteilung war man überzeugt davon, dass Bear eine Firma mit einem unverantwortlich großen Appetit auf Risiko gewesen war und dass mit Goldman so etwas nie passieren konnte. Wir waren einfach intelligenter und besser.

Dennoch machte sich die Angst breit, dass andere Banken Probleme bekommen könnten. Alle brauchten liquide Mittel, aber niemand wollte sie leihen. Die Kosten für langfristige sichere Kredite waren für die verbliebenen reinen Investmentbanken – Lehman Brothers, Merrill Lynch, Morgan Stanley und Goldman Sachs – plötzlich sehr hoch. Investmentbanken hatten keine Kontoinhaber, sie führten keine Girokonten für das Familieneinkommen – und ebenso wenig hatten sie Zugang zu billigen Finanzierungen über das Kreditfenster der Federal Reserve.

Um also Geld hereinzubekommen – als Sicherheitsreserve zur Stabilisierung der Bilanz oder zum «Weiterverpfänden» (Umschichten) für irgendwelche Geschäfte, die die Firma gerade im Sinn hatte –, dachten sich Goldman Sachs und die anderen Banken den «Funding-Handel» aus.

Es funktionierte so: Ein Kunde – sagen wir, ein deutscher oder holländischer oder amerikanischer Vermögensverwalter, eine Pensionskasse oder ein Staatsfonds aus Asien oder Nahost – gab der Firma eine substanzielle Menge Geld (sagen wir 500 Millionen Dollar) für die Dauer eines Jahres. Dafür garantierte die Firma, dem Kunden die Rendite einer von ihm ausgewählten Benchmark (sagen wir des S&P-500-Index oder des Russell-2000-Index) zu zahlen plus einen zusätzlichen, sehr großen Kupon (sagen wir zwei Prozent – ein Satz, den der Kunde nirgendwo anders bekommen hätte). Im Endeffekt konnte sich Goldman auf diese Weise große Geldsummen gegen zwei Prozent Zinsen leihen, im Gegensatz zu realen Kreditkosten von vielleicht vier Prozent.

Das war der Vorteil für Goldman. Der Haken für den Kunden bestand darin, dass der ein sogenanntes Gegenparteirisiko in Kauf nahm – was vollkommen in Ordnung aus der Sicht von Investmentbankern wie Lloyd Blankfein, aber für Laien überaus heikel ist, denn es besteht schlicht und einfach darin, dass, wenn Goldman Sachs Bankrott machte, sich auch das Geld des Kunden in Luft auflösen würde.

Aber wie wahrscheinlich war es, dass Goldman Sachs – Goldman Sachs – Bankrott machte? Das konne ja gar nicht passieren. Bear Stearns war dumm gewesen, einen so großen Teil seines Geschäfts in Subprime-Hypotheken festzulegen. (In Wirklichkeit war es dumm gewesen, so viel auf Subprime-Hypotheken zu wetten und nicht dagegen.)

Ich sagte zu meinen Kunden: «Hören Sie, Sie müssen eine Entscheidung treffen. Glauben Sie, dass Goldman Sachs Bankrott machen wird? Wenn die Antwort auf diese Frage für Sie ja lautet, dann sollten sie die Finger vom Funding-Handel lassen. Wenn Sie aber glauben, dass Goldman Sachs in einem Jahr noch da sein wird, dann sollten Sie dieses Geschäft machen, denn damit werden Sie Ihre Benchmark um zwei Prozent übertreffen, und diese zwei Prozent werden Ihr Jahr retten.» Im Winter 2008 fiel es mir leicht, dieses Verkaufsargument vorzutragen, ohne eine Miene zu verziehen. Trotz der Bear-Stearns-Geschichte hielt ich eine Insolvenz von Goldman Sachs für etwa so wahrscheinlich wie dass uns der Himmel auf den Kopf fallen würde. Andere Dominosteine mochten umfallen, aber wir würden der letzte sein, der stehen blieb.

Viele der Kunden, die den Funding-Handel mitmachten, sollten es noch vor Ende des Jahres bereuen. Als im Herbst – auf dem Höhepunkt der Finanzkrise – jede Woche ein neues Finanzinstitut den Bach runterging, wollten zahlreiche Kunden ihr Geld vorzeitig zurückhaben. Einige Banken reagierten maßvoll auf diesen Wunsch und sagten ihren Kunden: «Sie können Ihr Geld zurückhaben – zu fünfundsiebzig bis achtzig Prozent vom Nominalwert. Wir werden einen Betrag daran verdienen, der den aktuellen Aufruhr der Finanzwelt widerspiegelt, aber wir werden Ihnen nicht das letzte Hemd ausziehen.» Goldman Sachs dagegen machte es seinen Kunden sehr viel schwerer, um nicht zu sagen unmöglich, ihr Geld zurückzubekommen. Unter extrem enger Auslegung der «Auflösungsklauseln» in den Verträgen bot Goldman den Kunden weit weniger als die anderen Banken – vielleicht sechzig Prozent vom Nominalwert. Damit verärgerte man eine Reihe von wichtigen Institutionen. Es gibt große Kunden in Europa, die aufgrund des damaligen Verhaltens von Goldman bis zum heutigen Tag keine Geschäfte mehr mit der Firma machen.

«Unsere Aktivposten sind unsere Leute, unser Kapital und unser Ruf. Und kein Verlust wiegt schwerer als der des Letzteren.» Das ist der zweite der «Vierzehn Grundsätze» von Goldman Sachs. Der Kommentar, den einer der europäischen Partner während der Krise abgab, brachte auf den Punkt, wie weit sich Goldmans Geschäftsprinzipien mittlerweile davon entfernt hatten. Einige Kollegen im Sales waren während der Krise extrem frustriert, weil sie die Trader nicht dazu bewegen konnten, den Kunden faire Preise zu machen. Sie wandten sich in dieser Angelegenheit an den Partner, und der gab ihnen zur Antwort: «Wenn ich mich zwischen meinem Ruf und meinem Betriebsergebnis entscheiden muss, dann entscheide ich mich für mein Betriebsergebnis. Mein Ruf lässt sich wiederherstellen, aber mein Geld ist futsch.»

 

Im April 2008, ein paar Wochen nach dem Untergang von Bear Stearns, bestieg ich ein Flugzeug und flog über den Pazifik, um einen wichtigen Kunden in Asien zu besuchen. Ich reiste zusammen mit einem anderenVPund einem Partner namens Brett Silverman. Brett war nach der Business School zu Goldman gekommen und hatte sich in der Hoch-Zeit der Dotcom-Blase mit dem Handel von Bluechip-Technologiewerten (wie Microsoft) einen Namen gemacht. Er war ein Kulturträger, den man mit siebenunddreißig zum Partner gemacht hatte.

Nach der üblichen offiziellen Begrüßung trafen wir uns mit den Kunden in ihren Büros in einem Wolkenkratzer hoch über der asiatischen Metropole, mit einem phantastischen Rundblick. Wie üblich standen die Kunden – fünf insgesamt, darunter die Leiter des Portfoliomanagements und des Risikomanagements – auf einer Seite des Tisches. Wir drei waren auf der anderen Seite und warteten höflich, bis sich die Kunden zuerst hingesetzt hatten. Der Blick des Fonds-Chefs verriet Unsicherheit. Er suchte nach Orientierung. «Was denkt Goldman Sachs?», fragte er. «Sind wir über den Berg? Ist das Schlimmste überstanden?»

Brett schaute dem Kunden in die Augen. «Ich bin sehr optimistisch», sagte er. «Ich halte das für eine Anomalie. Ich glaube, die Lage wird sich bessern. Ich an Ihrer Stelle würde in den Markt einsteigen.»

Das hieß, er würde Aktien kaufen.

Ich saß überrascht daneben und wunderte mich über diese seltsame Aussage – nach allem, was ich gehört und gesehen hatte, gab es nicht viele Hinweise darauf, dass ein solcher Optimismus gerechtfertigt war.

War er naiv? Es ist komisch, ein solches Wort auf einen Goldman-Sachs-Partner anzuwenden – einen Mann, der zehn Ebenen über mir rangierte und geschätzte 5 Millionen Dollar im Jahr verdiente. Aber in diesem Moment kam es mir tatsächlich so vor. Eine der fünf größten Investmentbanken der USA ist gerade lebendig aufgefressen worden, und du gibst den Kunden grünes Licht? Es ergab für mich keinen Sinn.

Wenn er das ehrlich meinte – und ich halte das durchaus für möglich –, hätte er angesichts dessen, was uns in diesem Herbst noch bevorstand, nicht extremer danebenliegen können.

Ich war zwei Tage mit Brett Silverman unterwegs, und er wirkte wirklich gelassen. An diesem Abend lud er mich, den anderen VP und meine beiden asiatischen Ansprechpartner in ein traditionelles Restaurant in der Stadt ein. Wir saßen auf Matten auf dem Boden an einem niedrigen Tisch. Bevor die Kunden ankamen, zog Brett sein iPhone hervor. Das iPhone war nicht lange auf dem Markt, und es war noch etwas Ungewöhnliches, sich darauf ein Video anzuschauen. Und Brett hatte uns etwas ganz Besonderes zu zeigen: Er war es, der das berühmte Ulk-Video gedreht hatte – im Versteckte-Kamera-Stil –, das auf der Goldman-Weihnachtsfeier im vergangenen Dezember gezeigt worden war. Es war wirklich sehr witzig, und man konnte es sich gut noch einmal ansehen, solange wir warten mussten.

Brett hatte damals in einem der Konferenzräume der Firma versteckte Kameras angebracht und einen Schauspieler engagiert, der einen vielversprechenden Jobkandidaten darstellte, der angeblich gerade 100 Millionen Dollar für eine andere Bank verdient hatte und den wir abwerben wollten. Nun sollte er von mehreren Goldman-Partnern, die alle nichts von dem Scherz wussten, interviewt werden. Brett hatte allen Partnern erzählt, dieser Bursche sei großartig, wir müssten ihn unbedingt an Bord holen. Doch als die Partner hereinkamen, führte er sich wie ein komplettes Arschloch auf, legte seine Füße auf den Tisch und unterbrach seinen Gesprächspartner mit der Frage, ob er ihm etwas zu essen bestellen könnte. Als er ein Sandwich bekam, steckte er sich die Serviette in den Hemdkragen. Die Interviewer waren ausnahmslos hohe Tiere in der Firma, und langsam begann ihr Blutdruck zu steigen, und sie wurden ungehalten.

Einer von ihnen fragte den Kandidaten: «Was sind Ihre Ideale?»

«Mein Ideal wäre es, zwei Hubschrauber zu haben», sagte der Kerl mit völlig ernster Miene. «Ich würde gern Ski fahren, und ein Hubschrauber würde mich oben absetzen, und wenn ich unten ankomme, wäre der andere dran.»

Schließlich war das Gespräch zu Ende. «Haben Sie noch Fragen an uns?», sagte einer der Partner.

«Ich habe eine Reihe von psychischen Problemen», sagte der Kandidat. «Wie sieht die betriebliche Krankenversicherung für psychiatrische Behandlungen aus?»

Als die asiatischen Fondsmanager auftauchten, lagen wir drei vor Lachen am Boden. Wir hatten ein wundervolles Essen in gelöster Stimmung – das Gespräch drehte sich meist um andere Dinge als das Geschäft. Vielleicht war ja doch alles in Ordnung.

 

Im Sommer 2008 kehrte an den Märkten eine seltsame Ruhe ein. Jeder wartete auf die nächste Hiobsbotschaft. Niemand wusste, was als Nächstes passieren würde – nicht einmal Finanzminister Hank Paulson und der Chef der New Yorker Federal Reserve, Tim Geithner. Rückblickend hätten Paulson und Geithner sicherlich besser daran getan, etwas intensiver an einem Notfallplan zu arbeiten. Es gab Finanzanalysten an der Wall Street, die prophezeiten, dass es zu einer Kettenreaktion kommen würde, dass eine Bank nach der anderen ins Wanken geraten könnte, von der kleinsten und schwächsten bis zur größten und stärksten. Es wurde bereits spekuliert, welche als Nächste dran wäre.

Am Freitag, dem 12. September 2008, wusste jeder, dass nun für Lehman Brothers der Tag der Abrechnung gekommen war – entweder würde jemand sie retten, oder sie mussten Insolvenz anmelden. Tief in meinem Inneren glaubte ich nicht, dass man zulassen würde, dass es so weit kommen würde, aber es gab auch den Gedanken, dass es vielleicht das Richtige wäre, wenn es dazu kam. Sterbende Tiere soll man sterben lassen. Als ich an diesem Tag das Büro verließ, wusste ich, dass die Ereignisse des Wochenendes entscheidend sein würden – aber es gab nichts, was ich oder ein anderer der unzähligen Menschen an der Wall Street hätte tun können, außer am Fernseher und an unseren BlackBerrys zu hängen. Wir warteten auf Nachrichten von der Federal Reserve, wo die Chefs der mächtigsten Finanzinstitutionen des Landes mit Paulson und Geithner zusammensaßen und versuchten, die härteste Nuss ihres Lebens zu knacken.

An Samstag, dem 13. September, war ich mit Nadine und einem anderen Pärchen zum Abendessen bei einem meiner Lieblingsitaliener verabredet, dem Supper, im East Village. Es war ein ziemlicher Weg von der Upper West Side, aber es war ein Wochenende für gutes, solides italienisches Essen. Das andere Pärchen arbeitete ebenfalls in der Finanzbranche, er in einer Private-Equity-Gesellschaft und sie bei einem Hedgefonds. Unsere Stimmung an diesem Abend war bestimmt nicht Panik, aber es herrschte doch eine Art Verwunderung. Wir konnten nicht aufhören, uns immer wieder zu sagen, wie surreal die Welt, in der wir lebten, geworden war. Es war, als wären wir in einem Film. Ich erinnere mich, wie ich an diesem Abend sagte, dass jeder, der behauptet hätte, Bear Stearns und Lehman Brothers würden im Abstand von wenigen Monaten beide von der Landkarte verschwinden, noch vor ein paar Jahren zweifellos für verrückt erklärt worden wäre. Das war Stoff für einen verrückten Science-Fiction-Film.

Und die Sache sollte noch seltsamer werden.

Im Verlauf dieses Wochenendes vom 13. und 14. September kippten sowohl Lehman Brothers als auch Merrill Lynch. Wie sich herausstellte, hatten sich beide genauso stark im Markt mit Subprime-Hypotheken engagiert wie Bear Stearns. Am Sonntag wurde Merrill Lynch von der Bank of America aufgekauft, und in den frühen Morgenstunden des Montags beantragte Lehman Brothers Insolvenz. Es war der größte Bankrott in der Geschichte der USA. Nachdem zwei Investmentbanken gestürzt waren, war es für den Rest von uns nur noch eine Frage der Zeit, bis auch wir ins Fadenkreuz gerieten.

Und die Hiobsbotschaften rissen nicht ab. Am Montag, dem 15., verlor der Dow Jones etwas mehr als 500 Punkte, der größte Absturz seit dem 11. September. Geldmarktfonds – das sicherste Investment, das es gibt, mit winzigen Renditen – fingen an, negative Renditen auszuweisen. Hätte man zu diesem Zeitpunkt seine Mittel in den Geldmarkt gesteckt, dann hätte man weniger zurückbekommen, als wenn man es unter die Matratze gelegt hätte. In den USA nennt man das «breaking the buck» – den Dollar kaputtmachen. Niemand hatte für möglich gehalten, dass das jemals eintreten könnte. Es trat ein.

Nach dem Verschwinden dreier Investmentbanken musste unsere Aktie, ebenso wie die Aktie von Morgan Stanley, am Montag, dem 15. September, starke Einbußen hinnehmen. Am Dienstag dieser Woche fiel die Aktie von AIG um sechzig Prozent – und das, nachdem sie zuvor bereits um fünfundneunzig Prozent gefallen war, gemessen an ihrem 52-Wochen-Hoch von 73,12 Dollar. AIG war das größte Versicherungsunternehmen der Welt. Ging es ihm schlecht, hatte das Auswirkungen auf Millionen von Menschen in praktisch jedem Land der Erde. Das Unternehmen stand am Rande des Abgrunds, und das aufgrund von waghalsigen Spekulationen mit Credit Default Swaps. 2

Die Notenbank Federal Reserve sprang ein und gewährte AIG einen Rettungskredit in Höhe von 85 Milliarden Dollar. Als die Leute an der Wall Street mitbekamen, was mit AIG vor sich ging, war die vorherrschende Reaktion: Das darf einfach nicht wahr sein! Die Wall Street liebt Berechenbarkeit, und die Art und Weise, wie die Regierung zwischen dem Schnüren von Rettungspaketen und dem Scheiternlassen von Unternehmen hin und her schwankte, war alles andere als hilfreich für die Märkte.

In diesem Fall drückten wir ausnahmsweise sogar die Daumen für Morgan Stanley, unseren härtesten Konkurrenten, ebenso wie sie für uns die Daumen drückten. In diesem Schlamassel steckten wir gemeinsam drin.

Es gab viel Gerede über Fusionen. Selbst aus höchsten Regierungskreisen war zu hören, dass Goldman einen Partner finden müsse, eine Bank mit vielen Einlagen, eine, die uns stabilisieren würde. Aber wer war der richtige Partner? War es Wachovia? Washington Mutual? Citibank?

Scheiß auf die Fusionen, dachte jeder im Handelssaal. Wir werden das überleben. Wir sind Goldman Sachs. Außenstehende würden das wahrscheinlich arrogant nennen, doch wir waren sicher, dass das, was an Goldman besonders gewesen war, bei einer Fusion verloren gehen würde.

Es war eine brutale Woche gewesen. Lehman, Merrill, AIG. Man hatte das Gefühl, dass in diesem Umfeld praktisch alles passieren konnte. Nichts schien mehr ausgeschlossen. Einige von uns gingen am Sonntag, dem 21. September, ins Büro, weil im Verlauf des Wochenendes wieder jede Menge neuer schlechter Nachrichten hereingekommen waren und weil die amerikanischen Futures-Märkte sonntags um 6 : 30 Uhr New Yorker Zeit eröffnen, gleichzeitig mit den asiatischen Märkten an ihrem Montagmorgen. Ich hatte erlebt, wie nach dem großen Stromausfall von 2003 die Leute zuerst nach den Futures schauten, um ein Gefühl dafür zu bekommen, ob der Markt in Panik geraten würde. Wenn es an diesem Wochenende irgendwelche großen Neuigkeiten gab, dann würde der Futures-Markt die erste Reaktion der Finanzwelt darauf sichtbar machen.

Meine Kollegen und ich telefonierten und mailten mit Kunden, die am Sonntagabend erreichbar waren, brachten sie auf den neuesten Stand und versuchten ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass wir für sie da waren, wenn sie uns brauchten. Doch gleichzeitig machten wir uns auch Sorgen um uns selbst. Die Unsicherheit war mit Händen zu greifen. Wir versuchten verzweifelt herauszufinden, was in der Welt vor sich ging, und die meisten von uns blieben ziemlich lange im Büro, um zu sehen, wie die asiatischen Märkte handelten.

Bis 21 : 15 Uhr war nicht viel passiert, also machte ich mich auf den Heimweg, zusammen mit einem jüngeren Kollegen. Wir bestiegen den Aufzug im neunundvierzigsten Stock. Als die Türen sich gerade schlossen, griff eine Hand dazwischen und öffnete sie wieder. Die Hand gehörte Gary Cohn, der zu uns in die Kabine trat.

Es war wirklich seltsam, ihn hier zu sehen, an einem Sonntag um 21 : 15 Uhr, wenn nur wenige Leute im Handelssaal waren. Die Türen schlossen sich. Gary sah sehr müde aus, und er wirkte ein bisschen verwahrlost: Er trug Jeans und Sweatshirt und hatte sich offenbar ein paar Tage lang nicht rasiert. Er nickte mir zu – vermutlich erinnerte er sich an mich aus der Zeit, als Equities und FICC in der Futures-Abteilung zusammengelegt worden waren und er öfter herüberkam, um seinen Freund vom Rohstoffparkett zu besuchen. «Verrückte Welt, in der wir leben», sagte ich im neutralsten Tonfall, der mir zur Verfügung stand. Es waren heikle Zeiten, und ich wollte lediglich unverbindlichen Smalltalk machen.

«Wem sagen Sie das. Ich habe das ganze Wochenende gearbeitet und bin kaum nach Hause gekommen», sagte Gary. Und er sah wirklich aus, als hätte er auf der Couch im Büro übernachtet.

Ich wusste (und ich bin sicher, dass mein Kollege das genauso empfand), dass damit die Unterhaltung beendet war. Uns war klar, dass sich die Welt in Aufruhr befand, und selbst wenn es keinen besonderen Grund für Gary gab, hier zu sein, hatte er wahrscheinlich an strategischen Planungen gearbeitet. Wir sollten sehr bald die Wahrheit erfahren.

Als ich vor dem One New York Plaza in ein Taxi stieg, um zurück in die Upper West Side zu fahren, sah ich rasch nach meinem BlackBerry, und mein Blick blieb an einer neuen geschäftlichen E-Mail hängen: «Der Vorstand der Federal Reserve hat den Anträgen von Goldman Sachs und Morgan Stanley zugestimmt, in Bankholdinggesellschaften umgewandelt zu werden.» Ach du Scheiße! Das war also der Grund, warum Gary Cohn das ganze Wochenende in seinem Büro verbracht und rund um die Uhr gearbeitet hatte. Das war ein Riesending.

An einem einzigen Wochenende war die Institution der Investmentbank, so wie man sie einst verstand, für immer verschwunden. Das Unternehmen Goldman Sachs von Sidney Weinberg, Gus Levy und John Whitehead hatte sich aufgelöst. Verzweifelte Männer (darunter Lloyd Blankfein, Gary Cohn und Morgan Stanleys damaliger CEO John Mack) hatten in letzter Minute diese geschickte Überführung in eine Institution in die Wege geleitet, die sich von der Regierung zinslos Geld leihen und es dann zu den gleichen Konditionen wie Staatsanleihen investieren konnte. Im Grunde genommen eine Lizenz zum Gelddrucken. Goldman Sachs und Morgan Stanley wurden also von der Regierung dafür bezahlt, dass sie im Geschäft blieben.