Kapitel 11

Der Wilde Westen

Ich hätte seinen Rat, Cowboystiefel anzuziehen, beherzigen sollen. London war wirklich der Wilde Westen.

Es gab in Europa genügend Gelegenheiten für die Art von Wertpapiergeschäften, die ich hier etablieren wollte. Ob das Goldman-Sachs-Team dabei mitspielen wollte, war allerdings eine ganz andere Frage. Als ich mich auf meine erste Tour durch Europa begab, die mich zu Kunden in Kopenhagen, Paris, Mailand, Frankfurt und München führen sollte, bekam ich einen Vorgeschmack auf das, was mich erwarten sollte. Ich rief meine Leute in New York an, die Analysten und Strategen, deren Aufgabe es war, Unterstützung für Kundenpräsentationen zu leisten und an der Erarbeitung einer Argumentationsgrundlage mitzuwirken, die Kunden dazu animieren sollte, US-börsennotierten Finanzderivate von Goldman Sachs zu kaufen.

«Ich will kein Spielverderber sein», sagte mir einer der Strategen. «Aber das Management hat uns gesagt, wir sollten uns auf die Trades konzentrieren, bei denen für die Firma ein Gewinn von einer Million Dollar drin ist. Tut mir leid, Mann.»

Klick.

«Vielleicht sind die Jungs in New York einfach schlecht gelaunt», dachte ich. «Ich versuch’s mal bei den Kollegen hier.» Da waren ein paar nette Franzosen, die mir vielleicht helfen würden.

«Im Moment fokussieren wir uns auf Geschäfte mit hohen GCs», sagte der französische Stratege. «Für margenschwache Geschäfte haben wir leider keine Zeit. Pardon.»

Klick.

In meinen ersten Wochen in London konnte ich es nicht glauben, wie oft mir Leute sagten, dafür sei ihnen ihre Zeit zu schade. Ich konnte verstehen, wenn der CEO einer Firma oder die britische Queen keine Zeit für so etwas hatte, aber ich hatte immer gedacht, wir wären in einem Geschäft, in dem Kundenbetreuung groß geschrieben würde. Was für einen Eindruck machte es, wenn ein Kunde mit uns ins Geschäft kommen wollte – auch wenn es kein sexy Deal mit einem Profit von einer Million Dollar war –, und wir weigerten uns? Goldman musste nach dem Abacus-Vergleich Geschäftsbeziehungen und seinen angeschlagenen Ruf reparieren. Meine Auffassung war daher: Warum zeigten wir einigen der größten Akteure in Europa und dem Nahen Osten nicht, dass wir sehr wohl an jenen altmodischen, biederen und schlichten Transaktionen interessiert waren, die wir bisher ausgeschlagen hatten, um uns auf strukturierte Produkte zu konzentrieren?

Am 10. Januar 2011, meinem ersten Arbeitstag, betrat ich die Londoner Niederlassung im River-Court-Hochhaus in der Fleet Street 120. Ich hatte den Rat meines Freundes Phil beherzigt und mir eine wetterfeste marineblaue Barbour-Jacke geleistet, die alle Expats in der Londoner City trugen.

Ich war bis drei Uhr morgens aufgeblieben, um eine Marktanalyse zu schreiben. Ich wollte den europäischen Niederlassungen deutlich signalisieren, dass ich da war. Ich wollte von Anfang an eine gewisse Sichtbarkeit, aber ich wollte auch die Botschaft rüberbringen, dass ich hier war, um zu helfen. Ich war da, um einen Geschäftsbereich aufzubauen. Nicht, um irgendjemandem Umsatz wegzunehmen. Mit verquollenen Augen ging ich um sieben Uhr zur Arbeit. Ich trug meine Glücksbringer-Krawatte, ein leuchtend oranges Hermès-Teil mit einem kleinen schwarzen Fisch darauf.

Um 7 : 30 Uhr fand das morgendliche Briefing statt. In New York erfolgte dieser Überblick über die wichtigsten Aktionspunkte des Tages über die Lautsprecheranlage. In London versammeln sich alle in einem der Partner-Büros am Rand des Handelssaals. Passend zu der rastlosen, fiebrigen Betriebsamkeit in der Londoner Niederlassung hatte auch das Briefing einen aggressiven Tonfall, den ich von New York so nicht kannte. In London schien die wichtigste Frage zu sein: Wie können wir Kunden dazu bringen, das zu tun, was unseren Tradern einen maximalen Profit einbringt?

Die ersten Wochen rauschten an mir vorbei. Ich musste weiterhin meine Analysen veröffentlichen. Sie waren meine Visitenkarten – eine Möglichkeit für meine Kollegen im Büro, mich besser kennenzulernen. Ich musste mich mit den Systemen, der Infrastruktur, den rechtlichen Problemen vertraut machen. Welche Unterschiede in den Steuervorschriften bestanden zwischen Deutschland, Frankreich und Dubai? Es war so, als würde ich versuchen, an einem Hydranten Wasser zu trinken. Es gab eine solche Fülle an Informationen. Ich musste meine Zeit sehr systematisch einteilen. Konzentrier dich auf die wichtigen Dinge, sagte ich mir.

Zu allem Überfluss musste ich mich auch noch auf die FSA-Händlerprüfung vorbereiten, das europäische Gegenstück zur «Series 7»-Prüfung der SEC (die Financial Services Authority ist die britische Finanzaufsichtsbehörde). Ich konnte es nicht glauben. Zehneinhalb Jahre nachdem ich die «Series 7»-Prüfung abgelegt hatte, musste ich mich wieder daranmachen und eine Liste obskurer Vorschriften im Umfang eines Telefonbuchs auswendig lernen, denen ich nach der Prüfung vermutlich nie mehr begegnen würde. Die Managing Directors lagen mir ständig damit in den Ohren: «Wann können Sie die Prüfung ablegen?» Es führte kein Weg daran vorbei, da ich sonst offiziell keine Verhandlungen mit Kunden in Europa führen durfte.

Sonntags und manchmal auch unter der Woche begab ich mich auf Wohnungssuche. Die ersten zehn Wohnungen, die ich mir ansah, waren – gelinde gesagt – ziemliche Bruchbuden, dafür doppelt so teuer wie in New York. Aber mit Nummer elf landete ich dann einen Volltreffer: eine fünfundsiebzig Quadratmeter große Maisonettewohnung in den oberen Etagen eines viktorianischen Hauses in Belsize Park, einem Viertel unmittelbar südlich von Hampstead Heath, das ziemlich angesagt war, seitdem Gwyneth Paltrow und Chris Martin (von Coldplay) hierhergezogen waren.

Ich war sofort begeistert. Die Wohnung war kürzlich renoviert worden, und alles war weiß und modern, mit großen, hellen Fenstern und Dachfenstern im Obergeschoss. Außerdem war das Vermieterehepaar auf eine geniale Idee gekommen: Warum die vier Meter breite Wand des Wohnzimmers nicht als Großbildleinwand nutzen? Statt einen Fernseher im Wohnzimmer aufzustellen, installierten sie einen High-Definition-Projektor an der Decke. Ich lud Leute zu Kinoabenden, zu Übertragungen von Rugby-, Cricket-und Football-Spielen ein. Es war wirklich ein Vergnügen, jeden Abend nach Hause zu kommen.

Zur Arbeit zu gehen war stressiger.

Während meiner ersten Woche in London hatte Daffey vor einem dichtgedrängten Auditorium von Vice Presidents im siebten Stock des River Court ein Referat über die interne Studie zum Thema «Geschäftspraxis» gehalten, an der Goldman Sachs ein Jahr lang gearbeitet hatte und die im Januar 2011 gerade erschienen war. Die Teilnahme war Pflicht. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber ich hielt die Studie für wichtig. Sie war eine Gelegenheit, kritisch die eigene Position zu reflektieren. Der Schwerpunkt der Untersuchungen lag auf den Themen Interessenkonflikte, Kundenbetreuung, strukturierte Produkte und Transparenz. Doch Daffey spulte das Ganze völlig mechanisch ab. Er verlas eine Reihe von Ergebnissen und ging kaum einmal ins Detail. Ich war enttäuscht. Er war für mich immer ein «Kulturträger» gewesen. Er hätte die Gelegenheit nutzen können, um die rund tausend Vice Presidents, die anwesend waren, den Weg in die Zukunft zu weisen. Er hätte sagen können: «Wir haben in der Vergangenheit Fehler gemacht, und unser Ruf hat gelitten. Zeigen wir den Kunden durch vorbildliches Handeln, dass wir aus unseren Fehlern gelernt haben.» Aber nichts dergleichen.

Ich wollte gewiss keine Bergpredigt hören oder so etwas, aber ich wollte wenigstens spüren, dass er die Sache ernst nahm, von der er da sprach. Ich weiß nicht, woran es lag, ob Daffey einfach nur frustriert war, dass Goldman Sachs so tief gesunken war, um sich derart rechtfertigen zu müssen, oder ob er der Meinung war, dass das Ganze nur ein schlechter PR-Gag war. Ich fragte mich, was aus dem Daffey geworden war, mit dem zusammen ich beim großen Blackout 2003 im Handelssaal des One New York Plaza die Stellung gehalten hatte.

Als er nach dem Vortrag durch den Mittelgang ging, rief ich ihn an: «Daffey.»

Er drehte sich um. «Hey, Mann, willkommen!», sagte er. Er gab mir die Hand. Da ein weiterer amerikanischer Vice President ganz in der Nähe stand, plauderten wir ein paar Minuten über NCAA-Basketball. Dann war Daffey auch schon verschwunden, zurück in seinem Refugium.

 

In meiner ersten Woche in London wurde ich mit einer Bezeichnung für Kunden konfrontiert, die noch weitaus zynischer und feindseliger klang als «Kontrahent». Ein junger Associate, den ich gerade erst kennengelernt hatte – sicher höchstens vierundzwanzig oder fünfundzwanzig Jahre alt –, erzählte mir von einem Geschäft, das er gerade unter Dach und Fach gebracht hatte.

«Mein Muppet von Kunde hat sich für den Trade, den wir gerade durchgezogen haben, keine Vergleichsangebote eingeholt, sodass wir an ihm noch schlappe 1,5 Millionen Dollar mehr verdient haben als sowieso schon.» Damit meinte er, dass der Kunde Vertrauen gehabt und den Kurs nicht bei anderen Maklern gegengeprüft hatte. Der Verkäufer hatte ihm de facto zu viel berechnet. Dabei war dieser Associate keineswegs ein auf Abwege geratenes schwarzes Schaf. Sein Chef saß nämlich direkt neben ihm, lächelte dazu und nickte alles ab.

Die Zeiten hatten sich geändert. Als ich noch Associate war, wäre man dafür ins Büro eines Partners zitiert und ernsthaft verwarnt worden – vielleicht sogar gefeuert. Ein solches Verhalten wäre als Verstoß gegen den bewährten Grundsatz der Firma gewertet worden, dass man Kunden früher oder später verliert, wenn man nicht stets ihr Bestes im Auge hat.

Heute hatten Nachwuchskräfte keinen Anreiz mehr, die Bedürfnisse des Kunden zu erfassen, sondern sollten lediglich Geschäfte zum Abschluss bringen – so viele und so schnell wie möglich. Ein solcher junger Mitarbeiter wird heutzutage in aller Regel belobigt und gilt als «hungrig» oder als «Killer».

«Muppet» war ein Wort, das für mich Kindheitserinnerungen an niedliche Stoffpuppen wie Kermit den Frosch heraufbeschwor. Aber so, wie dieses Wort in Großbritannien verwendet wurde, hatte es nichts Niedliches mehr an sich. Es bedeutete vielmehr «Trottel» – eine Marionette, die von jemand anderem manipuliert wurde. Schon kurz nach meiner Ankunft in London war ich schockiert, wie oft Kollegen und Führungskräfte Kunden «Muppets» nannten. Ich fragte mich, woher diese verächtliche Einstellung kam. Glaubten die Leute, der Kunde wäre wirklich dümmer als sie? Und das war die Rechtfertigung dafür, dass man ihn einfach ausnehmen durfte?

In den ersten Monaten hörte ich immer wieder, wie Kunden mit diesem Namen belegt wurden. Ein Kunde wurde als «Muppet» tituliert, weil er so dumm war, den Bloomberg-Datenservice für Echtzeit-Preisinformationen nicht zu nutzen (weil Bloomberg dafür viel Geld kassiert). Als sein Verkäufer bei Goldman daher ein Wertpapiergeschäft ausführte, nannte der ihm einfach einen Preis, der fünfzehn Minuten alt war – den Preis nämlich, den der Kunde auf seinem Daten-Laufband sah, das nicht dem neuesten Stand der Technik entsprach. Der Verkäufer sah natürlich die Echtzeitdaten auf seinem Bloomberg, als er die Order ausführte. Die Differenz zwischen dem Echtzeitpreis und dem Preis, den der Kunde sah, war für die Firma äußerst vorteilhaft und verdoppelte oder verdreifachte ihre Gewinnspanne (den Gross Credit) bei dem Geschäft.

Ein anderer Kunde wurde als «Muppet» bezeichnet, weil er nicht verstanden hatte, dass man beim Kauf von Terminkontrakten einen Bareinschuss in bestimmter Höhe leisten musste.

Ein anderer Kunde erteilte irrtümlich eine Order für seinen Optionskontrakt mit einem falschen Ausübungspreis (den festgesetzten Preis, zu dem der Kunde den Basiswert an einem zukünftigen Termin kaufen oder verkaufen konnte). Der Kunde fragte beim Verkäufer an, ob Goldman den Ausübungspreis einfach abändern und die Optionsprämie wie gehabt belassen könne, weil er sonst Ärger mit seinem Chef bekäme. Weil er zu wenig von Optionspreistheorie verstand, entging ihm völlig, dass ihm der Fehler in diesem Fall zum Vorteil gereicht hätte. Natürlich stimmte der Verkäufer zu. Der Kunde merkte nicht, dass er eigentlich einen viel besseren Preis für das Derivat hätte erhalten müssen und dass er für das Konstrukt rund 1 Million Dollar zu viel bezahlte.

Noch ein anderer «Muppet», der «keinen blassen Schimmer hatte, was er da tat», ging unmittelbar vor der Krise riesige Short-Positionen in Volatilität ein und machte gigantische Verluste. Die Liste der «Muppets» ließe sich beliebig verlängern.

Es verblüffte mich, wie offen diese Einstellung zum Ausdruck gebracht wurde. Es war sonderbar – und für mich wirklich ein Problem, denn um Umsatz zu machen, musste ich schließlich Beziehungen zu Kunden aufbauen, nicht zu Trotteln. Was ich vorhatte, würde zunächst einen ziemlichen Einsatz erfordern, aber sobald wir Kunden, die bislang nur «Elefanten-Geschäfte» getätigt hatten, dazu bewegen könnten, von Goldman auch Optionen, Swaps und einfache Standardderivate zu kaufen (und dazu bedürfte es keiner großen Überzeugungsarbeit), würde uns dies einen stetigen Gewinnstrom bescheren. Das war geschenktes Geld. Niedrig hängende Früchte. Warum taten sich die Kollegen so schwer damit?

Der erste Partner, bei dem ich für mein Basisgeschäft warb, war einer der Sales-Leiter. Ich sagte: «Ich habe mich mit Ihren Leuten getroffen, und sie sagen mir, dass das Geschäft, das ich hier aufbauen will, nicht lukrativ genug ist. Aber die Kunden, mit denen ich spreche, sind da ganz anderer Ansicht. Welches Signal senden wir damit aus, wenn wir ihre Bedürfnisse ignorieren?»

Er ließ mich glatt abblitzen, in der, wie ich mittlerweile wusste, für Goldman Europa typischen Art. Zumindest drückte er sich sehr anschaulich aus: «Wir haben nur eine gewisse Zahl von Kugeln, die wir auf Kunden abfeuern können», sagte er mir. «Und die sollten wir uns für die großen Elefanten-Geschäfte aufheben.»

Ich zuckte innerlich zusammen. Wo lebte der Mann? Das letzte Mal, als die Elefanten frei herumliefen, war 2008. Er hielt ganz offensichtlich noch immer an dem Traum jener ein bis zwei Millionen Dollar schweren Deals mit strukturierten Produkten fest, die längst obsolet waren, aber dem Einfältigen Kunden beziehungsweise dem Kunden-der-nicht-zu-fragen-versteht natürlich immer aufs Auge gedrückt werden konnten.

Das Geschäft, das ich entwickeln wollte, würde 50 000 Dollar an Gebühren hier und 50 000 Dollar da einbringen, und am Ende des Jahres wären die 20 Millionen Dollar beisammen, die ich als Erlös prognostiziert hatte. Wenn wir allerdings den Kunden sagten: «Wir machen keine kleineren Geschäfte mit US-Derivaten», würden wir sie nur vor den Kopf stoßen oder, schlimmer noch, der Konkurrenz in die Arme treiben. Wie konnten wir erwarten, dass sie ihre großen Deals mit uns machten, wenn wir ihnen sagten, ihre kleinen Deals seien nicht gut genug für uns?

 

Am 12. Februar legte ich meine FSA-Prüfung ab: Endlich konnte ich loslegen! Und noch am selben Tag brach ich mit meinem Chef und einem Kollegen zu meiner ersten Geschäftsreise nach Mailand auf. Ich freute mich darauf, zum ersten Mal nach Italien zu kommen, und ich war sehr erleichtert, endlich die Prüfung hinter mich gebracht zu haben.

Mailand übertraf meine Erwartungen. Mein Chef wohnte im Bulgari, einem supernoblen Hotel, in dem nur noch ein Zimmer frei war. Mein Kollege und ich stiegen im Park Hyatt ab, das kaum weniger luxuriös war. Ich hatte ein Standardzimmer, aber einen solchen Standard hatte ich noch nicht erlebt. Es war wie ein Zimmer in einer eleganten italienischen Villa, mit direktem Ausblick auf den Duomo, wo Napoleon zum König von Italien gekrönt worden war. Am Abend gingen wir mit einem unserer größten italienischen Kunden essen und genossen ein exzellentes viergängiges Menü im Antico Ristorante Boeucc, einem der ältesten und besten Speiselokale in der Stadt. Wir ließen es uns gutgehen.

Am nächsten Tag trafen wir unsere sämtlichen fünf Kunden in Mailand: Hedgefonds, Investmentfonds und eine Versicherungsgesellschaft. Jeder verwaltete über eine Milliarde US-Dollar. Die Gespräche mit ihnen stimmten mich optimistisch, weil sie mir verdeutlichten, dass der Geschäftsbereich, den wir meines Erachtens ziemlich leicht erschließen konnten, für die Kollegen in Europa einfach noch Terra incognita war.

Von Mitte Februar bis Ende Mai war ich fast ununterbrochen auf Reisen. Ich flog nach Paris, Frankfurt, München, Kopenhagen, Zürich, Genf und noch einmal nach Mailand. Auf einer Reise im April flog ich an einem Donnerstagabend nach Paris, wo ich freitags eine Reihe von Meetings hatte, am Sonntagabend flog ich nach Hongkong, wo ich montags zwei Termine hatte (und außerdem bei der dortigen Goldman-Niederlassung vorbeischaute). Noch am selben Abend flog ich nach Singapur, aß mit zwei Managing Directors von Goldman Sachs im Ritz Carlton zu Abend und ging anschließend ins futuristische Marina Bay Sands, einem neuen, spektakulären Hotel-und-Kasino-Komplex direkt am Strand, mit seinem sogenannten «Sky Park» und einer «Sky Bar» mit einem riesigen Pool auf der Dachterrasse mit Ausblick auf den gesamten Stadtstaat. Am Dienstag besuchte ich fünf verschiedene Kunden in Singapur. Am selben Abend flog ich nach Dubai, zu einer Konferenz für vermögende Privatpersonen – so vermögend, dass auch Lloyd Blankfein eingeflogen war. Am nächsten Morgen flog ich zurück nach London.

Die Reise war anstrengend gewesen, aber aufregend. (Was mir mehr zu schaffen machte, war die destruktive Atmosphäre in der Londoner Niederlassung.) Auf den Reisen lernte ich sehr viel. Es gab große Unterschiede bei den einzelnen Kundenstämmen, und die nationalen Eigenheiten kamen fast allzu klischeehaft zum Tragen. Die deutschen Kunden zum Beispiel waren sehr höflich und risikoscheu. Bei einem Meeting saßen sie einfach nur schweigend da und nickten mit den Köpfen. Ein Kollege in London, ein Quant, erzählte mir, am schlimmsten sei für ihn ein Treffen mit einem deutschen Großkunden gewesen: Er habe vor zwanzig Leuten einen zweistündigen Vortrag über Derivate gehalten, und alle hätten sie höflich dagesessen und genickt, sogar hin und wieder gelächelt. Am Schluss habe er gefragt: «Haben Sie irgendwelche Fragen oder Anmerkungen?» Schweigen. Dann habe der wichtige Kunde, der am Kopfende des Tisches saß, dem Quant gesagt: «Übrigens handeln wir hier nicht mit Derivaten.»

Die französischen Kunden waren ganz anders – sie glichen alle ein wenig dem «fabelhafte Fab». Sie prahlten gern: Sie rühmten sich ihrer Klugheit, Kultiviertheit und ihres Durchblicks. Der französische Markt war absolut «overbrokered», wie es auch heißt. Wenn die Kunden zehn verschiedene Banken hatten, mit denen sie ihre Geschäfte tätigten, dann teilten sie ihr Auftragsvolumen natürlich auch auf die zehn Banken auf. Die Märkte waren rasch gesättigt, und jede Bank erhielt nur ein schmales Stück vom Kuchen.

Manchmal habe ich dadurch bei neuen Kunden einen Fuß in die Tür bekommen, indem ich Senior Partner aus New York hinzuzog. Unsere Meetings waren einerseits erfreulich und andererseits frustrierend. Erfreulich, weil das Geschäftspotenzial da war, frustrierend, weil die Kunden frustriert waren. Kunden in der Schweiz, in Frankreich und Deutschland betonten immer wieder: «Goldman Sachs ist nicht kundenfreundlich. In guten Zeiten kämpft ihr um die profitablen Aufträge, aber als wir euch in der Krise brauchten, wart ihr nicht für uns da. Und jetzt, wo wir Standardprodukte kaufen wollen, macht ihr uns das unglaublich schwer. Ist euch das nicht profitabel genug?»

Eine große Hürde, die wir jetzt errichteten, waren die umfangreichen Vertragsunterlagen. Selbst bei einem so einfachen Produkt wie Aktienoptionen sagten wir dem Kunden: «Sie müssen dieses achtundfünfzigseitige Dokument ausfüllen», während jede andere Bank sagte: «Unterschreiben Sie bitte dieses einseitige Formular.» Es war für Kunden viel einfacher, mit den anderen Banken Geschäfte zu machen.

Ich nahm mir vor, das schnellstens zu ändern, und mit ein bisschen Hilfe aus New York gelang es mir auch. Bis zum Sommer hatte ich aus den achtundfünfzig Seiten eine gemacht, und ich gewann jede Menge neue Kunden. Es genügte, einen kleinen Ausschnitt des Geschäfts, den sich seit Jahren niemand so genau angesehen hatte, aus einer neuen Perspektive zu betrachten, um Goldman Sachs wieder attraktiv für Kunden zu machen. Einige Leute in der Firma waren beeindruckt: «Wow, ich kann nicht glauben, dass uns das in zehn Jahren nicht aufgefallen ist.» Andere sagten erwartungsgemäß: «Das ist super, aber das sind keine Elefanten-Geschäfte. Das ist Taschengeld, keine Goldgrube.» Pauschale Courtagegebühren machten einen nicht zum «Stud» (zum Hengst) oder zum «Rockstar», wie die entsprechenden Mitarbeiter gern tituliert wurden – in E-Mails oder im Handelssaal.

«Gut gemacht, Stud.»

«Du bist ein Rockstar, Mann.»

«X hat einen Superstich gemacht.»

«Y hat den Vogel abgeschossen.»

«Z hat Big Trades eingelocht.»

Aufgrund der Staatsschuldenkrise und der dadurch ausgelösten Turbulenzen auf den europäischen Märkten sahen sich europäische Investoren nach stabileren Anlagemöglichkeiten um. Ihr Blick wandte sich meinem Geschäftsfeld, den Vereinigten Staaten von Amerika, zu. Ich sah, dass es in Europa tonnenweise «Dry Powder» gab – ungenutztes Kapital von Kunden, das darauf wartete, investiert zu werden. Und die Kunden, die sich an strukturierten Produkten die Finger verbrannt hatten, wollten jetzt in transparente, börsennotierte Instrumente investieren. Geschäfte, die niemanden vom Hocker hauen würden, aber über die nächsten zehn Jahre stetige und ordentliche Erträge abwerfen würden.

Aber um dieses Vorhaben umzusetzen, musste ich die Partner davon überzeugen, dass meine Londoner Kollegen ihre Einstellung ändern müssten. Ich verbrachte den größten Teil des ersten Jahres in London damit, überall meine Botschaft zu verkünden: «Das ist ein wichtiges Geschäft. Aus den Einnahmen können wir Miete und Strom bezahlen. Aber vor allem müssen wir es unseren Kunden zuliebe tun.»

Hin und wieder fand ich Gehör. Meistens aber nicht.

Nach meiner Rückkehr von einer besonders langen und erfolgreichen Geschäftsreise teilte ich Georgette als einer meiner Vorgesetzten in einer E-Mail mit, dass ich mit ihr gern über einige der Meetings sprechen würde. Zu meiner Überraschung kam sie zu meinem Schreibtisch und sah mir ins Gesicht. Sie lächelte nicht. «Niemand will sich so dringend mit mir treffen wie du», sagte sie. «Im Allgemeinen unterhalte ich mit meinen Mitarbeitern nicht öfter als einmal im Monat. In Zukunft beschränk deine Kommunikation mit mir auf eine einzeilige E-Mail, in der du mir das Auftragsvolumen und unsere Gewinnspanne mitteilst.»

 

Ehe ich mich versah, waren meine ersten sechs Monate in London vergangen. Im Juni flog ich zurück nach New York, um mit einigen Partnern zu sprechen und ihnen meine Einschätzung mitzuteilen. Sie alle waren sehr gespannt darauf zu hören, wie es in London so war.

«Wie sieht es mit der Firmenkultur dort aus?», fragte der erste Partner, mit dem ich mich traf. Ich nahm kein Blatt vor den Mund. Ich sagte, es herrsche klar eine Trading-Mentalität vor. Die Mitarbeiter seien in erster Linie daran interessiert, Geld für die Firma zu verdienen. Der Partner hatte viel Zeit in London verbracht, und er stimmte mir zu.

Ein anderer Partner fragte gleich: «Na, sieht es sehr schlimm aus im Londoner Büro?» Als ich ihm meine Einschätzung darlegte, lächelte er ein bisschen. «Die Chefs in London sind bei weitem nicht so kundenorientiert wie wir in New York», sagte er. «Sie beschränken sich darauf, Kunden zu Geschäften zu überreden, statt sich nach ihren Bedürfnissen zu richten.» Er fügte hinzu, dass Michael Sherwood (genannt «Woody»), der Co-CEO von Goldman Europa, und Gary Cohn sich nicht ausstehen konnten. Sie würden kaum ein Wort miteinander wechseln.

Aber als ich mit den einzelnen Partnern über die (nach meinem Dafürhalten) Schwächen der Firmenführung in London sprach, musste ich gleichzeitig denken, dass die Stoßrichtung in New York genau dieselbe war. Der Unterschied zwischen den beiden Standorten bestand im Grunde nur im Sprachgebrauch. Die Art und Weise, wie die Leute in London mit Elefanten-Geschäften prahlten, war gewiss extremer als in New York, aber in New York standen diese Mega-Deals genauso hoch im Kurs.

Wenn man sich in der New Yorker Zentrale im Handelssaal aufhielt und in unmittelbarer Nähe neben jemandem aus der Führungsspitze stand, dann musste man ein Pokerface aufsetzen und so tun, als wäre alles in Ordnung. Tatsächlich war aber nichts in Ordnung. Auch in New York wurden die Einfältigen Kunden und die Kunden-die-nicht-zu-fragen-verstehen, zum Kauf strukturierter Produkte animiert, die für die Firma höchst lukrativ waren, während die Kunden die damit verbundenen Kosten nicht richtig durchschauten. Allerdings achtete man in der West Street 200 viel besser darauf, wie man über diese Trades sprach. Hier wusste man, dass man in große Schwierigkeiten kommen würde, wenn man das Kind beim Namen nannte.

Hin und wieder besprach ich all dies mit meinem Mentor. Meiner (und seiner) Meinung nach untergruben interne Machtkämpfe mit der Zeit die Kultur und die Arbeitsmoral von Goldman Sachs. Wenn sich Partner mehr dafür interessierten, die Gewinnspannen bei ihren Transaktionen zu wahren, als auf die Bedürfnisse der Kunden einzugehen, dann gaben sie damit allen unter ihnen stehenden Mitarbeitern – von den Managing Directors über die Vice Presidents bis zu den Associates und Analysten – ein fatales Beispiel. Machten gewisse Leute in der Firma einfach zu viel Geld, um ein paar notwendige moralische Entscheidungen zu treffen?

 

Im Wall-Street-Jargon bedeutete «jemanden killen» oder «jemanden abschießen», dafür zu sorgen, dass der Betreffende entlassen, zurückgestuft oder in eine andere, oft weit entfernte Niederlassung versetzt wird. Dies geschieht im Allgemeinen dann, wenn zwei Parteien in Konflikt miteinander geraten und eine der beiden zu einem Vorgesetzten geht und sagt: «Zwischen uns klappt es nicht, und dieser Streit schadet dem Geschäft. Und außerdem macht diese Person alles falsch.» Zu diesem Zeitpunkt ist die Luft schon so dick, dass das Management beschließt, einen der Beteiligten – in der Regel denjenigen, der angreifbarer oder entbehrlicher ist – zu versetzen.

Diese Praxis hat eine lange Tradition in der Finanzwelt, und sie wird mit unterschiedlicher Schamlosigkeit umgesetzt. Zweifellos haben Hank Paulson und Lloyd Blankfein auf dem Weg an die Spitze nicht immer Samthandschuhe getragen. Es sind harte, ehrgeizige Männer, und Goldman Sachs ist in der Tat kein Wohltätigkeitsverein. Aber es gab eine Zeit bei Goldman und an der Wall Street, in der Mitarbeiter, wenn sie in ihrem Karrierestreben eine ethische Linie überschritten, entlassen, degradiert oder gemaßregelt wurden. Heute ist es so, dass man sich mit harten Bandagen selbst puschen kann, und solange man seine Machtstellung behält, wird sich kein Vorgesetzter einmischen. Aber selbst in dem aggressiveren Umfeld unserer Zeit gibt es einen bestimmten Punkt, wo das Manipulieren und Intrigieren zu Karrierezwecken unmoralisch wird und nicht nur die Arbeitsmoral insgesamt untergräbt, sondern auch Nachwuchskräften ein schlechtes Beispiel gibt. Es zeigt dem jungen Analysten und dem jungen Associate, dass unmoralisches Verhalten belohnt wird.

Georgette war eine Meisterin der Intrige und sehr erfahren im Ausschalten von Konkurrenten. Mein Mentor sagte zu mir: «Aus irgendeinem Grund hat sie beschlossen, Sie nicht zu eliminieren», sagte er mir. «Das ist die gute Nachricht. Dennoch wird sie Ihnen weiterhin Knüppel zwischen die Beine werfen. Sie wird versuchen, Ihren Aufstieg zu sabotieren, statt Sie offen abzuschießen.» Es gebe nur einen Typen im ganzen Handelssaal, der sie jemals bei ihrem eigenen Spiel geschlagen habe, sagte er. Es war der Mitarbeiter, der mir nach meinen ersten Vorstellungsgesprächen in London in einer E-Mail geschrieben hatte: «Da wartet eine ganze Welt darauf, von uns gemeinsam erobert zu werden.» Er war zwei oder drei Jahre jünger als Georgette, sein Spitzname war «Punter» (womit auch ein Spekulant bezeichnet wird). Es hieß, dass, nachdem «Punter» von einem Kollegen einige sehr große Kunden geerbt hatte, Georgette versuchte habe, ihn mit einem ihrer klassischen Tricks aufs Kreuz zu legen, in diesem Fall mit der Fünfzehn-Prozent-Steuer.

Diese Masche funktionierte folgendermaßen: Jedes Mal, wenn jemand im Sales mit einem Kunden einen Abschluss tätigte, wurde die Provision in Höhe von 1000 Dollar – beziehungsweise, häufiger, die versteckten Kosten des Finanzprodukts in Höhe von 100 000 Dollar – neben dem Namen des Sales-Mitarbeiters verbucht. Am Jahresende legte das Management anhand der Summe aller Provisionen eines Mitarbeiters die Höhe seines Bonus fest. Aber in der Zwischenzeit hatte Georgette fünfzehn Prozent der Summe jeder Person in ihrer Gruppe auf ihr eigenes Konto transferiert und dadurch ihren Bonus erhöht. Sie wies einfach die Leitung der Trading-Abteilung an: «Bitte schreiben Sie zukünftig fünfzehn Prozent aller Erlöse von Olivier mit den Kunden X, Y und Z meinem Konto gut.» Das war Wegelagerei. Die Leute waren fassungslos, aber alle hatten Angst, sie deshalb zur Rede zu stellen.

Alle außer «Punter».

Als Georgette ihren Anteil an seinen üppig sprudelnden neuen Erlösen forderte, sagte er einfach: «Auf gar keinen Fall!» Er sagte ihr, sie solle ihn in Ruhe lassen, obwohl sie seine Vorgesetzte war. Der Schachzug ging auf. Aber nur weil «Punter» in so hohem Ansehen stand. Hätte Georgette gesagt: «Ich hol mir meine fünfzehn Prozent trotzdem», hätte sie vor den anderen ziemlich schlecht dagestanden. Also gab sie klein bei und ließ ihn in Zukunft in Ruhe.

Dies war die Ausnahme, die die Regel bestätigte. Anscheinend hatte Georgette sogar einmal den Nerv gehabt, in Daffeys Büro zu stürmen und, hinter den Glaswänden, aber vor den Augen der Mitarbeiter, mit den Füßen aufzustampfen und lautstark Forderungen zu stellen, während Daffey ihren Auftritt kleinlaut über sich ergehen ließ. «Daffey war machtlos gegen sie», sagte mein Mentor. «Alle haben Angst davor, dass sie ihre Sachen packt und die Firma verlässt. Deshalb sagen sie zu allem ja und amen.»

Sich einen Anteil an der Provision beziehungsweise der Gewinnmarge der Untergebenen zu sichern war nur eine der speziellen Praktiken, die mir zu Ohren kamen, als ich versuchte, meine Kollegen für mich zu gewinnen. Es gab noch weitere. Ein anderer Manager im Handelssaal, der bedingungslos gewinnorientiert war, soll angeblich vor der Krise einen komplexen, anlagenklassenübergreifenden strukturierten Trade mit einem Pensionsfonds gemacht haben, der der Firma 100 Millionen Dollar einbrachte. Es wurde gemunkelt, der Manager habe in jenem Jahr 12 Millionen Dollar als Bonus erhalten. Für den Kunden soll es in der Folge ein Albtraum gewesen sein, die Verluste aus diesem Trade über mehrere Jahre auszugleichen.

Wenn man mit diesem Typen kommunizierte, wenn man ihm eine E-Mail schrieb und man erwähnte auch nur andeutungsweise ein Geschäft mit einem Kunden, bekam man in der Regel eine Mail zurück, die aus drei Zeichen bestand: GC? Gewinnspanne? Sonst nichts. Keine Frage danach, warum der Kunde diesen Trade wollte, was genau für ein Geschäft es war oder sonst etwas. Er wollte nur wissen, wie viel Geld wir mit dem Trade verdienten. Merkwürdigerweise war er, jenseits des Tradings, ein recht netter Kerl. Er war humorvoll, hatte eine hübsche Frau und nette Kinder, deren Fotos auf seinem Schreibtisch standen.

Manchmal führte die Verherrlichung der GCs zu weit. Als im Spätsommer 2011 die europäische Staatsschuldenkrise hochkochte und Moody’s und Standard&Poor’s die Kreditwürdigkeit der US-Regierung herabstuften, schickten fünf oder sechs Managing Directors jeweils eine E-Mail an alle sechshundert Leute im Handelssaal, in der sie ihre jeweiligen Teams dafür priesen, dass es ihnen inmitten der Krise gelungen war, jede Menge lukrative Deals reinzuholen. In den E-Mails wurden die Gebühreneinnahmen in Höhe von zig Millionen Dollar sehr detailliert aufgeschlüsselt – nach Elefanten-Geschäften mit über 1 Million Dollar Gewinnspanne; nach Kundentyp (wobei die Namen der Kunden aus rechtlichen Gründen weggelassen wurden) und nach Trade-Typ –, und die Verfasser klopften allen Beteiligten (aber vor allem sich selbst) für die «ausgezeichnete Arbeit» auf die Schulter. Innerhalb von zwei Minuten schickte Daffey folgende Rund-Mail an alle: «Es ist zu früh für Ehrenrunden. Die Börsen haben geöffnet. Voller Einsatz, Leute!»

Ich fand das alles ziemlich bizarr. Die Volkswirtschaften mehrerer europäischer Staaten – Griechenland, Spanien, Italien, Portugal – schienen kurz vor dem Kollaps zu stehen, und wir prahlten damit, wie viel Geld wir mit Kunden verdienten, die durch den drohenden Zusammenbruch entweder in Panik gerieten oder, schlimmer noch, unmittelbar betroffen waren und viele Millionen Dollar verloren. Es fühlte sich ein bisschen so an wie auf dem Höhepunkt der Krise 2008, als Bobby Schwartz Triumphe feierte.

 

Ein paar Monate nachdem Daffey in London vor versammelter Mannschaft die Ergebnisse der Studie zur Geschäftspraxis vorgestellt hatte, hielt die Firma eine Reihe von Anschlussseminaren für kleinere Gruppen von Vice Presidents und Managing Directors ab. Das Seminar, an dem ich teilnahm, wurde von Brett Silverman geleitet, dem Partner, der mich direkt nach dem Zusammenbruch von Bear Sterns im Frühling 2008 nach Asien begleitet hatte (und der das Ulk-Video für die Weihnachtsfeier gedreht hatte). Er war drei Monate vor mir nach London geschickt worden, auch, wie einige behaupten, um den Versuch zu unternehmen, die dortige Firmenkultur wieder auf Vordermann zu bringen.

Ich fand, dass es ein recht gutes Seminar war. Silverman sagte: «Bei der Befragung der Kunden zeichnet sich ein klares Bild ab. Sie vertrauen ihren persönlichen Kundenberatern im Sales-Bereich. Aber Goldman Sachs als Unternehmen insgesamt vertrauen sie nicht. Wir müssen diese Wahrnehmung verändern.»

Als nach der Sitzung fast alle den Raum verlassen hatten, ging ich zu Silverman und sagte ihm, diese Seminare für Vice Presidents seien bestimmt sehr hilfreich, aber die Teamleiter, die Managing Directors, müssten die gewonnenen Erkenntnisse auch in die Praxis umsetzen, indem sie selbst mit gutem Beispiel vorangingen. Ich fuhr fort: «Junge Nachwuchskräfte werden sich nicht integer verhalten, wenn sie nicht sehen, dass sich die Managing Directors in dieser Hinsicht vorbildlich verhalten. Die Managing Directors müssen zur Verantwortung gezogen werden.»

Er sah mich nur ausdruckslos an und nickte wortlos, fast roboterhaft.

 

Nach dem Geschäftspraxis-Seminar verhielten sich viele Sales-Manager verschiedener Produktgruppen nach meinen Beobachtungen so, als hätten sie dort nicht aufgepasst. Bei den Teambesprechungen sagten sie genau das, was sie schon immer gesagt hatten: «Wie viele Elefanten-Geschäfte haben wir diese Woche gemacht? Welche Region hat die meisten an Land gezogen? Auf welche strukturierten Produkte sollten wir uns konzentrieren, um die margenstarken Abschlüsse zu maximieren? Welche ‹Äxte› müssen wir aus den Büchern rauskriegen?»

Die «Äxte» bereiteten mir Kopfzerbrechen. Eine «axe» ist im Goldman-Jargon eine Position, die das Unternehmen loswerden will, oder eine riskante Position, die es stützen will. Die Firma ist im Grunde davon überzeugt, dass ein bestimmtes Ereignis eintreffen wird, trotzdem rät sie dem Kunden, auf das Gegenteil zu setzen, damit die Firma bei dem Trade die Gegenseite einnehmen und eine Art sichere Eigenwette umsetzen kann.

Man könnte dies mit dem Verkauf von Donuts vergleichen: Angenommen, Sie wären Eigentümer eines Donut-Ladens der Kette Krispy Kreme und Sie hätten zu viele Donuts auf Lager und Sie müssen sie verkaufen, bevor sie schlecht werden. Um den Absatz anzukurbeln, könnten Sie die Donuts als «fettfrei» anpreisen. Das wäre natürlich gelogen, aber es würde Sie nicht ins Gefängnis bringen. Man könnte sie verklagen, aber wer würde das schon tun? Plötzlich würden die Leute in Ihren Laden strömen, um diese köstlichen Krispy-Kreme-Donuts zu kaufen, wobei die Kunden sich selbst einreden, dass eine so angesehene Marke wie Krispy Kreme schon die Wahrheit sagen wird, die Donuts also tatsächlich fettfrei sind. «Äxte» gleichen überschüssigen Krispy-Kreme-Donuts, die Goldman nicht länger auf Lager halten will und die das Unternehmen daher seinen Kunden – mit nicht immer völlig zutreffenden Informationen – schmackhaft zu machen versucht.

Bei unseren täglichen Frühbesprechungen in London verblüffte es mich, wie oft sich unsere allgemeine Lageeinschätzung änderte. Unsere Meinungsumschwünge erfolgten so häufig, dass sie nicht in der Sache begründet sein konnten. Das tagesaktuelle Lagebild basierte für gewöhnlich auf dem, was die Trader in ihren Büchern hatten und was sie «loswerden» (verkaufen) oder «an Land ziehen» (kaufen) wollten. Oft schickten sie Strategen oder Quants zu den Verkäufern, um sie dazu zu überreden, dass diese ihrerseite die Kunden dazu überredeten, in Aktien oder andere Produkte zu investieren, die man loswerden wollte. Für die erfolgreiche Bereinigung solcher unerwünschter Positionen wurden manchmal doppelte GCs gutgeschrieben. Die Argumentation der Strategen konnte dabei das genaue Gegenteil dessen sein, was wir wirklich dachten – nur weil wir wollten, dass Kunden bei unseren Handelsgeschäften die Gegenseite einnahmen.

Im Jahr 2007 war Abacus die «axe du jour». Bei meiner Ankunft in London 2011 lautete der «Tagesbefehl», Kunden dazu zu überreden, Verkaufs-oder Kaufoptionen auf europäische Großbanken wie die Société Générale, BNPParibas, UniCredit, Intesa und so weiter zu kaufen oder zu verkaufen. Wir hatten unsere Bewertungen dieser Kreditinstitute ständig grundlegend geändert. Ich dachte damals: Wie können wir dies tun, ohne eine Miene zu verziehen? Kein vernünftiger Kunde wird uns glauben, dass sich die Fakten, auf die sich unsere Beurteilungen stützen, so häufig ändern. Diese Analysen waren offenkundig irreführend und unaufrichtig.

Im Fall der europäischen Banken ließen sich sogar noch mehr Kunden als gewöhnlich für diese Trades gewinnen, und darunter waren auch traditionell eher vorsichtige Investmentfonds. Die Firma sah eine Gelegenheit, in diesem Sektor viel Geld zu verdienen, weil Länder wie Griechenland, Portugal und Spanien die Turbulenzen einer Schuldenkrise durchmachten und US-Politiker sich in der Frage, ob die US-Schuldenobergrenze angehoben werden sollte, und im Hinblick auf einen langfristigen Plan zum Abbau der Staatsverschuldung gegenseitig blockierten. Daher sprach einiges dafür, dass S&P die Kreditwürdigkeit der USA herabstufen würde – was noch größere Turbulenzen hervorrufen würde. Je unruhiger das Marktumfeld, umso volatiler die Optionen und umso fetter die Margen für die Banken, die die Preise festsetzten. Zwar steigt das Risiko, aber ebenso die Aussicht auf riesige Gewinne.

Abgesehen von der offensichtlichen Unaufrichtigkeit, die darin lag, unseren Kunden, je nach den Wünschen unserer Wertpapierhändler, ständig etwas anderes zu empfehlen, beunruhigten mich auch die möglichen Auswirkungen unseres Glücksspiels mit europäischen Bankenoptionen. Goldman Sachs hatte Griechenland mit Hilfe von Derivaten geholfen, seine Schulden zu kaschieren. Jetzt versuchte das Unternehmen, die größten Investoren der Welt dazu zu bewegen, in rasendem Wechsel Kaufs-und Verkaufsorders zu erteilen – mit oft erheblichen Auswirkungen auf den Markt (die Kurse einiger dieser europäischen Bankaktien bewegten sich manchmal um über fünf Prozent an einem Tag).

Und hier handelte es sich nicht um irgendwelche abstrakten Vermögenswerte. Dies waren die nationalen Banken souveräner Staaten mit Millionen von Bürgern, die von ihren Regierungen abhängig waren, um über die Runden zu kommen. Es erschien mir im höchsten Maße verantwortungslos, mit den Schicksalen dieser Banken zu spielen.

Schlimmer – und undurchsichtiger – wurde alles noch dadurch, dass ein bekannter Stratege von Goldman Sachs einen quasi geheimen Bericht vorlegte, den man nur ausgewählten Kunden zukommen ließ. Das Wall Street Journal berichtete darüber. In diesem Bericht zeichnete der Stratege ein besonders düsteres Bild der Lage in Europa und behauptete, um die europäischen Banken zu stützen, sei eine Billion Dollar nötig. Und er tüftelte ein paar Optionen aus, die die Möglichkeit boten, sich gegen die Turbulenzen abzusichern oder Gewinn aus ihnen zu schlagen. Und zur gleichen Zeit, als der Goldman-Stratege den Zusammenbruch des europäischen Bankensystems vorhersagte, gab es Tage, wo unsere Trading-Abteilung Kunden davon zu überzeugen versuchte, dass dies der richtige Zeitpunkt sei, auf die positive Dynamik des Marktes zu setzen.

Das war alles zu viel. Wir hatten Griechenland vor Jahren dabei geholfen, mit einem Derivat seine wahre Verschuldung zu verschleiern. Und jetzt, wo sich dies rächte, zeigten wir Hedgefonds, wie sie von dem Chaos in Griechenland profitieren konnten, und auf der anderen Seite der «Chinesischen Mauer» (der Barriere, die den Informationsaustausch zwischen Emissionsgeschäft und Investmentbanking verhindern soll) bemühten sich unsere Investmentbanker um Beratungsaufträge bei der griechischen Regierung, der man helfen wollte, den Scherbenhaufen aufzuräumen.

Dieses komplexe, von Interessenkonflikten geprägte Szenario hat viele Mitarbeiter im Handelssaal stark verunsichert, und ich unterhielt mich mit Dutzenden von Kollegen darüber. Alle beklagten die Heuchelei, aber niemand tat etwas dagegen. Die Bonus-Kultur war viel zu fest etabliert: Die Zahlen selbst sprachen gegen Veränderungen.

Früher einmal waren die Boni bei Goldman Sachs eine sehr subjektive Sache gewesen. Am Ende jedes Jahres erstellte der Vorgesetzte eine Leistungsbeurteilung, in die nicht nur der Umsatz einging, den man generiert hatte, sondern auch der Mehrwert, den man als Person für das Unternehmen darstellte. Diese beiden Faktoren zusammengenommen ergaben den wahren ökonomischen Nutzen eines Mitarbeiters für die Firma.

Aber seit 2005 basierte das System praktisch nur noch auf Zahlen: Jeder Mitarbeiter bekam einen bestimmten Prozentsatz des Erlösbetrags, der neben seinem Namen stand. In manchen Jahren waren es fünf Prozent dieser Einnahmen, in besseren Jahren sieben. Wenn man also beispielsweise in einem guten Jahr 50 Millionen Dollar Umsatz machte und man eine Führungsposition (Vice President oder darüber) bekleidete, die in dieses System der Erfolgsbeteiligung einbezogen war, konnte man theoretisch 3,5 Millionen kassieren.

Das Problem an dem neuen System war, dass die Mitarbeiter jetzt alles – wirklich alles – daransetzten, um die Zahl neben ihrem Namen aufzublähen. Die jungen Leute im Trading und im Sales lernten von dem schlechten Beispiel, das ihnen ihre Vorgesetzten gaben. Mit ansehen zu müssen, wie der Charakter dieser jungen Menschen vergiftet wurde, machte mich wirklich fertig.

In den elf Jahren, in denen ich maßgeblich an dem Prozess der Personalauswahl für Goldman Sachs in Stanford beteiligt war, hatte ich Tausende der besten und intelligentesten Uni-Absolventen kennengelernt, die die Zukunft der Firma sein sollten. Das Einstellungsverfahren war für mich immer etwas ganz Besonderes. Es ging darum, frisches Blut in ein Unternehmen zu holen, das mir viel bedeutete und an das ich glaubte. Jemand hatte mich ausgewählt, als ich noch nichts über Finanzprodukte wusste: Sie hatten mein Potenzial erkannt und mich unter ihre Fittiche genommen. Und ich tat jetzt das Gleiche für junge Menschen, an die ich glaubte. Es war unglaublich befriedigend, in diesen Beziehungen derjenige zu sein, der etwas zu geben hatte.

Erfahrene Investmentbanker erzählen oft, dass junge Menschen – insbesondere Sommerpraktikanten und Analysten, die gerade ihr Studium abgeschlossen haben – einen frischen Wind und neue Begeisterung in den Handelssaal bringen und dass ihr aufrichtiger Idealismus auf die altgedienten Wall-Street-Veteranen abfärbt. Ich hatte den Eindruck, dass diese Zeiten endgültig vorbei waren.

Frisch eingestellte Associates sahen nur, wie ihre Vorgesetzten, die Managing Directors und Partner, um ihre Prämien stritten. Mit der Zeit hatte sich dieses zerstörerische Verhalten in allen Bereichen ausgebreitet. Die Neulinge glaubten, sie müssten sich genauso verhalten wie ihre Vorgesetzten. Ich musste mindestens zehnmal als Streitschlichter agieren zwischen Associates, die versuchten, ihren prozentualen Anteil an den Gross Credits auf Kosten eines Kollegen zu erhöhen. Als Associate war ich selbst nicht einmal in dieses System der Erfolgsbeteiligung einbezogen, weil die GCs damals in der Firma noch nicht im Mittelpunkt standen. Jetzt betrachteten Associates die GCs als den absoluten Maßstab für die Höhe ihres Bonus am Jahresende. Ein typischer Streit zwischen Associates hörte sich in etwa so an:

 

ASSOCIATE 1: He, Mann, ich denke, die fünfundsiebzig Prozent der GCs des Kunden XYZ stehen eindeutig mir zu. Ich hab da viel mehr Arbeit reingesteckt als du, und der Kunde findet mich voll sympathisch.

ASSOCIATE 2: Nee, ich bin der Ansprechpartner des Kunden für Derivate, also gehen die fünfundsiebzig Prozent zu meinen Gunsten. Verzieh dich.

 

Mit der Teamarbeit bei Goldman Sachs war es nicht mehr weit her. In den meisten derartigen Situationen riet ich den Beteiligten, jeweils fünfzig Prozent zu nehmen, ein Partner würde dann später die endgültige Entscheidung treffen – die oft davon abhing, welcher der Associates dem Partner sympathischer war. Das führte dazu, dass die Betreffenden in Zukunft erst recht nicht mehr zusammenarbeiteten.

 

Eine andere Sache, die mir zu schaffen machte, war die Tatsache, dass ich es nicht mehr über mich brachte, Studenten für die Firma anzuwerben. Irgendwann in den letzten zwölf Monaten, bevor ich das Handtuch warf, begann ich, mich immer mehr aus dem Einstellungsverfahren zurückzuziehen. Ich war mir zunächst gar nicht bewusst, warum, doch dann wurde mir klar, was mein Bauchgefühl mir sagte: Die Zyniker haben bei Goldman Sachs die Oberhand gewonnen. Dies ist nicht länger die Bank, von der ich als junger Mensch begeistert war und für die ich andere jungen Menschen begeistern möchte. Die Ideale von Weinberg, Levy und Whitehead galten nichts mehr. Goldman war noch immer die Bank Nummer eins in der Welt, aber nur weil sie das, was sie tat, am besten tat (und weil die Wettbewerber so schwach geworden waren). Ich konnte jungen Leuten wirklich nicht länger mit gutem Gewissen raten, bei Goldman Sachs zu arbeiten.

 

Wie in New York findet auch in London regelmäßig ein vierteljährliches sogenanntes «Townhall Meeting» statt, in dem die Leiter der verschiedenen Abteilungen die Quartalsergebnisse kommentieren und über die allgemeine Wettbewerbslage sprechen. Tausend Mitarbeiter, vom Junior Analyst bis zum Partner, versammeln sich zu diesem Zweck im Konferenzsaal im siebten Stock des River-Court-Gebäudes in der Fleet Street 120. Weitere tausend Teilnehmer aus allen europäischen Niederlassungen sind per Videokonferenz zugeschaltet. Im Anschluss an diese Treffen, die in der Regel etwa eine Stunde dauern, stehen immer etwa fünfzehn Minuten für einfache Fragen zur Verfügung – etwa: «Was sind die zukünftigen Prioritäten der Firma?», oder: «Wie schätzen wir die Wettbewerber ein?»

Ein paar Monate vor meinem Ausscheiden wurde das Meeting gemeinsam von den Co-CEOs von Goldman Sachs Europe, Michael «Woody» Sherwood und Richard Gnodde, dem südafrikanischen Investmentbanking-Chef, moderiert. Sie standen links und rechts auf der großen Bühne. Als die Fragezeit zu Ende ging, stand eine Frau im Publikum auf und sagte: «Was unternimmt das Management gegen den Niedergang der Firmenkultur und die Tatsache, dass unser Ruf immer schlechter wird?»

Absolute Stille breitete sich im Saal aus. Woody und Gnodde waren einen Moment sprachlos, nicht nur weil jemand so dreist war, diese Frage zu stellen, sondern auch weil sie ganz offensichtlich nicht wussten, was sie darauf antworten sollten. Die beiden Männer wechselten unsichere Blicke. Schließlich sagte Woody: «Richard, wollen Sie diese Frage übernehmen?»

Die Szene hatte etwas Surreales. Nervöses Lachen ertönte im Saal.

Gnodde, ein hochgewachsener, kräftiger Mann mit einem großen, freundlichen Gesicht, sagte: «Na klar, Woody, mach ich.» Er senkte eine Sekunde lang den Blick und wandte sich dann dem Publikum zu. Er fing an: «Wir haben gerade diese sechzigseitige Studie zur Geschäftspraxis veröffentlicht …» Die Firmenkultur, sagte er, sei so stark wie eh und je, im gesamten Unternehmen würden Seminare veranstaltet, um dafür zu sorgen, dass die Mitarbeiter die Ergebnisse der Studie verstünden und deren Empfehlungen in die Tat umsetzten. Er redete noch ein, zwei Minuten weiter, in einem herablassenden Ton, als würde er einer unverbesserlichen Querulantin die offensichtlichsten Tatsachen vor Augen führen.

Aber die Frau ließ sich nicht abspeisen. Sie legte noch eins drauf. «Was unternimmt das Management aber konkret, um dieses Problem, das so viele Menschen hier umtreibt, zu beheben?»

Wieder Schweigen. Dann nahm Woody den Ball auf. Er wurde philosophisch. «Hören Sie», sagte er. «Wir bei Goldman Sachs sind eine große Familie. Wir alle haben Familie, und wir alle sind Menschen. Wir müssen uns nur daran erinnern, auch in geschäftlichen Dingen gute, ethische Entscheidungen als Menschen zu treffen, so wie wir es in unserem Alltagsleben tun.»

Es gab hier und da halbherzigen Applaus, und die Versammlung wurde für beendet erklärt. Alle verließen das Meeting in gedrückter Stimmung.

Es war wirklich höchste Zeit, dass ich ging.

 

Etwa fünf Monate bevor ich die Firma verließ, begann ich zu schreiben. Ich wusste tief im Inneren, dass bei Goldman Sachs grundlegende Dinge im Argen lagen – das skrupellose Verhalten vieler Mitarbeiter, ihre Gleichgültigkeit gegenüber den möglichen Konsequenzen ihres Tuns und die Einstellung gegenüber den Kunden. Ich ahnte intuitiv, dass dies schlecht für die Zukunft der Firma war, für die ich mich mit Leib und Seele eingesetzt hatte. Ich wusste, dass es für mich an der Zeit war zu gehen – die Unzufriedenheit der jungen Mitarbeiter sagte es mir, das Misstrauen der Kunden sagte es mir. Aber am meisten sagte es mir die Tatsache, dass es der Firma letztlich egal war, was da vor sich ging. Schreiben war für mich ein Weg, mir selbst Klarheit darüber zu verschaffen, was genau schieflief. Ich erinnerte mich, wie Carly Fiorina vor über einem Jahrzehnt den frischgebackenen Stanford-Absolventen empfohlen hatte, Sachverhalte auf das Wesentliche zu reduzieren. Zum Kern vorzustoßen.

In Flugzeugen, in Flughafen-Lounges und in Hotelzimmern, aber auch in meiner Wohnung zu später Stunde versuchte ich schriftlich festzuhalten, was genau die Kultur jenes Unternehmens vergiftete, das mir am Herzen lag. Zuerst waren die Gedanken weitschweifig und verschlungen. Ich ging meine Aufzeichnungen immer wieder durch und versuchte, den Kern meiner Gedanken herauszupräparieren.

Während der ersten zwei oder drei Monate wollte mir das nicht gelingen. Das Schreiben half mir aber zu erkunden, was genau ich eigentlich wollte. Irgendwann war ich drauf und dran, mich von Goldman Sachs einfach sang-und klanglos zu verabschieden, mich aus dem Staub zu machen und das ganze System einfach weiter verkommen zu lassen. Aber dann kamen mir Bedenken. Das wäre nicht der richtige Weg. Richtig wäre es, wenigstens den Versuch zu machen, das System zu ändern – zumal die Partner, mit denen ich gesprochen hatte, zweifelsohne nichts unternehmen würden. Wenn sich die Unternehmenskultur der Firma schon nicht von innen heraus ändern ließe, so dachte ich, könnte ein Wandel vielleicht von außen angestoßen werden. Ich beschloss, einen Kommentar oder Essay zu verfassen, einen Text, der Menschen bewusst vor Augen führen sollte, wie es zugeht in der Finanzwelt, und der vielleicht den einen oder anderen zum Umdenken bringen würde.

Mein Essay schwoll rasch auf dreitausend, dann fünftausend Wörter an. Ich wusste, dass ich ihn auf eine Kernbotschaft reduzieren musste. Und die war? Dass Goldman Sachs und die Wall Street unseren eigentlichen Auftrag – dem Kunden zu dienen – aus den Augen verloren hat. Dass der Niedergang der Kultur die Firma und die ganze Branche in ihrer Existenz bedroht. Wenn der Kunde den Banken nicht mehr vertraut, hat dies verheerende Folgen. Der Text nahm Gestalt an … Ich glaube, ich habe lange genug hier gearbeitet, um die Entwicklung der Kultur, der Mitarbeiter und der Identität der Firma beurteilen zu können. Und ich kann voller Überzeugung sagen, dass die Atmosphäre in der Bank so vergiftet und zerstörerisch ist, wie ich es noch nie erlebt habe.

Ich rief meinen besten Freund an, Lex, und sprach mit ihm über meine Überlegung, Goldman Sachs zu verlassen. Ich sagte ihm nicht konkret, dass ich an einem Text arbeitete, aber ich wollte von ihm wissen, ob es seines Erachtens einen moralischen Wert habe, wenn ich die Gründe für meinen Schritt, die Missstände, die ich seit langem beobachtete, öffentlich darlegen würde. Ich wollte wissen, ob er glaubte, dass ich etwas bewirken könnte.

Lex war einer der wenigen Menschen, von denen ich sicher sein konnte, dass sie absolut verschwiegen waren. Wir kannten uns sehr lange, und wir hatten einander immer beigestanden. Lex wusste, wie sich meine Einstellung während meiner Karriere geändert hatte. Im Verlauf des letzten Jahres hatte ich ihm mehrfach von meinem wachsenden Frust in der Firma erzählt.

Lex legte mir eindringlich nahe, nicht an die Öffentlichkeit zu gehen. «Die Dinge, die du ansprichst, sind durchaus relevant, aber du nimmst es da mit einem übermächtigen Gegner auf», sagte er. «Ich mache mir Sorgen um deine persönliche Sicherheit und das juristische Nachspiel, das auf dich zukommen könnte. Du musst an dich denken. Es ist das Risiko nicht wert.»

Ich ließ seine Worte auf mich wirken. Es war ein Sonntag, und ich war in einem Restaurant in Smithfield unweit der City. Ich versuchte so diskret wie möglich in mein iPhone zu sprechen.

«Du musst an dich denken», fuhr Lex fort. «Vielleicht bleibt es völlig unbeachtet, und dann hast du deine Karriere kaputtgemacht und musst schwere finanzielle Einbußen hinnehmen, da du deine Mitarbeiteraktien verlierst.» Lex meinte damit, dass ich sämtliche Einkünfte verlieren würde, Gehalt, Boni und die Goldman-Sachs-Aktien, die die Firma mir für die nächsten Jahre zugesichert hatte, als Anreiz, um bei Goldman Sachs zu bleiben.

Was das Risiko anging, musste ihm recht geben. Doch im Stillen sagte ich mir, dass der moralische Nutzen dennoch schwerer wog als das Risiko. Ich war davon wirklich überzeugt.

«Na prima!», sagte Lex. «Wie gesagt, es ist zu riskant. Ich würde es nicht tun.»

Damit beendeten wir das Telefonat. Ich sprach Lex erst wieder, nachdem mein Text veröffentlicht worden war.

 

Während der nächsten vier Wochen ging ich jeden Tag ins Büro und erledigte meine Arbeit, wie ich es immer getan hatte, und am Abend bis spät in die Nacht schrieb und feilte ich an meinem Artikel und erzählte niemandem davon. Anfang Februar hatte ich meinen Text mit dem Titel «Why I Am Leaving Goldman Sachs» endlich auf 1500 Wörter gekürzt. Meines Erachtens würde die Seite drei, die Meinungsseite, der New York Times dem Text die größte öffentliche Resonanz verschaffen, aber ich kannte dort niemanden, an den ich den Text hätte senden können. Auf der Website war nur eine allgemeine E-Mail-Adresse angegeben. In dem Bewusstsein, mein Schicksal in die Hände der Zeitungsgötter zu legen, und mit dem Gefühl, eine unwiderrufliche, aber völlig richtige Entscheidung zu treffen, klickte ich auf die Schaltfläche «Senden».

Einen Monat hörte und las ich nichts. Mein Text war ganz offensichtlich in den Weiten des Äthers verschollen. Mir war klar, dass ich bessere Chancen hätte, wenn ich den Beitrag an bestimmte Leute schicken würde. Also suchte ich die E-Mail-Adressen des leitenden Wirtschaftsredakteurs sowie der drei Verantwortlichen für die Meinungsseite heraus. Am Abend des 7. März 2012 versandte ich den Beitrag, noch einmal überarbeitet und auf 1300 Wörter gekürzt, an die vier Redakteure.

Am nächsten Morgen hatte ich meine Antwort.

Die New York Times wollte den Text auf ihrer Meinungsseite bringen, auf der die Gastbeiträge erscheinen. Ich sagte den Redakteuren, dass ich darauf bestehen müsste, dass der Text so veröffentlicht würde, wie ich ihn geschrieben hätte. Ich hatte praktisch fünf Monate daran gefeilt, um aus den ursprünglich 5000 Wörtern das herauszudestillieren, was ich sagen wollte. Von dieser Fassung war ich hundertprozentig überzeugt, und ich wollte nicht, dass eine gekürzte oder zensierte Version gedruckt wurde. Ich ging ein großes Risiko ein, und dies war der einzige Schuss, den ich hatte.

Die erste Fassung, die ich zurückbekam, war von 1300 auf 800 Wörter zusammengestrichen worden. Ich protestierte. Ich verlangte, dass gestrichene Stellen wieder eingefügt wurden. Meines Erachtens waren sie für meine Argumentation unverzichtbar. Nun kam der Text mit 1000 Wörtern zurück. Dann mit 1100. Schließlich hatte der Beitrag wieder fast genau den gleichen Umfang wie der Text, den ich ursprünglich eingeschickt hatte.

Während ich noch immer als Derivate-Trader bei Goldman Sachs London arbeitete, wurde mein Artikel unter strengster Geheimhaltung weiterhin redigiert. Dann kam eine ungewöhnliche Bitte vonseiten der Redakteure.

«Wir müssen überprüfen, ob Sie tatsächlich die Person sind, als die Sie sich ausgeben. Wir beabsichtigen, einen unserer Reporter zur Niederlassung von Goldman London zu schicken. Er soll sich dort mit Ihnen treffen, damit wir hundertprozentig sicher sein können, dass Sie uns die Wahrheit über Ihre Identität gesagt haben.»

«Wie stellen Sie sich das vor?», sagte ich. «Ich lege Ihnen gern alle Beweise vor, die Sie benötigen. Aber es ist eine absurde Idee, dass ein Reporter der New York Times am Empfang der Zentrale von Goldman Sachs London auftaucht, um dort nach mir zu fragen.»

Es hörte sich an wie eine Szene aus einem Spionagefilm.

«Keine Sorge, der Mitarbeiter wird sehr diskret sein.»

Die Times schickte einen ihrer Londoner Wirtschaftsreporter, Landon Thomas jr., um zu überprüfen, ob ich auch tatsächlich derjenige war, als der ich mich ausgab, und dass ich nicht in einen Skandal verwickelt war, nichts, was dem Ruf der altehrwürdigen Zeitung schaden könnte. Thomas, der seit zehn Jahren im Auftrag der New York Times über Goldman Sachs berichtete, kam zum Empfang in der Fleet Street 120.

Wir hatten abgesprochen, dass er am Montag, den 12. März, um 9 : 30 Uhr nach mir fragen würde. Dann würde mich die Rezeptionistin anrufen, ich würde herunterkommen und ihn in der Lobby treffen. Wir hatten nicht besprochen, ob er seinen richtigen Namen nennen würde, aber zu meiner Überraschung erhielt ich genau um 9 : 30 Uhr einen Anruf von der Rezeption: «Landon Thomas erwartet Sie hier.»

«Ich komme sofort», sagte ich.

Ich ging zu den Waschräumen auf unsere Etage, um mir kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. «Das dürfte interessant werden», dachte ich. Interessant? Beispiellos! Ich ging hinunter, ruhig und gelassen. Ich sah einen hochgewachsenen Mann mit Umhängetasche – Landon. Ich ging geradewegs auf ihn zu, und wir schüttelten uns in der Lobby von Goldman Sachs die Hände. «Freut mich, Sie kennenzulernen», sagte er lächelnd.

«Haben Sie vielleicht Lust auf einen Kaffee?», fragte ich.

Wir gingen die Fleet Street entlang, entfernten uns von der Paulskathedrale. Ich schlug vor, dass wir nicht zur nächstgelegenen Starbucks-Filiale gingen, sondern zu einer, die etwas weiter weg war. Wir spazierten etwa zehn Minuten und plauderten unverbindlich. Schließlich entschieden wir uns für ein Starbucks gegenüber dem Obersten Gerichtshof in der Strand. In London haben die meisten Cafés im Untergeschoss einen Lounge-Bereich. Also holten wir uns unseren Kaffee und gingen die Treppe hinunter, wo es ruhig war. Wieder hatte ich das Gefühl, mich in einem Film zu befinden.

Landon merkte, dass es mir ernst war, und so wurde aus der Überprüfung ein Gespräch. Ich sagte ihm als Erstes, dass alles streng vertraulich bleiben müsse.

Er stellte mir genau die Fragen, die ich erwartet hatte. Erstens: Weshalb wollte ich an die Öffentlichkeit gehen?

Weil ich der Meinung war, dass es moralisch richtig sei, und weil ich etwas ändern wollte, sagte ich ihm. Es wäre mir verwerflich vorgekommen, nichts zu tun.

Ob ich einen persönlichen Groll hegen würde?

Nein. Aber ich war wahnsinnig enttäuscht darüber, dass ein Unternehmen, für das ich mich so sehr eingesetzt habe, die Orientierung verloren habe.

Habe irgendwann in letzter Zeit die Gefahr einer Entlassung gedroht?

Nein, sagte ich, ich hätte in meinem ersten Jahr in London den Umsatz in meinem Geschäftsfeld um fünfunddreißig Prozent gesteigert, die für Wertpapierhändler vorgeschriebene Prüfung abgelegt und die Zahl der Kunden, mit denen meine Abteilung Wertpapiergeschäfte machte, um achtzig Prozent erhöht. Meine jährlichen Leistungsbeurteilungen seien uneingeschränkt positiv ausgefallen.

War ich unzufrieden über meine Boni oder darüber, dass ich nicht befördert wurde?

Ich sagte ihm, ich hätte eine um zehn Prozent höhere Prämie als meine Kollegen kassiert und, ja, ich wäre gern befördert worden. Aber das Durchschnittsalter bei der Beförderung vom Vice President zum Managing Director sei 36,5 Jahre und ich sei erst dreiunddreißig. Mehrere Partner hätten mir gesagt, dass ich in etwa zwei Jahren mit einem Karriereschritt rechnen könne.

Ob ich naiv sei, wollte Thomas wissen. Sei es an der Wall Street nicht schon immer so zugegangen? Hätte ich hinterm Mond gelebt?

Nein, sagte ich. Aber nehmen wir einmal an, es wäre tatsächlich an der Wall Street schon immer so zugegangen. Wäre es deshalb in Ordnung? Außerdem hätten sich die Dinge verändert. In den drei Jahren seit dem Crash von 2008 habe das treuhänderische Verantwortungsbewusstsein der Bank so stark abgenommen, dass Goldman Sachs jetzt im Gegenteil versuche, die Kunden zu übervorteilen. Zugegeben, dies geschehe überall an der Wall Street, aber Goldman Sachs wolle doch eigentlich ein Vorbild sein. Spätestens 2012 hatte das Institut sich aber endgültig einer Strategie des «Gewinns um jeden Preis» verschrieben. Man habe nichts aus der Krise gelernt.

Warum ich mich mit der Sache nicht an meine Vorgesetzten gewandt hätte?

Ich sagte ihm, dass ich mich im Laufe des vergangenen Jahres an neun Partner gewandt hätte, um mit ihnen über Firmenkultur und Moral zu sprechen, dass sie mir hinter verschlossenen Türen auch zugestimmt hätten, dass es da ein massives Problem gebe, dass sie sich aber außerstande sähen, irgendetwas zu unternehmen. Sie verdienten einfach zu viel Geld.

Wir unterhielten uns etwa fünfundvierzig Minuten lang und spazierten dann zurück.

«Wie fühlen Sie sich jetzt mit dieser Entscheidung?», fragte mich Thomas. «Ihr Artikel wird wirklich erscheinen.»

In der frischen, winterlichen Luft, in der einige wenige Sonnenstrahlen die Paulskathedrale noch majestätischer erscheinen ließen, sagte ich ihm, mir gehe es gut damit. Ich sei glücklich. Und ich sei zuversichtlich, dass ich einen – wenn auch vielleicht nur kleinen – Beitrag zur Behebung der eklatanten Missstände leisten könne. Aber ich sagte ihm, ich könne nicht vorhersehen, wie die Reaktion ausfallen werde. Keiner von uns beiden konnte das.

Landon wünschte mir alles Gute. Vor der Goldman-Zentrale verabschiedeten wir uns, und er ging davon. Ich fuhr zum Handelssaal hinauf und begab mich zu meinem Schreibtisch.

 

Der Artikel sollte schließlich am Mittwoch, den 14. März, erscheinen. Ich arbeitete bis zur letzten Minute daran. Alle Fakten waren gründlich überprüft worden, und ich war stolz auf meinen Text.

Am Samstag, den 10. März, ging ich gegen 20 Uhr in den Handelssaal, um meinen Schreibtisch auszuräumen. Ich hatte bewusst einen Samstagabend ausgewählt, weil ich wusste, dass dann kaum jemand da war. Dies war eine Firma, in der ich mein gesamtes Arbeitsleben verbracht hatte, und ich wollte sie nicht fluchtartig verlassen. Ich wollte mir beim Zusammenpacken meiner Habseligkeiten Zeit lassen und ein bisschen in Erinnerungen schwelgen. Der Handelssaal war menschenleer. Außer mir war nur ein Wachmann anwesend. Die meisten Lampen waren ausgeschaltet, ebenso die Klimaanlage, um Energie zu sparen. Es war heiß und stickig. Ich setzte mich an meinen Arbeitsplatz, krempelte die Ärmel hoch und band meine Uhr ab. Ich aß einige Bissen von einem Filet-O-Fish, den ich mir bei einem McDonald’s um die Ecke gekauft hatte. Dann begann ich meine persönlichen Sachen zusammenzuräumen. Ich sah die kleine Trophäe, die die türkische Telekommunikationsgesellschaft mir verliehen hatte für unseren gelungenen Deal. Da war der Hemdknopf, den Rudy mir abgeschnitten hatte nach meinem ersten getätigten Trade. Ich dachte an die Tage mit Corey und an alles, was er mir über das Geschäft, aber auch über Integrität im Berufsleben beigebracht hatte. Ich fand das alte Programmheft von meinem Praktikum: von den fünfundsiebzig Teilnehmern damals im Sommer 2000 waren nur noch fünf im Geschäft. Da war ein Cricketball und ein Springbock-Rugbyball, den ich in den alten Tagen mit Daffey im Handelssaal in New York hin-und hergeworfen hatte. Ich musste wieder denken, wie viele «Culture Carrier» der Firma den Rücken gekehrt hatten und wie sehr sich in den zwölf Jahren, seit meinem ersten Open Meeting, der Tonfall, der Umgang miteinander und mit den Kunden verändert hatte.

Während der nächsten vier Stunden saß ich da, allein, mitten in dem geradezu unheimlich stillen Handelssaal – wo keine Trader schrien, keine Telefone läuteten –, und listete sogfältig genau auf, was noch zu erledigen war, um meinen Abschied am Dienstagmittag möglichst rasch und unauffällig über die Bühne zu bringen. Ich beabsichtigte, noch am selben Abend zurück nach New York zu fliegen, um das nächste Kapitel meines Lebens aufzuschlagen, wie immer das aussehen mochte. Wenn ich den Laden verließ, wollte ich einen sauberen Schnitt machen. Ich wollte schon vorher mein Bündel geschnürt haben. Alles sollte erledigt sein, bevor ich das Büro verließ.

Kurz nach Mitternacht, am frühen Sonntagmorgen, loggte ich mich schließlich aus meinem Computer aus, nahm meinen Rucksack und eine kleine Pappschachtel, in der sich die Erinnerungen eines Jahrzehnts befanden, und ging. Goldman Sachs ließ mich später wissen, es gebe ein Überwachungsvideo, auf dem zu sehen sei, wie ich mit der Schachtel und dem Rucksack aus der Eingangslobby herauskomme, als hätte ich etwas stehlen wollen. Dabei wollte ich nur endlich frei sein.