Kapitel 5

Willkommen im Spielkasino

Ich saß in einem Whirlpool in Las Vegas – mit drei Vice Presidents, einem Managing Director, einem «Pre IPO»-Partner von Goldman und einer barbusigen Schönheit. Nein, das ist nicht der Anfang eines Witzes. Das ist tatsächlich passiert. Die Oberweite der jungen Dame wirkte – nun, sagen wir: überraschend unbeschwert. So wie die Stimmung im Pool insgesamt. Tim Connors, mein neuer Chef, im Unternehmen früher als «Mullet» bekannt, war einer der VPs, und wir anderen waren alle für seinen Junggesellenabschied eingeflogen worden. Tim trug eine Baseballmütze mit dem Logo eines Unternehmens namens TrendWatch. TrendWatch war eine Diagrammsoftware für Aktien zur Berechnung von Marktprognosen. Zu diesem Zeitpunkt war der Job für TrendWatch nicht besonders schwer. Der Markt bewegte sich nur in eine Richtung: nach oben.

Willkommen an der Wall Street in Boomzeiten.

Es war April 2006, und die tiefe Rezession in der Folge des 11. September war, wie es alle Rezessionen unweigerlich irgendwann tun, einer stetig wachsenden Blase gewichen, dank leicht verfügbarer Hypotheken und einer Notenbank, die billiges Geld ins Finanzsystem pumpte – ähnlich wie in den großen Kasinos in Las Vegas, in denen die Luft für die ahnungslosen Spieler mit zusätzlichem Sauerstoff angereichert wird.

Das einzige Problem bei Blasen ist, dass man oft nicht erkennt, dass man sich in einer befindet – bis sie platzt. Die Dotcom-Blase der neunziger Jahre war zu diesem Zeitpunkt eine Erinnerung aus grauer Vorzeit. Die Banker der Wall Street beglückwünschten sich gegenseitig für ihre Klugheit, genauso wie die Hausbesitzer, die sich daran erfreuten, dass ihre Häuser von Woche zu Woche immer mehr an Wert zulegten. Der Boom sorgte dafür, dass jeder sich bestätigt fühlte, ein kluger Kopf zu sein.

Auch ich selbst fühlte mich zumindest ein bisschen wie ein kluger Kopf. Ich hatte die brutalen Entlassungsrunden bei Goldman in den Jahren 2002 bis 2004 überstanden, und ich war vom Analysten zum Senior Associate befördert worden – ein Sprung, der für die Außenwelt bedeutungslos ist, den aber nur vierzig Prozent der Analysten schaffen. Er war deswegen bedeutsam, weil ich als Associate eine Festanstellung beim Unternehmen hatte – nicht mehr einen der auf zwei oder drei Jahre befristeten Analystenverträge, die die Firma nach Gutdünken verlängern oder auslaufen lassen kann. Die nächste Sprosse der Beförderungsleiter war der Rang eines Vice President, den man normalerweise nach vier Jahren als Associate erreichte, was den meisten Angestellten in den Bereichen Sales und Trading gelang. Die nächste Stufe war Managing Director und die höchste Ebene Partner – ein Level, das nur sehr wenige Leute erreichten. (Am angesehensten war man bei Goldman als sogenannter «Pre IPO»-Partner», also jemand, der schon vor dem Börsengang in dieser Position gewesen war: Viele von ihnen hatten dem Vernehmen nach beim Börsengang des Unternehmens 1999 Hunderte von Millionen Dollar verdient.)

Für Neulinge, die noch nicht auseinanderhalten konnten, wer Partner war und wer nicht, gab es ein paar einfache Tricks. So konnte man zum Beispiel auf den sogenannten Partnerlacher achten. Den hörte man, wenn es im Handelssaal mucksmäuschenstill war und ein beflissener VP plötzlich in schallendes Gelächter ausbrach und sich auf die Schenkel klopfte, weil ein Besucher einen Witz gemacht hatte. Die Ausdauer und Tonhöhe seines Lachens verriet, dass es sich bei diesem Besucher um einen wichtigen Partner handelte. (Eng mit dem Partnerlacher verwandt war der Kundenlacher. Er klang ähnlich gekünstelt, war aber der Umschmeichelung der wichtigsten Kunden vorbehalten und in aller Regel lauter und nicht so abrupt wie der Partnerlacher. Nur ein geübtes Ohr konnte den Unterschied hören.) Ein anderes untrügliches Erkennungsmerkmal für einen Partner war Sonnenbräune – auch im Winter.

 

Und wie kam es dazu, dass ich mich in einem Whirlpool in Las Vegas befand? Für mich hatte sich eine weitere große Veränderung ergeben, zu einer Zeit, als die Märkte nicht ganz so spritzig waren. Corey und ich arbeiteten zusammen wie eine gut geölte Maschine, und wir handelten Milliarden von Dollar in Gestalt von Futures auf Aktien, Rohstoffe, festverzinsliche Papiere und Währungen. Wir hatten unsere Produktpalette ausgeweitet und boten nun auch Optionen an (eine weitere Form von Derivaten, mit der der Käufer das Recht, aber nicht die Pflicht erwirbt, das zugrundeliegende Wertpapier zu einem zukünftigen Termin zu einem festgesetzten Preis zu kaufen oder zu verkaufen). Wir handelten ausschließlich als Auftragnehmer – also für einen Kunden – und berechneten feste Provisionen. Wir telefonierten mit den Handelsabteilungen der größten Investmentfonds, Hedgefonds und Pensionsfonds der Welt, die alle unseren Anlagestrategien vertrauten.

Mitte 2004 – als der Markt um uns herum eine furchtbare Baisse durchmachte – gedieh unser Geschäft prächtig, teilweise weil wir auf niedrigem Stand begonnen hatten, teilweise aber auch weil Futures ein Makro-Instrument sind, auf das sich Investoren gern verlassen, wenn die Märkte widrige Zeiten überstehen müssen. Unsere Provisionen hatten sich in anderthalb Jahren verdoppelt, und schließlich wuchsen wir so schnell, dass wir zur Verstärkung unseres Teams einen neuen Mitarbeiter einstellen durften.

Doch wie zuvor schon Rudy kam nun auch Corey zu dem Schluss, dass für ihn die Zeit für eine Veränderung gekommen war: Daffey wollte, dass er ihn bei den Makro-Hedgefonds unterstützte. Damit würde Corey ein reiner Derivateverkäufer werden: Er würde mehr Zeit damit verbringen, Kunden Investitionsideen mit Optionen, Futures und Swaps vorzustellen, als selbst zu handeln. Für das eigentliche Handeln würde er seine alte Abteilung anrufen – mich. Sein Weggang hinterließ bei mir gemischte Gefühle. Er war hilfsbereit und freundlich gewesen und hatte Vorbildfunktion für mich gehabt. Aber ich wusste, dass die Veränderung gut für ihn war, und ich hatte das Gefühl, dass er meine Karriere auch weiterhin fördern würde.

Ich war seine rechte Hand gewesen. Durch seinen Weggang wurde ich zum wichtigsten Futures-Händler. Das half mir, mich im neunundvierzigsten Stock weiter zu profilieren. Wenn irgendjemand mit einem Future handeln wollte, vom Partner bis hinunter zum Analysten, dann kam er zu mir und meinem Team. Und diese ganzen Veränderungen hatten einen weiteren positiven Nebeneffekt: Sie trugen dazu bei, meinen Blick dafür zu schärfen, was die Märkte als Nächstes tun würden – und stärkten mein Vertrauen in mein eigenes Urteilsvermögen.

Als Corey ging, bekam ich Verstärkung: Wir konnten ein paar neue Leute einstellen, die ich selbst anlernte. Dennoch war die Stimmung nach wie vor angespannt, in der Firma ebenso wie an der Wall Street allgemein. Die Entlassungen gingen weiter – Abteilungen wurden verkleinert und zusammengelegt. Die Abteilung Equities (Aktien) wurde mit der Abteilung Fixed Income, Currency and Commodities (festverzinsliche Papiere, Währungen, Rohstoffe), kurz FICC, verschmolzen. Das Ergebnis dieses Prozesses war eine einzige, riesige, allmächtige (und manchmal allwissende) Abteilung Securities (Wertpapiere). Im Zuge dieser Umstrukturierungen verschmolz meine eigene kleine Futures-Abteilung mit der Futures-Abteilung der FICC.

Eines Tages im Januar 2005 schickte mir Daffey eine E-Mail. «Greg, ich habe eine Idee für Sie. Kommen Sie mal in meinem Büro vorbei.» Ich machte mich auf den Weg runter in den achtundvierzigsten Stock.

«Ich brauche Ihre Hilfe», begrüßte er mich, als ich eintrat.

Er wollte mit mir über Laura Mehta sprechen, die wir kürzlich von Morgan Stanley angeheuert hatten und die jetzt als Managing Director im Sales für Derivate zuständig war, wo sie de facto die Nummer zwei hinter Daffey war. Eine Reihe von Kunden hatte ihn regelrecht bedrängt, er solle versuchen, sie abzuwerben – sie war eine erfolgreiche Princeton-Absolventin und wurde von einigen der größten Staatsfonds und Anlageverwalter der Wall Street sehr geschätzt. Mein erster Eindruck von ihr war gewesen, dass sie eine Klasse für sich war. Außerdem strahlte sie eine Eigenschaft aus, die auf dem Handelsparkett eher selten ist: Sie war wirklich ein angenehmer Mensch. Als sie bei uns anfing, musste Daffey ihr jemanden zur Seite stellen, und seine Wahl war auf Tim Connors gefallen.

Ich kannte Connors (den, ebenso wie Daffey, niemand beim Vornamen nannte) oberflächlich seit dem Sommer 2000, als wir beide Praktikanten gewesen waren – ich als Student, er mit einem abgeschlossen MBA-Studium. Er war eine eindrucksvolle Erscheinung – ein erfolgreicher Rudererer im College, knapp zwei Meter groß. Wie sein ehemaliger Spitzname («Mullet») nahelegt, hatte er eine ziemliche Mähne auf dem Kopf, und er konnte sehr charmant sein, wenn es die Situation erforderte. Er konnte die halbe Nacht hindurch rauchen und trinken und stand dennoch am nächsten Morgen bei der Arbeit seinen Mann. In meiner Anfangszeit in der Futures-Abteilung war mir aufgefallen, dass er auch ungeduldig und reizbar sein konnte, wenn er frustriert war. Als er sich jedoch eingearbeitet hatte und sich in seiner Rolle wohler fühlte, wurde er ausgeglichener. Und im Laufe der Zeit hatten wir eine gute Verbindung zueinander aufgebaut – wir hatten einen ähnlichen Humor.

Connors hatte einen holprigen Start bei Goldman hinter sich. Er arbeitete unter einigen wirklich hartgesottenen Managern, mit denen er nicht gut auskam. Sie waren immun gegen seinen Charme, sich dafür aber umso klarer seiner Neigung bewusst, in Detailfragen Fehler zu machen: sei es, Multiplikatoren zu verwechseln, oder zu kaufen statt zu verkaufen. Connors stand in dem Ruf, zwar ein großartiger Verkäufer zu sein, aber die theoretischen Grundlagen von Derivaten nicht völlig zu verstehen. (Das ist verbreiteter, als man vielleicht denkt, selbst in den höheren Rängen der Finanzwelt. Derivate sind komplizierte Gebilde.)

Ich erinnere mich lebhaft an einen Vorfall im Dezember 2002, etwa in der Zeit, als ich gerade zu Coreys Team gestoßen war. Connors hatte einen quantitativen Fehler gemacht, für einen Kunden die falsche Menge irgendwelcher Futures verkauft oder gekauft. Es war ein großer Fehler – es ging um Hunderttausende von Dollar –, und er hatte ihn verschlimmert, indem er Daffey erst vierundzwanzig Stunden später davon in Kenntnis gesetzt hatte. Daffey, den nichts so leicht aus der Fassung bringt, war wütend. Er schob den Kopf an seinem Computermonitor vorbei und rief: «Connors, nehmen Sie mich auf der Eins!»

Die Telefonanlage funktioniert so, dass nun jeder schnell Leitung eins drücken und auf stumm schalten konnte, um mitzuhören. Corey raunte mir zu, dass ich mithören solle: Er wusste schon, worum es ging, und dachte, es könne für mich lehrreich sein. Aber das Telefon war eigentlich gar nicht nötig. Daffey war so wütend, dass sein Schreien nicht zu überhören war. Er putzte Connors runter, als wäre er ein frischgebackener Analyst. Was er nicht war: Er hatte zwar später in der Branche angefangen als mancher andere, doch zu der Zeit war er Associate und Anfang dreißig.

«Das ist nicht akzeptabel!», schrie Daffey. «Sie sind lange genug hier, um zu wissen, dass Sie diese Dinge sofort berichten müssen! Wir gehen hier mit großen Risiken um, und wenn das noch einmal passiert, dann wird es großen Ärger geben!»

Es gab eine Phase, wo es aussah, als würde Connors entlassen werden – doch er blieb. Daffey schätzte ihn trotz allem und gab ihm eine neue Chance. Und dann kam Laura Mehta. Bisher habe Connors «sich treiben lassen», sagte mir Daffey. Laura habe dazu beigetragen, dass Connors zielgerichteter und konzentrierter arbeite, so erzählte mir Daffey, doch ein Blick für Details und organisatorische Fähigkeiten seien immer noch nicht seine starke Seite. Es gibt an der Wall Street, das muss man fairerweise hinzufügen, eine ganze Menge Leute, die gut sind, wenn es um die großen Zusammenhänge geht, aber deutlich weniger gut in Detailfragen. Connors gehörte dazu. Das war der Punkt, wo ich ins Spiel kam. Laura war zu weit oben in der Hierarchie, um sich um Connors zu kümmern: Sie war oft in Sitzungen. Daffey brauchte jemanden an Connors Seite, der ihm half, das Geschäft auszubauen. Ob ich das tun wolle?

Ich war begeistert. Wenn der Leiter von Derivatives Sales einem ein solches Angebot macht, dann greift man zu, dachte ich mir. Und ich griff zu. Der neue Job war eine Chance, ein breiteres Spektrum von Derivat-Produkten kennenzulernen und meinen Kundenstamm durch die Aufnahme von Staatsfonds, quantitativen Hedgefonds und staatlichen Pensionskassen zu diversifizieren. Abgesehen davon dachte ich, dass es mir Spaß machen würde.

Und es funktionierte. 2005 drehte sich der Markt, und unser kleines Derivatives-Sales-Team – Laura, Connors und ich – arbeitete auf Hochtouren. Die akribische Feinarbeit, die ich von Corey gelernt hatte, trug dazu bei, dass unsere Abteilung ihre Zuwächse konsolidieren konnte. Connors und ich waren ein gutes Team. Ich kümmerte mich um die Details, und Connors erarbeitete die Strategie und bezirzte rund um die Uhr die Kunden.

Dann wurde Daffey versetzt.

Es passierte im Frühjahr 2005, einem Wendepunkt für die Wall Street. Die Rezession ging zu Ende, der Immobilienmarkt begann Fahrt aufzunehmen. Die Stimmung an den Finanzmärkten wurde langsam besser. Im Handelssaal von Goldman Sachs führte Matt Ricci, ein ehemaliger Yale-Basketballer und sehr draufgängerischer Partner, den Angriff an. Jeden Freitagmorgen stand Ricci auf dem Podium am Rand des Handelssaals und wandte sich mit einer – manchmal mitreißenden, manchmal peinlichen – Rede an seine Truppen. Auf dem Podium gab es ein Mikrophon, das in die Lautsprecheranlage eingespeist wurde, sodass man in jeder Ecke des riesigen Handelssaals Riccis Stimme hören konnte, auch wenn man ihn nicht sah.

Ricci liebte Abkürzungen. Einer seiner Favoriten stammte aus dem Filmdrama Glengarry Glen Ross: A. B. C. – «Always Be Closing»: «Mach immer einen Abschluss»! (Möglicherweise war ihm nicht ganz klar, dass der Film und das zugrundeliegende Theaterstück eine dunkle Satire auf unethische Geschäftspraktiken ist.) Ebenfalls liebte er G. T. B. – «Get the Business». Außerdem gab es die Sportphrasen: Lasst uns offensiv spielen! Lasst uns das über die Linie bringen! Wir müssen das Spiel bis zum Ende des Viertels hochhalten – oder uns bis zum Abpfiff durchspielen …

Er prägte auch einige Begriffe, die sich im Unternehmen etablierten. Einer davon war «Elephant Trades» – Transaktionen, die der Firma über eine Million Dollar einbrachten. Ricci war eine imposante Erscheinung, groß gewachsen, immer im Anzug, selbst am «Casual Friday». Er liebte es, auf dem Podium zu stehen und zu sagen: «Lasst uns rausgehen und ein paar Elefanten jagen! Schnappen wir uns die größten Transaktionen!» Die Meinungen über ihn gingen auseinander. Manche Leute fanden seine Ansprachen motivierend, andere eher nicht.

Ricci war auch derjenige, der das Thema «Gross Credits» (GC), also die Gewinnspanne eines Geschäfts, in den Vordergrund rückte. Viele Jahre lang beurteilten die Manager bei Goldman Sachs die Leistung ihrer Angestellten nach mehreren Kriterien – professionellen wie menschlichen. Am wichtigsten war natürlich: War jemand auf Gewinn ausgerichtet, brachte er Umsätze? Das ist in jeder Organisation so, deren primärer Zweck es ist, Profite zu verbuchen. Doch ein wichtiges anderes Kriterium – und das ist es, was Goldman Sachs lange Zeit von anderen Banken unterschied – betrachtete den ganzen Menschen: War jemand eine Führungspersönlichkeit, die jüngeren Angestellten als gutes Beispiel diente? War jemand ein «Kulturträger», der Zusammenarbeit, Teamwork und die Werte des Unternehmens verkörperte und weitertrug? Lagen der Person die langfristigen Interessen der Organisation am Herzen? War er oder sie so weitsichtig, schlechte Geschäfte, die auf lange Sicht dem Ruf der Firma schaden würden, auszuschlagen?

Mit seiner Betonung der GCs führte Matt Ricci eine Kultur der Leistungsbewertung ein, die vor allem sachlich-statistisch war: «Welche Zahl steht neben seinem Namen?» Von den kumulativen jährlichen GCs eines Mitarbeiters leitete sich seine sogenannte «Attribution» für dieses Jahr ab. Die GCs und die Attribution wurden zu einem Thema, über das die Leute eine Zeitlang weitaus mehr besorgt waren, diskutierten und stritten als über Börsen und Kunden. Es liegt in der Natur des Menschen: Wenn man an einer Zahl gemessen wird, dann unternimmt man alles, damit diese Zahl so groß wie möglich ist.

Matt Ricci war der Mann, der entschied, dass Michael Daffey, der ein großer Motivator für den Handelssaal gewesen war, nach London versetzt wurde.

Es war eine Maßnahme, die uns allen missfiel, aber doch nachvollziehbar war. Im Investmentbanking gilt: Je weiter eine Niederlassung von der Unternehmenszentrale entfernt ist, desto stärker ist die Unternehmenskultur dort verwässert. Und die Niederlassung in London, die dort als amerikanische Bank im Wettbewerb mit europäischen Banken stand, brauchte dringend einen Motivationsschub. Die Überlegung des Managements war: Wenn wir einen unserer erfolgreichen Leute dorthin versetzen, jemanden, der die Unternehmenskultur verkörpert, dann wird es vielleicht besser laufen in London. Es passiert oft, dass erfolgreiche Leute aus ähnlichen Erwägungen heraus ganz plötzlich nach Tokio oder Hongkong transferiert werden. Ricci rief das gesamte Derivate-Team in einem Raum zusammen und sagte: «Ich weiß, dass viele von Ihnen sauer sind. Wenn Sie wissen wollen, auf wen Sie sauer sein sollen, dann kann ich es Ihnen sagen: auf mich. Ich bin derjenige, der die Entscheidung getroffen hat.» Und er sah alle an. Es war ein seltsamer Moment, aber ich war beeindruckt von seiner unverblümten Art. Doch es war auch ein trauriger Moment. Es kommt nicht häufig vor, dass man einen Chef hat, der bei allen so beliebt ist, wie Daffey es war.

Im Juni richtete das Derivate-Team (Sales und Trading gemeinsam) eine Abschiedsparty für ihn aus, im Soho House im Meatpacking District. Der Raum, in dem die Feier stattfand, wurde «The Library» genannt. Es gab dort eine riesige Stereoanlage, aber seltsamerweise keine CDs oder Schallplatten, die man hätte abspielen können. Ich war der Einzige, der seinen iPod dabeihatte, also warf ich mich als Amateur-DJ des Abends in die Bresche. Ich nahm Musikwünsche der Partner entgegen, aber im Großen und Ganzen spielte ich die Musik, die mir gefiel. Nellys «Ride Wit’ Me», «Numb/Encore» von Jay-Z und Linkin Park und «Beautiful Day» von U2 gehörten zu den Songs, die die Leute an diesem Abend zu hören bekamen.

Es waren viele Leute aus der Chefetage da, und alle, ich eingeschlossen, tranken ordentlich. Vielleicht sind an dieser Stelle ein paar Worte über Drogen aller Art bei Goldman Sachs angebracht. In meiner gesamten Karriere habe ich niemals gesehen, dass ein Kollege eine illegale Droge zu sich nahm, weder bei der Arbeit noch auf Partys. Drogen wurden bei Goldman mit Stirnrunzeln, ja sogar mit einem gewissen Abscheu betrachtet. Wer sich mit Drogen abgab, hätte als ausgesprochen unklug gegolten – und unkluge Menschen hielten bei Goldman Sachs nicht besonders lange durch. Disziplinierte Menschen überlebten. Beim Konsum von Drogen erwischt zu werden wäre ein Grund für eine sofortige Kündigung gewesen.

Rauchen: Im New Yorker Büro gab es eine Gruppe von Rauchern, die alle zwei oder drei Stunden vor dem Gebäude eine Zigarettenpause einlegten. Meistens bestand diese Gruppe entweder aus Europäern oder aus Quants (also «quantitativen Analysten») – oder aus europäischen Quants. Die Rauchergruppe des Londoner Büros bestand aus – dem gesamten Londoner Büro.

Alkohol war ein wichtiger Teil der Firmenkultur, wie es an der gesamten Wall Street der Fall ist. Es kam regelmäßig vor, dass man sich mit Kunden betrank. Wichtig war, dass man wusste, wo die Grenze war. Auf Daffeys Party gab es einen Associate, der stark alkoholisiert jedem auf die Nase band, wie sexy er die neue Analystin fand, die nur ein paar Meter weiter weg stand. Ich erinnere mich, dass ich – obwohl ich selbst auch ziemlich betrunken war – dachte: Der Bursche weiß nicht, was er tut – das könnte Konsequenzen haben.

Doch für die höheren Hierarchieebenen schienen, wenn es um Alkohol ging, völlig andere Regeln zu gelten. Deshalb war es heikel, mit Kollegen zu trinken. Als jüngerer Angestellter wollte man nicht als Puritaner dastehen – man musste auch zeigen, dass man mithalten konnte. Gleichzeitig war es wichtig, eine Balance zu finden. Und das Management hatte einfach mehr Freiheiten. Ich habe einige sehr hohe Tiere gesehen, die sich so betranken, dass sie herumlallten, und am nächsten Tag so taten, als sei nichts gewesen. In gewisser Weise können sie sich das erlauben – schließlich sind sie die Chefs.

Daffey gehört zu den Australiern, bei denen Alkohol lediglich ihre angeborene Überschwänglichkeit verstärkt, und das machte ihn nur noch sympathischer. An diesem Abend rief er die Leute einen nach dem anderen zu sich und gab jedem von uns die Gelegenheit, ihm auf Wiedersehen zu sagen. Als ich an der Reihe war, machte er den üblichen Scherz über die südafrikanische Rugby-Mannschaft, dann wurde er ernst. «Greg, bleiben Sie dran», sagte er. «Sie sind der Typ, bei dem ich glaube, dass Sie bei Goldman Sachs jeden Job machen könnten – ich kann Sie mir auf jeder Position vorstellen, ob Trading oder Sales.» Dann verlor er den Faden und wandte sich dem nächsten zu. Am nächsten Morgen rief er mich an und dankte mir dafür, dass ich als DJ eingesprungen war.