Dann flog er nach London

 

Nachdem Connors seinen wackligen Start in der Firma überstanden hatte, war es klar, dass er über ein paar wichtige Fähigkeiten verfügte. Wenn es darum ging, Kunden kennenzulernen, Engagement für sie zu zeigen, ihre Probleme zu verstehen und ihnen zu helfen, Lösungen zu erarbeiten, gehörte er zu den Besten. Die Kunden liebten ihn. Manchmal waren die Lösungen, die er fand, sehr profitabel für die Firma, aber Connors musste lange und hart arbeiten, um diese Transaktionen unter Dach und Fach zu bringen. Das waren keine Quick Wins. Hedgefonds mögen in der Lage sein, nur aufgrund einer Idee, die man ihnen gibt, sofort zu handeln – «on the wire», wie man sagt –, doch in der Regel brauchen Institutionen wie Pensionskassen (private wie staatliche), Staatsfonds (von Ländern wie Abu Dhabi, China, Hongkong, Norwegen, Katar, Saudi-Arabien und Singapur), Versicherungsunternehmen und Investmentfonds (wie Fidelity, Wellington, T. Rowe, Vanguard) wesentlich länger, um auf das Umsetzen einer Lösung oder Investmentidee hinzuarbeiten. Manchmal liegt es daran, dass sie gründlich analysieren und langfristig planen. In manchen Fällen ist ihre Langsamkeit aber auch ein Problem der Bürokratie und Organisationsgröße. Im schlimmsten Fall liegt es auch an mangelnder Sachkenntnis.

Connors hatte großen Erfolg bei der Betreuung von Kunden, die von vielen in der Firma als «undankbar» betrachtet wurden: verschlafene staatliche Pensionskassen überall im Land, von denen nie jemand gedacht hätte, dass sie mit der Wall Street Geschäfte machen könnten zum Beispiel. Die Manager dieser Fonds wussten die Geduld und die Ausdauer, die Connors für sie aufbrachte, sehr zu schätzen.

Trotzdem war Connors ein Mann fürs Grobe. Was die täglichen Routinearbeiten anging, war sein Arbeitsverhalten recht eigenwillig. Er hatte die Angewohnheit, zu den unmöglichsten Zeiten von seinem Schreibtisch zu verschwinden. Mein Job als seine rechte Hand war es, für ihn einzuspringen – also jedem zu helfen, der nach ihm suchte, damit es keine große Sache war, wenn er nicht am Platz war. Ich fragte ihn nie, wo er gewesen war. Die Etikette bei Goldman verbot es, einen Vorgesetzten zu fragen, warum er nicht an seinem Schreibtisch war. Wenn andere Angestellte oder Kunden ihn suchten, sagte ich einfach: «Connors ist gerade nicht am Platz – kann ich helfen?» Auch wenn es halb fünf an einem Freitag war und er sich ins Wochenende verabschiedet hatte.

Ich weiß es nicht mit Sicherheit, aber ich glaube, dass Connors zwischendurch gern ein Nickerchen machte. Vielleicht ging er auch mal morgens ins Fitnessstudio. Er kam in der Regel spät ins Büro, aber man muss fairerweise hinzufügen, dass er oft länger blieb als alle anderen – gelegentlich bis 23 Uhr –, um an Kundenprojekten zu arbeiten. Connors bewegte sich langsam, aber offensichtlich kann er am Ende immer dorthin, wo er hinwollte. Solange die Einnahmen flossen, wurde diese Art von verlängertem Arbeitstag akzeptiert. Später sollte sich das ändern. Eine Menge Dinge wurden akzeptiert, solange es bergauf ging.

Und es ging steil bergauf: Das Ergebnis des ersten Quartals 2006 war das beste, das unsere kleine Truppe im Derivatives Sales jemals vorgelegt hatte. Wir hatten Millionen von Dollar an Erträgen eingefahren und den Wert des Vorjahres fast verdoppelt.

Und in diesem Moment lud mich Tim Connors zu seinem Junggesellenabschied nach Las Vegas ein.

 

Es war nett von ihm, mich einzuladen. Im Grunde war es eine Art Belohnung für meinen Einsatz. Vielleicht außerdem auch eine stillschweigende Anerkennung der Tatsache, dass ich einen überdurchschnittlichen Anteil der Schreibtischarbeit für ihn geleistet hatte. Trotzdem brachte mich die Einladung ins Grübeln. Einerseits war ich mir nicht sicher, ob ich mir das Vergnügen einer Wochenendsause in Las Vegas leisten konnte – denn wenn die hohen Tiere von Goldman nach Vegas gehen, dann sprechen wir von einem völlig anderen Preisniveau als bei einem Vegas-Trip mit College-Kommilitonen. Einschließlich Flugticket, Hotel, Spielen und Nebenkosten würde mich dieser Junggesellenabend schätzungsweise zwei-oder dreitausend Dollar kosten. Das mochte für einen VP oder Managing Director Kleinkram sein, aber für mich war das richtiges Geld. War es das wert?

Ich gehörte zu dieser Zeit noch zu den Associates, wenn auch zu den altgedienten, und obwohl meine Vergütung (einschließlich Bonus) 2005 insgesamt mehr als 200 000 Dollar betrug, nach Steuern, Geldüberweisungen an meine Familie nach Südafrika und der Monatsmiete von 2500 Dollar, die ich für mein 60-Quadratmeter-Apartment in der Upper West Side berappen musste (ich war 2004 von der River Terrace 41 in eine eigene Wohnung gezogen), hatte ich nicht das Gefühl, dass es vernünftig war, an einem Wochenende drei Riesen auf den Kopf zu hauen.

Außerdem war ich mir unsicher wegen der Feier als solcher. Ich wusste von Anfang an, dass ich von allen Eingeladenen derjenige sein würde, der in der Firmenhierarchie am weitesten unten stand. Wollte ich wirklich dabei zusehen, wie meine Vorgesetzten sich danebenbenahmen, und Gefahr laufen, mich selbst danebenzubenehmen? Szenen von Daffeys Abschiedsparty gingen mir durch den Kopf. Ich wusste, dass Management und Angestellte, wenn es ums Trinken und andere Dinge ging, mit zweierlei Maß gemessen wurden. Wollte ich mich wirklich in diese Situation begeben?

Vielleicht machte ich mir zu viele Gedanken, aber ich wollte auch, dass der Erfolg meiner Arbeit für sich selbst sprach, wenn es um mein berufliches Fortkommen ging. Nennen Sie es naiv, aber ich wollte meinen Chef nicht dadurch beeindrucken müssen, wie viel Tequila ich vertrug. Ich traf mich auch sonst nicht an jedem Wochenende mit Kollegen. Ich versuchte nicht, mich bei Vorgesetzten einzuschmeicheln, damit ich mit ihnen am Wochenende ausgehen konnte. Ich mochte es nicht, mein Privatleben und mein Arbeitsleben zu vermischen – und diese Party versprach explosiv zu werden. Doch gleichzeitig mochte ich Connors und wollte dort sein, um mit ihm zu feiern. Und wenn ich es schaffte, ein wenig locker an die Sache heranzugehen, konnte es sicher auch vergnüglich werden.

Ich fragte Phil um Rat. Phil war zwei Jahre älter als ich, sein Vater stammte aus einer alteingesessenen Familie aus Neuengland, und seine Mutter war Chilenin. Er war (und ist) ein wichtiger Mentor für mich. Wir lernten uns an meinem ersten Tag in der Firma kennen und wurden schnell enge Freunde. Er hatte in der Abteilung Emerging Markets im Lateinamerika-Team gearbeitet, bevor man das ganze Team 2003 entließ. (Er wurde dann Vermögensverwalter bei einer Firma, wo er finanzstarke lateinamerikanische Kunden betreut – der perfekte Job für ihn.)

Phil wusste nicht nur, welche Gabeln man bei Tisch benutzt, er wusste auch eine Menge anderer Dinge. Wegen seiner Mutter sprach er fließend Spanisch. Er war in der Park Avenue aufgewachsen und verbrachte den Sommer im Haus seiner Eltern in Southampton, wo er mit George Soros Tennis gespielt hatte (Phil nannte ihn «Big George»). Seine Familie gehörte dem Golfclub Shinnecock Hills an, der so exklusiv war, dass Goldman-Partner wie Daffey und Ricci praktisch zu sabbern begannen, wenn der Name fiel. (Ich habe auch einmal dort gespielt, als das ganze Derivate-Team zum traditionellen Muschelessen in den Hamptons war, zur Förderung der Teambildung, und allen Partnern klappte der Unterkiefer herunter, als ich es erwähnte.) Als Phil bei Goldman Sachs war, versuchten alle möglichen Vorgesetzten, sich bei ihm einzuschmeicheln – vielleicht in der Hoffnung auf eine Einladung in den Club, vielleicht auch in der Hoffnung, dass etwas von seinem Stil auf sie abfärben möge.

Mit seiner Herkunft hätte Phil leicht zu einem Dünnbrettbohrer werden können. Doch stattdessen war er ernsthaft, ohne sich selbst zu ernst zu nehmen, nachdenklich, humorvoll und fokussiert. Er schien in der Lage zu sein, die Welt als das zu sehen, was sie war – weder die großen Dinge zu über-noch die kleinen Dinge zu unterschätzen. Und so wurde er zu meiner Anlaufstelle für Ratschläge zu allen möglichen großen und kleinen Fragen, beruflich ebenso wie privat: welche Goldman MDs man zu den Dachterrassenpartys einladen sollte, die ich mit meinen Mitbewohnern im zweiundvierzigsten Stock der River Terrace 41 veranstaltete; was man zu einer formellen Verlobungsparty im Central Park anziehen sollte; wann es bei Turnbull & Asser Sonderangebote gab und nach welchem Verkäufer man fragen musste.

An einem unserer ersten Tage bei Goldman nahm Phil mich und einige andere junge Analysten beiseite und gab uns einen sehr nützlichen Rat: «Jeder hier verkauft irgendetwas», sagte er. «Ganz gleich, ob er ein Trader ist oder ein Quant. Jeder verkauft etwas.» Was er sagen wollte, war: Man darf niemals davon ausgehen, dass irgendjemand selbstlos handelt. Phil zeigte mir, dass man immer kritisch (aber nicht zynisch) sein muss, dass man immer sehr genau prüfen muss (ohne den anderen zu kompromittieren), was möglicherweise hinter einer Bitte oder einem Kompliment steckt. Er riet mir, wachsam zu sein bei Leuten (auch Vorgesetzten), die versuchten, meine Gunst zu erlangen. Man kann nie wissen, was jemand im Sinn hat, sagte Phil.

Als ich Phil fragte, ob ich Connors Einladung annehmen sollte, schaute ich fasziniert zu, wie die Algorithmen seines taktischen Computers die Daten verarbeiteten. Es dauerte nicht lange. «Ich denke, du solltest gehen», sagte er mir.

«Wirklich?»

Er nickte. «Du musst diesen Burschen zeigen, dass du Spaß haben kannst, dass du Teil der Gang bist», sagte er. «Dass du dich, obwohl du noch jung bist, nicht unwohl dabei fühlst, mit ihnen abzuhängen.»

Und so flog ich nach Vegas.

Anders als Connor und andere ranghöhere Goldman-Mitarbeiter – er hatte alles in allem fünfzehn Männer eingeladen, darunter neun von Goldman – nahm ich mir keinen Urlaub. Das kam mir rangmäßig nicht zu. (Connors ging am Mittwoch nach der Arbeit und kam erst am folgenden Dienstag wieder.) Ich flog Freitagabend, landete kurz vor Mitternacht in Las Vegas, brachte mein Gepäck aufs Zimmer im (neu eröffneten) Wynn Hotel und ging, wie man mich angewiesen hatte, in die Lure Ultra-Lounge am Rand der großen Kasino-Etage, um Connors und die anderen zu treffen, die bereits seit zwei Tagen in der Stadt waren und was das Trinken anging, einen beträchtlichen Vorsprung hatten.

 

Das Licht war rot, die Musik laut. Doch eines muss man Connor lassen: Obwohl er bereits auf seinem Stuhl schwankte, fragte er mich als Erstes (er musste schreien, um sich verständlich zu machen) nach einem großen Geschäft mit Total-Return-Swap-Derivaten, das wir am Morgen des gleichen Tages mit einer großen Pensionskasse abgeschlossen hatten. Es war alles großartig gelaufen, versicherte ich ihm. Er lächelte benebelt.

Um den Tisch herum saß etwa ein Dutzend Leute, sechs Goldman-Mitarbeiter – darunter Bobby Schwartz (auch bekannt als «der jüdische John Kennedy») – sowie ein paar von Connors’ alten Kumpeln vom College, von der Business School, und brüllten vor Lachen, um mit der Musik mithalten zu können. Man klopfte Connors auf die Schulter: Er war der Star, der Anziehungspunkt, der Grund, warum alle hier waren. Die Kellnerin sah umwerfend aus. Die Drinks kamen ohne Pause. Der Managing Director eines Regionalbüros, den alle nur Bill-Jo nannten, mit Abstand der ranghöchste Goldman-Mitarbeiter am Tisch, bezahlte meinen Wodka-Soda. Nach dem zweiten spürte ich, dass ich lockerer wurde. Dann bekam ich einen dritten. Dann einen vierten. Als wir gegen zwei Uhr morgens alle zusammen die Bar verließen, setzte ich vorsichtig einen Fuß vor den anderen, als würde ich auf hoher See über das nasse Deck eines Segelboots laufen. Ich klopfte Bill-Jo auf die Schulter (eine vertrauliche Geste, die ich mir ohne den Wodka garantiert nicht erlaubt hätte) und dankte ihm dafür, dass er mir die ganzen Drinks ausgegeben hatte.

«Ich will Ihnen was sagen», antwortete er ziemlich ernst, obwohl er selbst einiges getrunken hatte. «Ich lasse niemals jemanden, der unter mir steht, etwas bezahlen, wenn er mit mir zusammen ist. Das ist eine Regel, die ich einmal gelernt habe und der ich immer gefolgt bin.»

Wir verließen die Ultra-Lounge und gingen an den Blackjack-Tischen vorbei, wo es ziemlich lebhaft zuging. Ich beobachtete fasziniert, wie ein High-Limit-Spieler mit Schnürsenkelkrawatte einen Turm von 500-Dollar-Chips auf eine Hand setzte.

«Ich frage mich, wie es ist, einen solchen Betrag auf eine Hand zu setzen», sagte ich.

Bill-Jo schaute mich mit dem konzentrierten Gesichtsausdruck eines Mannes an, der versucht, seine Sinne zu ordnen. Er war mir um zwei, drei Drinks voraus. «Kommen Sie mit», sagte er schließlich. «Ich zeige Ihnen, wie es ist.»

Wir gingen zu einem Tisch, an dem ein Platz frei war. Bill-Jo zog einen 500-Dollar-Chip aus der Tasche, legte ihn auf den Tisch, und der Croupier gab die Karten aus. Bill-Jo zeigte mir seine erste offene Karte: ein Karo-Bube. Der Croupier gab ihm noch eine Pik-Vier.

«Karte», sagte Bill-Jo.

Er bekam eine Kreuz-Sieben. Der Croupier schob ihm seinen 500-Dollar-Chip zurück, zusammen mit einem weiteren obendrauf. Bill-Jo nahm die beiden Chips und drückte sie mir in die Hand. «Jetzt wissen Sie, wie es ist», sagte er. «Viel Spaß am Wochenende.»

 

Und so saßen wir denn am nächsten Nachmittag unter der drückenden Sonne Nevadas im Whirlpool des Mandalay-Bay-Hotels – sieben schwer verkaterte Goldman-Mitarbeiter plus Miss Silikon. Ein eiskaltes Red-Stripe-Bier zog dem Kater die Krallen, doch mein Kopf schwirrte trotzdem. Mein Unwohlsein hatte soziale, hierarchische und ethische Gründe. Es hatte nichts mit dem weitgehend unbekleideten Mädchen zu tun – diesen Aspekt fand ich klasse. Was mir Unbehagen bereitete (abgesehen von meinem Kater), war, dass ich mich mit Leuten in dieser Situation befand, die mehr oder weniger mein Schicksal in ihren Händen hielten. Da war mein Chef Connors mit seiner ramponierten TrandWatch-Kappe. Da war erstaunlicherweise auch der «Pre IPO»-Partner Dave Heller, der als einer der Heads of Trading zwei Ebenen über Bill-Jo und drei Ebenen über Connors und den anderen VPs im Whirlpool rangierte. Von meiner Warte aus befand er sich irgendwo links von Alpha Centauri.

Kurz gesagt: Heller war ein Rockstar bei Goldman Sachs. Er hatte diesen Ruf, einfach weil er so verdammt gut war. Obwohl er Tausende Untergebene hatte, die für ihn arbeiteten, hieß es, dass er sich jederzeit in den Handelssaal setzen konnte und jeden Trade ohne jede Hilfe auch selbst hinbekommen würde und wahrscheinlich besser als die Trader, die diesen Job täglich machten. Er war sich seines Status auch bewusst, doch er strahlte ein stilles Selbstbewusstsein aus, besaß darüber hinaus Humor und war niemals arrogant. Anfang der neunziger Jahre, als junger Derivatehändler in Tokio, hatte er etwas geschafft, was bei Goldman Sachs zur Legende wurde: Er hatte gigantische Summen verdient in der Folge der unautorisierten Deals von Nick Leeson, die letzten Endes die Barings Bank zu Fall brachten. Man darf nicht vergessen: Jedem Verlierer bei einer Transaktion steht auf der anderen Seite ein Gewinner gegenüber. Es hat mir gegenüber nie jemand bestätigt, aber es ging das Gerücht, dass Hellers Geschick der Firma Millionen einbrachte, und aus Dankbarkeit und in Anerkennung seiner Fähigkeiten wurde er im Alter von achtundzwanzig oder neunundzwanzig Jahren zum Goldman-Partner ernannt – dem jüngsten in der Geschichte der Firma.

Ich hatte Dave Heller schon zuvor einige Male getroffen. 2003, als ich noch recht neu in der Abteilung Futures Executions war, kam er manchmal vorbei, oder (das war die Regel) er rief Corey und mich an und bat uns, einen Eigenhandel für ihn auszuführen oder ein Firmenrisko abzusichern. Was mir an Heller auffiel: Er hatte immer recht. Wenn er Futures verkaufte, dann fiel der Markt am nächsten Tag. Wenn er Futures kaufte, dann zog der Markt an. Meine letzte Begegnung mit Dave hatte allerdings nichts mit der Börse zu tun. Es war eine dieser leicht unangenehmen Situationen: Am Morgen nach Daffeys ausschweifender Abschiedsparty im Soho House hatte er sich im One New York Plaza in der Herrentoilette im neunundvierzigsten Stock an das Urinal neben mir gestellt, mir einen Blick zugeworfen und die unsterblichen Worte gesprochen: «Tolle Party gestern Abend.»

Damals hatte Heller nur Smalltalk gemacht. Doch jetzt, weniger als ein Jahr später, traf er schon wieder mit dem kleinen Angestellten zusammen und wieder im Zusammenhang mit Ausschweifungen des Managements.

Heller war zu der Party gekommen, weil er die Idee amüsant fand, nach Vegas zu fliegen, weil Connors ein cooler Typ war und es Spaß machte, mit ihm befreundet zu sein. Ein wichtiger Grund war zweifellos auch, dass Connors’ sechsundzwanzigjährige Verlobte mit Hellers ähnlich junger Ehefrau befreundet war. Diese Freundschaft mochte zufällig zustande gekommen sein oder nicht, in jedem Fall war sie ziemlich förderlich für Connors’ Karriere bei Goldman.

Ich dagegen war ein Mitarbeiter, den Heller gut genug kannte, um ihn mit «Hallo» zu begrüßen, aber ich war und blieb Fußvolk, ein Untergebener, der sich immer daran erinnern würde, wie er mit Dave Heller und einer barbusigen Dreiundzwanzigjährigen in Las Vegas im Whirlpool gesessen hatte. Aber wie würde sich das auf meine Karriere bei Goldman auswirken?

Was noch zu meinen Sorgen hinzukam, war die kleine Sache mit den 1000 Dollar in Form von Spielchips, die mir ein sehr betrunkener Bill-Jo am Abend zuvor in die Hand gedrückt hatte. Hätte ich sie ihm sofort zurückgeben sollen mit den Worten: «Bill, das kann ich nicht annehmen»? Wahrscheinlich. Aber ich hatte es nicht getan. Sollte ich es jetzt zur Sprache bringen?

Ich tat es nicht. Während meine Kollegen mit dem vollbusigen Mädel Smalltalk machten, nippte ich an meinem Bier und hielt die Klappe. Und ich fragte mich (und überlegte, ob die anderen sich das auch fragten): Würde das, was in Vegas abgelaufen war, bis nach New York dringen?

Als ich am Montag wieder im Büro war, rief ich Phil an, um seinen weisen Rat einzuholen, was ich in der Bill-Jo-Sache tun sollte. Hielt er es für verwerflich, dass ich das Geld nicht sofort zurückgegeben oder es zumindest versucht hatte? Oder konnte ich davon ausgehen, dass 1000 Dollar für einen Managing Director nur ein Trinkgeld waren – also völlig unbedeutend? Oder konnte es sein – die paranoide Variante –, dass es sich um eine Art Falle handelte? Wenn ich nichts sagte, würde mich auf irgendeine Weise Bill-Jos Strafe ereilen?

Phil riet mir, die 1000 Dollar bei nächster Gelegenheit eher nebenbei zur Sprache bringen – vielleicht indem ich Bill-Jo zu einem späteren Zeitpunkt ein Dutzend Golfbälle kaufte oder so, aber zum jetzigen Zeitpunkt sollte ich sagen: «Danke, dass Sie für mich bezahlt haben.» Und genau das tat ich auch. Bill schien nur eine vage Vorstellung davon zu haben, wovon ich redete.

Ach ja, und ein oder zwei Tage nach meiner Rückkehr stellte sich in der Herrentoilette der Firma wieder Dave Heller neben mich. Er schenkte mir ein kurzes, geheimnisvolles Lächeln. «Das war ein nettes Wochenende», sagte er. Der König des Understatements.

 

2006 war ein großes Jahr für Goldman Sachs. Die Märkte boomten, und Derivatives Sales machten weiterhin hohe Umsätze. Die Kunden waren zuversichtlich: Sie kauften, sie gingen Risiken ein. Und ich handelte gut für sie, was neue Aufträge nach sich zog, weil sie wussten, dass ich mich um sie kümmerte. Unter meinen Kunden waren einige der größten Anlageverwalter, quantitativen Hedgefonds und Staatsfonds der Welt. Das Provisionsgeschäft – feste, transparente Gebühren auf Kommissions-Orders in Bereichen wie Futures, börsengehandelte Fonds und Optionen – florierte. In der Kasse klingelte es.

Aber es lagen Veränderungen in der Luft. Ende Mai wurde unser CEO, Hank Paulson, zum Finanzminister ernannt, und Lloyd Blankfein rückte nach als CEO und Vorstandsvorsitzender von Goldman Sachs. Viele in der Firma waren schockiert, dass Paulson zu einem Zeitpunkt ging, als alles so prächtig lief. Man darf das nicht vergessen: Es waren gute Zeiten. Hank hätte bei Goldman bleiben und noch ein paar Jahre lang Millionengehälter einstreichen können. Er war bei den Bankern ebenso wie bei den Händlern beliebt und respektiert. Doch er folgte dem Ruf von George W. Bush und damit auch der Tradition einer langen Reihe früherer Goldman-Manager, die auf dem Gipfel ihrer Karriere in Regierungsämter wechselten. Ich bewunderte seine Entscheidung.

Und rückblickend kann man sagen, dass es für Hank Paulson der Deal des Jahrhunderts war. Um zu vermeiden, dass er als Regierungsmitglied in einen Interessenkonflikt geriet, musste er nämlich sämtliche Goldman-Aktien (im Wert von 500 Millionen Dollar) verkaufen, auf ihrem Höchststand vor dem Crash. Und die Tatsache, dass er ein Staatsamt antrat, eröffnete ihm ein Steuerschlupfloch, sodass er noch nicht einmal Kapitalertragssteuer darauf zahlen musste. Ich bin allerdings fest davon überzeugt, dass Paulsons Wechsel ins Finanzministerium für das amerikanische Volk am Ende sogar noch der bessere Deal war.

Dennoch gab es eine Gruppe von Leuten in der Firma, die bei seinem Weggang der Meinung waren, Hanks Tage seien ohnehin gezählt gewesen. Paulson war ein Banker, Blankfein war ein Trader. Blankfeins Trading-Abteilung (FICC und Equitites) machte massive Gewinne, zwei-bis dreimal so viel wie jede andere Abteilung – die Hälfte der Einkünfte der Firma. Das zeigte, wie groß die Veränderung war, die seit dem Ende der neunziger und frühen nuller Jahre eingetreten war, als das Investmentbanking, also Dinge wie Fusionen, Firmenübernahmen und Unternehmensfinanzen, den Löwenanteil von Goldmans Profiten ausgemacht hatte. An der Wall Street kommt oft derjenige an die Macht, der den meisten Profit macht.

Und Lloyd war zum Goldjungen von Goldman Sachs geworden. Innerhalb der Firma galt er als Genie, das alle Entwicklungen vorhersah und einfach keinen falschen Schritt machen konnte. Die Leute bewunderten ihn, fürchteten ihn, liebten ihn. Er war ebenso respekteinflößend wie humorvoll. Er wirkte im Umgang wie ein ganz normaler Typ, und wer ihn kennenlernte, war von ihm eingenommen.

Hank dagegen war ein Banker der alten Schule gewesen – geradeheraus und konservativ, ein bisschen ruppig, manchmal brüsk. (Rudy trat einmal in einem Ulk-Video, das für die Goldman-Weihnachtsfeier aufgenommen worden war, als Hank auf. Von der Statur her kam es hin, und lustigerweise waren sie sich sogar vom Typ her sehr ähnlich.) Es war unvorstellbar, Hank auf einer Firmenparty richtig locker zu erleben. Er war Abstinenzler. Außerdem Hobby-Ornithologe, leidenschaftlicher Umweltschützer und Fitnessfanatiker. Ich hatte neben ihm im Fitnessraum des Unternehmens trainiert und gesehen, wie er beim Bankdrücken ein paar ziemlich beeindruckende Gewichte auflegte. (Mein anderes Erlebnis im Fitnessraum mit einem Goldman-CEO war das eine Mal, als ich sah, wie sich Lloyd einer «Lufttrockung» unterzog, das heißt, er lief nach dem Duschen im Umkleideraum im Adamskostüm so lange herum, bis er trocken war. Aber für seine Generation war das wohl nichts allzu Ungewöhnliches. Ich glaube jedenfalls nicht, dass es sich sozusagen um eine nackte Machtdemonstration gehandelt hat.)

Hank hatte sich 2003, als die Firma eine schwierige Zeit durchlief, in die Nesseln gesetzt, als er während einer Investorenkonferenz für Salomon Smith Barney die sogenannte 80/20-Regel zitierte – dass in jedem Geschäft zwanzig Prozent der Leute achtzig Prozent der Profite generieren. Seine Bemerkung wurde als absoluter Widerspruch zu Goldmans Teamwork-Kultur aufgefasst und löste hausintern ziemlich harsche Reaktionen aus. Man muss Paulson zugutehalten, dass er daraufhin eine Rund-Voicemail verschickte, in der er sich ohne Wenn und Aber entschuldigte. Er sagte: «Es war eine unbedachte und unangebrachte Bemerkung, und ich entschuldige mich dafür», und das wurde von allen akzeptiert.

Doch nun hatte das Rad sich weitergedreht. Die Bankenwelt war zu einer Welt des Trading geworden, und das war Lloyd Blankfeins Welt. Und Goldman war dabei, die Bereiche FICC und Equities zu verschmelzen, Letzterer inzwischen unter der Führung von Gary Cohn – wie Lloyd ein Trader und wie er ein «Pre IPO»-Partner. Es war eine Maßnahme, die enorme Auswirkungen auf die Firma und die gesamte Finanzwelt haben sollte.

Lloyd und Gary waren schon ewig befreundet. Sie hatten sich 1990 kennengelernt, als Gary vom Handel mit Metallen an der New York Mercantile Exchange zu J. Aron wechselte, der bei Goldman Sachs die Abteilung Rohstoffe leitete. Lloyd war ein guter Verkäufer, sein Stern war im Aufsteigen begriffen. Jeder gute Verkäufer braucht einen Händler seines Vertrauens, und das wurde Gary für Lloyd. Und Gary war ein brillanter Händler. Er soll angeblich den Aluminiummarkt ganz allein beherrscht haben.

Seine Lebensgeschichte ist bemerkenswert. Gary ist starker Legastheniker, und bereits als Kind hatte man ihm klargemacht, dass bestimmte Türen für ihn immer verschlossen bleiben würden. Er machte es sich daher zur Aufgabe, all diese Türen zu öffnen. Er war eins neunzig groß, hundert Kilo schwer, ehemaliger Auswahlsportler der American University in Washington, und er liebte die Finanzmärkte weitaus mehr als das Studieren. Für seinen ersten Job an der Rohstoffbörse musste er keine Bewerbung schreiben. Als er sich eine Taxifahrt mit einem Warenterminhändler teilte, beredete er ihn auf dem Weg zum Flughafen so lange, ihn einzustellen, bis er den Job hatte. Er nutzte seine Chance und setzte sich mit Klugheit, Instinkt und emotionaler Intelligenz durch. Börsenhandel ist ein Geschäft mit Menschen. Wenn man auf dem Parkett handelt, dann sieht man die Angst in den Augen der Menschen. (Das war es, was Gary gesehen hatte, als er anfing, Aluminium aufzukaufen.) Die Leute, die es an die Spitze schaffen, verfügen alle über geballtes theoretisches Wissen, aber sie besitzen auch einen Instinkt dafür, was andere Menschen motiviert. Gary Cohn war in dieser Hinsicht ein Genie.

Cohn nahm Gehaltseinbußen in Kauf, um zu Goldman Sachs zu wechseln, doch mit seinem Gespür für Menschen einerseits und für den Rohstoffmarkt andererseits stieg er schnell auf – beinahe parallel mit Blankfein, aber immer eine Stufe oder zwei darunter. Lloyd kümmerte sich um Gary. Sie wurden enge Freunde, und die Familien fuhren zusammen in den Urlaub.

Die Fähigkeiten, die Gary zu einem großartigen Trader gemacht hatten, halfen ihm auch, als Manager erfolgreich zu sein. Als Lloyd (der fünf oder sechs Jahre älter ist als Gary) unter Hank Paulson die Nummer zwei bei Goldman wurde, ernannte er Gary zu einem der beiden Leiter der Abteilung Wertpapiere, mit besonderem Schwerpunkt auf Aktien. Viele hielten das für bedenklich. Gary war schließlich Rohstoffhändler. Doch Lloyd sagte: «Wisst ihr was? Wenn er mit Aluminium zurechtkommt, dann kann er auch mit Aktien zurechtkommen.» So etwas gab es oft bei Goldman Sachs: Man war überzeugt davon, dass gute Manager und begabte Trader flexibel genug waren, um mit ihren Fähigkeiten an jedem Ort, in jeder Position, mit jeder Anlageform erfolgreich sein zu können.

Ich begegnete Gary zum ersten Mal, als ich noch in der Abteilung Futures war, kurz nachdem Corey Stevens in Michael Daffeys Team gewechselt war und die Verschmelzung mit FICC stattgefunden hatte. Einer der Händler, die im Zuge der Zusammenlegung in den Aktienhandelssaal kamen, war früher auf dem Rohstoffparkett Gary Cohns Makler gewesen, und Gary – der immer noch neu war und niemanden im Equities-Bereich kannte – kam oft herüber, um mit ihm zu reden.

Gary hatte eine Angewohnheit, wenn er mit Leuten sprach, für die er in der Firma berüchtigt war. Ich habe es selbst ein Dutzend Mal erlebt. Es spielte dabei keine Rolle, ob sein Gesprächspartner männlich oder weiblich war: Er ging zu dem Händler oder der Händlerin hin, hob ein Bein, stellte seinen Fuß auf den Schreibtisch des Betreffenden, die Hüfte dicht vor dem Gesicht des Angestellten, und fragte ihn, wie die Märkte liefen.

Das urzeitliche Gebaren eines Alphamännchens (das in diesem Fall ein Fast-zwei-Meter-Mann war), könnte man meinen. Ich glaube aber, er hielt diese Haltung einfach für bequem. Und was aus seinem Mund kam, war auch nicht das, was man von einem Alphamännchen erwartet. Er war freundlich. Er war zurückhaltend. Er sagte: «Wie geht’s Ihnen? Wie läuft Ihr Tag?» Alles in ganz leisem Ton. Mir fiel auf, dass er, wenn er an einem der Tische haltmachte, fast nie übers Geschäft sprach. Stattdessen gab es Smalltalk, von der Art: «Haben Sie gestern das mit den Yankees gesehen?» In späteren Jahren, als ich Gary in der «Pine Street Leadership Development Group» – dem Programm für Führungsnachwuchs bei Goldman Sachs – über Führungsprinzipien reden hörte, betonte er immer, wie wichtig es sei, dass man im Handelssaal präsent war und die eigenen Leute wissen ließ, wer man war. Er sprach auch über Balance und innere Ausgeglichenheit: Die Leute müssten sicher sein, sagte er, dass man ein ausgeglichenes Temperament hatte und berechenbar war und nicht alle zwei Minuten ausflippte.

Und ich muss gestehen, genau so wirkte Gary auf mich – wie übrigens auch Lloyd: immer positiv gestimmt, niemals runterziehend oder einschüchternd. Beide waren (und sind) sehr geschickt im Umgang mit Menschen. Sie verstehen es, wie man Menschen für sich gewinnt, wie man sie nicht verängstigt, sondern sie motiviert, und auch, wie man den Druck erhöht, wenn es nötig ist. Das macht sie zu großen Führungspersönlichkeiten.

Nun, da Hank ins Finanzministerium gewechselt war, waren Lloyd und Gary die Zukunft.

 

Inzwischen hatte bei Goldman Sachs das Trading das klassische Banking abgelöst. Im Jahr 2006 erschien praktisch in jedem Wirtschaftsmagazin eine Titelgeschichte darüber, dass Goldman an der Spitze der Wall Street stand, dass GS zwei-oder dreimal so viel Umsätze machte wie jede andere Investmentbank. Der Economist titelte in seiner Ausgabe vom 27. April 2006 (ich habe mir das Exemplar aufgehoben), Goldman Sachs sei «on top of the world». Das Cover zeigte einen Bergsteiger, der an die Wolken zu stoßen schien. Es machte mich stolz, das zu sehen. Welch eine Veränderung seit den dunklen Zeiten des Jahres 2001, als die Leute sagten, bei GS sei der Lack ab und die größeren Banken – mit den größeren Bilanzen – würden uns lebendig auffressen.

Wie konnte Goldman Sachs diese erstaunlichen Profite erreichen? Nicht durch Investmentbanking, nicht durch die traditionellen Methoden, Kapital für Unternehmen aufzubringen, so konnte man in einigen dieser Artikel lesen, sondern indem man mit eigenem Geld eigene Positionen hielt – indem man für sich selbst handelte, daher auch Eigenhandel genannt. Diese Zeitschriften (und einige Investoren) waren der Meinung, dass Goldman Sachs dabei war, zu einem Hedgefonds zu werden, und dass als Teil dieser Entwicklung die Bank neuen Interessenkonflikten ausgesetzt war. Diese neue Richtung war in der Tat eine deutliche Abkehr von dem, wofür Goldman Sachs bekannt geworden war.

Von Goldmans ersten Tagen bis zum Börsengang 1999 – hundertdreißig Jahre lang – war man stolz darauf gewesen, als Ratgeber für die Kunden zu fungieren, die Funktion eines Treuhänders wahrzunehmen. Ein Treuhänder hatte seinem Mandanten gegenüber eine besondere Vertrauensstellung und Verpflichtung. In dieser Rolle beriet die Firma den Kunden, wie dieser sein Geld am besten anlegen sollte – anstatt ihn zu den Investments zu drängen, die die fettesten Gebühren einbrachten. Diese Rolle betraf auch das Investmentbanking, wenn die Firma einem Kunden sagte, ob er mit einem anderen Unternehmen fusionieren sollte. Dieses Ideal, das Richtige für den Kunden – und nicht nur das Richtige für die Firma – zu tun, war kein Mythos, sondern es war Programm. Es wurde in den frühen siebziger Jahren von dem damaligen Seniorpartner John Whitehead in seinen «Vierzehn Grundsätzen» extra festgehalten. Diese Geschäftsprinzipien waren uns eingebläut worden, als wir unser Sommerpraktikum in der Firma absolviert hatten, und ich glaubte an sie. Eine Zeitlang hatte ich eine Seite daraus neben meinem Schreibtisch aufgehängt. Ein paar meiner Favoriten:

 

1. Das Interesse unserer Kunden steht an erster Stelle.
Unsere Erfahrung zeigt: Wenn wir unsere Kunden gut betreuen, folgt unser eigener Erfolg automatisch.
5. Kreativität und Phantasie sind wichtig bei allem, was wir tun.
Wir wissen, dass die traditionellen Methoden in vielen Fällen auch heute noch die besten sind. Dennoch streben wir stets danach, eine bessere Lösung für die Probleme eines Kunden zu finden. Wir sind stolz darauf, dass viele der Praktiken und Techniken, die heute in der Branche Standard sind, von uns entwickelt wurden.
12. Wir bekommen im Rahmen unserer Kundengespräche stets vertrauliche Informationen.
Ein Vertrauensbruch oder der unangemessene oder sorglose Umgang mit vertraulichen Informationen sind für uns undenkbar.
14. Integrität und Ehrlichkeit sind der Kern unseres Geschäfts.
Wir erwarten von unseren Mitarbeitern, dass sie sich in allem, was sie tun, an hohen ethischen Normen orientieren, sei es in ihrer Arbeit für das Unternehmen oder in ihrem Privatleben.

 

Da stand es schwarz auf weiß: Kundeninteresse an erster Stelle – immer auf der Suche nach besseren Lösungen für den Kunden – kein Missbrauch von Informationen – höchste ethische Normen in allem, was wir tun. Wie in aller Welt passte Eigenhandel zu diesen Idealen?

Als die Machtbasis bei Goldman sich vom Investmentbanking zum Trading verschob, wurde der Kunde weniger als ein zu Beratender angesehen, sondern mehr als Kontrahent, der lediglich die Gegenseite in einer Transaktion darstellt. Dieser Wandel wurde verkörpert durch Lloyd Blankfeins Aufstieg in der Firma, der gleichzeitig mit einem dramatischen Anstieg der Profite aus dem Trading-Bereich im Vergleich zu den Einnahmen aus dem traditionellen Bankgeschäft erfolgte. Ein Geschäftspartner steht allein. Seine Ziele können mit denen der Investmentbank, die seine Transaktionen umsetzt – dem anderen Geschäftspartner – übereinstimmen, müssen es aber nicht. Ein Kunde, den man berät, ist dagegen eher wie ein Kind – man hat eine Verantwortung, seine Interessen zu wahren und ihn vor seinen eigenen niederen Instinkten zu schützen. Geschäftspartner sind Erwachsene, und im nackten Kapitalismus ist zwischen einvernehmlich handelnden mündigen Erwachsenen alles erlaubt.

Goldman trat auch noch in einer weiteren neuen und unscharf definierten Rolle auf: als Co-Investor. In den alten Zeiten riet die Firma einem Kunden lediglich, in etwas zu investieren. Jetzt konnte die Firma auch ihr eigenes Geld in dieselbe Sache investieren. Moralisch fragwürdig wurde diese Praxis des Eigenhandels in dem Moment, in dem die Firma ihre Meinung änderte (oder ihre wahren Absichten verbarg) und ihre Wette anders platzierte als der Kunde.

Anfang 2005, als Lloyd Blankfein noch Hank Paulsons Nummer zwei war, brachten die beiden in ihrem jährlichen Brief an die Aktionäre das Thema Interessenkonflikt in der schönen neuen Welt des Investmentbanking zur Sprache. Dieser Brief markierte einen Paradigmenwechsel in Goldmans Haltung gegenüber seinen Kunden. Konflikte zwischen Bank und Kunden seien unvermeidlich, so argumentierten sie, und mehr noch: Solche Konflikte sollte man begrüßen. Eine Firma, die keine Konflikte hervorrief, verfolge ihr Geschäft nicht aggressiv genug.

«Es ist naiv anzunehmen, dass wir ohne Konflikte operieren können. Konflikte sind vorprogrammiert in unserer Rolle als ernstzunehmender Vermittler – zwischen denen, die Kapital zur Verfügung stellen, und denen, die es nutzen, zwischen denen, die Risiko vermeiden wollen, und jenen, die bereit sind, es auf sich zu nehmen», schrieben Hank und Llyod.

Nicht lange danach vermittelte Goldman bei einer 9 Milliarden Dollar schweren Fusion zwischen einem Kunden – der damals im Privatbesitz befindlichen New York Stock Exchange – und einer viel kleineren, an der Börse gehandelten elektronischen Handelsplattform namens Archipelago. Aus der Perspektive eines Außenstehenden bestand das Problem bei dieser Fusion darin, dass Goldman als zweitgrößter Aktionär von Archipelago auf beiden Seiten an dieser Transaktion beteiligt war, die der Firma insgesamt rund 100 Millionen Dollar einbrachte. Außerdem war der damalige NYSE-Chef, John Thain, vorher bei Goldman President und Chief Operating Officer (COO) gewesen. Goldmans eigene Bewertung der Transaktion war, dass man die Stabilität der Märkte fördere, indem man Konflikte managte. Auf Fragen zu diesen Konflikten antwortete der damalige Goldman-Sprecher Lucas van Praag: «Das Leben ist voller Konflikte, einige sind real, andere eingebildet.»

Damals glaubte ich an diese Version. Als ich (und viele andere Leute bei Goldman) Lloyd Blankfeins sehr überzeugende Argumente lasen, warum man Konflikte begrüßen sollte, empfanden wir sogar einen gewissen Stolz: Die Firma betrat Neuland. Wir hatten neue und innovative Wege gefunden, das Richtige zu tun und den Kunden zu helfen. Lange Zeit sagte ich mir: Vertrau im Zweifelsfall der Firma.

Abgesehen davon war der Sommer 2006 eine aufregende Zeit für mich: Das Geschäft lief auf Hochtouren, die Märkte waren stark, und ich hatte Erfolg im Job. Ich liebte das Leben in New York. Und manchmal, wenn man glücklich ist, geschieht es, dass man ein Mädchen trifft. Im Frühjahr hatte jemand für Nadine und mich ein Blind Date arrangiert – in der Woche, bevor ich zur Junggesellenparty von Connors nach Las Vegas flog. Ich hatte es eilig, nach New York zurückzukommen, um sie wiederzusehen. Betrunken, wie ich war, hatte ich sogar am Blackjack-Tisch Bill-Jo von ihr erzählt. Sie war Ernährungswissenschaftlerin, intelligent und gutaussehend, und wir hatten eine ähnliche jüdische Erziehung genossen. Wir beide liebten Wein und Restaurants – besonders Sushi. Bei einem unserer ersten Treffen gingen wir zu Sushi of Gari in der Upper West Side, ins Cube 63 in der Lower East Side und ins Budokan (ein neues In-Lokal mit asiatischer Fusionsküche) im Meatpacking District.

Außerdem war ich von Goldman gebeten worden, in diesem Sommer das Praktikumsprogramm als Praktikumsmanager mitzuorganisieren. Auf diesen Punkt war ich besonders stolz. Offenbar sah die Firma mich als einen Kulturträger an – jemanden, der das verkörperte und vermittelte, wofür Goldman Sachs stand. Ich fühlte mich geehrt, die Firma auf diese Weise repräsentieren zu dürfen. Es machte mir Spaß, als Mentor für neue Analysten zu fungieren. Ich war zuständig für Bewerbungsgespräche in Stanford. Zweimal im Jahr flog ich mit einem Team von fünf oder sechs Leuten nach Palo Alto, redete im Rahmen der «Stanford Career Fair» und führte Gespräche mit den Jugendlichen, die Interesse an Goldman Sachs hatten.

Bei diesen Gesprächen achtete ich immer auf die gleichen Dinge. Mir war weniger wichtig, welches Wissen über die Finanzbranche oder welchen Notendurchschnitt jemand hatte. Was mich mehr interessierte, war das Urteilsvermögen der Leute und ihre Begeisterung für das Geschäft. An der Wall Street ist es ziemlich leicht, jemandem das theoretische Basiswissen der Finanzbranche beizubringen. Jemandem ein gutes Urteilsvermögen und einen wachen Blick beizubringen, ist dagegen fast unmöglich. Weiß jemand, wann er um Hilfe bitten muss? Kann er zugeben, wenn er beim Traden einen Fehler gemacht hat? Ist er bereit, mit vollem Einsatz zu arbeiten, auch wenn der Job intellektuell nicht immer anspruchsvoll ist, aber dennoch gemacht werden muss? Kann er mehrere Aufgaben gleichzeitig bewältigen? Hat er ein Interesse für Märkte und den Wunsch dazuzulernen?

Wenn ich nur fünf Minuten mit jemandem redete, bekam ich ein viel besseres Gespür für all diese Dinge, als wenn ich ihm knallharte Fragen über die Finanzbranche gestellt hätte. Am wichtigsten war uns der Aspekt: War eine Person angenehm im Umgang? War sie uns sympathisch? Würde sie mit Menschen zurechtkommen? Arrogante Überflieger überstanden in der Regel die Bewerbungsgespräche bei Goldman nicht.

Wenn wir unsere Kandidaten auf dem Campus ausgewählt hatten, unternahm ich alles, was in meiner Macht stand, damit sie nach dem Praktikum auch eine Stelle bekamen. Ich gebe zu, dass ich in dieser Hinsicht voreingenommen war, aber ich hatte immer das Gefühl, dass die jungen Leute aus Stanford einerseits unbeschwerter, andererseits aber auch offener waren als ihre Altersgenossen von den Eliteuniversitäten der Ostküste, die oft ziemlich verbissen und arrogant wirkten. Ich hatte diesen Unterschied zwischen Ost-und Westküste sehr deutlich gesehen, als ich selbst Sommerpraktikant war.

Ich war stolz, dass mehr als die Hälfte meiner Gruppe von fünfundzwanzig Praktikanten am Ende des Sommers eine Vollzeitstelle in der Firma angeboten bekam – das war der höchste Prozentsatz aller Praktikumsmanager.

Vielleicht war das der Grund dafür, dass ich als einer von zehn Angestellten für ein im Dokumentarfilmstil produziertes Recruitment-Video ausgewählt wurde, das ebenfalls in diesem Sommer gedreht wurde. Die Firma verpflichtete eine Produktionsfirma, die mich beim Interagieren mit anderen Angestellten im Handelssaal und dann noch einmal für ein Interview filmte.

Das Sahnehäubchen in diesem Sommer 2006 war ein Angebot, das aus heiterem Himmel kam. Laura Mehta, Managing Director unserer Abteilung, besaß auf dem nördlichen Ausläufer von Long Island ein kleines Haus – es hatte nur zwei Schlafzimmer, doch es sah aus, als wäre es gerade für den Architectural Digest fotografiert worden. Makellos weiß stand es auf der Klippe, mit Meerblick und ausgestattet mit allem Komfort: Luxusküche, Tiefkühltruhe, Surround-Sound-Anlage. Laura schickte Connors und mir eine Mail, dass, wer von uns möchte, das Haus an Wochenenden gern nutzen könne, sofern sie nicht selbst dort war. «Ihr habt sehr hart gearbeitet», schrieb sie, «ihr seid herzlich eingeladen.» Nadine und ich waren erst seit kurzem richtig zusammen – was hätte romantischer (und ehrlich gesagt imposanter) sein können als mit meiner neuen Freundin das Wochenende im Haus eines Goldman-MDs mit Blick auf den Long-Island-Sund zu verbringen? Laura beriet uns und gab uns Tipps, wo man am besten essen konnte – wir gingen ins Frisky Oyster in Greenport zum Dinner und holten uns auf dem Wochenmarkt in der Straße die Eier-Käse-Sandwiches, die sie empfohlen hatte. Ich war siebenundzwanzig Jahre alt und hatte das Gefühl, dass eine Menge Dinge ziemlich gut für mich liefen.

 

Es lief wirklich gut. Ende November rief mich Laura in ihr Büro und sagte lächelnd: «Herzlichen Glückwunsch, Greg.»

Ich wusste, was nun kam, und strahlte sie schon an, bevor sie weitergesprochen hatte.

«Wir befördern Sie zum Vice President», sagte Laura.

Ich war extrem stolz. Doch man muss diese Beförderung in der richtigen Perspektive sehen. Noch am selben Tag schickte Lloyd Blankfein eine E-Mail an die gesamte Firma, in der stand: «Dies sind unsere neuen Vice Presidents. Wir möchten jedem einzelnen von ihnen gratulieren.» Die Liste umfasste mehr als tausend Personen. Wissen muss man auch, dass Goldman Sachs jedes Jahr in etwa die gleiche Anzahl Leute entlässt – nämlich ein-bis zweitausend. Das heißt, die Beförderung zum Vice President ist nicht zuletzt ein Zeugnis dafür, dass man über eine gewisse Survival-Mentalität verfügt. Viele, die mit mir als Analyst angefangen hatten, waren nicht mehr da. Viele weitere würden noch verschwinden.

Der Status eines Vice President bei Goldman Sachs ist nicht mit einer Gehaltserhöhung verbunden. Wenn die Firma ein schlechtes Jahr hat, kann ein neu ernannter VP theoretisch sogar weniger verdienen als zuvor als Associate. Ebenso wenig bilden die Vice Presidents bei Goldman eine erlesene Elite: Von den dreißigtausend Angestellten sind rund zwölftausend VPs. Sie sind noch immer das Fußvolk. Sie sind die Leute, die die meiste Arbeit machen, und meiner Meinung nach sind sie es, die die Firmenkultur besser verkörpern als so mancher Manager in seinem gläsernen Eckbüro.

Trotzdem war ich stolz. Jeder beglückwünschte mich. Ich muss fast hundert E-Mails bekommen haben – von Leuten über mir und unter mir, von Kunden, selbst von Freunden ohne Verbindungen zur Finanzbranche, die die Neuigkeit irgendwo gehört hatten. «Du hast es wirklich verdient», stand darin, «weiter so» und Ähnliches.

Das Jahr 2006, das jetzt dem Ende entgegenging, war für mich ein Jahr der Wunder gewesen. Aber zogen da nicht bedrohliche Wolken am Horizont auf? Dinge wie der Archipelago-Deal und der Eigenhandel gaben mir natürlich zu denken. Ganz zu schweigen von einigen der neuen strukturierten Produkte, die man immer häufiger zu sehen bekam – Derivate, die so komplex waren, dass nur die cleversten Analysten oder Strategen sie durchschauten – oder nicht einmal sie.

Vielleicht. Aber viele dieser Entwicklungen fanden auf der anderen Seite der sogenannten «Chinesischen Mauer» statt, in einem Bereich, von dessen Tätigkeiten ich juristisch gesehen nicht einmal Kenntnis haben durfte. Und in Bezug auf Compliance war Goldman Sachs die strengste und juristisch korrekteste aller Investmentbanken. Wir wurden beständig daran erinnert, wie vorsichtig wir sein sollten, wie sorgfältig wir die Dinge prüfen sollten, dass wir bei der geringsten Unsicherheit Rücksprache mit den Juristen halten sollten. Alle paar Wochen wurden wir in Bankrecht und Kapitalmarktrecht geschult. Ich war alles andere als allein mit meiner Überzeugung, dass wir doch offensichtlich alles richtig machten.

 

Das Jahr nahm ein seltsames Ende. Anfang Dezember fand die Weihnachtsfeier der Abteilung Securities statt, und zwar in einer riesigen Halle in der Nähe der Chelsea Piers. Es war eine unbeschreiblich pompöse Angelegenheit. Es müssen wohl dreitausend Leute dort gewesen sein. Außerdem gab es vielleicht noch einmal so viele Eis-Skulpturen. Der Raum war zum Bersten gefüllt mit Menschen, die Büffets waren von einigen der besten Restaurants der Stadt wie Blue Smoke oder Landmarc geliefert worden. Rockmusik dröhnte aus riesigen Lautsprechern und machte jede Unterhaltung unmöglich – eigentlich konnte man nichts weiter tun als essen, sich betrinken und mit großen Augen das unglaubliche Schauspiel anstarren, das sich einem bot.

Der Höhepunkt des Spektakels war zweifellos der Auftritt von Gary Cohn. Unser neuer President hatte in diesem Jahr vielleicht 50 Millionen Dollar verdient, und ganz offensichtlich war ihm der – natürlich beachtliche – Erfolg extrem zu Kopf gestiegen, denn er betrat die Halle umgeben von bulligen Kerlen mit Knöpfen im Ohr. Es war eine interne Party, und da kam der nette Gary Cohn – mindestens ebenso groß und muskulös wie seine Muskelmänner – umringt von Bodyguards. Vor wem sollten die ihn beschützen? Wenn ein kleiner Associate oder VP auf ihn zuging und Smalltalk machen wollte, würde man den Nichtswürdigen zu Boden werfen und mit dem Taser traktieren? Zum Glück kam es nicht dazu. Umringt von seiner Leibgarde, ging Gary von Buffet zu Buffet, lächelte und kostete von den Leckereien.

Ein paar Tage später war ich erneut in Lauras Büro. Es ging ums Gehalt.

Das war ein jährliches Ritual bei Goldman Sachs: Mitte Dezember wurde jeder einzelne Angestellte ins Büro seines Managers gerufen, wo ihm in einem Zehn-Minuten-Meeting die Höhe seiner Personal Annual Total Compensation (PATC), seine persönliche Jahresgesamtvergütung, mitgeteilt wurde. Der Betrag setzte sich zusammen aus Grundgehalt plus Bonus. Der Bonus als solcher wurde nie gesondert diskutiert. Diese Berechnung stellte man selbst an, im Kopf.

Trotzdem waren diese Gespräche als Bonus-Meetings bekannt, und der Tag hieß allgemein «Bonus Day», denn für jeden, der in der Hierarchie über den Analysten stand, war der Bonus die Hauptsache, der Löwenanteil des Einkommens. Viele Leute, die lange an der Wall Street arbeiten, gewöhnen sich daran, jedes Jahr Boni in bestimmter Höhe zu bekommen. In das Budget ihrer Familien zu Hause ist dieser Posten fest eingeplant – für Dinge wie Privatschulen, Sommerhäuser, Kinderfrauen, Urlaube. Wenn dann die Höhe des Betrags nicht den Erwartungen entspricht, kann das unangenehme Folgen haben. Der gewohnte Luxus will schließlich bezahlt werden. Die Angestellten fieberten das ganze Jahr diesem Meeting entgegen, und an dem Tag selbst kam jeder fünfzehn Minuten früher – um 6 : 30 Uhr statt um 6 : 45 Uhr.

Für jeden, der gerne Beobachtungen anstellt unter Menschen, war es ein interessanter Tag. In gewisser Weise waren die Bonus-Meetings den Entlassungen nicht unähnlich. Die Leute wurden in das Glasbüro eines Partners gerufen, und jeder draußen konnte genau sehen, was passierte. Der Unterschied war der, dass die Bonus-Meetings in der Reihenfolge vom ranghöchsten zum rangniedrigsten Angestellten abliefen. Der Partner, dem die jeweilige Gruppe unterstand, saß in seinem Büro, und gegen 6 : 45 Uhr fingen draußen die Telefone an zu klingeln. Der Apparat des ranghöchsten Mitarbeiters klingelte zuerst. Er ging in den Raum, kam zehn Minuten später mit Pokerface wieder heraus. Der nächste ging hinein und kam zehn Minuten mit Pokerface wieder heraus. Und so weiter, bis zum letzten Mitarbeiter.

Diesen Meetings wurde eine völlig absurde Bedeutung beigemessen. Es gab Leute, deren Selbstwertgefühl komplett von diesem Gespräch abhing. In vielen Fällen wurde ein ohnehin schon übertriebenes Ego noch weiter aufgeblasen, in anderen Fällen wurde die Luft herausgelassen. Doch wie willkürlich die Zahl, die einem der Partner verkündete, auch zustande gekommen sein mochte, das Bonus-Meeting ließ niemanden kalt. Viele der Mitarbeiter hatten sich in 85-Stunden-Wochen für die Firma abgeschuftet. Sie erwarteten eine Gegenleistung.

Nicht alle schafften es, das obligatorische Pokerface zu bewahren. Immer wieder kam es zu interessanten Abweichungen: Man sah Leute beim Hinausgehen die Tür hinter sich zuwerfen. Man sah sogar Leute, die so aufgebracht aus dem Gespräch kamen, dass sie um sieben Uhr morgens das Büro verließen und nach Hause gingen. Es war der einzige Tag des Jahres, an dem ein solches Verhalten akzeptiert wurde. Es lag auf der Hand, dass einige Leute enttäuscht und andere erfreut sein würden. Bobby Schwartz war in unserer Abteilung bekannt dafür, dass er seine Emotionen nach einem positiven Bonus-Meeting nicht verbergen konnte. Corey Stevens schwor, er habe einmal gesehen, wie Bobby einen Luftsprung machte.

Die einzige Regel, die unverrückbar feststand, war, dass das Meeting zehn Minuten dauerte und nicht eine Minute mehr. Wenn man von seinem Bonus enttäuscht war, konnte man seine Meinung zum Ausdruck bringen, doch wenn die zehn Minuten abgelaufen waren, sagte der Partner: «Danke, das Meeting ist zu Ende – akzeptieren Sie es.»

Ich betrat Lauras Büro mit großen Hoffnungen. Diese Hoffnungen erfüllten sich nicht. Laura sagte mir, dass meine PATC für das Jahr 2006 bei knapp einer halben Million Dollar liegen würde. Für jeden Außenstehenden war das ein absurd hohes Gehalt für eine Arbeit, deren hauptsächlicher Nutzen darin bestand, die Stabilität der weltweiten Kapitalmärkte zu erhalten – eine Arbeit, deren Nutzen für die Menschheit ausschließlich Rentner und ausländische Regierungen zu spüren bekamen – in Gestalt der Renten-und Staatsfonds, die zu meinen Kunden gehörten. In jedem Fall hätte ich mich ausgesprochen glücklich schätzen und dankbar sein sollen.

Doch nach der verdrehten Logik von Goldman Sachs und der Wall Street war ich angeschmiert worden. Unsere Abteilung hatte in diesem Jahr Millionen von Dollars verdient, und mir war völlig klar, dass ein Vice President oder Managing Director fünf bis sieben Prozent dieser Gesamtsumme bekommen hätte, vorausgesetzt, dass die Firma ein gutes Jahr hatte, was ja der Fall war. Ja, ich war gerade erst vom Associate zum Vice President befördert worden, aber, so sagte ich Laura, ich war nicht der Meinung, dass dies ein Argument sein durfte, wenn es um die Vergütung ging. Zusammen mit Connors hatte ich – wie sie sehr gut wusste – den größten Teil der Arbeit in der Abteilung geleistet. Ich konnte nur schätzen, was man Connors gezahlt hatte. Er hatte keinen Luftsprung vollführt, als er aus Lauras Büro kam, aber er hätte vermutlich Grund dazu gehabt.

Laura lächelte traurig. «Tut mir leid, Greg», sagte sie. «Im Moment sind Sie einfach noch zu jung, als dass wir sie auf diesem Level vergüten könnten. Wenn wir im nächsten Jahr ähnlich gut dastehen, wird die Sache anders aussehen.»

Das Meeting war zu Ende. Ich blieb im Haus und arbeitete bis zum Abend.