Kapitel 3

Der Springbock schafft den Sprung

Eines Morgens, Anfang 2002, sagte Rudy zu mir: «Heute wird es unangenehm. Ein paar Leute kriegen ihren Marschbefehl.»

2002 war für Goldman ein schwieriges Jahr. Die Märkte waren nach dem 11. September massiv eingebrochen, und wir mussten Personal abbauen. Außerdem kursierte die Angst, dass Goldman Sachs zu klein sein könnte, um neben Banken wie JPMorgan Chase, Citigroup und der Bank of America zu bestehen, die mit ihren hohen Bilanzsummen umfangreiche Kredite an Unternehmen vergeben konnten, um Kunden zu gewinnen. Die Stimmung im Büro war gedrückt und angespannt. Wir spürten, dass unsere Vorgesetzten um ihre Jobs bangten. Und das nicht ohne Grund.

Marschbefehl – was für eine seltsame Ausdrucksweise, dachte ich. Ich hatte sie in diesem Zusammenhang noch nie gehört, wusste aber sofort, was gemeint war.

«Sie müssen sich aber keine Sorgen machen», meinte Rudy. «Kein Grund zur Panik.» Daraus folgerte ich, dass unser Drei-Mann-Team nicht gefährdet war. Dann beobachtete ich, wie einer nach dem anderen ins Büro des Managing Partners gerufen wurde.

Die Büros und Besprechungszimmer im achtundvierzigsten Stock hatten ausnahmslos Glaswände. Man konnte genau sehen, was in den Räumen vorging. Bei Goldman Sachs ist das überall so. Es ist Unternehmenspolitik, dass alle Büros in Handelssälen weltweit Glaswände haben.

Deshalb konnte ich ungehindert in das Büro hineinsehen, in dem der für den achtundvierzigsten Stock zuständige Partner und ein Vertreter der Personalabteilung mit den Entlassungskandidaten sprachen. Die «schmutzige Arbeit» musste der Partner selbst erledigen. Er – oder sie – musste dem Betreffenden in die Augen sehen und sagen: «Sorry, aber wir planen ohne Sie.» Mir blieb das glücklicherweise erspart, doch in den ersten Jahren nach dem 11. September hatte jeder von uns Angst davor.

Selbst die Partner waren dagegen nicht gefeit. 2002 entledigte sich die Firma etlicher Veteranen – Führungskräfte, die schon vor dem Börsengang Partner gewesen waren und mitunter jahrzehntelang zum Unternehmen gehörten. Sie mussten einem neuen Managertypus weichen. Die jüngeren Partner und MDs traten ganz anders auf, nicht mehr so dezent, sondern deutlich arroganter. Die bescheidene Casio-Uhr wurde von der goldenen Rolex verdrängt. So richtig bedauern konnte man es zwar nicht, wenn jemand den Laufpass erhielt, der zig Millionen verdient hatte, doch der Traditionalist in mir fand es dennoch traurig, dass wir Mitarbeiter verloren, die das Unternehmen wie ihre Westentasche kannten. Außerdem fiel mir auf, dass Goldman Anfang 2002 einen Topmanager von einem anderen Unternehmen abgeworben hatte, der den Bereich Sales übernehmen sollte. Vor dem Börsengang, also vor 1999, hätte so ein Quereinstieg bei Goldman Sachs als Sakrileg gegolten. Schließlich sollte die Firma Eigengewächse als Führungskräfte heranziehen.

Eine Kündigung während der Baisse 2002 ist mir ganz besonders im Gedächtnis geblieben. Der Betroffene war Absolvent einer Business School und galt als sehr vielsprechend. Gerade hatte man ihm eine ganze Gruppe von Neukunden übertragen, die er betreuen sollte. Dass er gehen musste, kam für uns alle überraschend. Doch er war der Rangniedrigste in seinem Team und daher entbehrlich. Die Wall Street hielt sich an die Last-In-First-Out-Methode, und Goldman Sachs bildete keine Ausnahme. Wer als Letzter kam, der ging als Erster. Ich weiß noch genau, wie der frisch Entlassene mit hochrotem Gesicht aus dem Büro stürmte. Am Schreibtisch eines Managing Directors blieb er stehen und machte eine sonderbare Handbewegung – vor der Stirn schnippte er mit den Fingern. Ich kannte die Geste nicht, aber ein freundlicher Abschied war das nicht.

 

2002 taten wir alles, um unsere Kunden bei der Stange zu halten. Einmal wurde mir dabei ein sehr persönliches Opfer abgefordert.

Während ich noch dabei war, mich in meiner Funktion als Verkäufer in unserem Team zurechzufinden, kümmerte ich mich um meine ersten eigenen Kunden. Darunter war zu meinem großen Glück auch ein ehemaliger Studienkollege und alter Freund aus Stanford, ein Inder namens Prakash. Die Welt ist klein. Prakash arbeitete in Boston am Hauptsitz eines großen Investmentfonds, der mehrere hundert Milliarden Dollar verwaltete. Er war Sektorspezialist für Technologiewerte. Seine Aufgabe als Analyst bestand darin, sein Unternehmen über seinen Eindruck von den Aktien aus diesem Sektor zu informieren, damit es sich eine objektive Meinung bilden konnte – und sich bei Anlageentscheidungen nicht ausschließlich auf die Beratung der Wall Street (durch Goldman Sachs, Morgan Stanley etc.) verlassen musste.

(Kunden wie Prakashs Arbeitgeber betrieben gern eigenes Aktien-Research, weil Investmentbanken von Haus aus in einem Interessenkonflikt stehen, der Ende 2003 zu einem Vergleich über 1,4 Milliarden Dollar zwischen den zehn größten Instituten und der US-Regierung führen sollte. Der damalige New Yorker Generalbundesanwalt Eliot Spitzer sollte Licht in diesen Konflikt bringen. Er wollte eine strikte Trennung zwischen Investment-Research und Investmentbanking durchsetzen. Research-Analysten – die objektive Kundenempfehlungen erstellen sollten – maßen Internetfirmen ohne erkennbare Erträge astronomische Bewertungen bei, um sich lukrative Investmentbanking-Geschäfte derselben Internetfirmen zu sichern, über die sie in ihren Berichten schrieben. Das Ergebnis: eine gigantische Internetblase, die am Ende platzte.)

Prakash arbeitete mehreren Portfoliomanagern – PMs – zu, die seine Research-Ergebnisse und Auffassungen heranzogen, um zu entscheiden, ob sie für ihre spezifischen Fonds die von Prakash analysierten Tech-Werte kaufen sollten.

Damals saßen etliche gefragte und zukunftsorientierte Technologieunternehmen in Israel, und Israel gehörte zu den Regionen, die mein Team abdeckte. Meine Aufgabe war es, Prakash in Bezug auf israelische Technologieaktien zu beraten. Die Welt war klein. Ich hatte fast täglich geschäftlich mit ihm zu tun. Es war ein eigenartiges Gefühl, mit einem Kumpel, mit dem ich früher Bierchen gezischt hatte und zu Basketballspielen gegangen war, über heiße Werte wie Check Point Software oder Comverse Technology zu diskutieren.

Prakash war kein einfacher Kunde. In Israel war der Technologiemarkt noch intakt, doch Prakash war grundsätzlich skeptisch gegenüber Aktien, für die viele Anleger bereit waren, hohe Multiples zu bezahlen. Aus diesem Grund war er (und ist es noch) sehr gut in seinem Job.

Eliot Spitzer stand mit seinem Argwohn gegenüber Investmentbanken nicht allein da. Prakash stellte mir immer wieder peinliche Fragen zur Rolle von Goldman während der Internetblase, die in unserem letzten Studienjahr geplatzt war, bevor wir 2001 unsere jeweilige Laufbahn in der Finanzwirtschaft einschlugen. Ich hatte mich an Prakashs kritische und bisweilen sarkastische Art gewöhnt, die er nicht nur in Bezug auf die Märkte an den Tag legte, sondern zum Beispiel auch in der Frage, ob Tyrone Willingham wirklich der richtige Mann war als Football-Coach für Stanford. Prakash war das, was man an der Wall Street auch einen «perma-bear» nennt – jemand, der immer «bärisch», also pessimistisch (statt optimistisch oder «bullisch») denkt, für den das Glas immer halb leer ist. Trotzdem brachten mich manche seiner Argumente ins Grübeln.

Hatte Goldman Sachs Unternehmen wie Webvan und eToys durch die Übernahme ihrer Emissionen seinen goldenen Stempel aufgedrückt, der dem Anlegerpublikum vermittelte, dass diese Anlagen sicher waren? Hatten die Research-Analysten der Firma wirklich geglaubt, dass diese Unternehmen Milliarden Dollar wert waren – obwohl sie zum Zeitpunkt ihres Börsengangs Verluste machten? Verhielt sich Goldman hochgradig verantwortungslos, indem es der Blase Nahrung gab, indem es Investoren in minderwertige Unternehmen lockte, damit es seine siebenprozentige Gebühr einstreichen und den großen Reibach machen konnte, wenn die Unternehmen an die Börse gingen? Prakash war selbst Research-Analyst und setzte grundsätzlich auf objektive harte Fakten. Er glaubte nicht an Goldmans Objektivität – und auch nicht an die Fairness des Unternehmens gegenüber dem Anlegerpublikum.

Ich habe regelmäßig erlebt, wie Rudy unseren Bankern unangenehme Fragen stellte, bevor er seinen Kunden Geschäfte antrug, doch das kann ich nicht von vielen anderen behaupten. Selbst wenn Prakash recht hat, dachte ich, waren die Investoren doch trotzdem auch selber schuld, wenn sie in den Hype hineinkauften – oder etwa nicht? Außerdem hatten Merrill Lynch, Salomon Smith Barney und Credit Suisse noch weitaus skrupelloser konfliktträchtige Empfehlungen abgegeben. Wir sind hier bei Goldman Sachs, dachte ich. Wir haben uns vielleicht den einen oder anderen Fehltritt geleistet, aber unser Standard ist höher als in allen anderen Unternehmen.

Prakash arbeitete für ein Schwergewicht der Anlageverwaltungsbranche – einen Kunden, der für die gesamte Wall Street interessant war und der aufgrund seiner Größe, seines Einflusses auf den Markt und der Millionen von Dollar an Provisionen, die er jedes Jahr zahlte, wohl einer der größten und wichtigsten überhaupt war. Dass ich dort einen guten Freund als Ansprechpartner hatte – einen, der mir exklusiv mitteilen konnte, ob seine Firma bestimmte Titel optimistisch oder pessimistisch beurteilte –, war ein absoluter Glücksfall und für mich sehr wertvoll. Rudy wusste diese Beziehung zu schätzen. Einmal flog er mit mir nach Boston, um mit Prakash und dessen Kollegen bei einem Match mit Kunden von Goldman Sachs Basketball zu spielen. Neben Rudy mit seinen knapp zwei Metern und dem eins neunzig großen Prakash sah ich allerdings keine Sonne. Immer wenn Prakash nach New York kam, forderte mich Rudy auf, ihn möglichst fein zum Essen auszuführen – auf Rechnung von Goldman Sachs natürlich. Gewöhnlich hatte Prakash nichts dagegen und überließ mir die Auswahl des Restaurants. Wir gingen oft zusammen ins SushiSamba im West Village.

Eines Tages erwähnte Rudy zufällig, dass Ted Simpson, einer von Goldmans Verkäufern in Boston, seit Jahren für alle dortigen Kunden ein Tischtennisturnier veranstaltete. «Oh», sagte ich, «ich habe früher gar nicht schlecht gespielt.»

«Wie gut?», fragte Rudy allen Ernstes.

«Ich habe mit dem südafrikanischen Team an der Makkabiade teilgenommen», erzählte ich. «Wir haben die Bronzemedaille gewonnen.»

Rudys Augen leuchteten auf.

Mir war klar, dass ein fähiger Tischtennisspieler nicht das gleiche Ansehen genoss wie jemand, der Tiger Woods in der PGA Junior Series geschlagen hatte oder Roger Federer bei der Junioren-Konkurrenz in Wimbledon. Aber ich war wirklich gut, und zwar aus folgendem Grund: Ich hatte als Zehnjähriger in Johannesburg angefangen, mit meinem Vater zu spielen – auf einer alten klappbaren Platte in unserer Garage. Bald spielten wir jeden Tag, sobald er von der Arbeit kam. Mein Vater hielt sich für einen passablen Spieler, doch schon nach drei Monaten hatte er gegen mich keine Chance mehr.

Mir gefiel das Spiel, und ich wurde schnell besser. Eine Zeitlang hatte ich ziemlich intensiv Tennis gespielt, und das kam mir zugute. Ich schlug gern harte Bälle und hatte ein ausgeglichenes Temperament. An der King David School gab es eine Tischtennismannschaft, der ich beitrat. In der fünften Klasse gewann ich das Schulturnier. Ich schlug einen Siebtklässler im Entscheidungsspiel mit einem atemberaubenden Dreisatzspiel nach fünf Matchpunkten Rückstand, während fünfzig Schüler und Lehrer zusahen und jubelten. Da schickte mich mein Lehrer in einen Tischtennisclub, damit ich in der Liga spielen konnte, und dort bekam ich Unterricht. Mit dreizehn wurde ich zur Landesmeisterschaft geschickt und 1993 – ich war vierzehn Jahre alt – zur Makkabiade.

Die Makkabiade ist eine jüdische Sportveranstaltung nach dem Vorbild der Olympischen Spiele – eines der fünf größten Sportereignisse der Welt. Alle vier Jahre finden sich dazu fünftausend jüdische Sportler aus über fünfzig Ländern in Israel zusammen. 1993 durfte Südafrika – das zuvor wegen der Apartheid von internationalen Sportverbänden boykottiert worden war – erstmals teilnehmen. In jenem Jahr fuhren wir mit einer großen Mannschaft nach Tel Aviv. Wir waren mehrere hundert Sportler. Für mich war es eine einmalige Erfahrung. Ich hatte gerade die Bar Mitzwa hinter mir und fuhr zum ersten Mal ins Ausland.

Unser Dreierteam setzte sich in der Juniorenklasse (ich war die Nummer eins im Einzel) durch gegen die Mannschaften aus Argentinien, Brasilien, Kanada, Dänemark, Deutschland, Großbritannien, Mexiko und die USA. Israel fegte alle von der Platte und gewann Gold. Australien gewann Silber. Mein bester Freund, Lex, hatte ebenfalls an der Makkabiade teilgenommen – als Torwart der Fußballmannschaft. Zurück an der King David School, bekamen wir beide besondere Blazer, blau mit goldenen Tressen.

Als Rudy das hörte, schickte er Ted Simpson umgehend eine E-Mail: «Springbock nimmt für die New Yorker Handelsabteilung am Tischtennisturnier teil.»

Simpson fragte zurück. «Wer ist Springbock?»

Seiner Antwort legte Rudy ein Foto von einem echten Springbock bei, was ich damals zum Brüllen komisch fand.

Also flog ich auf Firmenkosten nach Boston (mit der Rechtfertigung, dass ich dort ja Prakash treffen und über israelische Technologiewerte reden konnte) und lernte Ted Simpson kennen.

Ted war VP, Mitte dreißig, ein Verkäufer der alten Schule vom selben Schlag wie Rudy, dem er bis hin zu seinem kahlen Schädel auch körperlich ähnelte – nur ganz so groß war er nicht. Wie Rudy war Ted extrem fleißig und sehr besonnen. Er tat das Richtige für seine Kunden. In der Bostoner Investmentwelt war er gut vernetzt. Die größten Akteure waren (und sind) Fidelity, Putnam Investments, Wellington Management, State Street und The Boston Company. Diese Investmentfonds-Giganten verwalten unter anderem die Altersersparnisse der amerikanischen Mittelschicht. In Boston war die Kultur mehr durch traditionelle, langfristig orientierte Investmentfonds (die das Geld von Privatanlegern verwalteten) geprägt, weniger von hochfliegenden Hedgefonds. Mit seiner ruhigen Art und seinem trockenen Humor passte Simpson gut ins Bostoner Umfeld und auch zu den Kunden, die er betreute.

Ted erzählte, dass das «Goldman Sachs Ping-Pong Tournament» eine ehrwürdige Tradition war, und es hatte sich ergeben, dass seit fünf Jahren in Folge ein bestimmter indischer Portfoliomanager von Putnam gewonnen hatte, für den der Sieg jedesmal der absolute Höhepunkt des Jahres war. Sobald ich das Jillian’s betrat – einen Vernügungspalast mit guter Alkoholversorgung, scharfen Chicken-Wings, Bowling-Bahnen, Plasmabildschirmen und Dutzenden von Kicker-und Billardtischen und Tischtennisplatten – und meinen vermeintlichen Konkurrenten trainieren sah, wusste ich, dass er gegen mich keine Chance hatte.

Ich will nicht angeben. Wie bei jeder Wettbewerbssportart gibt es auch beim Tischtennis verschiedene Niveaus, und jeder Spieler von internationalem Rang hätte Hackfleisch aus mir gemacht. Das Gleiche galt aber auch für den Portfoliomanager von Putnam – nennen wir ihn PMP – und mich. Wir spielten einfach nicht in der gleichen Liga. Ich war mir ziemlich sicher, dass er meinen Aufschlag nicht parieren konnte und dass er meinen angeschnittenen Bällen nicht gewachsen sein würde. Er war ein guter Amateur, mehr nicht. Ich hätte ihn im Schlaf besiegen können.

Die Paarungen für das Turnier wurden ausgelost. Es waren zweiunddreißig Teilnehmer, und PMP war als Nummer eins gesetzt. Da die Veranstalter wussten, dass ich gut spielte, bekam ich die Nummer zwei. Es ging los.

Ich war ein bisschen eingerostet – seit ich bei Goldman war, hatte ich so viel gearbeitet, dass ich kaum einmal den Schläger in der Hand gehabt hatte –, fand aber rasch zu meiner Form zurück. Aber es gab keinen einzigen ernstzunehmenden Gegner für mich. PMP und ich gewannen unsere Gruppenspiele und steuerten auf die unvermeidliche Konfrontation zu. Ich beobachtete ein paar seiner Spiele. PMPs Kontrahenten waren leichte Opfer: Gelegenheitsspieler in Jeans und Polohemden. PMP dagegen sah mit Spezialschuhen, Sporthose, T-Shirt und Stirnband sehr professionell aus und besiegte einen Gegner nach dem anderen. Natürlich hatte er einen eigenen Schläger dabei – kein Spieler, der etwas auf sich hält, tritt ohne sein eigenes Sportgerät an. Ich hatte selbstverständlich meinen bewährten Donic-Appelgren-Schläger mit Vario-Belag mitgebracht – auf der einen Seite rot, auf der anderen schwarz.

Ted Simpson und ich sahen zu, während PMP einen weiteren Spieler deklassierte. «Wie gehen wir vor?», fragte ich ihn. «Wir werden im Entscheidungsspiel aufeinandertreffen, und wenn ich mich ins Zeug lege, schlage ich ihn 21 : 2. Was soll ich tun?»

Ted schaute nachdenklich. «Tja», sagte er dann. «Er ist einer unserer wichtigsten Kunden. Und er nimmt das hier richtig ernst.» PMP schlug mit der Vorhand einen Ball, der gerade noch knapp die Tischkante berührte und dann unerreichbar davonschnalzte. Er hob die Arme in Siegerpose. «Wir müssen dafür sorgen, dass es knapp ausgeht», meinte Ted. «Liefern Sie ihm ein paar anständige Ballwechsel.»

Ich entgegnete, dass ich mir das ganz ähnlich gedacht hatte. Ich musste PMP schlagen, weil offensichtlich war, dass ich das konnte, doch der Abstand durfte nicht zu groß sein. Es durfte nicht peinlich werden für ihn. Ich sagte, ich wüsste schon, wie: Ich würde einfach hier und da ohne Not einen Fehler machen.

«Hmmm», meinte Ted.

«Sie sehen das anders?», fragte ich.

«Tja, der Mann ist einer unserer größten Kunden», wiederholte er und warf mir einen vielsagenden Blick zu.

«Sie wollen sagen …?»

«Vielleicht», entgegnete er und setzte hinzu: «Achten Sie auf mein Zeichen.»

Ich erwiderte Teds Blick – er lächelte – und holte meinen Donic aus der Hülle.

Wir hatten jede Menge Zuschauer. Alle waren locker und amüsierten sich – bis auf mein Gegner, für den das Spiel bitterer Ernst war. Als ich gleich zu Anfang ein paar Punkte machte, sah ich, wie ihm das zusetzte.

Ich ließ es also langsam angehen. Ich hätte ihm sicher mehr Druck machen und ein paar unorthodoxe Bälle am Ohr vorbeizischen lassen können, aber ich tat es nicht. Ich wollte lediglich den Ball im Spiel halten. Für das Publikum gab ich Schmetterbälle von PMP nicht zurück, sondern lobbte sie, damit er wieder schmettern konnte. Schmettern, lobben, schmettern, lobben. Ohs und Ahs. Nach drei, vier solcher Ballwechsel traf ich entweder ins Netz oder machte ihm eine solche Vorlage, dass er mich abservieren konnte. Ich überließ ihm die Bühne, sodass er seine Kollegen beeindrucken konnte. Das gefiel ihm sichtlich.

Den ersten Satz gewann er 21 : 17.

Wir spielten drei Sätze, und ich hatte vor, den zweiten knapp für mich zu entscheiden und den dritten dann noch etwas höher. Doch als ich im zweiten Satz 15 : 12 führte, fing ich Ted Simpsons Blick auf. Er schüttelte unmerklich den Kopf und zeigte hinter der vorgehaltenen Linken mit dem rechten Daumen nach unten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass außer Ted und mir niemand mitbekam, was da wirklich gespielt wurde. Ich nickte. Der erste von John Whiteheads «Vierzehn Grundsätzen» war schließlich, dass der Kunde König ist, nicht wahr?

Der Portfoliomanager von Putnam war ein großherziger Gewinner. Und ich ein guter Verlierer.

 

Das Tischtennisturnier war ein Lichtblick in einem ansonsten düsteren Sommer. Die Rezession dauerte weltweit an, und die Schwellenmärkte, schon in guten Zeiten nur ein Nischensegment, befanden sich förmlich in Auflösung. Im Sommer wurde die slowakische Analystin mit den spitzen Ellenbogen aus meinem Team in die Londoner Niederlassung von Goldman versetzt, als Sales-Trader für European Shares, und wechselte bald darauf zur UBS. Nun waren nur noch Rudy und ich übrig. Über uns hing das Damoklesschwert in Form eines Rotstifts. Emerging Markets Sales drohte die Abwicklung. Ich wusste, dass ich eine Überlebensstrategie brauchte – eine andere Aufgabe –, wenn ich in der Firma bleiben wollte. Und Rudy sah das für sich offenbar ganz ähnlich.

Als der Sommer zu Ende ging, wurde er ungewöhnlich geheimniskrämerisch, verließ ständig seinen Schreibtisch, um an «vertraulichen internen» Sitzungen teilzunehmen, und sprach flüsternd ins Telefon. Obwohl wir im selben Boot saßen und auch noch direkt nebeneinander, verhielt er sich gar nicht mehr sehr partnerschaftlich. Ich ahnte schon, was kommen würde – und meine Ahnung bestätigte sich, als Rudy eines Tages zu mir sagte: «Springbock, ich wechsle am Montag in den neunundvierzigsten Stock, zu US Equity Sales. Das muss Ihnen keine Angst machen, Sie packen das schon. Ich helfe Ihnen, wo ich kann.»

Ein anderer Kollege aus dem Handelssaal nahm mich beiseite und äußerte ungefragt einen Rat, der mir bis heute im Gedächtnis geblieben ist. «Veränderungen machen Angst», sagte er. «Aber oft bringen sie auch Gutes. Wandel ermöglicht neue, wichtige Erfahrungen. Kopf hoch.»

Rückblickend war mir klar, was Rudy abgezogen hatte. Er hatte seine Kontakte bei US Equity Sales angezapft, weil er seine Versetzung im Auge hatte. Im Vergleich zu Emerging Markets Sales war der Bereich, in den er wechseln wollte, stabiler und weniger schwankungsanfällig, denn es ging hauptsächlich um den Verkauf höher kapitalisierter, liquiderer US-Aktien an US-Investoren. Mit Dutzenden von Mitarbeitern war aber auch die Konkurrenz größer. Rudy war nur noch ein kleiner Fisch in einem großen Teich.

Aber ihm war die Sicherheit wichtig. Die ganze Zeit über hatte er sich aktiv um eine neue Stelle bemüht, ohne mir ein Wort zu sagen. Wenn ich ehrlich war, war ich enttäuscht, dass er nicht versucht hatte, mit US Equity Sales eine «Paketlösung» auszuhandeln, um uns beide herauszuholen. Es war schließlich nicht so ungewöhnlich, dass ein VP mit dem «Analysten seines Vertrauens» an seiner Seite das Team wechselte. Vielleicht hatte ich zu viel erwartet. Vielleicht hatte Rudy es ja versucht. Ich habe keinen Beweis für das Gegenteil. Doch angesichts der vielen Entlassungen war der Druck so extrem hoch, dass er verständlicherweise vor allem seine eigene Haut retten wollte.

Im September 2002 zog Rudy in den neunundvierzigsten Stock um. Die für internationale Aktien zuständige Gruppe wurde verkleinert. Jahrelang hatte sie den ganzen achtundvierzigsten Stock belegt. Jetzt waren wir einfach nicht mehr genug Leute, um so viel Platz zu beanspruchen. Schon bald wurden wir alle in den neunundvierzigsten Stock umgesiedelt, in dem Goldman den gesamten Aktienhandel zusammenlegte. In der Abteilung New Markets Sales war ich der letzte Mohikaner, aber ich hielt die Stellung, rief Kunden mit Marktideen und Informationen an und vereinbarte Termine. Doch der Faden, an dem das Damoklesschwert hing, wurde zusehends dünner.

Ich musste ständig daran denken, dass meine Uhr tickte. Ich hatte einen Zweijahresvertrag. Im Juli war das erste Jahr um gewesen, und ich wusste, dass nur die Hälfte der Analysten ins dritte Jahr übernommen wurde – und bei dieser Marktlage vielleicht noch weniger.

Dennoch war ich seltsamerweise optimistisch, dass es mir irgendwie gelingen würde, vor Ablauf der Frist eine neue Stelle in der Firma zu finden. Bei Goldman finden jedes Jahr 360-Grad-Beurteilungen statt. Zu diesem Zweck benennt jeder zehn Kollegen (ranghöhere und rangniedrigere), die ihm dann Noten von eins bis fünf geben in Kategorien wie Fachkompetenz, Marktkompetenz, Teamgeist, Personalpolitik, Compliance etc. Die Personalabteilung wertet die Ergebnisse aus und teilt jedem Einzelnen die Werte mit, sein Ranking im Quartil sowie qualitative Kommentare und Feedback. Meine Werte und das Feedback konnten sich sehen lassen. Ich war unter den besten fünfundzwanzig Prozent – also im obersten Quartil – der Analysten.

Ich rechnete mir daher objektive Chancen auf eine Weiterbeschäftigung aus. Es würde allerdings hart werden. Ich fühlte mich so ähnlich wie im zweiten Jahr in Stanford, als meine Aussichten auf ein Sommerpraktikum in einem Finanzunternehmen verschwindend gering waren. Doch ich hatte gewusst, wenn ich nur an genügend Türen klopfte, würde mir schon jemand eine Chance geben.

Ich tat mich also um, landete aber oft in Sackgassen. Überall herrschte Weltuntergangsstimmung, sodass einfach niemand irgendetwas zusagen wollte. Da rief mich eines Tages eine Personalerin an, die ich kannte, sie sagte: «Corey Stevens sucht einen Analysten für die Abteilung Futures Execution. Stellen Sie sich doch mal dort vor.»

Futures. Ich hatte mich am College mit Termingeschäften befasst, aber meine praktischen Kenntnisse zu diesem Thema waren gleich null.

 

Etwa um dieselbe Zeit beschloss ich, mich um ein Rhodes-Stipendium für ein Studium in Oxford zu bewerben. Eine seltsame Entscheidung, könnte man meinen, für jemanden, der sich dem Investmentbanking – genauer gesagt, einer Investmentbank – verschrieben hatte. Ich glaubte immer noch an Goldman Sachs und auch daran, dass es mir gelingen würde, in einer anderen Abteilung der Firma unterzukommen. Sorgen bereiteten mir die Märkte. Brachen sie weiter ein, würde es auch auf höherer Ebene Entlassungen geben. Niemand wäre mehr sicher.

Vor allem aber war ich erst dreiundzwanzig. Ich hatte das ganze Leben noch vor mir, und es bot so viele Möglichkeiten. Ich dachte, es wäre eine große Auszeichnung, ein Rhodes-Stipendium zu ergattern – und eine tolle Erfahrung. Vielleicht konnte ich sogar nach zwei Jahren in Oxford als Associate zu Goldman zurückkehren – die übliche Position für Oxford-Absolventen. Ein paar Jahre zuvor hatte ich David Maraniss’ Biographie von Bill Clinton gelesen. Ich war beeindruckt gewesen, wie Clinton das harte Bewerbungsverfahren für das Rhodes-Stipendium gemeistert hatte, und die Beschreibung seiner Erlebnisse in Oxford klang wirklich faszinierend. Dort hatte er Freundschaft mit Strobe Talbott geschlossen, der später unter anderem als Korrespondent für Osteuropa für das Magazin Time arbeitete und schließlich Clintons Vizeaußenminister wurde. Auch mit Robert Reich hatte er sich damals angefreundet, dem Wirtschaftswissenschaftler, den er zu seinem Arbeitsminister machen sollte.

In dieser Zeit traf ich mich mit Corey Stevens.

Stevens war Associate – eine schillernde Persönlichkeit. Er trug schon als Junior Analyst nur maßgeschneiderte Anzüge und Hemden. Die weniger förmliche Bürokleidung wäre für ihn nie in Frage gekommen. Sein Auftreten war stilsicher und formvollendet. Die geheimnisvolle Aura, die ihn umgab, verlieh ihm eine noch gerade eben sympathische Entrücktheit.

Um den Posten als Stevens’ rechte Hand in der Abteilung Futures Execution der Gruppe Derivatives Sales bewarben sich sieben Kandidaten. Wie ich später erfuhr, wurden alle sieben Lebensläufe zunächst von Coreys Halbbruder gelesen (seinem engstem Berater – einem Ex-Football-Star und Lebemann), bevor Corey überhaupt ein erstes Gespräch führte.

Meine Unterlagen sprachen den Halbbruder an, was ich vermutlich dem Umstand verdankte, dass ich Zulu sprach.

Ein paar Brocken zumindest. In der Spalte «Sprachkenntnisse» hatte ich in meinen Lebenslauf geschrieben: «Englisch, Afrikaans, Hebräisch, Zulu (drei Jahre)». Und das stimmte auch. An der King David School in Johannesburg hatte ich drei Jahre lang Zulu gelernt. Ich konnte Sachen sagen wie «Hallo», «Wie geht es dir?» und «Die Giraffe läuft schnell».

Das (so erfuhr ich später) erregte die Aufmerksamkeit des Halbbruders und damit das Interesse des Mannes, um den es mir eigentlich ging.

«Was wissen Sie über Derivate?», fragte Corey Stevens.

Derivate sind Finanzprodukte, deren Wert sich von künftigen Preisen und Kursen anderer Produkte ableitet. Sie können sehr komplex sein und genießen inzwischen den Ruf als Urheber verheerender Schäden. Damals war der Begriff allerdings noch nicht so negativ besetzt wie heute, und nach meinem Verständnis konnten sie Investoren gegen ganz konkrete Risiken absichern oder es ihnen ermöglichen, auf eben diese Risiken zu spekulieren. Der Terminus selbst ist ein vager Sammelbegriff für Produkte wie Optionen, Swaps, Futures und andere. Derivate lassen sich auf der Grundlage sämtlicher Anlagekategorien entwickeln: Aktien, Währungen, Rohstoffe, festverzinsliche Werte. Bei Goldman Sachs waren die Derivate-Teams nach Anlageklassen aufgeteilt. Coreys Abteilung Futures Executives war der größeren Abteilung Derivatives Sales untergeordnet.

Ich holte tief Luft und gestand ihm die volle Wahrheit: «Ich habe mich im College ansatzweise damit befasst.» In Stanford hatte ich einen sogenannten «Economics 140»-Kurs besucht, in dem die Grundlagen von Optionen, Termingeschäften und anderen Derivaten vermittelt wurden. Nach meinem Sommerpraktikum hatte ich an der Business School noch einen weiteren Kurs zum gleichen Thema belegt. Doch das war alles graue Theorie gewesen. Seit ich bei Goldman Sachs arbeitete, hatte ich nichts mit Derivaten zu tun gehabt. Ich hatte theoretisches Wissen, ging aber davon aus, dass das mit der Praxis des Derivatehandels wenig zu tun hatte, und genau das sagte ich Corey.

Er lächelte verhalten. Er war untersetzt, eher klein, strahlte aber Autorität aus. Sein Haar war ebenso kurz geschnitten wie sein Kinnbart. Seine unter dem ordentlich gestärkten Hemdkragen perfekt gebundene Krawatte sah nach Hermès aus. «Wissen Sie», begann er, «als ich in dieser Abteilung anfing, hatte ich ebenfalls kaum Ahnung von Derivaten. Wenn Sie Köpfchen haben, können Sie alles Nötige bei uns lernen.»

Das Gespräch war kurz gewesen, aber verheißungsvoll. Am folgenden Morgen erhielt ich eine E-Mail von der Frau aus der Personalabteilung: «Drei haben es in die nächste Runde geschafft – Sie sind dabei. Corey möchte Sie noch einmal sprechen und Sie ein paar Mitgliedern seines Teams vorstellen.»

Noch am selben Tag suchte ich Coreys Abteilung auf. Er hatte für mich Gespräche mit sechs verschiedenen Derivateverkäufern vereinbart – hauptsächlich VPs und Associates. Die ganz wichtigen Leute fehlten noch. Kaum zwei Jahre nach dem «Supertag» in San Francisco vor meinem Sommerpraktikum erlebte ich jetzt einen weiteren solchen Gesprächsmarathon. Glücklicherweise schlug ich mich an diesem Tag nicht schlecht. Ich gab meine Defizite offen zu, machte aber deutlich, dass ich mich sehr für die Produkte interessierte und lernwillig war. Die Derivatehändler gefielen mir. Keiner fühlte mir zu intensiv auf den Zahn. Es ging ihnen mehr um mich als Mensch, und wir passten gut zusammen.

Danach mailte mir die Personalsachbearbeiterin: «Sie sind wieder eine Runde weiter. Jetzt gibt es nur noch eine letzte Hürde: Coreys Chef.»