Kapitel 9

«Monstrositäten»

Am 16. April 2010 war ich im südafrikanischen Konsulat in Midtown Manhattan, um meinen Reisepass zu verlängern. In ein paar Tagen wollte ich über den Pazifik fliegen, um einige Kunden in Asien zu besuchen. Ich machte es dringend, um die Bearbeitung meines Antrags zu beschleunigen, und nachdem die Formalitäten erledigt waren, ging ich hinaus in einen jener klaren, frischen Frühlingstage, die zu den angenehmen Seiten des Lebens in New York gehören. Ich ließ mir Zeit bei der Suche nach einem Taxi, ich genoss ein paar Minuten lang den Sonnenschein und begann über die anstehende Reise nachzudenken. Es schien, dass die Finanzwelt sich langsam, wenn auch entsetzlich langsam, wieder erholte.

Ich freute mich auf das Wiedersehen mit einigen Kunden, denen ich das letzte Mal vor Monaten begegnet war. Wir würden über die jüngsten Entwicklungen auf den Märkten sprechen, aber wir würden auch gut essen und etwas trinken gehen. Unser Geschäft besteht zu einem Großteil aus dem direkten, persönlichen Kundenkontakt. Das war es, was mir an der Arbeit im Sales von Anfang an am meisten gefiel. Einige Leute im Investmentbanking finden es lästig, wegen ein paar Meetings um die halbe Welt zu fliegen. Aber mir wurde das nie langweilig. Business-Class-Flüge und Sashimi in zehntausend Meter Höhe. Später dann Ritz Carlton oder Four Seasons. Drei-Sterne-Geschäftsessen mit Menüs zu 150 Dollar pro Person. Wenn ich Zeit hatte: ein Besuch bei einem Schneider in Asien, um mir ein paar Maßanzüge schneidern zu lassen (die dann immer noch günstiger waren als ein einzelner Anzug bei Brooks Brothers). Auch gern mal eine kurze Fahrt mit der Fähre zum Wynn Hotel in Macao (ein spektakuläres Luxushotel – eine fast originalgetreue Kopie des gleichnamigen Hotels in Las Vegas, nur kleiner). Was war daran lästig? Ich habe immer versucht, diese Dinge zu genießen und wertzuschätzen.

Ein flüchtiger Blick auf meinen BlackBerry beendete meinen asiatischen Traum.

Ich runzelte die Stirn. An den Börsen zogen die Kurse nicht an. Tatsächlich hatte die Aktie von Goldman Sachs zehn Prozent verloren – und das Handelsvolumen war zehnmal so hoch wie üblich. Irgendetwas war faul. Ganz gewaltig faul. Ich begann meine E-Mails zu überfliegen. In der Betreff-Zeile jeder E-Mail auf dem Display tauchte dasselbe Wort auf. SEC, SEC, SEC – die Börsenaufsichtsbehörde «Securities and Exchange Commission», die für die Durchsetzung der Wertpapiergesetze und die Beaufsichtigung der Finanzindustrie zuständig ist.

Ich sprang in ein Taxi und eilte zurück ins Büro in der West Street 200.

Auf der Rückfahrt durch Downtown Manhattan begann ich die E-Mails zu lesen. Ich konnte es nicht glauben. Es war der Super-GAU.

 

ZUR SOFORTIGEN VERÖFFENTLICHUNG

 

SEC klagt Goldman Sachs an wegen Betrugs im Zusammenhang mit der Strukturierung und Vermarktung von hypothekenbesicherten CDOs.

 

Ich las weiter …

 

Die SEC wirft dem Unternehmen vor, es habe synthetische Collateralized Debt Obligations (CDOs) strukturiert und vermarktet, deren Wertentwicklung an die Performance hochriskanter, mit Eigenheimkrediten besicherte Wertpapiere gekoppelt waren. Goldman Sachs habe den Investoren wichtige Informationen über die CDOs vorenthalten, insbesondere über die Rolle, die ein großer Hedgefonds bei der Auswahl der Portfolios gespielt habe, sowie die Tatsache, dass selbiger Hedgefonds gleichzeitig gegen die Position gewettet habe.

 

Meine spontane Reaktion: Das musste eine Hexenjagd sein. Die SEC hatte in den letzten beiden Jahren gepennt, und jetzt wollte sie der Öffentlichkeit zeigen, dass sie etwas unternahm. Weshalb verfolgten sie nicht die wirklichen Übeltäter – diejenigen, die uns diesen Schlamassel eingebrockt hatten –, die unverantwortliche Risiken eingingen, ihre Unternehmen zugrunde richteten und die gesamte Weltwirtschaft in die Knie zwangen?

Mein spontanes Gefühl: Wut.

Schließlich hielten wird vor dem Goldman Sachs Tower. Ich bezahlte den Fahrer, hastete in die Lobby, scannte meinen Ausweis und fuhr mit dem Aufzug in den dritten Stock. Als ich in den Handelssaal trat, war dort das übliche geschäftige Treiben wie erstorben. Jedes Gesicht, in das ich blickte, war fahl vor Schrecken. Menschen starrten mit offenem Mund auf ihre Bildschirme. Auf dem Newsticker, der am unteren Rand eines nahen Monitors entlanglief, sah ich sofort, dass die Aktie von Goldman Sachs inzwischen fast dreizehn Prozent verloren hatte. (Es war der mit Abstand größte und abrupteste Kurseinbruch der Goldman-Sachs-Aktie seit den stürmischen Tagen Ende 2008/Anfang 2009.) Ein Kurssturz von dreizehn Prozent in diesem ruhigeren Klima konnte nur eines bedeuten: Panik und Katastrophe.

Ich ging schnell an meinen Platz und zog meinen Bloomberg-Monitor zu mir heran. Immer wenn Bloomberg News eine superwichtige Eilmeldung bringt, wandert sie, in roten Lettern, von unten nach oben über den Bildschirm. Das passiert nicht oft. Mein ganzer Bildschirm war rot.

Was waren das für absurde Vorwürfe, die die SEC Goldman Sachs da machte? Ich sprach mit meinen Kollegen darüber. Jeder versuchte sich einen Reim darauf zu machen. Es ging anscheinend vor allem um eines unserer Produkte, das auf CDOs basiert (Collateralized Debt Obligations sind Pakete, die Papiere mit hohem Ausfallrisiko mit sicheren Anlagen kombinieren). Aber warum jetzt? Und warum wir? Wir fühlten uns in die Ecke gedrängt und abgestempelt. Seit die US-Regierung im Rahmen des «Troubled Asset Relief Program» (TARP) für die angeschlagenen Banken in die Bresche gesprungen war, wurde in der Öffentlichkeit geraunt, man müsse jemanden für die Krise zur Rechenschaft ziehen. Seit Monaten hatte man das Gefühl, dass sich eine Meute zusammenrottete, um irgendjemanden zu lynchen. In den Magazinen Rolling Stone, New York und Time waren umfangreiche Artikel erschienen, und sie alle geißelten die Wall Street im Allgemeinen und Goldman Sachs im Besonderen dafür, dass sie sich mit US-Steuergeldern retten ließen und jetzt die große Sause machten. Es hieß, die Banken würden mit den Geldern aus den Rettungspaketen hohe Wetten eingehen und dann die Gewinne dazu verwenden, Managern obszön hohe Boni zu zahlen. Als ich den Ausdruck «Vampir-Tintenfisch» zum ersten Mal hörte, den Matt Taibbi im Rolling Stone gebrauchte, fand ich das abstoßend. Propaganda, dachte ich. Es machte mich wütend. Ich dachte, warum berichten sie nicht zum Beispiel über das «10 000 Women»- oder das «10 000 Small Businesses»-Programm von Goldman Sachs, mit dem das Unternehmen die nächste Generation von Unternehmern und Managern förderte, und die vielen anderen karitativen Projekte, die das Unternehmen finanzierte oder in irgendeiner anderen Art unterstützte?

Im Handelssaal reagierten alle in der gleichen Weise auf das, was die SEC ausheckte: Was zum Teufel machen diese Idioten? Wieso knöpfen die sich nicht Dick Fuld vor, der Lehman das Grab geschaufelt hatte, und Stan O’Neal von Merrill Lynch oder Jimmy Cayne von Bear Stearns, die ihre Firmen gegen die Wand gefahren hatten? Und das, praktisch während sie Golf oder Roulette spielten. Sie wollen uns an den Kragen, weil wir die Einzigen sind, bei denen es gut läuft …

Kunden riefen an und wollten wissen, was los ist.

Die Geschäftsführung instruierte uns umgehend: Bleiben Sie unverbindlich, aber seien Sie nicht abweisend. Sagen Sie einfach: «Wir wissen nichts Genaues, wir prüfen die Angelegenheit.» Wir werden Ihnen später eine Argumentationshilfe zukommen lassen.

Etwa ein, zwei Stunden später bekamen wir eine interne E-Mail, die uns einige sehr allgemeine Argumente an die Hand gab und uns die Beschuldigungen etwas näher erläuterte. Die SEC bezichtigte Goldman Sachs, in Informationsunterlagen für ein synthetisches CDO-Produkt, das wir entwickelt hatten, wesentliche irreführende Angaben gemacht und wichtige Tatsachen verschwiegen zu haben. Das Produkt hieß «Abacus 2007-AC1».

Abacus 2007-AC1. Ich hatte noch nie davon gehört. Ebenso wenig irgendeiner meiner Kollegen. Geschweige denn meine Kunden. Es hörte sich an wie etwas von einem anderen Stern. Diese CDO-Deals und andere maßgeschneiderte Produkte im Derivate-Bereich erhielten immer geheimnisvolle und bedeutend klingende Namen. Das war Marketing. Die Zahl bezog sich auf das Ausgabedatum. Es stellte sich heraus, dass Abacus eine ganze Klasse von CDOs war, die Goldman seit 2004 verkaufte, und dieser Exot warf jetzt seinen langen Schatten auf uns.

Goldman Sachs reagierte unverzüglich und unmissverständlich.

«Die Beschuldigungen der SEC sind in rechtlicher wie faktischer Hinsicht völlig haltlos, wir werden uns entschieden gegen sie zur Wehr setzen und unser Unternehmen und seinen Ruf verteidigen.»

Die Firma berief einen bekannten Rechtsanwalt, Greg Craig, den vormaligen Rechtsberater von Präsident Obama, zum Leiter ihres Verteidigerteams. «Sehr gut», dachte ich, obwohl ich keinen blassen Schimmer davon hatte, was genau es mit Abacus auf sich hatte oder auf welche Tatsachen sich die Beschuldigungen stützten, «lasst uns zurückschlagen, und zwar kräftig.»

Während pausenlos Kunden anriefen und aus aller Welt besorgte E-Mails eintrafen, lief «Mr. Fruchtsaft» Paul Conti durch unsere Reihen und rief: «Wir wollen hören, was die Kunden dazu sagen.» Man brauchte nicht groß zwischen den Zeilen zu lesen, um zu begreifen, dass der Gedanke, Kunden könnten in einer Kurzschlussreaktion ihr Geld abziehen, der Vorstandsetage einen gewaltigen Schrecken einjagte.

Ich war zu dem Zeitpunkt gerade dabei, meinen Flug nach Asien zu buchen. «Soll ich trotzdem fliegen?», fragte ich Conti. «Absolut», sagte er. «Diese Reise ist gerade jetzt ungemein wichtig. Wir müssen Präsenz zeigen und den persönlichen Kontakt suchen. Wir müssen uns in genau der richtigen Weise verteidigen.»

Ich beschloss, nach Asien zu fliegen und mich für Goldman Sachs einzusetzen.

 

Die Zivilklage der SEC hatte es in sich. In ihr wurde behauptet, dass Fabrice Tourre, ein Vice President in der New Yorker Zentrale, in geheimer Absprache mit John Paulson (nicht zu verwechseln mit Hank Paulson), der seit Anfang 2006 durch Leerverkäufe am Hypothekenmarkt enorme Gewinne eingestrichen hatte, Abacus 2007-AC1 ausgetüftelt habe. John Paulson war 2006 noch nicht so bekannt wie heute – er machte sich dadurch einen Namen (und ein Vermögen), dass er gegen den Subprime-Hypothekenmarkt wettete. Laut der Klage der SEC (die sich sowohl gegen Goldman Sachs als auch gegen Tourre richtete) hatte Paulson persönlich die Hypothekenpapiere ausgewählt, die in das Produkt eingingen, und zwar anhand eines einzigen Kriteriums: der höchsten Ausfallwahrscheinlichkeit. Als Abacus dann ausfiel, kassierte Paulson mindestens eine Milliarde Dollar.

Die Klage zeichnete ein schreckliches Bild von Tourre. Mehrere seiner kaltschnäuzigen E-Mails wurden veröffentlicht. Die Tatsache, dass er Franzose war, schien die Londoner und New Yorker Boulevardpresse zu ergötzen. Im Januar 2007 schrieb Fabrice in einer E-Mail an seine Lebensgefährtin über den unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch von Abacus: «Das ganze Gebäude kann nun jederzeit zusammenbrechen. Der einzige potenzielle Überlebende: der fabelhafte Fab, der im Zentrum all dieser komplexen, stark gehebelten exotischen Instrumente steht, die er erschaffen hat, ohne unbedingt alle möglichen Auswirkungen dieser Monstrositäten zu verstehen!!!»

Das war die prägnanteste Bezeichnung für einen Großteil der komplex strukturierten Produkte, die von ihren Schöpfern beziehungsweise ihren Käufern selbst oftmals nicht richtig durchschaut wurden: Es waren Monstrositäten.

Es war sonderbar: Als ich den Namen Fabrice Tourre las, erinnerte ich mich vage daran, dass ich ihm vor etwa zehn Jahren begegnet war.

Ich lernte ihn bei einer der Teambildungsschulungen für Stanford-Absolventen kennen, entweder im ersten Jahr meiner Tätigkeit als Analyst oder im Rahmen des Sommerpraktikums. Diese Veranstaltungen sollten jungen Nachwuchskräften die Gelegenheit geben, mit älteren Alumni in Kontakt zu treten und sie eventuell als Mentoren zu gewinnen. Tourre saß an jenem Abend ein paar Stühle von mir entfernt, er arbeitete zusammen mit einem Freund von mir in der Abteilung Fixed Income. Ich plauderte vielleicht dreißig Sekunden mit ihm.

Ich kannte ihn nicht vom College, weil er dort nicht sein Grundstudium absolviert hatte, und mit Aufbaustudenten, die als Streber galten, hatten wir für gewöhnlich keinen Kontakt. Fab hatte seinen ersten Studienabschluss in Frankreich gemacht und in Stanford ein einjähriges Master-Studium im Fachbereich Management Science and Engineering angehängt – ein stark mathematisch geprägtes Fach.

In der kurzen Zeit, die wir miteinander sprachen, kam mir Tourre wie der klassische Quant vor: hochgebildet, aber ein bisschen seltsam und unbeholfen im sozialen Umgang. Er war ganz eindeutig nicht wegen seines Charismas eingestellt worden. Ich weiß, es ist unfair, so etwas zu sagen. Quants sind per Definition keine Stimmungskanonen. Cliff Asness (der bekannte US-amerikanische Finanzmathematiker und Hedgefondsmanager) hat die Welt nicht mit seinem Charme erobert. Aufgabe eines Finanztüftlers ist die Entwicklung komplexer mathematischer Modelle, jener erwähnten «Blackboxes», die – so redet man jedenfalls den Kunden ein – Altpapier in neue 100-Dollar-Scheine verwandeln können.

In einer idealen Welt wären Finanzmathematiker objektiv – sie würden gleichermaßen im Interesse des Kunden wie ihres Arbeitgebers handeln. Doch Quants arbeiten für gewöhnlich für die Trader, die für den schnellen Erfolg und den großen Gewinn leben, anders als die Leute im Sales, die die Kundenkontakte pflegen müssen. Daher konzentrieren sich die Finanzmathematiker oftmals darauf, Produkte zu kreieren, die dem Kunden sexy erscheinen, tatsächlich aber nur einer Seite nützen: der Firma. Der «fabelhafte Fab» war ein perfektes Beispiel, und er fand in John Paulson einen perfekten Verbündeten und in der niederländischen ABN Amro und der deutschen IKB, den beiden europäischen Banken, die die 1 Milliarde Dollar verloren, die Paulson gewann, die perfekte Kunden.

In den Tagen nach der Klageerhebung durch die SEC stürzte sich die ganze Welt auf Goldman Sachs. Ein Kommentator in der New York Times, Michael Greenberger, schrieb, wenn der Zusammenbruch von Lehman Brothers im September 2008 mit Pearl Harbor vergleichbar sei, dann sei die Vollstreckungsklage der SEC gegen Goldman wie die Schlacht um Midway, als die US-Navy ihren Ruf wiederherstellte, indem sie die japanische Flotte ausschaltete. Scharfe Worte. Endlich würden die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen, hieß es weiter, die US-Steuerzahler würden endlich ein paar Antworten auf einige der Fragen bekommen, die sie schon seit langem immer wieder gestellt hatten.

Die Antworten sollten sie schon bald bekommen. Während ich im Flieger nach Asien saß, waren Lloyd Blankfein, David Viniar und Fabrice Tourre zusammen mit anderen Vertretern von Goldman Sachs auf dem Weg nach Washington, wo sie vor den Ständigen Senatsunterausschuss für Untersuchungen treten würden, «um die Beschuldigungen der SEC entschieden zurückzuweisen und die Firma und ihren Ruf zu verteidigen».

Es war ein merkwürdiges Gefühl, ausgerechnet jetzt der Zentrale den Rücken zu kehren und zehntausend Meilen weit weg zu fliegen. Als ich in der asiatischen Metropole landete, schlug mir eine drückende Schwüle entgegen. Ich war absichtlich einen Tag vor dem Meeting angereist, um mich, und sei es nur ein bisschen, an den zwölfstündigen Zeitunterschied und die Hitze zu gewöhnen. Draußen mochten es knapp vierzig Grad Celsius sein. Die Luft fühlte sich an wie ein Schwamm, der in der Mikrowelle erhitzt worden war. Selbst die kürzesten Wege zwischen klimatisierten Oasen waren eine Strapaze. Wie es der Zufall wollte, war gerade ein Mitarbeiter der Fondsgesellschaft, derentwegen ich angereist war, in der Stadt. Taku, der Mitarbeiter, stammte ursprünglich von dort, arbeitete aber jetzt in der New Yorker Niederlassung der Firma. Er besuchte seine Familie, arbeitete aber nebenher ein bisschen von zu Hause aus. Wir hatten uns bereits per E-Mail locker zum Abendessen verabredet. Ich rief ihn an und freute mich, seine sympathische Stimme zu hören.

Ich mochte Taku. Wir hatten beide als Ausländer in den USA studiert. Wir hatten uns beide in unsere Wahlheimat verliebt. Er war jemand, mit dem ich offen sprechen konnte. Wir sprachen natürlich sofort über den Sturm, der über Goldman hinwegfegte. Wir waren beide extrem gespannt, wie der Senat mit Lloyd und den anderen umgehen würde und wie sich Goldman verteidigen würde. Der Sender C-SPAN übertrug die Anhörungen live, die an diesem Abend, Ortszeit, beginnen würden. Plötzlich hatten wir beide die gleiche Idee: Weshalb sollten wir unseren Plan, am Abend essen zu gehen, nicht fallenlassen und stattdessen die Anhörungen im Fernsehen verfolgen?

«Warum kommen Sie nicht zu uns nach Hause?», fragte Taku. «Wir essen eine Kleinigkeit, während wir fernsehen.»

Ich checkte in mein Hotel ein, machte ein kurzes Nickerchen, dann duschte ich mich und fuhr zum Haus von Takus Mutter. Ich wusste, dass sie eine ziemlich wohlhabende Familie waren, aber ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete. Es zeigte sich, dass ihnen ein achtstöckiges Mehrfamilienhaus in einem schönen Stadtviertel gehörte, und diverse Mitglieder der Familie bewohnten die verschiedenen Etagen. Es war ein solide gebautes Haus, nicht im feudal-protzigen New Yorker Stil, sondern eher apart und schlicht. Die Zimmer waren weitläufig und offen – und die Decken hoch. Taku hieß mich in der Wohnung seiner Mutter willkommen. Mit Erstaunen bemerkte ich zwei Bedienstete, einen Mann und eine Frau, die schweigend, aber aufmerksam bereitstanden. Taku lächelte. «Setzen Sie sich!», sagte er.

Obwohl die Anhörung noch nicht begonnen hatte, lief auf dem Flachbildschirm bereits C-SPAN. Einer der Bediensteten trug kleine Speisen auf, zuerst eine Schale Obst, dann eine Platte mit exotischen Vorspeisen. Immer neue Gaumenfreuden wurden serviert. Alles schmeckte unglaublich köstlich. Dann betrat Takus Mutter das Zimmer, eine vornehme Dame im traditionellen Gewand. Ich gab ihr höflich die Hand. Alles wirkte plötzlich mehr als nur ein bisschen surreal: Es war so, als besuchte ich einen Freund und nicht einen meiner wichtigsten Kunden. Und gleich würden wir mit ansehen, wie Goldman Sachs von dem Ausschussvorsitzenden, Senator Carl Levin, in die Mangel genommen würde. Ich fühlte mich wohl und unwohl zugleich: Ich freute mich, die Anhörung in einer so exotischen Umgebung (ausgerechnet dem Haus der Mutter meines Kunden!) und in einer behaglichen, luxuriösen Atmosphäre verfolgen zu können, aber ich machte mir Sorgen um meine Firma.

Die nächsten Stunden verliefen genauso seltsam, wie ich befürchtet hatte. Während Taku und ich wie gebannt am Fernseher hingen, lief seine Mutter dauernd rein und raus und lenkte uns mit ihrem Geplauder ab. Ich musste versuchen, höflich zu sein und mich gleichzeitig auf den Bildschirm zu konzentrieren.

Ich: Ja, mein Flug war ausgezeichnet, Mrs. Taku. Sie haben übrigens eine wunderschöne Wohnung …

Levin im Fernsehen (einen meiner Kollegen anfahrend): Sie bereuen nichts? Sie haben aber eine Menge zu bereuen …

Levin hatte sich vorgenommen, Krach zu schlagen. Unter den anderen Senatoren, die sich zu Wort meldeten, waren einige sehr kritisch und kannten sich in Finanzfragen gut aus, andere argumentierten unsachlich und waren geradezu unglaublich schlecht informiert. Die Goldman-Zeugen – CFO David Viniar sowie der frühere Hypotheken-Chef Dan Sparks und drei seiner ehemaligen Mitarbeiter, darunter auch der «fabelhafte Fab» – wirkten angespannt, was man von Zeugen in einem live im Fernsehen übertragenen Untersuchungsausschuss nicht anders erwarten kann. Es kam zu spektakulären Szenen. Einmal zitierte Levin, während er Sparks in die Mangel nahm, wörtlich aus einer internen Goldman-E-Mail von Sparks’ Vorgesetztem, wo es um eine Obligation namens Timberwolf ging: «O Mann, Timberwolf war echt ein Scheiß-Deal.» Dann fragte er Sparks: «Wie viel von diesem Scheiß-Deal haben Sie nach dem 22. Juni 2007 an Ihre Kunden verkauft?» Levin schien nicht genug zu kriegen von dem Sch-Wort, das er mindestens fünfmal wiederholte, live im internationalen Fernsehen, in einer Sitzung des Senats der Vereinigten Staaten. Scheiß-Deal. Scheiß-Deal. Scheiß-Deal. Wieder und immer wieder.

Zu später Stunde in einem gemütlichen Wohnzimmer, zehntausend Meilen weit von zu Hause weg wirkte das einigermaßen komisch. Taku und ich lachten, aber mich hatte ein ungutes Gefühl beschlichen. Während wir uns über einige Senatoren lustig machten, die keinen blassen Schimmer von dem hatten, was sie da redeten, war die Tatsache, dass Goldman Sachs im Zeugenstand war, für mich alles andere als witzig. Es war so ziemlich das Schlimmste, was einem Unternehmen passieren konnte, das so stolz auf seinen glänzenden Ruf gewesen war.

Ich hatte irgendwann das dringende Bedürfnis, mich und meine Firma gegenüber Taku zu verteidigen. Aber es war zu spät: Taku war auf dem Sofa eingeschlafen. So brisant fand er die ganze Angelegenheit offenbar nicht. Da saß ich also im Haus der Mutter eines Kunden in einem fremden Land und verfolgte im Fernsehen, wie gegen meine Firma Anklage erhoben wurde, während alle anderen schlafen gegangen waren. Eine merkwürdige Situation, aber ich blieb sitzen und schaute weiter zu.

Schließlich kam Lloyd an die Reihe. Levins verbales Sperrfeuer schien Viniar ziemlich geschockt zu haben. Lloyd mühte sich in ähnlicher Weise ab. Goldman Sachs war nicht geübt darin, sich derartig verteidigen zu müssen. Bei diesen Vernehmungen im öffentlichen Rampenlicht gaben wir eine schlechte Figur ab. Hier musste man Muskeln zeigen, die wir bis dahin noch nie trainiert hatten. Man spürte, dass es für Lloyd und die anderen Goldman-Mitarbeiter, die an diesem Tag in die Zange genommen wurden, nichts zu gewinnen gab. Sie würden Prügel kassieren und, wenn sie Glück hatten, mit einem blauen Auge davonkommen – wenn sie sich keine größere Blöße gaben oder, was Gott verhüten mochte, sich selbst belasteten. Es war unverkennbar, dass Lloyd sich über diese Vorladung ärgerte. Aber er tat sein Bestes, so überzeugend zurückzuschlagen, wie er konnte.

Ich musste immer wieder an das Argument denken, das Lloyd wiederholt vorgebracht hatte: dass das Unternehmen in den Bereichen Sales und Trading keine treuhänderische Verantwortung trage, dass wir nicht verpflichtet seien, uns die Interessen der Kunden zu eigen zu machen, dass wir diese nicht berieten. Dass sich unsere Rolle vielmehr darauf beschränke, Trades zwischen sogenannten «Big Boys» – also großen institutionellen Anlegern – zu vermitteln. Mir fielen dazu zwei Dinge ein. Erstens: Das hatte mir niemand gesagt. Ich beriet jeden Tag Kunden und sagte ihnen, was meines Erachtens in ihrem Interesse war. Weshalb wurden Kunden überhaupt von Mitarbeitern im Sales betreut, wenn wir nur Makler sein sollten, die passende Käufer und Verkäufer zusammenbringen? Und zweitens: Das Argument «Wir sind schließlich alle Big Boys» – die Märkte böten also allen Teilnehmern die gleichen Chancen – klang für mich hohl. Es lag doch wohl auf der Hand, dass Goldman in jedem Fall am besten informiert war, weil das Unternehmen beiden Parteien, dem Käufer wie dem Verkäufer, in die Karten schaute.

Ich sah zu Taku, der immer noch schlief. Ich stupste ihn an und sagte: «Also, ich geh dann mal. Danke für die Einladung.» Ich fuhr mit dem Taxi in mein Hotel zurück und blieb bis in die frühen Morgenstunden wach, um mir die übrigen Anhörungen auch noch anzusehen. Obwohl ich erschöpft war, hockte ich bis zum Sonnenaufgang vor dem Fernseher.

 

Mein Termin am nächsten Tag war ein formelles Meeting mit Takus Boss, dem Geschäftsführer der Fondsgesellschaft. Ich war diesem Mann im Lauf der Jahre etliche Male begegnet: Er war mittleren Alters und eine sehr würdige Erscheinung. Er trat immer sehr reserviert auf, wie es seine Kultur verlangte.

Es war ein wichtiges Meeting, also verbrachte ich den Morgen in der örtlichen Niederlassung von Goldman Sachs und ging mit dem dortigen Partner, einem Einheimischen, die wichtigsten Gesprächspunkte durch. Er arbeitete schon ziemlich lange bei Goldman, umso erstaunlicher war es, dass er sich kaum mit der Fondsgesellschaft und ihren Mitarbeitern auskannte. Nicht nur ich fragte mich: Wieso ist so einer Partner? Aber ich erfuhr dann, dass er aus dem Trading kam, und Trader sind nun einmal bekanntlich eher etwas introvertiert – sie steuern Risiken für die Firma und haben nicht viel mit Kunden zu tun. Er war einfach gerade der höchstrangige Mitarbeiter in der Niederlassung. Dennoch dürfte es ein wenig peinlich für ihn gewesen sein, dass ich, ein südafrikanischer Jude, der in New York lebte, ihn mit dem Geschäftsführer des Fonds bekanntmachen würde, obwohl dessen Büro nur zehn Blocks entfernt lag.

Wir gingen zu dem Treffen. In unserer Vorbereitung hatten der Partner und ich mehrere mögliche Szenarien den Verlauf des Gesprächs betreffend durchgespielt. Wir konnten mit Sicherheit davon ausgehen, dass die SEC ein Thema wäre, aber wir wussten nicht, wie sie die Sache aufgenommen hatten. Nach dem üblichen Austausch von Höflichkeiten kam der Chef der Fondsgesellschaft sofort auf die Vorwürfe der SEC gegen Goldman Sachs zu sprechen. Das ging schneller als erwartet.

Der sonst so zurückhaltende Chef des MultiMilliarden-Dollar-Fonds nahm kein Blatt vor den Mund. Er sah zuerst den Partner an und dann mich und sagte: «Ich will Ihnen reinen Wein einschenken. Machen Sie sich keine Sorgen. Wir werden weiterhin Geschäfte mit Ihnen machen. Aber Tatsache ist, dass wir Ihnen schon ziemlich lange nicht mehr über den Weg trauen, weil wir Goldman Sachs für einen Hedgefonds halten. Wir wissen, dass Ihnen nur Ihre eigenen Interessen am Herzen liegen. Aber wir wissen auch, dass Sie die klügsten Köpfe an der Wall Street sind, und manchmal sind wir eben gezwungen, mit Ihnen Geschäfte zu machen.»

Mir wäre beinahe die Kinnlade runtergefallen. Er fuhr fort. Er zeigte durchaus Verständnis für Goldman Sachs. Er teilte unsere Ansicht, dass die Anhörungen etwas von einer Hexenjagd hatten. Er sagte, dass er selbstverständlich wisse, dass Goldman Sachs seine eigenen Interessen verfolge. Das solle niemanden überraschen. Das ist schließlich nicht verboten. Das Unternehmen bringe lediglich Käufer und Verkäufer zusammen – und oft sei Goldman selbst entweder das eine oder das andere. «Aber», so fuhr er fort, «wir sind nicht so naiv zu glauben, dass Goldman es immer gut mit uns meint.»

Wir sprachen dann auch ein bisschen über die Lage auf den Märkten, und der Goldman-Partner, der endlich eine Gelegenheit sah, sich einzubringen, gab die Einschätzungen Lloyds in dieser Frage wieder. Der Kunde sagte – in recht höflicher und zurückhaltender Weise –, dass es ihn in Anbetracht der langjährigen Geschäftsbeziehungen zu Goldman Sachs doch ein wenig wundere, dass Lloyd Blankfein ihm dies nicht persönlich mitgeteilt habe. Ich zuckte zusammen. Nachdem wir uns mit Handschlag verabschiedet hatten, gingen wir. Ich war total verunsichert. Ich hasste es, wenn man mir nicht vertraute. Spontan dachte ich: «Wie können wir das wieder in Ordnung bringen? Wie können wir dafür sorgen, dass uns dieser Kunde wieder vertraut?»

Aber der Partner reagierte nur erleichtert. «Gott sei Dank brechen sie die Geschäftsbeziehungen mit uns nicht ab», sagte er. «Ein gutes Ergebnis! Ich hatte befürchtet, dass es viel schlimmer kommen würde.»

Ich schüttelte den Kopf.

In den folgenden Tagen schüttelte ich noch häufiger den Kopf, während ich versuchte, mich auf die neue Wirklichkeit einzustellen. Da war ein Partner von Goldman Sachs, der seine Erleichterung darüber zum Ausdruck brachte, dass ein Kunde auch weiterhin Geschäfte mit uns machte, obwohl der Chef dieses Unternehmens nicht glaubte, dass wir uns ihm gegenüber immer anständig verhielten. Partner sahen sich gern als Diener der Firma, aber dieser Partner handelte in keiner Weise im Interesse der Firma. Es demoralisierte mich, dass eine hochrangige Führungskraft so vollkommen eigennützig und kurzsichtig handelte. Zwischen den Zeilen sagte er: «Ich krieg keinen Ärger. Ich verdiene weiterhin gut. Und wenn dieser Kunde in fünf Jahren keine Geschäfte mehr mit uns macht – nun, dann bin ich wahrscheinlich sowieso nicht mehr hier.» Vielleicht war dies ein Einzelfall, aber es war nicht das, was ich von einem Partner erwartete.

Was war aus den «Vierzehn Grundsätzen» geworden, insbesondere aus Nummer zwei: «Unsere Aktivposten sind unsere Leute, unser Kapital und unser Ruf. Und kein Verlust wiegt schwerer, als der des Letzteren»? Der schwerwiegende Verlust des guten Rufs – er war Wirklichkeit geworden. Jeder Mitarbeiter von Goldman Sachs musste sich mit der unerfreulichen Tatsache abfinden, dass man ihm nicht mehr vertraute. Ein mehr als frustrierender Gedanke, und ich erwartete im Grunde von der Führungsspitze des Unternehmens, dass sie alles in ihrer Macht Stehende tat, um die Sache wieder in Ordnung zu bringen. Aber würde sie das wirklich tun?

 

Sobald die Beschuldigungen der SEC über die Nachrichtenticker liefen, geriet Goldmans Kurs gehörig ins Schlingern, nachdem das Unternehmen seit März 2009 gerade wieder Fahrt aufgenommen hatte. Als Investoren sahen, dass die Aufseher die umsatzstärkste Bank an der Wall Street aufs Korn genommen hatten, fragten sie sich: Was kommt als Nächstes ans Licht? Wie lautet die nächste Hiobsbotschaft? Die Finanzwelt war jedenfalls bereits ziemlich aufgewühlt, als der 6. Mai 2010 kam.

Ich erinnere mich noch ganz genau, dass auf den Märkten die Kurse wegen der griechischen Schuldenkrise rückläufig waren. Am frühen Nachmittag verließ ich meinen Schreibtisch und ging auf die Toilette. Ich erinnere mich, dass ich dort noch mit jemandem plauderte – mit unserem Strategen für Futures –, und als ich keine fünf Minuten zurück an meinen Schreibtisch kam, sah ich, dass die Kurse massiv eingebrochen waren: Der Dow Jones hatte kurzzeitig neun Prozent verloren, hatte sich dann aber rasch wieder einigermaßen erholt. Dieser Ausschlag um 1000 Punkte war eine der größten Kursschwankungen in der Geschichte des Dow Jones. Alle starrten auf ihre Bildschirme. Was war da los, um Himmels willen? Uns fiel noch etwas anderes auf: Aktien wie Accenture, CenterPoint Energy und Exelon waren kurzzeitig überhaupt nichts mehr wert und notierten mit 1 Cent pro Aktie. Das war unmöglich. Wie konnte der Börsenwert eines Unternehmens in weniger als einer Sekunde praktisch auf null sinken? So etwas war einfach noch nie vorgekommen.

Das war der «Flash Crash».

Zwischen 14 : 42 Uhr und 14 : 47 Uhr fiel der Dow Jones um weitere 600 Punkte unter die 300 Punkte, die er bereits zuvor eingebüßt hatte – sodass er an diesem Tag insgesamt fast 1000 Punkte verlor. Um 15 : 07 Uhr hatte der Markt den größten Teil der 600 Punkte wieder gutgemacht.

Fast immer wenn es zu einem jähen, massiven Kurseinbruch kommt, der sich nicht mit einer aktuellen Nachrichtenmeldung erklären lässt, spekulieren die Investoren: «Ach, da hat sich einer beim Handel mit E-Mini-Futures mit dem ‹dicken Finger› vertippt», soll heißen, irgendein ungeschickter Trader hat versehentlich ein gigantisches Volumen abgestoßen – weit mehr, als er eigentlich wollte – und dadurch dieses Chaos an den Märkten angerichtet. Anfang der nuller Jahre gab es einige berühmt-berüchtigte mutmaßliche Tippfehler, als die elektronischen E-Minis aufkamen und die traditionellen Big-Future-Kontrakte ablösten, die bis dahin auf dem Parkett der Chicagoer Terminbörse gehandelt worden waren. Wir scherzten in unserer Abteilung, der Name der geheimnisvollen Person, die sich immer wieder «vertippte», laute «E-Mini-Bandit».

Aber war der Blitzcrash tatsächlich das Werk des E-Mini-Banditen?

Was wirklich geschah, ist mir bis heute unerklärlich – und ich vermute mal, dass es allen anderen genauso geht. Verschiedene Hypothesen wurden vorgebracht. In einem waren sich alle einig: Der Crash musste durch den massiven Verkauf von E-Mini-S&P-500-Futures ausgelöst worden sein – ebenjenem Produkt, das ich selbst vor einigen Jahren mit Corey gehandelt hatte, der liquideste Terminkontrakt der Welt. Während dieser bizarren fünfundzwanzig Minuten kamen etliche Vorgesetzte, die sich an meine Erfahrungen mit diesen Futures erinnerten, auf mich zu und fragten mich, wie ich mir diesen Vorfall erklärte. Ich sagte ihnen, ich glaubte nicht, dass die E-Minis die Ursache dafür seien. Ihr Handelsvolumen reiche einfach nicht aus, um einen derartigen Kurssturz zu verursachen.

Was mich – und Millionen von Menschen in ganz Amerika, die in Aktien investieren – an dem Blitzcrash beunruhigte, war die Tatsache, dass er die extreme Instabilität eines Marktes offenbarte, der irrwitzig komplex geworden war. Es gab miteinander verbundene Technologie-Plattformen und Sicherungssysteme, die jedoch nicht unbedingt in der Lage waren, miteinander zu kommunizieren, wenn etwas schiefging. Der Hochgeschwindigkeitshandel – Computer, die eine Million Transaktionen pro Sekunde ausführten – machte inzwischen einen großen Anteil des täglichen Handelsvolumens aus. Die SEC immerhin glaubte schließlich den Schuldigen in der Fondsgesellschaft Waddell and Reed gefunden zu haben, die mit einer einzelnen Transaktion den Crash ausgelöst haben sollte, und die Medien griffen diese These begierig auf. Niemand wird mich je davon überzeugen können, dass ein Fondsmanager, der E-Mini-Terminkontrakte im Wert von 2 Milliarden Dollar verkaufte, verantwortlich für das war, was an jenem Mai-Nachmittag geschah. Als ich in Coreys Abteilung war, habe ich selbst routinemäßig mit diesen Futures im Wert von 3 Milliarden Dollar gehandelt, und ich habe nie einen Blitzcrash verursacht. Für einen Außenstehenden mochte sich das Mini-Desaster einfach erklären lassen: Ein massiver Verkauf löste eine fatale Verkaufswelle aus. Auf mich dagegen wirkte es unheimlich – ein weiteres Anzeichen dafür, dass die globalen Kapitalmärkte aus dem Gleichgewicht geraten waren.

Die Investoren sahen das genauso. Die Tatsache, dass der Blitzcrash der Anklageerhebung gegen Goldman Sachs so rasch auf dem Fuß folgte, machte die Kunden nervös. Und vor lauter Nervosität ließen sie die Finger von Börsengeschäften. Sie erstarrten. Wieder einmal herrsche tote Hose. Bei Goldman Sachs setzte eine neue Entlassungsrunde ein. Die Stimmung im Handelssaal war düster.

Im Juli legte Goldman Sachs die Klage in einem außergerichtlichen Vergleich bei. Das Unternehmen erklärte sich zu einer Zahlung in Höhe von 550 Millionen Dollar bereit. 300 Millionen Dollar sollten in die Staatskasse fließen und 250 Millionen Dollar an Investoren. Die Klage gegen Fabrice Tourre war davon nicht betroffen, was den Eindruck bestärkte, die Firma lasse ihn im Regen stehen. Was die Beschuldigungen der SEC anlangte, so gab Goldman keinerlei Fehlverhalten zu, bestritt es aber auch nicht. Viele Leute fanden das sehr sonderbar. Was war ein Vergleich, bei dem man 550 Millionen Dollar abdrückte, anderes als ein unausgesprochenes Schuldeingeständnis? Die PR-Leute bei der US-Börsenaufsicht bejubelten den Vergleich als einen großen Sieg. Es war die höchste Strafe, die die SEC jemals verhängt hatte. Kritische Stimmen hingegen sagten: «Dies ist in Wahrheit ein Sieg für Goldman Sachs, denn sie sind ungeschoren davongekommen.» Für den einfachen Durchschnittsverdiener sind 550 Millionen Dollar natürlich eine unglaublich hohe Summe. Für ein Unternehmen das allein mit Wertpapieren 5 Milliarden Dollar pro Quartal umsetzte, waren 550 Millionen Dollar so etwas wie ein Strafzettel fürs Falschparken.

 

Nach dem Vergleich fühlten sich viele Leute bei Goldman Sachs erleichtert. Vielleicht, so dachten sie, können wir, nachdem dies alles aus dem Weg geräumt ist, ein neues Kapitel aufschlagen. Doch die Geschäfte kamen nicht in Schwung. Der Ruf des Unternehmens hatte definitiv Schaden genommen. Eine Menge Kunden wollten bei Geschäften mit Goldman Sachs keine Kontrahentenrisiken mehr eingehen. Sie waren nur noch bereit, börsennotierte, transparente Produkte zu kaufen, die über Clearinghäuser abgewickelt wurden. Auf diese Weise wäre das Geld des Kunden sicher und das Marktrisiko gleich null, ganz egal, was mit der Bank geschah, mit der man tradete. Das war nicht der Fall bei «over the counter», also außerbörslich gehandelten Finanzderivaten oder strukturierten Produkten, bei denen man dem Schicksal der Bank, mit der man Abschlüsse machte, ausgeliefert war.

Mit wachsendem Ertragsdruck nahm das fragwürdige Gebaren unter den Goldman-Sachs-Mitarbeitern nur noch zu. Man scheute sich nicht, den eigenen Kollegen Kunden abzujagen oder nichtsahnende Kunden zu Geschäften zu überreden, die nicht in ihrem Interesse waren. Leute, die während der Krise in Führungspositionen aufgestiegen waren – wobei sie vor allem wegen ihrer Fähigkeit, Umsatz zu machen, weniger wegen ihrer Führungsqualitäten befördert wurden –, festigten jetzt ihre Macht. Richtig und falsch waren Maßstäbe der Vergangenheit; die neue Losung lautete: GC oder nicht GC? Die «Gross Credits» waren das Einzige, was interessierte. Hatte jemand ein «Elefanten-Geschäft» abgeschlossen oder nicht? Darüber redeten die Mitarbeiter, daran maßen sie sich, und danach wurden sie bezahlt.

Die etwas Umsichtigeren unter ihnen müssen gewusst haben, was das für einen Eindruck machen würde. Nach den Anhörungen im Senat untersagte Paul Conti, das Kürzel «GC» in internen E-Mails zu benutzen, aus Sorge, solche Nachrichten könnten – wie die des «fabelhaften Fab» – eines Tages öffentlich bekannt werden. Oder was genauso schlimm wäre, ein Kunde würde eine solche E-Mail zu Gesicht bekommen und plötzlich begreifen, dass ihm diverse versteckte Gebühren berechnet wurden.

Jack Welch, der legendäre ehemalige Chef von General Electric, schrieb, dass ein Unternehmen, sobald es skrupellose Mitarbeiter dafür belohne, mit unsauberen Methoden Profit zu machen, seine anständigen Mitarbeiter demoralisiere und weniger charakterfesten Mitarbeitern, die von sich aus nicht wüssten, wie man sich korrekt verhält, den Eindruck vermittele, das skrupellose Vorgehen sei nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. Das amoralische Verhalten greife immer weiter um sich, bis es zur Norm werde.

Diese moralische Erosion wurde sehr schnell bei Goldman Sachs sichtbar. Welch schrieb über die Bedeutung der Unternehmenskultur:

 

Es ist eine der ewig unveränderlichen Regeln im Wirtschaftsleben, dass «weiche», kulturelle Faktoren genauso wichtig sind wie harte Zahlen. Und wenn Sie es mit Ihrer Unternehmenskultur wirklich ernst meinen, dann müssen Sie diejenigen unter Ihren Mitarbeitern, die diese Kultur untergraben – öffentlich hängen. Das ist kein schöner Anblick. Aber Tatsache ist, dass es kein Zuckerschlecken ist, eine Unternehmenskultur aufzubauen, die von den Mitarbeitern höchste Integrität verlangt. Und doch glauben allzu viele Führungskräfte aus irgendeinem Grund, die Werte eines Unternehmens ließen sich in einem fünfminütigen Gespräch zwischen dem Personalchef und einem neu eingestellten Mitarbeiter kurz abhandeln. Oder sie glauben, Kultur bestehe darin, sich auf einen bestimmten Sprachgebrauch zu einigen – «ehren» wir unsere Kunden, oder «respektieren» wir sie? Was für ein Irrtum.
Es geht bei der Unternehmenskultur nicht um Worte, es geht um Taten – und Konsequenzen. Es geht darum, dass jede Führungskraft weiß, dass ihre Hauptaufgabe darin liegt, Werte zu verkörpern, vorzuleben und entschlossen und konsequent durchzusetzen. Die Mitarbeiter müssen wissen, dass sie bei jeder Leistungsbeurteilung sowohl nach ihren Zahlen wie nach ihren Werten beurteilt werden.

 

Jetzt, wo der Ertragsdruck stieg, galt bei Goldman Sachs die althergebrachte Art, Geschäfte zu machen – also mit pauschalen Provisionen für transparente, börsennotierte Produkte –, als nicht mehr profitabel genug. Ungefähr zu der Zeit, als der Vergleich mit der Börsenaufsicht geschlossen wurde, tüftelte ein Goldman-Quant eine sexy neue «Blackbox» aus – mit einem sehr unsexy Namen. Nennen wir sie hier Clorox. Der wahre Name war noch nichtssagender. Aber nach dem Abacus-Desaster wollte die Firma unbedingt vermeiden, dass neue strukturierte Produkte hochtrabende Namen erhielten, wohl damit sie möglichst wenig Aufmerksamkeit auf sich zogen.

Clorox war das, was man ein «multi-asset-class product» nennt und was nicht viel mehr heißt als: «Gib uns dein Geld, und wir werden deine Mittel auf der Grundlage traditioneller Modelle umschichten (wobei wir bei jeder Umschichtung einen satten Aufschlag kassieren).» Dieses Produkt war so etwas wie eine aufgemotzte Version des klassischen Portfoliomanagements. Es war so, als würde man eine Wurststulle nehmen und sie einem Kunden als «Panini del Bologna» verkaufen. Ersteres ist 50 Cent wert. Letzteres kann man für 8 Dollar verkaufen.

Einige Kunden schlugen zu, insbesondere die Sorte, die ich weiter oben erwähnt habe: der Einfältige Kunde und der Kunde-der-nicht-zu-fragen-versteht. Auch mehrere Stiftungen und Wohltätigkeitsorganisationen bissen an und kauften Clorox.

Als mich meine Vorgesetzten drängten, ich solle versuchen, Clorox an einige meine größeren Kunden zu verkaufen, wusste ich sofort, dass das nichts für sie war. Ja, sie hätten es mir übelgenommen, wenn ich das Thema überhaupt angeschnitten hätte, weil sie ihr Portfolio selbst strukturieren und verwalten können. Worin läge für sie der Nutzen eines undurchschaubaren, komplexen Blackbox-Produkts namens Clorox, das nur der Wall Street satte Gebühren einbrachte? Sie könnten mit börsennotierten Aktien, Terminkontrakten und Optionen das gleiche Ziel erreichen. Ich wehrte mich also dagegen, meinen Kunden Clorox aufzuschwatzen. Es war nicht in ihrem Interesse.

Als die Sales-Leute ausschwärmten, um Wohltätigkeitsorganisationen, Lehrer-Pensionsfonds und kleinen Hedgefonds, die gerade ihren ersten Geschäfte machten, Clorox anzudrehen, fragte ich mich: «Haben wir aus den Senatsanhörungen oder der Krise irgendetwas gelernt?» Und ich musste mir selbst eingestehen: «Nein, wir haben nichts daraus gelernt – im Gegenteil, alle reden nur noch von Gross Credits.»

Dann brachte die Firma ihre «Studie zur Geschäftspraxis» auf den Weg. Man gab sich selbstkritisch: «Na gut, wir haben nicht alles richtig gemacht, also stellen wir die Dinge mal auf den Prüfstand.» Alle Topmanager mussten sich in einem internen Ausschuss einer Befragung unterziehen. Geleitet wurde der Ausschuss von Mike Evans, einem langjährigen Partner und Vertreter der «alten Schule», der als einer der aussichtsreichsten Anwärter für den Chefsessel galt, wenn der eines Tages neu zu besetzen wäre.

Ich versprach mir viel von der Studie, ich hoffte, Goldman könnte damit das verlorene Vertrauen seiner Kunden wiedergewinnen. Ich stellte mir vor, wie ich meinen Kunden in Asien besuchte und ihm sagte: «Hier, sehen Sie, wir sind den Dingen auf den Grund gegangen. Wir wissen, dass nicht gut ist, was passiert ist, und dass man das nicht von heute auf morgen vergessen machen kann. Aber wir arbeiten dran.»

Doch im weiteren Verlauf der Studie fragte ich mich, ob es nur eine Show war. Ich hätte gern an der Studie mitgewirkt, meine Meinung beigesteuert. Aber ich wurde nicht kontaktiert. Ich kannte niemanden, der kontaktiert worden war. Tagte der Ausschuss vielleicht von allen unbemerkt in irgendeinem Hinterzimmer?

 

Aber ich hatte ja immer noch meine «Real Money»-Nische. Tausende von Kunden und Goldman-Kollegen waren auf meinem Verteiler, wenn ich meine Marktanalysen verschickte. Ich hatte mir einen Ruf als gründlicher Analytiker erworben und bei meinen Marktvorhersagen öfter richtig-als falschgelegen. Dies war zum Teil Glück, doch seit meiner «Lehrzeit» bei Rudy und später Corey hatte sich mein Gespür für den Markt verbessert. Es war schärfer geworden – ich ahnte häufig intuitiv, wie Märkte auf verschiedene Ereignisse reagieren würden. Schließlich hatte ich in meiner bislang zehnjährigen Laufbahn zahlreiche Blasen und Krisen miterlebt. Ich hatte gesehen, wie Marktzyklen funktionieren. Meine kleinen Aufsätze regten zu Diskussionen an. Die Leute sagten: «Hast du den letzten Beitrag von Greg Smith gelesen?» Und sie leiteten die Artikel an ihre Kunden weiter. Ich war sehr stolz darauf. Außer den beiden erwähnten MDs hat im Bereich Sales sonst niemand regelmäßig derartige Texte verfasst.

Ich war auch stolz darauf, dass ich immer eine gewisse Objektivität bewahrte. Ich sagte, was ich dachte, statt bloß Parolen nachzuplappern. Das kam nicht überall gut an. Eines Tages im Spätsommer 2010 zitierte mich meine Chefin, Beth, in ihr Büro, wo sie mir ein weiteres Mal unmissverständlich zu verstehen gab, dass ihr die flaue Geschäftsentwicklung Sorgen bereite, und mir klarmachte, was sie von mir erwartete. Als ich einen Artikel erwähnte, den ich vor kurzem geschrieben hatte, verzog sie das Gesicht.

Es war vermutlich unklug, aber ich musste etwas zu meiner Verteidigung sagen. «Ich will nicht vor Ihnen prahlen», sagte ich, «aber selbst einige unserer größten Kunden lesen die Beiträge. Sie stoßen auf große Resonanz.»

Sie schüttelte traurig den Kopf, als wäre ich ein besonders dummer Schüler. «Inhalte und Ideen bringen Sie bei Goldman Sachs nicht weiter, Greg», sagte sie. «Hier zählen allein die Zahlen.»

 

Seit 2002 hatte die Wall Street jahrelang an jedem 11. September drei Schweigeminuten eingelegt, um der Opfer der Angriffe auf das World Trade Center zu gedenken: eine um 8 : 46 Uhr, als der Nordturm getroffen wurde, eine um 9 : 03 Uhr, als der Südturm getroffen wurde, und eine um 9 : 30 Uhr – wenn der Handelsbeginn an der New Yorker Börse eingeläutet wird.

In den ersten Jahren hatte sich immer irgendjemand über das Lautsprechersystem zu Wort gemeldet. «Leute, Schweigeminute. Bitte leise.» Im Handelssaal wurde es schlagartig totenstill. Aber nach dem fünften Jahrestag im Jahr 2006 fiel mir auf, dass die Mitarbeiter gar nicht mehr hinhörten.

Die Schweigeminuten fanden woanders statt. Auf den Monitoren konnte man die Gedenkminute auf CNBC sehen, doch die Leute bei Goldman Sachs machten einfach weiter, als wenn nichts wäre: Sie riefen Kunden an und verfolgten die Bloomberg-Daten. Sie waren im Grunde wohl nicht respektlos, die meisten von ihnen waren einfach nur sehr jung.

Ab etwa 2005 lag die durchschnittliche Dauer der Betriebszugehörigkeit bei Goldman Sachs bei einer Mitarbeiterzahl von insgesamt 30 000 irgendwo zwischen zwei und drei Jahren. Wenn sich daher die Anschläge vom 11. September jährten, fehlte den neuen Mitarbeitern einfach der Hintergrund beziehungsweise die Vorgeschichte. Sie hatten damals noch nicht bei Goldman gearbeitet – sie waren auf dem College oder der High School gewesen. Abgesehen von dem kurzen jährlichen Gedenken, hatte Goldmans institutionelles Gedächtnis das Trauma verdrängt und begraben, sodass man im alten Trott weitermachen konnte.

Am 11. September 2010 lebten wir in der Firma in einer neuen Welt, in der ich mich alt und fremd fühlte. Aber ich war auch stolz darauf, dass ich schon so lange dabei war.

Im September 2010 ereignete sich trotz allem etwas Großartiges.

Die Greencard. Endlich hatte ich sie! Vierzehn Jahre nachdem ich mit meinem starken südafrikanischen Akzent als Studienanfänger in Amerika gelandet war, hatte ich jetzt eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis für die Vereinigten Staaten von Amerika. Was für ein Gefühl, den Briefumschlag zu öffnen und die Karte zu sehen! Es war das reine Glück. Gebürtige US-Amerikaner ahnen nicht, wie schwierig es ist und wie lange es dauert, um diese magische Karte zu bekommen. Und ich war elektrisiert. Meine Wahlheimat war gut zu mir gewesen, und ich hätte nicht stolzer sein können. Lex – mein Freund aus Kindertagen – hatte sie ebenfalls bekommen. Jetzt konnten wir uns beide dauerhaft in diesem großartigen Land niederlassen. Als wir uns ein paar Wochen später trafen, stießen wir auf uns an. Wir waren stolz darauf, dass wir es so weit gebracht hatten und in Amerika bleiben konnten. Johannesburg schien jetzt weit weg zu sein.

 

Ich habe mir von jeher Mentoren gesucht. Weil meine Textbeiträge immer größere Aufmerksamkeit auf sich zogen, suchte ich Rat und Unterstützung bei einem hochrangigen Partner, der sich aufrichtig für mein berufliches Weiterkommen zu interessieren schien. Er mochte meine Artikel, und das bedeutete, dass er meine Ideen mochte. Als hochrangiger Partner war er gut im Bilde über alles, was im Unternehmen geschah, und seines Erachtens hatte ich gute Chancen, bald die nächste Stufe der Karriereleiter zu erklimmen und zum Managing Director ernannt zu werden. Er gab mir auch ein paar Tipps, was ich seines Erachtens tun konnte, um den Karriereschritt zu befördern. «Ich habe viel Positives gehört», sagte er. «Sie müssen sich folgendermaßen positionieren.»

Im Dezember würde ich zweiunddreißig werden. Ich war seit vier Jahren Vice President. Das Durchschnittsalter für die Beförderung zum Managing Director war Mitte dreißig, Ende vierzig. Es gab Leute wie Dave Heller, die es schon mit unter dreißig geschafft hatten. Von daher war es nicht undenkbar, dass ich bald befördert würde, wenn es auch etwas früh wäre. Mein Mentor sagte auch: «Die Guten belegen hier immer den ersten Platz, aber sie brauchen meistens länger dafür» – was bedeutete, dass die Schlechten eine gute Figur machten und schnell aufstiegen, aber die Guten hielten sich schließlich länger als sie.

Tatsächlich habe ich mich nie besonders gut aufs Taktieren verstanden. Ich wollte immer – vielleicht war das dumm –, dass meine Arbeit für sich selbst spricht. Aber ich wusste, dass ich in der Welt von Goldman Sachs, in der ich jetzt lebte, unbedingt aktiv meine Interessen verfolgen, Fürsprecher finden und den Mund aufmachen musste, um das einzufordern, was ich wollte. Aus diesem Grund freute ich mich, einen Senior Partner als Mentor zu haben.

Ein paar Wochen war ich bei ihm zu einer Besprechung. Hinterher fragte er: «Und, wie läuft es sonst so? Geht’s gut voran?» Er erwähnte meine letzten Marktkommentare und sagte einmal mehr: «Ihre Beiträge sind ausgezeichnet – wirklich hervorragend.»

Ich bedankte mich. «Aber ich muss sagen …» Ich zögerte.

«Ja?», fragte er.

«Es ist für mich nicht ganz einfach, von meiner Chefin zu hören, dass diese Beiträge praktisch ohne Bedeutung sind», sagte ich, und dann erzählte ich ihm von meinem unbefriedigenden Gespräch mit Beth.

Er war sichtlich überrascht, dies von mir zu hören. Er wurde geradezu wütend. «Gary ist sehr beunruhigt über diese Dinge», sagte er. Er erzählte, Gary Cohn habe gegenüber mehreren Partnern seine Sorge zum Ausdruck gebracht, die guten Mitarbeiter, die «Kulturträger», seien nicht so erfolgreich wie die Leute, die Eis in der Sahara verkauften (also wertgeminderte Positionen für nervöse Kunden auflösten) und enorm hohe Gebühren einstrichen. Mein Mentor sagte, es sei Gary sehr wohl aufgefallen, dass Goldman während des Hypothekenbooms und der anschließenden Krise eine Menge Leute dafür bezahlt habe, Eis zu verkaufen, und zugleich viele falsche Leute in Führungspositionen gehievt habe. «Gary gefällt das gar nicht, und er setzt alles daran, das abzustellen», sagte er mir. «Ich werde mit jemandem darüber sprechen.»

Zwei Tage später, um 7 : 45 Uhr, bat mich Beth in ihr Büro.

Mein erster Gedanke war, dass ihr meine Beschwerde gegenüber dem Partner zu Ohren gekommen war und dass sie mir dafür den Kopf waschen wollte. Ich muss sagen, dass ich mir keine großen Gedanken machte. In Beths Liebe-Hass-Spektrum von Leuten rangierte ich wahrscheinlich irgendwo in der Mitte: Ich hatte zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, dass unser Arbeitsverhältnis schlecht war. Da sie wusste, dass der Partner als Mentor meine Beförderung zum Managing Director ebnen sollte, fragte ich mich, ob sie ihre Macht als meine Vorgesetzte demonstrieren und genau wissen wollte, was ich in diesem Gespräch gesagt hatte. Als ich ihr Büro betrat, erwartete ich, dass sie so etwas Ähnliches sagen würde wie: «Hören Sie, Ihr Mentor hat mit mir gesprochen, und Sie sollten aufpassen, wie Sie die Dinge darstellen. Was Ihre Beförderung zum Managing Director anlangt, so sehen wir das in etwa zwei Jahren für Sie. Konzentrieren Sie sich darauf und unterlassen Sie solche Spielchen.»

Aber es kam ganz anders. Sie lächelte und sagte zu meiner völligen Überraschung: «Wie würde es Ihnen gefallen, nach London zu gehen?»

Sie schien mit sich selbst sehr zufrieden zu sein, als hätte sie mir ein tolles Geschenk gemacht. Aber mir gefiel die Idee überhaupt nicht. Ich wollte nicht weg. Ich liebte New York. Ich liebte Amerika. Und ich glaubte, dass ich hier gute Karrierechancen hatte. Die Bedingungen waren hart, aber ich hatte das Gefühl, es schaffen zu können.

Mein Gesicht muss meine Unzufriedenheit verraten haben. «Ich hab nie ernsthaft darüber nachgedacht», sagte ich.

«Wir wollen in Europa ins Geschäft mit US-Aktienderivaten einsteigen», sagte sie begeistert, «und wir glauben, dass Sie die richtige Person sind, um dieses Geschäft aufzubauen. Wir glauben, dass Sie am richtigen Punkt Ihrer Karriere sind. Sie sind verantwortungsbewusst, Sie haben eine Menge Erfahrungen mit Derivaten, und wir glauben, dass Sie reif genug sind, um Europa und den Nahen Osten zu bereisen und dieses Geschäftsfeld erfolgreich zu erschließen.»

Ich konnte ihre Begeisterung leider nicht teilen. Beth befand sich damit in der unangenehmen Lage, einem Undankbaren einen Preis aufzwingen zu müssen. Ihr Lächeln gefror. «Wir hätten auch einen anderen dafür auswählen können», sagte sie.

Paul Conti betrat den Raum. Als Co-Heads der Abteilung teilten sich er und Beth ein großes Büro. Ich erinnerte mich daran, dass er eine Zeitlang in der Londoner Niederlassung gearbeitet hatte, und deshalb fragte ich: «Conti, Sie waren sechs Jahre in London – was halten Sie davon?»

Beth blickte verärgert drein. Mir kam plötzlich der Gedanke, dass sie sich allein mit mir getroffen hatte, um mir zu verstehen zu geben, dass sie mich für diesen Posten vorgeschlagen und sich dafür eingesetzt hatte. Sie wollte Dankbarkeit, sie wollte Anerkennung, und die bekam sie nicht. Stattdessen holte ich eine dritte Meinung ein.

Conti setzte sich. «Mann, das ist eine Superchance», sagte er. Er war ein Verkäufer, und er versuchte mir etwas zu verkaufen. «Ich kann verstehen, dass Sie hier zufrieden sind, aber dieser Wechsel könnte gut für Ihre Karriere sein.»

Doch mit jedem seiner Worte wuchs mein Unbehagen. Beth sprach von einem dreijährigen Engagement. Das Erste, woran ich denken musste, waren meine Hoffnung und mein Plan, meine Mutter in die Vereinigten Staaten zu holen – Johannesburg war mit seiner hohen Kriminalitätsrate eine gefährliche Stadt geworden. Ich trug mich bereits seit einigen Jahren mit diesem Gedanken. Ich hatte meiner Schwester geholfen, nach Amerika zu kommen. Mein Vater hatte die Apothekerprüfung gemacht und war ebenfalls hierhergekommen. Meine Mutter zögerte noch. Meine Versetzung nach London könnte das ganze Vorhaben zunichtemachen.

«Hören Sie, der größte Teil meiner Familie lebt hier», sagte ich.

«Aber Sie sind Single», sagte Conti. «Das kann doch nicht so schwer für Sie sein. London ist nur sechs Flugstunden entfernt.»

Ich schüttelte den Kopf. «Ich weiß nicht», sagte ich. «Ich brauche etwas Zeit, um darüber nachzudenken – ich bin mir nicht sicher, ob das mein Fall ist.»

Beth runzelte die Stirn. «Sie müssen mir sagen, ob es Ihnen ernst ist», sagte sie. «Ich schicke Sie nicht zu einem Treffen mit Daffey nach London [der zu der Zeit dort die Abteilungen Securities und Global Equity Sales leitete], wenn es Ihnen nicht ernst ist. Es gibt viele andere Leute, die scharf auf diesen Job sind – die alles dafür tun würden, ihn zu kriegen.»

Wie der Zufall es wollte, hielt sich in dieser Woche gerade eine gute Bekannte von mir in New York auf, die als MD in der Londoner Niederlassung arbeitete, Georgette. Ich lud sie zum Mittagessen ein, um sie zu fragen, was sie davon hielt.

Ich kannte Georgette, seitdem wir beide als Analysten bei Goldman angefangen hatten. Anschließend waren wir gleichzeitig zu Futures-Tradern befördert worden, und in dieser Zeit telefonierten wir fast täglich miteinander. Normalerweise kam sie zweimal jährlich in die Vereinigten Staaten, sodass wir uns mehrfach getroffen hatten. Sie war dunkelhaarig, gut aussehend und immer elegant gekleidet. Conti hatte sie in London stark gefördert. Es hieß, sie sei mehr Conti als Conti selbst. Auch war das Gerücht über den Atlantik gedrungen, sie sei als Chefin gnadenlos machtversessen und schrecke nicht davor zurück, gegen Kollegen zu intrigieren, um sie abzusägen oder ihre Versetzung zu erreichen. Ein anderer Managing Director hatte ihr den Spitznamen «die Schwarze Witwe» gegeben. Ich fand das alles merkwürdig: Wir hatten uns immer gegenseitig respektiert und waren gut miteinander klargekommen.

Aber als ich Beths Angebot beim Mittagessen erwähnte, war Georgette völlig verdutzt. Ich hatte angenommen, sie wäre eingeweiht, hätte vielleicht sogar an dem Auswahlverfahren mitgewirkt, aber jetzt war klar, dass sie nicht dem engeren Führungszirkel angehörte, der davon wusste. Unverkennbar missfiel es ihr, dass sie von mir davon erfuhr, aber sie versuchte, gute Miene zum bösen Spiel zu machen: «Nun, ich habe so etwas läuten hören», sagte sie. Schon bald sollte ich erfahren, wie sehr sie die Vorstellung, dass jemand in ihr Revier eindrang, als Bedrohung empfand.

Aber in diesem Moment vertraute ich ihr und glaubte, aufrichtig sein zu dürfen. Ich erzählte ihr von meiner familiären Situation und meinen Bedenken gegen den Wechsel. Ich sagte aber auch, dass ich befürchtete, dass ich auf Beths Angebot unklug reagiert hätte.

Georgette wirkte völlig ruhig und gelassen – man konnte sich wirklich nicht vorstellen, wie sie zu dem gehässigen Spitznamen gekommen war. «Nun, ich hätte auch so reagiert», sagte sie. «Wenn du das Gefühl hast, überrumpelt zu werden, wie sollst du dich dann schon verhalten?»

 

Als ich am nächsten Morgen zur Arbeit kam, suchte mich Corey Stevens an meinem Schreibtisch auf und sagte: «Ich muss Sie sofort sprechen.» Er zog mich in ein Besprechungszimmer und schloss die Tür. «Sie haben Beth wirklich sehr verärgert», sagte er.

«Ich habe so etwas befürchtet», gestand ich.

«Sie hat den Eindruck, dass Sie undankbar sind», fuhr Corey fort. «Das hat sie gekränkt. Das könnte Ihnen viel Ärger einbringen. Sie sollten es sich nicht mit ihr verscherzen, denn sie vergisst nicht so schnell. Sie müssen das umgehend aus der Welt schaffen, entweder indem Sie ihr sagen: ‹Tut mir leid, aus familiären Gründen kann ich das nicht machen›, oder aber Sie bitten sie unverzüglich, diplomatisch und ernsthaft um Verzeihung und sagen, Sie werden das Angebot ernsthaft in Erwägung ziehen und Sie seien ihr dankbar dafür, dass sie an Sie gedacht und sich aus dem Fenster gelehnt habe, um Sie vorzuschlagen, wo sie ebenso gut jemand anders hätte empfehlen können.»

Ich fand später heraus, dass Corey für den Posten in Betracht gezogen worden war und ihn auch gern gehabt hätte. Aber er war mittlerweile Managing Director und daher wohl als Führungskraft in New York unabkömmlich. Er wollte nun wenigstens helfen, dass ich den Job bekam.