Kapitel 8

Die vier Kunden

Pessach, 2009. Goldman Sachs hatte die Wüste der Finanzkrise durchschritten. Doch auf diesem Weg hatte das Unternehmen sich verändert. Zunächst einmal ganz konkret in organisatorischer Hinsicht: Aus einer Investmentbank war eine Bankenholding geworden. Doch es hatte sich auch die Einstellung der Menschen gewandelt, und dies schlug sich nirgendwo deutlicher nieder als im Bereich Kundenbetreuung.

Jedes jüdische Kind, das in der Hebräisch-Schule (der jüdischen Entsprechung der Sonntagsschule) auch nur halbwegs aufgepasst hat, weiß zumindest ein paar Dinge über den Pessach-Seder (eine Art jüdisches Thanksgiving-Essen, bei dem wir aus einem Buch namens Haggada die Geschichte der Befreiung der Israeliten aus der ägyptischen Gefangenschaft vorlesen). Dazu gehören die Matze (ungesäuertes Brot), das Bitterkraut zur Erinnerung an die schweren Zeiten, die vier Becher Wein und eine köstliche Suppe mit Matzeknödeln. Ich feiere den Sederabend jedes Jahr im Haus meiner Cousinen und Cousins, mit fünfundzwanzig durcheinanderplappernden Erwachsenen und zwanzig schreienden Kindern. Was den Text angeht, der dabei vorgelesen wird, gefällt mir jene Passage am besten, der die Reaktion der vier Söhne auf Pessach beschreibt: Einer von ihnen ist klug, einer ist böse, einer ist einfältig, und einer versteht nicht zu fragen.

Die vier Söhne stellen vier Charaktere dar, und ich habe immer gefunden, dass es auch an Wall Street vier Arten von Kunden gab: den Klugen Kunden, den Bösen Kunden, den Einfältigen Kunden und den Kunden-der-nicht-zu-fragen-versteht. Ich hatte alle vier Arten im Lauf der Jahre erlebt, doch nach dem Zusammenbruch des Marktes konnte ich nun erfahren, welche neuen Rollen man ihnen zugedacht hatte.

Die Klugen Kunden sind die großen Hedgefonds und Institutionen. Sie haben Zugang zu allen Ressourcen, die ihre Banken ihnen anbieten können. Dazu gehören: Recherche, Kommunikation mit den Management-Teams der Unternehmen, in die sie investieren oder die sie shorten wollen; Vorkaufsrecht auf Angebote, bevor sie auf den Markt kommen, wie zum Beispiel Börsengänge und Kapitalerhöhungen; und ihre eigenen unabhängigen Pricing-Modelle für Derivate, mit denen sie ermitteln können, was undurchsichtige Produkte wirklich wert sind. Doch das Wichtigste ist: Sie verfügen über Humankapital – richtig kluge Leute, die für sie arbeiten. Damit ein Kunde klug sein kann, müssen seine Manager die Interessenkonflikte verstanden haben, die es überall an der Wall Street gibt: bei Börsengängen, in strukturierten Produkten, im Eigenhandel. Aus diesem Grund haben viele der Leute, die bei Klugen Kunden am Ruder sind, früher selbst in Wall-Street-Banken gearbeitet und kennen alle Tricks dieses Gewerbes.

Jetzt, da Goldman einem Hedgefonds immer ähnlicher wurde, waren die Klugen Kunden wichtige Verbündete. Sie wurden frühzeitig über verschiedene Transaktionen informiert, die Goldman plante, sodass sie zusammen mit der Firma investieren und ihre Kraft einsetzen konnten, um Goldmans Investitionsideen in selbsterfüllende Prophezeiungen zu verwandeln. Wir würden nie zu einem unserer Klugen Kunden gehen, um ihm ein überteuertes Finanzprodukt aufzuschwatzen. Die Leute, die in diesen Unternehmen arbeiten, sind, wie gesagt, einfach zu klug. Außerdem haben sie die Werkzeuge, mit denen sie herausfinden können, wenn ein Händler versucht, Spielchen mit ihnen zu spielen. In der neu aufgestellten Bankenholding Goldman Sachs wurden die multimilliardenschweren Hedgefonds mit Samthandschuhen angefasst.

Damit kommen wir zu den Bösen Kunden. Ein Böser Kunde ist nicht selten eigentlich ein Kluger Kunde, der die Grenzen austestet. Manche Hedgefonds begnügen sich damit, gezielt Gerüchte zu streuen, um den Preis der von ihnen geshorteten Unternehmen zu drücken. Andere rennen von Bank zu Bank und versuchen, die eine gegen die andere auszuspielen, um für sich die besten Konditionen herauszuschlagen. Was nicht illegal ist, aber die Banken mögen es nicht, wenn man mit ihnen spielt. Sie möchten lieber selber spielen. Manchmal übertreiben es die Bösen Kunden jedoch, wie dies ein gewisser hochangesehener und karitativ sehr aktiver Hedgefondsmanager namens Raj Rajaratnam, Gründer des 7 Milliarden Dollar schweren Galleon Fund, getan hat, der wegen Insiderhandels zu elf Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Das wäre ein Beispiel für den Bösen Kunden.

Dann gibt es den Einfältigen Kunden. Es ist im Grunde gar nicht zu fassen, wie rückständig und schlecht einige der größten Anlageverwaltungen und Rentenfonds geführt werden. Sie sind groß, bürokratisch, haben überholte Systeme und benutzen immer noch Faxgeräte für Auftragsbestätigungen. Sie bewegen sich in der Regel sehr langsam – manchmal zu langsam. Für die Wall Street sind sie die perfekten Opfer: Zuerst gibt man ihnen einen Becher Wein, dann zwingt man sie, das Bitterkraut zu essen. Ein Beispiel für diesen Typus ist eine Kundin, die einer meiner Kollegen abfällig die «Queen der Wall Street» nannte. Sie war sehr anstrengend: launisch, schrullig, neigte zu verbalen Entgleisungen und Temperamentsausbrüchen. Sie liebte es, neuen Mitarbeitern als Erstes zu zeigen, wer die Hosen anhatte. Einmal, als ein schüchterner Junganalyst namens Jonah einige Transaktionen für sie durchführte, kreischte sie: «Jonah, wenn ich könnte, würde ich durch die Telefonleitung kommen und Ihnen gehörig in den Arsch treten!» Der arme Jonah war danach eine Weile nicht mehr derselbe.

Obwohl die Queen den Handel von Futures, Optionen und anderen Derivaten im Wert von Milliarden von Dollar verantwortete, hatte sie komplett naive Ansichten über das Geschäft. Sie hatte eine besondere Paranoia, was das Handeln mit einer falschen Anzahl von Futures-Kontrakten anging. Sie sagte Dinge wie: «Mir ist egal, wie hoch der Preis ist, ich will bloß nicht überspekulieren» – das heißt versehentlich zu viele Kontrakte handeln, ein Fehler, der ihr Ärger mit ihrem Chef einbringen könnte. Für jeden, der an der Wall Street arbeitete, war das eine widersinnige Aussage, denn das Bestimmen der richtigen Anzahl von Kontrakten ist eine völlig banale Rechenaufgabe – jeder Anfänger würde das richtig machen. Viel wichtiger war die Frage, wie man die Order ausführte – hatte man niedrig gekauft und hoch verkauft? Was war der Preis? Die Naivität der Queen war besonders erschreckend, wenn man sich vor Augen führte, dass von ihren Entscheidungsprozessen die Renten von Tausenden von Menschen abhingen.

Wir nahmen die Queen bei der Hand und behandelten sie, eben, wie eine Königin. Wir übernahmen treuhänderische Verantwortung und wiesen sie darauf hin, wenn sie etwas falsch machte oder schlechte Entscheidungen traf. Doch traurigerweise ist die Queen der Typ Kunde, den viele Leute an der Wall Street ausnutzen würden.

Der vierte Typ, der Kunde-der-nicht-zu-fragen-versteht, ist der bemitleidenswerteste der vier, denn er ist nicht nur einfältig, sondern auch vertrauensselig, und oft sind dies die Investmentmanager, die für die Renten von Polizisten, Feuerwehrleuten oder Lehrern verantwortlich sind oder die das Portfolio einer gemeinnützigen Organisation verwalten. In der schönen neuen Wall-Street-Welt, die in dieser Zeit der Marktturbulenzen Formen anzunehmen begann, waren sie das perfekte Opfer, diejenigen, die man am leichtesten zu «Elefanten-Geschäften» überreden konnte.

Man stelle sich etwa einen Kunden vor, der irgendwo in Oregon lebt und der Milliarden von Dollar in staatlichen Pensionsfonds verwaltet. In seiner Welt ist er eine große Nummer, und er hält sich selbst für einen mit allen Wassern gewaschenen Investor, aber er hatte nie in einem Geldinstitut an der Wall Street gearbeitet. Ihm steht nicht die nötige Infrastruktur zur Verfügung, um herauszufinden, was genau er eigentlich kauft, und jetzt, nach dem Crash von 2008, steht er unter Druck und muss verlorene Renditen kompensieren. Unser Mann ist das perfekte Zielobjekt für den Verkauf eines Typs von Derivaten, die man als «exotisch» bezeichnet – hochkomplizierte Produkte, die für den Kunden so aufbereitet und aufgehübscht werden, dass sie wesentlich einfacher aussehen. Dabei heißen sie nicht ohne Grund «exotisch», denn das Produkt ist so kompliziert, dass die Kunden nicht einmal verstehen, wie viel sie an die Bank eigentlich zahlen. Um exotische Derivate nachzubilden, sind komplexe Finanzmodelle erforderlich, und für die Bepreisung sind oft die gewieftesten Quants zuständig.

Doch gerade hier kommt der noch nicht ganz verblasste Ruf von Goldman Sachs ins Spiel. Denn der Kunde-der-nicht-zu-fragen-versteht denkt sich: Ich habe es mit den cleversten Burschen der Wall Street zu tun, warum also soll ich dumme Fragen stellen? Und Männer wie Lloyd Blankfein, Gary Cohn und Finanzchef David Viniar waren tatsächlich die cleversten Burschen der Wall Street. Sie verstanden und verstehen die Derivate wirklich – ihre theoretischen Grundlagen ebenso wie die Risiken, die sie bergen. Bear Stearns, Merrill Lynch und Lehman Brothers dagegen bekamen jede Menge Probleme, weil sie nicht begriffen hatten, welche Risiken sie in ihren Büchern hatten.

Was der Kunde-der-nicht-zu-fragen-versteht übersieht, ist die Tatsache, dass das treuhänderische Verantwortungsgefühl bei Goldman nach und nach ausgehöhlt wurde. Und jedes Jahr taucht der eine oder andere dieser Kunden in der Liste von Goldmans Top-25-Kunden auf. Es hat etwas Beunruhigendes, weltweit operierende Wohlfahrtsverbände oder Lehrerpensionskassen auf dieser Liste zu sehen – denn die Rangfolge der Top-Kunden wird nicht nach der Größe der Portfolios oder der Höhe der Anlagenrendite erstellt, sondern nach der Summe der generierten Gebühren.

 

Als ich nach dem Pessachfest zur Arbeit zurückkehrte, schien sich die düstere Stimmung, die über dem Handelssaal gehangen hatte, langsam aufzuhellen. Im März – vor dem Feiertag – hatte der Markt neue Tiefpunkte erreicht, und Bankaktien, unsere eigene eingeschlossen, bezogen an den Börsen immer noch Prügel. Trotz der Kapitalspritzen für die Banken und einem 800-Milliarden-Dollar-Konjunkturprogramm der Regierung blieb die große Angst, wie viele toxische Vermögenswerte noch offengelegt werden würden. Doch Goldman steuerte durch die Krise, dank eines brillanten Risikomanagements. Der Derivatehandel verdient am meisten Geld bei Märkten mit hoher Volatilität, und 2008 und Anfang 2009 machten Goldmans Derivate-Abteilungen ein Vermögen.

Bevor Mitte 2009 deutlich wurde, dass die Märkte sich erholen würden, bemerkten einige der cleversten Händler bei Goldman Sachs eine Anomalie im Markt für Derivate. Die Preise von Derivaten implizierten, dass die derzeitige Volatilität, die sich auf einem historisch einmaligen Höchststand befand, die nächsten zehn Jahre lang unverändert auf dem gleichen hohen Niveau bleiben würde, wie wir sie in den neun Monaten seit der Insolvenz von Lehman Brothers gesehen hatten. Konnte diese Art von Aufruhr und Unberechenbarkeit zehn Jahre lang ohne Pause so weitergehen? Sicher würde die Lage sich wieder beruhigen – wenn nicht sofort, so doch irgendwann in naher Zukunft. Eine Periode von zehn Jahren ununterbrochener Turbulenzen hatte es seit der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre nicht mehr gegeben. Und inzwischen hatte die Regierung mit ihrem Konjunkturprogramm ihre Entschlossenheit demonstriert, das System aktiv zu stützen. Niemand glaubte, dass die Fehler des allzu passiven Präsidenten Herbert Hoover wiederholt werden würden.

Also fingen Goldman Sachs und andere Wall-Street-Banken (plus einige Kluge Kunden) an, eine «bullische» Wette darauf abzuschließen, dass die Märkte wieder anfangen würden zu steigen, und dass die Volatilität anfangen würde zu fallen. Viele Investoren realisierten diesen Trade durch das Shorten eines Derivats mit dem Namen «10-Year S&P 500 Variance Swap» – ein undurchsichtiges Over the counter-Produkt mit sehr niedriger Liquidität. Bekanntermaßen hatte ein anderer cleverer Investor eine sehr ähnliche Idee. «Das Orakel» Warren Buffett, der Derivate zuvor noch als «finanzielle Massenvernichtungswaffen» bezeichnet hatte, war diese Verschiebung ebenfalls aufgefallen, und er hatte eine ähnliche Wette platziert (wenn auch mit einer etwas anderen Strategie).

Dieser Trade brachte den Banken und Kunden rund um die Wall Street mehrere Millionen Dollar ein von Mitte 2009 bis 2010, als die Märkte sich erholten und die Volatilität sank. In vielerlei Hinsicht war es ein brillanter Schachzug, darauf zu setzen, dass die Märkte sich beruhigen würden. Gewagt war es aber dennoch. Nach der Insolvenz von Bear Stearns Anfang 2008 hatten viele Leute geglaubt, dass der Sturz dieses Unternehmens nur eine Anomalie sei und dass das nun Schlimmste überstanden war. Eine ganze Reihe von Hedgefonds ging in dieser Zeit pleite, weil sie den Zeitpunkt einer Rückkehr in ruhigere Gewässer völlig falsch einschätzten. Die richtige Investitionsidee ist nur die halbe Miete – mindestens ebenso wichtig ist es zu wissen, wann man sie umsetzen kann. Und das Schöne an der Sache war: Je mehr «kluges Geld» Goldman hinter seiner Short-Position in Stellung bringen konnte, desto mehr würde langfristige Volatilität fallen.

Dieser Schuss ging jedoch im Sommer 2010 ordentlich nach hinten los. Es kam zu einem «Short Squeeze», der sich gewaschen hatte (einer Marktsituation, in der der Kurs nach oben getrieben wurde, weil sich immer mehr Leerverkäufer eindecken mussten). Eine Menge Leute bekam Wind von diesen Positionen, und sie fingen alle an zu kaufen. In Goldmans Telefonkonferenz zu den Ergebnissen fürs zweite Quartal am 20. Juli 2010 räumte CFO David Viniar ein: «Um die Bedürfnisse unserer entsprechenden Kunden und die des breiteren Marktes zu erfüllen, starteten wir mit einer Short-Position ins Quartal, mit der wir gegen Aktienvolatilität spekulierten. Angesichts der kräftigen Schwankungen, die im Quartal auftraten, erzielten Aktienderivate für diesen Zeitraum enttäuschende Ergebnisse.»

Die eigentliche Frage ist aber: Erfolgte dieses Engagement wirklich in erster Linie im Dienst der Kunden, wie Viniar behauptet? Oder stand dahinter die Absicht von Goldman Sachs und anderen Wall-Street-Banken, in Eigenregie Wetten abzuschließen? Mir erscheint Letzteres plausibler.

Ausgerechnet in dieser Zeit, als ich mir zunehmend diese Art von Fragen stellte (waren die Kunden für GS wirklich noch Kunden oder nur noch die Kontrahenten ihrer eigenen Transaktionen?), nahm ich an einem der hausinternen Pine-Street-Seminare teil. Das Pine-Street-Programm orientierte sich an Jack Welchs richtungweisendem Crotonville Management Development Center bei General Electric und war seinerzeit von Hank Paulson ins Leben gerufen worden, um sicherzustellen, dass die Führungsgrundsätze von Goldman Sachs nach dem Börsengang nicht verwässert wurden. Anfangs war die Seminarreihe ausschließlich für Managing Directors vorgesehen, aber VPs und vereinzelt sogar Kunden durften ebenfalls teilnehmen. Ich ging zusammen mit dem Präsidenten meines wichtigsten Kunden hin.

Dort sprach unter anderem Bill George, der ehemalige CEO von Medtronic, jetzt Professor an der Harvard Business School, außerdem Mitglied im Verwaltungsrat von Goldman Sachs und Autor des Buches Authentic Leadership. Ein anderer Wissenschaftler, an dessen Namen ich mich nicht erinnern kann, diskutierte mit uns über das vor vierzig Jahren in Stanford begonnene sogenannte «Marshmallow-Experiment», bei dem Kinder mit einem Marshmallow in einem Raum allein gelassen wurden. Die einen aßen es sofort auf. Andere warteten und aßen es dann. Noch andere schließlich warteten, bis der Versuchsleiter wieder in den Raum kam. Die Versuchspersonen wurden über die nächsten vierzig Jahre beobachtet, und diejenigen, die den Genuss am längsten hinausgeschoben hatten, wurden als Erwachsene deutlich häufiger zu Führungspersönlichkeiten als die kleinen Gierhälse.

Die erwähnte dritte Gruppe war «gierig mit Weitsicht» – wie es Goldmans langjähriger Chef Sidney Weinberg einst gefordert hatte. Das heutige Bild im Handelssaal wurde jedoch geprägt von den Gierhälsen mit ihrer Sucht nach sofortiger Gratifikation.

 

Zur gleichen Zeit erlebte ich auch in meinem Privatleben eine gewisse Volatilität. Am 15. März 2009 erreichte der Aktienmarkt seinen tiefsten Stand während der Krise. Zufälligerweise war das auch der Tag, an dem meine drei Jahre währende Beziehung mit Nadine ihren tiefsten Punkt erreichte. Wir trennten uns. Ich hatte es seit einiger Zeit kommen sehen, und tief in meinem Inneren wusste ich, dass wir wohl nicht auf lange Sicht füreinander bestimmt waren. Wir hatten Spaß zusammen, lachten miteinander und fühlten uns wohl in der Gegenwart des anderen. Wir hatten den gleichen jüdischen Hintergrund, und eigentlich hätte alles in bester Ordnung sein müssen. Aber das war es nicht. Wir waren einfach in zu vielen wichtigen Fragen nicht einer Meinung und konnten uns nie auf einen Kompromiss verständigen.

Das heißt nicht, dass wir nicht viel geredet hätten. Während die Finanzkrise sich verschlimmerte, verschlimmerten sich auch unsere jeweiligen Zukunftssorgen. Ich machte mir Sorgen um meine Karriere, meinen Lebensunterhalt und ebenso sehr darüber, wie unsere Beziehung weitergehen sollte. Nadine fragte sich, ob ich ein guter Ehemann sein würde oder nicht. Sie war dreißig und hatte das Gefühl, das es für sie Zeit war, Nägel mit Köpfen zu machen. Mit zunehmender Häufigkeit fragte sie mich in diesen Tagen, ob ich nicht ebenso dächte.

Der egoistische Teil meiner Persönlichkeit – der Teil, der sich wünschte, jemanden zum Festhalten zu haben, während die Welt auseinanderfiel – hätte gern so weitergemacht wie bisher. Doch sie hörte nicht auf zu fragen – völlig zu Recht –, wohin unsere Beziehung führte. Schließlich musste ich ihr sagen, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass wir heiraten würden, und damit war es zu Ende. Es ist sonderbar, dass etwas so gut sein und so viel Spaß machen kann, und es ist dennoch nicht das Richtige für einen. Wenn man es erkennt, dann muss man wohl loslassen.

Es war das denkbar schlechteste Timing – zumindest kam es mir damals so vor. In beruflicher und privater Hinsicht war mein Leben in Aufruhr. Ich hatte ein paar Kilo zu viel zugenommen. Ich war ein Jahr lang nicht mehr im Fitnessstudio gewesen. Was mir in den folgenden Wochen und Monaten wirklich half, war ein konsequentes Gesundheitsprogramm. Ich trainerte jeden Tag (Laufen – ich bin nicht der Zumba-Typ). Alkohol war in den ersten Wochen gestrichen, auch wurde der Küchenplan umgestellt (ich hatte mich nur noch von Bami-Goreng und Schawarma ernährt, während ich im Handelssaal an meinem Schreibtisch klebte und auf den Monitor starrte). Ein älter Kollege im Sales hatte schon vor Jahren uns jungen Kerlen den Tipp gegeben: Eat light, feel right. Den beherzigte ich jetzt, und allmählich kam das richtige Feeling zurück.

 

David Viniar, Chief Financial Officer (CFO) von Goldman Sachs, ist eine wirklich beeindruckende Erscheinung. Wenn Goldman alle drei Monate seine Zahlen bekannt gibt, ist er das öffentliche Gesicht der Firma. Viniar ist hochgewachsen und schlank. Er stammt aus der Bronx, hat am Union College und an der Harvard Business School studiert, und er ist seit mittlerweile zweiunddreißig Jahren bei Goldman Sachs. Er veranstaltet regelmäßig Telefonkonferenzen, in denen er sich den Fragen von Wirtschaftsjournalisten und Finanzanalysten stellt. Dort muss er jede Frage beantworten können – das heißt, er muss alle Zahlen im Kopf haben, aber er muss immer auch auf der Hut sein, in kein Fettnäpfchen zu treten, sich nicht selbst zu belasten und nichts Dummes zu sagen.

Das ist eine Situation, die, wie man sich leicht vorstellen kann, auch schnell zum Desaster führen kann – wenn man nicht Viniar heißt. Ich denke etwa an Erin Callan, die charismatische, elegante und attraktive Finanzchefin von Lehman Brothers. Ihre desaströse Telefonkonferenz mit einem Hedgefondsmanager namens David Einhorn hatte zur Folge, dass Einhorn Lehman-Aktien shortete und die Gerüchte sich verdichteten, dass das Unternehmen gravierende Probleme hatte.

Am 19. März 2009 hatte David Viniar eine zweistündige Telefonkonferenz mit Journalisten und Finanzanalysten anberaumt, um die Rolle der Firma im Rettungsplan der Regierung für AIG zu erklären. Ich hörte zu – jeder bei Goldman hörte zu. Es war eine meisterhafte Vorstellung unter außerordentlich schwierigen Bedingungen. Während die Experten ihn mit Fragen bombardierten, schaffte es Viniar, eine zweigleisige und im Grunde genommen widersprüchliche Argumentationslinie zu vertreten – dass einerseits die Bank (der AIG Milliarden von Dollar in Default Swaps schuldete) so weit abgesichert war, dass sie durch eine Insolvenz von AIG keine Probleme bekommen hätte, dass Goldman aber andererseits vollkommen zu Recht die 12,9 Milliarden Dollar aus dem AIG-Rettungstopf (zum vollen Nominalwert) angenommen hatte. Denn der Versicherungsgigant AIG hatte Goldmans Hypothekenpapiere abgesichert, und als der Hypothekenmarkt zusammenbrach, wollte Goldman seine Versicherungssumme bekommen – obwohl GS diesen Markt geshortet hatte. Die Firma hatte eine doppelte Wette auf den Zusammenbruch laufen, und wie jeder Versicherungsnehmer im Schadensfall wollte GS sein Geld.

Viele Leute in der Firma und an der Wall Street halten Viniar für den besten CFO der Welt. Er hat einen Trick, für den er berühmt ist – im Grunde genommen die verbale Entsprechung von Gary Cohns aggressivem Fuß auf dem Schreibtisch. Wenn ihm ein Finanzanalyst eine knifflige Frage stellt – «David, glauben Sie, dass diese Zahlen und jene Zahlen vier Milliarden Dollar entsprechen?» – dann gibt, Viniar die knappste aller denkbaren Antworten: «Nein.» Oder eben: «Ja.» Oder wenn er in Stimmung für eine präzisere Auskunft ist: «Genau gesagt sind es 3,8 Milliarden Dollar.» Keine weitere Erklärung.

Darauf folgt betretenes Schweigen. Und dann passiert immer das Gleiche: Der arme Analyst gerät so in Verwirrung (weil einfach nichts mehr kommt), dass er Viniar dankt. Woraufhin Viniar mit den stets gleichen Worten antwortet: «You’re welcome.» Gern geschehen. Was nach Meinung vieler Leute nichts anderes ist als Managerjargon für «Leck mich». Viniar hat dem Frager nichts gegeben und ihm obendrein auch noch die Meinung gesagt. Viniar ist ein Gladiator.

Jeder im Handelssaal hatte dieser Telefonkonferenz fasziniert gelauscht. Goldman kämpfte immer noch ums Überleben, und dies war der Mann, den wir in die Schlacht geschickt hatten. Ich vermute, dass die Engländer, wenn sie während des Krieges Winston Churchill im Radio hörten, ähnlich empfunden haben mussten. Und ich bin sicher, dass alle anderen Mitarbeiter die gleiche Freude wie ich verspürten über Viniars Fähigkeit, auf diese wahnsinnig komplexen Fragen ruhig und überzeugend zu antworten. In dieser kritischen Situation war der Instinkt eines jeden Goldman-Angestellten, die Firma zu verteidigen.

Doch dann geschah etwas Seltsames: Viniars Argumente klangen immer weniger überzeugend. Es lag ein Ruch in der Luft, der nicht nach Thymian und Rosen duftete, auch nicht nach frischgedruckten 100-Dollar-Noten. Es roch vielmehr sehr nach Interessenkonflikt, um nicht zu sagen nach Eigeninteresse. Die Behauptung des CFO, dass es dem Steuerzahler geschadet hätte, wenn Goldman Sachs weniger als 100 Cent pro Dollar für die AIG-Schulden von der Regierung angenommen hätte, verlor im Lauf des ereignisreichen Jahres 2009 viel von ihrer Überzeugungskraft.

Von ihrem Tiefststand am 15. März stiegen die Märkte langsam, stetig und ohne zu stolpern bis zum Ende des Jahres an. Es war verrückt. Meine Prognose von der Rückkehr des «trockenen Pulvers» auf dem Markt bewahrheitete sich.

Zuerst bemerkte es niemand. Die Lage sah weiterhin trübe aus. Und doch gab es jeden Tag kleine Zeichen der Verbesserung, und bald wurde klar, dass sich tatsächlich etwas änderte. Jeder war davon überrascht. Und es waren nicht die Kleinanleger, die beschlossen: «Wir wollen wieder in den Aktienmarkt einsteigen.» Es waren die riesigen Geldreserven, die die großen Fonds in den Zeiten des allgemeinen Ausverkaufs angesammelt hatten und die nun nach und nach wieder ihren Weg in den Markt fanden, während der Frühling zum Sommer und der Sommer zum Herbst wurde.

Mein größter Kunde war auf meine Prognose hin früh aktiv geworden und konnte so von Anfang an von einigen sehr großen und gut getimten Trades profitieren. Ein Senior Partner, einer der Global Heads im Trading, kam zu mir, um mir zu berichten, dass er meine Analyse in einem Seminar zum Thema Risikomanagement verwendet habe. All das tat meinem Ego gut. Ich hätte befreit aufatmen sollen. (Mein privates Gesundheitsmanagement zeigte immerhin auch seine Wirkung.) Das Problem war nur, dass meine Fans im oberen Management und meine besten Kunden mehr von meinen Aktivitäten wussten als meine direkten Vorgesetzten, die ein paar Schreibtische weiter auf derselben Etage saßen.

Im Frühjahr, bevor die Erholung des Marktes offensichtlich wurde, rief mich eine meiner Vorgesetzten in ihr Büro. Beth Hovan war Partner und (zusammen mit Paul Conti) Leiterin meiner Abteilung. Sie war dunkelhaarig, attraktiv, sehr intelligent und, wie die meisten, die es ins Management bei Goldman Sachs geschafft hatten, sehr tough. In ihrem Fall schloss das allerdings auch eine gewisse Herzlosigkeit mit ein. («Seien wir doch bitte ehrlich: Der Grund, warum wir alle hier sind, ist, um einen Haufen Geld zu verdienen», sagte sie mir einmal.) Für mich war sie eine Vertreterin jener Sorte von Managern, die vor allem nach oben managten, das heißt, die oft wenig Ahnung davon haben, was unter ihnen vorgeht. Als ich in ihr Büro kam, sah sie besorgt aus. «Nun, wie läuft’s?», fragte Beth. «Mir fällt auf, dass die Kunden nicht besonders viel Geld zahlen.»

Ich räumte ein, dass das Geschäft rückläufig war, weil die Kunden verängstigt und passiv waren. «Aber», fügte ich hinzu, «ich habe versucht, ein bisschen Mehrwert für die Kunden zu schaffen und neue Kunden zu werben, indem ich diese Artikel schreibe.» Sie schien nur ein vage Ahnung zu haben, wovon ich redete. «O ja, von denen habe ich gehört», sagte Beth. «Warum leiten Sie sie mir nicht noch einmal weiter?» Ihr Tonfall sagte, dass es ihr völlig gleichgültig war, ob ich sie ihr schickte oder nicht. Mehrwert für die Kunden schien das Letzte zu sein, was sie interessierte.

 

Im Herbst 2009 war der Bau der neuen Firmenzentrale von Goldman Sachs beendet: ein glänzendes, 2 Milliarden Dollar teures, dreiundvierzig Stockwerke hohes Monument aus Glas und Stahl in der West Street 200, nur einen Steinwurf nordwestlich von Ground Zero. Das neue Gebäude stand direkt gegenüber von meiner ersten Wohnung in der River Terrace 41. In meiner Zeit als junger Analyst gingen meine Mitbewohner und ich oft ins Multiplex-Kino in der West Street, neben dem sich ein nicht allzu großer Parkplatz befand. Irgendwie schaffte es Goldman Sachs, seinen gigantischen neuen Büroturm auf diesen kleinen Platz zu quetschen. Erstaunlich, was ein paar Milliarden ausrichten können.

Baubeginn war im Jahr 2005 gewesen, als die Rezession zu Ende ging und wieder bessere Zeiten anbrachen. Und Goldman hatte staatliche Unterstützung bekommen. Dafür, dass sie sich für die Revitalisierung der Gegend einsetzte, bekam die Firma eine Milliarde Dollar in steuerfreien Liberty Bonds: noch mehr (praktisch) kostenloses Geld. Fairerweise muss man allerdings einräumen, dass Goldman ein kalkuliertes Risiko einging und ein klares Statement abgab mit seiner Entscheidung, sich inmitten eines Stadtbezirks niederzulassen, der wohl das weltweit größte Terroristenziel darstellte.

Die neue Zentrale war in mehr als einer Hinsicht bedeutsam. Zum einen hatte Goldman noch nie ein Gebäude gebaut oder besessen – vorher hatte die Firma Häuser und Räume geleast und gepachtet. Schon allein die Existenz dieses Hauptquartiers, ganz zu schweigen von seiner schieren aggressiven Pracht, waren dem früheren Ethos des Understatements von Goldman Sachs diametral entgegengesetzt. Um das Gepränge ein wenig abzumildern, hatten die Architekten Pei Cobb Freed & Partners den Turm unter strengster Beachtung der Umweltverträglichkeit entworfen, mit «grünen» Details wie einem eisgekühlten Unterboden-Luftzirkulationssystem. Um andererseits den Prunk jedoch zu unterstreichen, zahlte Goldman der Künstlerin Julie Mehretu 5 Millionen Dollar, damit sie ein fünfundzwanzig mal sechs Meter großes Wandbild für die Lobby malte. Die rasanten Linien und gedehnten geometrischen Formen, die über die riesige Fläche des Gemäldes flogen, sollten auf abstrakte Weise eine Vorstellung von der Geschichte des Finanzkapitalismus vermitteln. Die schiere Größe des Gemäldes vermittelte zumindest eine Vorstellung vom mächtigen Reichtum von Goldman Sachs.

Die ersten sechs Stockwerke des Gebäudes wurden von großen Handelssälen eingenommen, jeder von ihnen größer als ein Fußballfeld und deutlich größer als der neunundvierzigste Stock im One New York Plaza. Das Derivate-Team befand sich zusammen mit den restlichen sechshundert Leuten der Abteilungen Equities Sales und Trading im dritten Stock. Darüber befanden sich die Büros des Managements, die Bereiche Recherche und Investmentbanking. Im zehnten Stock gab es einen fünftausend Quadratmeter großen Fitnessraum mit einer wunderschönen hohen Glasdecke und eine riesige Cafeteria. Im One New York Plaza herrschte große Vorfreude auf den bevorstehenden Umzug in die neue Zentrale.

Der Ort, um herauszufinden, wann genau der Umzug stattfinden würde, war Salvatore’s Barber Shop im Erdgeschoss des One New York Plaza. Viele Verkäufer und Trader gingen nach Handelsschluss dorthin, auf ein heißes Handtuch fürs Gesicht oder um sich kurz «die Perücke zurechtrücken» zu lassen. Auch jede Menge Prominenz tauchte hier auf: Hank Paulson etwa oder Duncan Niederauer, ein früherer Goldman-Partner, jetzt Chef der NYSE. Ich ließ mir einmal die Haare schneiden, als sich Andrew Cuomo, damals Generalbundesanwalt und jetziger Gouverneur von New York, neben mich in den Frisierstuhl fallen ließ. Als der Oktober zu Ende ging, wusste Mike, mein Friseur, zu berichten: «Mr. Cohn war gestern hier, und er sagt, zwei Wochen.» Oder er sagte: «Harvey Schwartz (Co-Head der Abteilung Global Securities) meint, nicht später als Thanksgiving.»

Ein großer Teil der Vorfreude auf den Umzug hatte mit der neuen Cafeteria zu tun. Die alte Kantine im Keller des One New York Plaza war, um es milde auszudrücken, nicht gerade umwerfend gewesen. Man ging dort nicht hin, wenn man ein wenig Erholung brauchte. Die neue Cafeteria hingegen, mit ihrer hohen, prächtigen, lichtdurchfluteten Decke und dem glänzenden Inventar sah dagegen aus wie eine moderne Kathedrale.

Von dem Augenblick, als wir einzogen (die Abteilung Equities zog als Versuchskaninchen kurz nach Thanksgiving als Erstes um), lief irgendetwas mit der neuen Cafeteria vollkommen schief.

Vielleicht war es schlechtes Management, vielleicht war es schlechtes Feng-Shui, jedenfalls stellte sich heraus, dass der Ort das absolute Chaos war. Es gab irgendeinen Fehler in der Konzeption oder im Grundriss, den niemand je so richtig ermitteln konnte. Die Leute stießen ständig zusammen, rannten sich buchstäblich über den Haufen. An den Grill-, Salat-, Sandwich-und Omelette-Theken bildeten sich lange Schlangen, von der Kasse ganz zu schweigen. Es war nicht zu übersehen, dass hier keine Kosten gescheut worden waren. Der Raum war riesig, und trotzdem gab es Gedränge. Es wurde so schlimm, dass die Personalabteilung eine E-Mail herumschickte und mitteilte, dass jeder, der zwischen 11 : 00 und 11 : 30 Uhr oder zwischen 14 : 00 und 14 : 30 Uhr zum Mittagessen ging, einen Rabatt von fünfundzwanzig Prozent bekommen würde. (Man glaubt es kaum, aber es gab Managing Directors, die im Jahr 1 Million verdienten und die ganz heiß darauf waren, diese Rabatte auszunutzen.) Die gleiche Mail ermunterte die Leute auch, von «externen Optionen» Gebrauch zu machen – mit anderen Worten: Takeaway aus dem World Financial Center, um das Gedränge und Chaos in der Goldman-Cafeteria zu reduzieren.

Ich kannte viele, die sich über den Frühesser-Rabatt freuten. Einer meiner Kollegen gewöhnte sich sogar an, jeden Tag um 11 : 15 zu Mittag zu essen, aber er war auch der Typ von Managing Director, der einen Kunden zum Skifahren mitnimmt und dann eine Spesenabrechnung über einen Dollar einreicht, weil er sich unten am Berg einen Lippenpflegestift gekauft hat. Als unser Chef die Spesenabrechnung über einen Dollar zu sehen bekam, geriet er in Rage und stauchte den Betreffenden gehörig zusammen.

«Wollen Sie mich verarschen? Einen Labello für einen Dollar? Wie viel haben Sie letztes Jahr verdient?», schrie unser Chef.

«Schon gut, schon gut …» war alles, was er zu seiner Verteidigung anbringen konnte.

Der neue Fitnessraum war da schon eine andere Geschichte. Wie im Fall der alten Cafeteria hatte es sich beim alten Goldman-Fitnessraum in der Hanover Street 10 um einen fensterlosen Kellerraum gehandelt, den niemand wegen des Ambientes aufsuchte. Der neue Fitnessraum wurde großspurig die GS-Wellness-Börse genannt, und er war schlicht und einfach spektakulär, der Blick von den Laufbändern und Hantelräumen über die Flüsse und den Hafen von New York war atemberaubend. Der Raum war so toll, dass die Leute, sobald wir eingezogen waren, so früh wie möglich am Tag dorthin gingen, oft direkt nachdem die Märkte geschlossen hatten. Die jüngeren Angestellten kamen mit so etwas allerdings nicht durch (versuchten es aber trotzdem), aber für VPs, MDs und Partner war der Spätnachmittag die Zeit körperlicher Betätigung. Paul Conti, Mr. Fruchtsaft, war fast jeden Tag zwischen 16 und 17 Uhr dort.

Dazu gibt es eine Anekdote. Eines Tages bekam das gesamte Derivate-Team eine E-Mail (und offenbar bekam der ganze dritte Stock eine ähnliche Mitteilung) mit dem Inhalt: «Die Nutzung des Fitnessraums mit einem 4-Handle ist untersagt.» Das muss man übersetzen. Leute aus der Finanzbranche lassen oft ihre Fachbegriffe in ihren Alltagssprachgebrauch einfließen. «Handle» ist ein Ausdruck dafür, in welchem Bereich ein bestimmter Index oder Anlagetyp gehandelt wird. Wenn zum Beispiel Google-Aktien bei 634 stehen, könnte jemand sagen: «GOOG wird mit einem 6-Handle getradet.» Also bedeutete diese E-Mail, dass niemand zwischen 16 und 17 Uhr im Fitnessraum sein sollte.

Auf unserer Etage war man davon überzeugt, dass Mr. Fruchtsaft der Grund für dieses Verbot war.

Wie man hörte, war Harvey Schwartz, der Chef von Paul Conti, immer zwischen 16 und 17 Uhr im Fitnessraum, und er hatte es satt, dort jeden Tag zur gleichen Zeit auf Conti zu stoßen. Also wurde dieser Zeitraum kurzerhand für alle gesperrt. Manchmal geht es an der Wall Street eben zu wie an der High School.

 

Meine Vergütung für das Jahr 2009 belief sich einschließlich Bonus auf mehr als 500 000 Dollar. Es war ein hartes Jahr gewesen, und ich war glücklich und stolz, dass ich mein Geld auf diese Weise verdient hatte.

Eine halbe Million ist viel Geld. Aber es doch nichts im Vergleich zu dem, was die Partner bekamen. Von den 16 Milliarden Dollar, die Goldman Sachs 2009 an Vergütungen auszahlte (fast fünfzig Prozent mehr als im Vorjahr) ging der Großteil an die ein Prozent Mitarbeiter an der Spitze der Pyramide: die Partner. Das Tolle daran, Partner zu sein, ist, dass man allein durch seinen Status einen garantierten Mindestbetrag bekommt, egal was man tut, in der Regel mehrere Millionen Dollar. Es besteht natürlich das Risiko, dass man, wenn die Chefs irgendwann dahinterkommen, dass man gar nichts tut, entlassen wird. Doch bevor sie das herausfinden, kann man ein oder zwei Jahre lang ein ziemlich entspanntes Leben führen.

 

Die Zeit um meinen dreißigsten Geburtstag im Dezember 2008 war sehr bewegt und nervenaufreibend gewesen. Nadine und ich hatten eine große gemeinsame Party bei Freemans gegeben – ihr Dreißigster war zwei Wochen nach meinem. Die Bar befand sich am Ende einer Seitengasse in der Lower East Side und war von der Ausstattung her einer Flüsterkneipe der Prohibitionszeit nachempfunden. Wir hatten einen Raum im zweiten Stock gemietet und etwa dreißig Freunde eingeladen.

Nach dem Essen überraschte mich Nadine mit einem Kuchen – als er hereingebracht wurde, verlangten die Gäste nach einer Rede. Also stand ich auf und hielt eine. Ich hatte schon den einen oder anderen Drink konsumiert, weshalb sie ein wenig ins Philosophische tendierte. Ich sagte Dinge wie: «Ich weiß, das Leben kommt manchen von euch im Moment hart vor, da die Welt sich im Aufruhr befindet. Aber nehmen wir uns einen Moment Zeit, um die Dinge in der richtigen Perspektive zu sehen und einfach unser Beisammensein zu genießen. Lassen wir uns von dem Tumult da draußen nicht die Laune verderben. Wir wollen versuchen, im Dezember etwas zur Ruhe zu kommen, und wir wollen auf ein besseres Jahr 2009 anstoßen – lasst uns erfrischt und mit positiven Erwartungen ins neue Jahr gehen!»

Am Ende des Abends beschloss ich, die Rechnung für alle zu übernehmen. Es waren über 3000 Dollar, aber ich zahlte sie gern, und abgesehen davon, dass ich gern Leute einlade, war es ein wichtiger Tag für Nadine und mich, und wir waren mit unseren engsten Freunden zusammen. Alles andere wäre mir nicht richtig erschienen.

Nun war wieder ein Jahr vergangen. Ich wurde einunddreißig. Nadine und ich hatten uns getrennt, die Welt hatte sich verändert – und zwar gewaltig. 2009 war komplizierter gewesen, als ich mir je hätte vorstellen können. Von den dreißig Leuten, die auf meiner letzten Geburtstagsparty zu Gast waren, kam jetzt genau einer, John, ein Freund aus meinem ersten Jahr in Stanford, aus Detroit eingeflogen, um mit mir den wenig spektakulären Anlass zu begehen. Nach dem Ende meiner Beziehung zu Nadine war ich eine Zeitlang sehr einsam gewesen, aber inzwischen fühlte ich mich besser: gesünder und stärker. Die Arbeit lief gut, die Märkte tendierten noch immer nach oben. John und ich verbrachten einen netten Abend, wir trafen uns mit zwei Mädchen, von denen ich die eine sehr gut leiden konnte …

Das Büro war zwischen Weihnachten und Silvester offen, aber sehr ruhig. Fast alle Partner hatten Urlaub genommen, nur der jüngste Partner, der offenbar das kurze Streichholz gezogen hat, blieb vor Ort. In allen Abteilungen lief es auf die gleiche Weise: Die älteren VPs gehen, einer der jüngeren bleibt und hält die Stellung, die älteren Associates gehen, ein jüngerer Associate bleibt. Ich hatte in meiner Karriere einen Punkt erreicht, an dem ich mir ohne Gewissensbisse eine Woche freinehmen konnte.

Ich flog nach Kapstadt, um meine Mutter und meinen Bruder zu besuchen. Es war wunderschön. Der Sommer hatte gerade begonnen. Die Stadt erwartete aufgeregt die kommende Fußballweltmeisterschaft. Das große Stadion, das eigens gebaut wurde, direkt am Meer in Green Point, war gerade eröffnet worden. Wir fuhren ins Weingebiet nach Stellenbosch, und es tat gut, Zeit mit meiner Mutter und meinem Bruder in der heißen Sonne zu verbringen und an das Mädchen zu denken, das ich gerade kennengelernt hatte. So viel im Leben ist mit Erwartung verbunden. Und obwohl ich keinen Grund zu der Annahme hatte, dass die Welt weniger kompliziert geworden war, hatte ich das bestimmte Gefühl, dass 2010 ein sehr gutes Jahr werden würde.