El Alquimista

Madelynne Ellis

Ein billiges Hotel. Strukturtapeten, die sich von den Wänden schälen; der stechende Geruch von Pisse hängt in den schäbigen Fluren. Nur wenig Licht dringt durch die kaputten Latten der Jalousien. Der richtige Ort, um niedere Kreaturen zu jagen, weil es hier von ihnen wimmelt. Sie liegen auf dem Teppichboden oder lehnen selbstsicher, temperamentvoll und frisch rasiert in den Türrahmen. Das ist nicht ganz klar. Aber ich bin nicht hergekommen, weil ich einen gewöhnlichen Handtaschenräuber oder einen Drogendealer suche. Mein Ziel ist die Spitze der Nahrungskette. Die Nummer eins. Ich mache mir nichts vor: Er ist nur deshalb hier, weil er sich diesen Ort ausgesucht hat.

Ich hatte gedacht, mit seinem Geld könnte er sich die Sicherheit eines Anwesens mit patrouillierenden Wachen und Maschendrahtzäunen leisten. Mein Fehler. Großer Fehler. Warum sollte er unnötig Ressourcen verschwenden? Warum sollte er sich von seiner Nahrungsquelle fernhalten, wenn es doch viel praktischer ist, mitten unter ihnen zu leben? Besonders dann, wenn man, wie dieser Typ, einen besonderen Kick daraus zieht, Giftstoffe zu sich zu nehmen. Die meisten Bewohner dieses Lochs müssten ihren eigenen Biostoffe-Warnaufkleber tragen. Ich will diese Typen nicht mal berühren. Aber anscheinend mag er es schmutzig und derb. Vielleicht gibt die richtige Dosis Barbiturate und Amyl einem Schluck Null negativ erst die richtige Würze.

El Alquimista – der Alchimist. So nennen sie ihn. Seine Fingerspitzen sind goldbraun, die Nägel an den Spitzen geschwärzt. Er riecht nach Kampfer und Leinöl, und als Haustiere hält er sich dicke, saftige Blutegel. Zuerst habe ich geglaubt, sie seien für ihn eine Art Filter. Aber inzwischen weiß ich, wie er sie einsetzt: als sinnlose und brutale Foltermethode. Und vielleicht auch mal als schnellen Mittagssnack. Ich kann mir gut vorstellen, wie er seine Zähne in den weichen, geschwollenen Körpern vergräbt und das geerntete Blut in Strömen aus den Blutegeln fließt und über sein Kinn tropft. Er hat ein sehr markantes Kinn. Aber an ihm ist im Grunde alles ausgeprägt. Von seinen seelenlosen Augen bis zu seinen Mänteln, die an einen Zauberer erinnern. Sein Schädel ist glattrasiert, über die Kopfhaut ziehen sich Tätowierungen. Jede dunkle Tintenlinie hat sich mir ins Gehirn gebrannt. Ich sehe die Linien im Schlaf. Ich werde nie eine davon vergessen.

Ich werde ihm nie vergeben.

Er hat mir etwas so Wertvolles gestohlen, sodass ich selbst nach einem Jahr intensiver Trauer nicht daran denken kann, ohne dass sich ein dicker Klumpen in meiner Kehle ballt und der Schmerz meines Verlusts prickelnd über meine Haut kriecht. Ich schüttle die Erinnerungen ab. Heute muss ich mich auf mein Ziel konzentrieren. Nur dann werde ich Erfolg haben und ihm etwas ebenso Wertvolles nehmen können.

Jadegrüne Blumen mit obszön pinkfarbenen Zungen in der Mitte ranken sich an der Wand der Treppe empor. Ich eile zwei Treppen hinauf und erreiche eine Stelle, an der der Teppich durchgewetzt ist. Hier beginnen die Probleme. Zuerst höre ich einen Gong. Der metallische Klang dröhnt durch den Nikotinnebel, der das ganze Gebäudeinnere einhüllt. Unzählige Gestalten erscheinen auf den verschiedenen Treppenabsätzen. Ich habe keine Zeit, sie zu zählen. Die ersten drei liegen tot neben mir, und ein vierter liegt mit zerschmettertem Schädel neben der Kellertür, ehe einer von ihnen »Halt!« rufen kann.

Als sie ihre Messer und Waffen auf mich richten, breitet sich auf meinem Gesicht ein gezwungenes Lächeln aus. Ich kann einige von diesen Typen in den Arsch treten, aber ich kenne meine Grenzen. Dreißig auf einmal kann ich nicht außer Gefecht setzen, ohne das Gebäude in die Luft zu jagen. Und das wäre meinem Vorhaben nicht dienlich. Stattdessen erlaube ich ihnen, mich zu umringen und gefangen zu nehmen. Ich habe die leise Ahnung, dass ich mit diesem kooperativen Verhalten schneller dorthin gelange, wo ich hinmöchte, als wenn ich mir den Weg freikämpfe. Keiner dieser Männer ist in der Lage, selbst zu denken. Es gibt anscheinend den Befehl, Eindringlinge direkt zum Anführer zu bringen.

Sie schwärmen um mich herum aus. Eine Horde schwarzer Käfer mit Schalen aus Leder. Kurz fühle ich mich geradezu königlich, weil ich von einer Ehrengarde umgeben bin. Man muss jedoch dazu sagen, dass diese Wesen keine Ehre im Leib haben. Sie sind wie Arbeitsdronen jeglicher Individualität beraubt und nur darauf programmiert, Befehle auszuführen. Sie sollen ihren Meister beschützen oder sterben.

»El Alquimista heißt dich willkommen, Señorita«, keckert ein Mann, als wir die fünfte Etage erreichen. Seine abgearbeitete, raue Hand schließt sich um mein Handgelenk, und seine Finger graben sich tief in die Haut. »Er hungert nach der Schwärze, die du in deiner Seele verbirgst.«

Ich erstarre bei dieser Berührung und begegne seinem Blick. »Ich trage keine Falschheit in mir.«

Gott, wie sehr ich diese Kreatur bemitleide. Er ist kein Mann mehr, sondern nur die leere Hülle eines Mannes. Einst war er bestimmt ein hübscher Kerl. Ein goldener, strahlender Engel. Die verdorbene Chemie des Alchimisten kann nicht sämtliche Schönheit aus einem Körper tilgen. Seine Augen sind von einem herrlichen Türkis, das mich an eine idyllische, paradiesische Lagune denken lässt. Aber diese Augen sind tot. Die Leere darin lässt mich erschauern. In ihm ist keine Seele mehr. Der Alchemist hat ihn seines Geistes vollständig beraubt, mit jedem Tropfen Blut, das er von ihm trank, hat er ihn nach und nach entleert.

Ich frage mich nur kurz, ob dieser Mann ein Liebchen hatte, ehe er sich seinem Meister unterwarf? War sie so jung und hübsch, wie er einst gewesen ist? Haben sie sich im Park getroffen und zusammen in Cafés gesessen? Haben sie eine gemeinsame Zukunft geplant? Eine gemeinsame Hypothek, Kinder, die Rente? Reisen, die für ein ganzes Leben reichten? Urlaub im Schnee, Skifahren, Spaziergänge am Strand und Surfen ...

»Wenn man aus Rache mordet, ist es immer noch Mord«, sagt mein Bewacher. Für den Bruchteil einer Sekunde glaube ich zu sehen, wie Schmerz seine hohlen Gesichtszüge verzerrt. Ich frage mich, ob er auch so herkam wie ich. Ob er Vergeltung gesucht hat. Ist seine Versklavung der Preis, den er für seine Dummheit gezahlt hat?

»Man kann niemanden ermorden, der bereits tot ist«, antworte ich.

Vor fünf Jahrhunderten wurde der Alchemist das erste Mal auf Erden gesehen. Er ist kein lebender Mann. Ich habe die Kirchenbücher gesehen, die sein Leben als Mensch detailliert beschreiben. Ich bin stolz auf mich, weil ich vermutlich der einzige Mensch bin, der seinen wahren Namen kennt. Und seit jenen bescheidenen Anfängen auf Mersea Island bin ich jedem seiner Schritte durch die Jahrhunderte und über alle Kontinente gefolgt, bis ich seinen jetzigen Wohnort fand. Er hat das Leben eines Adeligen in Venedig geführt, er war Konquistador und Stummfilmstar. Aber er kehrte immer wieder zu seinem Hauptwerk zurück – der Vergöttlichung des Menschen.

»Meine Kameraden waren nicht tot.«

»Doch, das waren sie. Sie hatten es nur noch nicht bemerkt. Ihr seid alle längst tot.«

Sein Griff erschlafft, aber sofort übernimmt ein anderer von meinen Begleitern seine Aufgabe. Ihm gefallen meine Worte nicht – er schmettert mich mit dem Kopf voran gegen die Stahltür, die abgesehen von der Treppe den einzigen Ausgang aus diesem Stockwerk darstellt. Schmerz krallt sich in meine Stirn und explodiert in meinen Ohren. Aber ihm ergeht es um einiges schlechter. Ich ziele auf sein Kinn, und er bleibt zurück, als sich die Tür wie bei einer Raumstation fast lautlos öffnet, und spuckt Zähne in seine Hand. Rasch werde ich durch die Tür geschoben.

Was hinter dieser Wand aus gebürstetem Stahl liegt, das gleicht einem Wunderland aus Eichenholz. Der Geruch nach Bienenwachspolitur hängt schwer in der Luft, aber schon wenige Schritte weiter wird der Duft von zahlreichen, schärferen Chemiegerüchen überlagert. Vor mir erstreckt sich eine endlose Reihe Arbeitstische, die mit Destillierapparaten und Bechergläsern vollgestellt sind. Knallbunte Flüssigkeiten brodeln in komplizierten Versuchsanordnungen. Es gibt, wie ich schnell feststelle, keine Spülbecken, also auch kein fließendes Wasser.

»Lasst sie hier und verschwindet.«

Es ist das erste Mal, dass ich seine Stimme höre. Ich trinke sie, nehme sie tief in mich auf. Jede Silbe lasse ich in mein Unterbewusstsein hinabgleiten. Er hat einen Akzent. Sein Englisch ist von den Jahrhunderten schartig geworden und hat eine leise lateinische Einfärbung. Vorfreude beflügelt meine Schritte. In seiner Stimme schwingt etwas Fesselndes mit.

Meine Begleitung weicht zurück, dann schließt sich lautlos die Tür hinter ihnen. Ich bin allein mit ihm.

»Komm näher.«

Ich gehorche, weil in diesem Moment mein Wunsch und seiner einander entsprechen.

Sein Labor ist in unheimliche Schatten getaucht. Ich kämpfe mich vorsichtig zwischen den labyrinthartig angeordneten Möbeln hindurch. Jedes Möbelstück ist herrlich alt. Ein Beinhaus nimmt eine ganze Ecke des Raums ein. Knochen stehen hervor und sind zu einem morbiden Bett zusammengefügt. Der Gedanke, wie er dort liegt und sich mit seinen Opfern vergnügt, lässt mich sauer aufstoßen. Fast muss ich würgen. Diese elfenbeinfarbene Liege ist nicht so anders als das von mir einst geliebte weiße Sofa, auf dem ich mich nach der Arbeit immer einrollte, um ein wenig auszuruhen. Es war dasselbe Sofa, auf dem Billy starb.

»Deine Opfer«, stoße ich hervor.

»Meine Liebhaber. Aber leider ist die Zeit zu ihnen nicht so freundlich wie zu mir.«

Ich drehe mich zu ihm um. Er steht einen Meter hinter mir, und unsere Blicke treffen sich. Ich starre in seine schwarzen Augen, bis ich spüre, wie sie an mir zerren – einer Gravitation nicht unähnlich. Seine Augen glitzern. In ihnen sehe ich die Bosheit seiner kalten, grausamen Magie. Und ich sehe noch etwas darin, das mich beinahe bezaubert.

»Soll ich dich willkommen heißen, meine ungebetene Besucherin?« Seine Stimme ist ein Schnurren, das meine Sinne quält, mich verspottet und zugleich anfleht, Teil seiner Freude zu werden. »Ungebeten«, überlegt er. »Obwohl ich zugeben muss, dass es nicht völlig unerwartet kommt. Du kannst es einfach nicht lassen, stimmt’s? Es sind immer diejenigen, die an der Vergangenheit hängen, die zu mir kommen. Die glauben, ich biete ihnen ein gutes Ende.

Aber setz dich doch, meine Liebe.« Er zeigt auf den Knochengarten.

»Ich werde mich nicht dorthin setzen. Aber ich bin ohnehin nicht hier, um zu reden.«

»Nein, das stimmt.« Er lächelt. Ein dünnes, breites Grinsen. »Ich glaube, du bist eher hergekommen, um jemanden umzubringen.« Er entblößt seinen Hals und schnuppert kurz. »Vier ... nein, drei. Der vierte ist bloß verletzt.« Er schüttelt den Kopf, ehe er sich mir wieder zuwendet und abwinkt. »Weißt du eigentlich, wie lange ich brauche, um einen guten Diener zu erschaffen? Die Prozedur ist höchst kompliziert. Zunächst braucht man einen Mann, der perfekt ist. Und dann überleben auch nicht alle die Prozedur.«

»Erspar mir deine Probleme, Gulielmus de Vere.«

»Erspar mir dein gebrochenes Herz, kleines Mädchen. Schließlich sind es unsere Tragödien, die uns formen.«

Ich umschließe das Kruzifix, das ich in der Hosentasche bei mir trage. »Der Teufel hat dich erschaffen.« Ich springe vor und erwische ihn in einem Moment der Unaufmerksamkeit, denn ich kann das warme Silber gegen seine Wange drücken. Wir stolpern nach hinten, klammern uns aneinander und krachen in die Versuchsanordnungen. Unzählige Glasbehälter gehen zu Bruch. Aber zu meinem Entsetzen rieche ich kein verbranntes Fleisch. Als wir zu Boden stürzen, lacht der Alchemist.

Becher und Gläser zerschellen neben uns auf dem Boden, die Dämpfe steigen in Wolken auf, und brodelnde Lösungen bilden Pfützen auf dem Boden. Als wir uns auf dem Boden wälzen, brennt die Säure neue Löcher in meine Lederjacke, und der beißende Geruch nach Essig überflutet meine Sinne. Ebenso scharf ist seine Berührung. Sie lässt ein leises Zittern in meinem Innern erwachen. Ich klammere mich an ihn, während ich mit ihm ringe. Etwas schrecklich Vertrautes und unbestreitbar Erotisches geht davon aus, wie sein Gewicht auf mir ruht. Er hat dieselbe Größe und dasselbe Gewicht wie Billy.

Wir wälzen uns hin und her, und der Gestank von Essig wird durch den süßeren Duft von Birnensaft ersetzt. Seine Hand umschließt eine meiner Brüste. Seine schwarze Klaue gräbt sich in meine warme Haut. Meine Nippel werden hart. Eines der harten Knöpfchen drückt sich in seine Handfläche.

»Elender Vampir!«, fauche ich ihn an. »Du hast ihn mir genommen. Er hat mir gehört, mir! Er war mein Geliebter und nicht deine Beute!«

Unsere Blicke treffen sich. Jetzt sehe ich, dass seine Augen nicht schwarz sind. Sie sind von einem dunklen Mahagoni, ähnlich dem Bodensatz in einem Weinglas.

Wir sind nur wenige Millimeter voneinander entfernt. Aber nur mein Atem befeuchtet die Luft zwischen uns.

»Er war mein, ich durfte mit ihm machen, was ich wollte. Wieso glaubst du, ich wollte ihn zerstören? Ich brauchte ihn schließlich.«

»Er ist verblutet. Du hast ihn zu tief gebissen.« Ich kann noch jetzt das Blut an meinen Händen sehen, die ich vergebens auf seine Wunden drückte. Das Blut war überall, es zog in meine Haut und spritzte auf den Teppich. Hellrot hob es sich von dem weißen Leder des Sofas ab, das wir erst seit einem Monat hatten.

»Dein Billy schmeckte nach Seife und Brause. Er war zu süß, um ihm zu gestatten, zu überleben. Ich habe nach etwas anderem gesucht.«

Woher kennt er Billys Namen, frage ich mich. Schließlich habe ich ihn nicht gesagt? Aber die Frage kommt mir nicht über die Lippen. Stattdessen steigt in meiner Erinnerung ein Bild auf. Ich erinnere mich, dass Billy nach frischem Apfelkuchen und starkem, türkischem Mokka schmeckte.

Der Alchemist hingegen schmeckt nach rissigem Leder, das im Laufe der Jahre brüchig und dünn geworden ist. Ich suche nicht nach seinem Mund, aber seine Lippen zwingen sich meinen auf, und weil er mir diesen Kuss aufdrängt, reagiere ich darauf mit überraschender Leidenschaft. Seine Zunge stößt tief in mich hinein und umkreist meine, während seine Hand meine Brust fester drückt, bis es fast wehtut. Und sogar jetzt, da ich gegen seine Umklammerung ankämpfe, merke ich, wie meine Erregung wächst.

Dieser Mann, den ich hasse, den ich lange studiert habe und gegen den ich meinen Angriff geplant habe; dieser Mann, der für mich zu einer Besessenheit geworden ist, besitzt eine Macht über mich, die ich so nicht erwartet habe. Schon seine Nähe und der fremdartige Grusel, der von ihm ebenso ausgeht wie seine gnadenlose Dominanz, lassen in mir den Wunsch nach mehr erwachen. Ich will ihn. Kurz frage ich mich, ob es Billy wohl genauso ergangen ist, ehe er dahinschied?

Erst als der Alchemist meine beiden Hände über meinen Kopf zwingt und dort mit einer Hand umklammert, hebt er den Kopf und sieht mich an. »Wonach schmeckst du, kleine Blume?«, fragt er. »Bist du würzig und bitter, wie es dein Duft vermuten lässt? Oder versteckst du darunter nur deine besondere Süße?«

»Woher soll ich das wissen? Ich habe nicht die Angewohnheit, mich zu schmecken.« Ich reiße meine Knie hoch, weil ich versuche, ihn abzuwerfen. Aber alles, was ich damit erreiche, ist, dass es ihm so viel einfacher gelingt, sich zwischen meine Oberschenkel zu schieben.

»Süß«, behauptet er und bohrt seine Finger in meinen Bauch. Als er meine Hose öffnet, macht er einen großen Aufstand um jeden einzelnen Knopf. »Eins ... zwei ... drei ... vier.« Die Vorfreude bringt mich schier um. »Hast du noch nie die Finger in deine Fotze getaucht und sie dann zwischen deine Lippen geschoben?«

Er schiebt seine Finger unter den Gummizug meines Höschens. Seine Hand legt sich auf meinen Schamhügel. Ich spanne die Muskeln an, aber seine Finger tauchen zärtlich in meine Hitze ein. Ich will keine Reaktion zeigen, aber er weiß genau, was er mit mir machen muss. Schon bald bin ich tropfnass und kann meinen Blick nicht von ihm losreißen. Seine Finger gleiten zwischen meinen Schamlippen auf und ab, bis sie von meinen Säften durchnässt sind. Er reizt meine Klit mit einem geradezu nachlässigen Schnippen, ehe er sich seine duftenden Finger an die Nase hält. Er schnuppert daran, aber er leckt sie nicht ab. Stattdessen bietet er mir seine Finger dar, damit ich sie ablutsche.

Als ich mich weigere, schiebt er mir gewaltsam die Finger in den Mund.

Ich mag dieses Spiel nicht. Zumal ich nicht hergekommen bin, um zu spielen.

Ein tiefes Stöhnen entschlüpft mir, als der Geschmack meines Körpers sich in meinem Mund ausbreitet. Ich schmecke nach alten Erinnerungen. Nach Erdbeeren und Champagner, die Billy und ich an einem unserer letzten gemeinsamen Tage auf einer Wiese genossen haben. Mein Aroma prickelt auf der Zunge. Ich liege wieder in seinen Armen und blicke zufrieden in den Himmel, der dieselbe strahlend blaue Farbe hat wie Billys Augen. Flauschige Wolken ziehen am Himmel vorüber. Sie sehen aus wie die schäumende Brandung, auf der wir am frühen Morgen gepaddelt sind.

Der Alchemist zerschlägt meine Erinnerungen. Sie sammeln sich in einer kristallklaren Träne, die er zwischen meinen Lippen auffängt und mit Daumen und Zeigefinger hochhält.

»Sollen wir uns auf einen Handel einigen, süße Jessamine? Dein Leben für meins? Ich kann dir jeden deiner Träume nehmen. Jede wertvolle Erinnerung, jeden Freund, jeden Liebhaber. Ich kann dir alles nehmen, bis dir nur die schlechten Erinnerungen bleiben. Oder ich lasse dir das Glück. Du kannst ohne Sorge durch die Welt gehen. Es kostet dich nur eine einzige, rubinrote Träne aus deinem reichen Schatz.«

Seine Sklaven werden mit solchen Juwelen an ihn gebunden. Meine Eskorte, die mich in sein Labor begleitet hat, trug jeweils einen Edelstein am Ohr. Ich vermute, die Rubine werden aus dem ersten Blutstropfen geformt, den der Alchemist ihnen nimmt.

»Du machst mir dieses Angebot, als hätte ich eine Wahl. Ich habe nicht den Wunsch, einsam zu sterben. Aber genau das bietest du mir an. Nein, danke. Ich bin hergekommen, um deinem Treiben ein Ende zu setzen.«

»Du weißt nicht, was ich treibe.« Er kichert. Seine Krallen fahren an meinem Hals und der Brust nach unten. Er reißt die Baumwolle meines Tops beiseite und hebt meine Brüste aus dem BH. »Was du brauchst, ist ein Liebhaber. Ein Mann, der das Feuer in dir entfacht, damit es nicht länger von deinem Zorn genährt wird. Billy hat dir nie gehört, meine Liebe. Ich habe ihn gekannt. Habe ihn seit seiner Geburt gehätschelt.«

»Sei nicht albern. Er hat mir alles erzählt. Von dir war nie die Rede.«

Er starrt weiter auf meine Brüste, während er redet, als faszinierten ihn die weichen Rundungen. Seine Aufmerksamkeit lässt meine Nippel hart werden. Ich stelle mir vor, wie er seine Lippen darum schließt.

»Du kannst es gerne leugnen, aber es ist die Wahrheit. Willst du, dass ich dich ficke?«, fragt er. »Soll ich dir beweisen, wie nah Billy und ich einander sind? Ich glaube, du wirst die Wahrheit erkennen, sobald ich in dir bin.«

»Du bist mir schon jetzt nah genug.« Ich blicke zu ihm auf. Erst jetzt spüre ich zum ersten Mal echte Angst, weil ich einen Blick auf seine verlängerten Reißzähne erhasche. »Du bist ein wandelnder Leichnam«, zische ich. »Ich bin keine Verrückte, die sich auf Tote einlässt.«

»Ich bin nicht tot, Jessamine.« Seine freie Hand packt meine Haare und zieht heftig daran. »Ich bin sehr lebendig. Sobald wir miteinander verbunden sind, wirst du sogar meinen Herzschlag hören.« Er drückt seine Lippen wieder auf meine. Dieses Mal ist es anders. Ich spüre die Seide seines altmodischen Mantels, die meine Haut streichelt. Seine Erektion drückt sich gegen mein Geschlecht.

Mein Körper will ihn. Er sehnt sich geradezu schmerzlich nach der Lust, die er mir anbietet. Seit Billy hat es keinen anderen Mann gegeben. Und insofern hat der Alchemist schon recht. Er hat das richtige Gewicht, er entspricht in vielem meinem Liebsten. Wenn ich die Augen vor der Welt verschließe, könnte ich mir direkt vorstellen, er sei Billy. Er mochte es gerne etwas derber, obwohl er immer lieb und freundlich zu mir war. Irgendwie schließe ich die Augen. Mein Widerstand schmilzt.

Er küsst jetzt mein Ohr. Seine Zunge lässt die zarte Haut dort kribbeln, während seine Finger meine Nippel kneifen, bis sie steinhart sind. »Psst, schon gut«, flüstert er, weil mein Atem in abgehackten Stößen kommt. »Ich nehme mir nur, was du nicht brauchst. Gerade so viel, um dir die Lust zu schenken, nach der du dich so sehr verzehrst.«

Langsam gleitet seine Hand tiefer. Sein Daumen streicht über meine Klitoris und lässt ein erotisches Kribbeln darin erwachen. Billy hat es immer genauso gemacht. Er hat mich damit geradezu gequält, bis ich mehr als bereit für ihn war. Und dann hat er mich mit dem Mund befriedigt und mit der Zunge gestreichelt. Billy ist auch nie in mich eingedrungen, ohne mich vorher zum Orgasmus zu bringen. Er sagte immer, er liebe es, wie nass und heiß ich mich um seinen Schwanz anfühle.

Jetzt verbrenne ich vor Lust. Aber der Alchemist hört nicht auf, mich zu reizen. »Du hättest eben nicht so lange auf den nächsten Liebhaber warten dürfen«, neckt er mich. »Deine Gier frisst dich förmlich auf. Aber ich kann dir Linderung verschaffen und die Gier schwinden lassen. Sag nur ein Wort, und dann verbinden wir uns.«

Ich will ihn; jede Faser meines Körpers verzehrt sich nach ihm. Aber der Preis, den er fordert, ist zu hoch.

Als er an meinem Ohrläppchen knabbert, packt mich kalte Panik, und ich richte mich auf. Aber ich kann nicht entkommen. Unsere Körper werden noch enger aneinandergepresst. Er lässt meine Handgelenke los. »Du weißt doch, was jetzt passiert«, sagt er. »Ich muss ein wenig von dir nehmen, damit ich dir mehr von mir geben kann.«

»Nein«, widerspreche ich. »Ich hab gesehen, was du mit Billy gemacht hast. Ich werde es nicht zulassen.«

»Willst du damit sagen, dein Freund war bi? Glaubst du, ich hab ihn in den Arsch gefickt und dabei sein Blut getrunken?«

»Nein!« Ich weiß nicht, warum ich so heftig reagiere. Ist es die Unterstellung, dass ich mir etwas Derartiges vorgestellt haben könnte? Oder liegt es an dem Bild, das er mit seinen Worten in mir hervorruft? Billy war mir treu. Dieses Untier hat ihn gejagt und erlegt. Liebende waren diese beiden Männer nie.

Aber jetzt kann ich sehen, wie sie miteinander ringen. Billy kniet auf dem Boden, sein Oberkörper liegt über dem weißen Sofa. Seine Hand umschließt seinen Penis, und er macht es sich selbst, während der Alchemist ihn grob in den Arsch fickt.

»Hör auf damit!«, keuche ich. »Hör auf, mir diese Bilder zu schicken!«

»Warum?« Er lacht. »Sie erregen dich doch.«

»Aber sie sind eine Lüge.«

»Eine Fantasie«, kontert er. »Gib dich den Bildern hin. Gib dich mir hin.«

Er richtet sich auf. Jetzt kniet er neben meiner Hüfte. »Schmeck mich.«

Ich richte mich mühsam auf und helfe ihm aus dem Mantel, den er über den Kopf streift. Ich werfe ihn so weit wie möglich von uns. Darunter trägt er nur eine wollene Unterhose, die mit einem Strick um seine Lenden festgebunden ist. Ich öffne die Schleife und ziehe die Hose herunter, um seinen Schwanz zu entblößen. Seine Haut ist so weich und vollkommen haarlos. Bei Billy war’s genauso.

Sein Schwanz schnellt mir entgegen. Er ist dick und hart, das Blut pulsiert in ihm. Ich berausche mich an den bittersüßen Erinnerungen und lasse meine Zunge um seine Eichel kreisen, ehe ich ihn so tief wie möglich in den Mund nehme. Ich versuche erst gar nicht, meine Erregung rational zu erfassen. Hier geht es allein um die Befriedigung meiner Lust. Sobald er in meinem Mund versinkt, kann ich gar nicht genug von seinem Geschmack und seiner Größe bekommen. Ich sauge an ihm und stöhne. Meine Finger krallen sich in die festen Muskeln seines Hinterns, und ich dränge ihn, dass er heftiger in meinen Mund stößt.

»Das reicht nicht.« Er löst mein Haar, das in einer kastanienbraunen Kaskade über meinen Rücken und seine Hände fällt. »Obwohl ich durchaus verstehe, was Billy an dir geliebt hat.«

Er hat mich geliebt. Ja, wir haben uns geliebt.

Wieder erfasst mich der Zorn. Ich reiße mich von diesem Monster los und krieche auf allen vieren von ihm fort. Aber schon zwischen den Tischbeinen fängt er mich wieder ein. Glassplitter dringen in meine Handflächen und Knie. Diese Begegnung entwickelt sich überhaupt nicht so, wie ich es erwartet habe. Ich wollte ihn schnell und effizient ausschalten. Schließlich trage ich die Waffen bei mir. Aber nichts davon kann mir jetzt helfen.

Seine Hände schließen sich um mein Fußgelenk. Ich greife nach dem nächsten, erreichbaren Objekt, das mir als Waffe dienen könnte. Es ist sein Beinhaus. Ich schreie auf. Knochen regnen um uns hernieder, und ich halte mich verzweifelt an dem elfenbeinernen Schienbeinknochen fest, der bis vorhin noch ein Bein seines Betts gewesen ist. Er bezwingt mich wieder und drückt mich mit seinem Gewicht nieder. Meine Brüste werden gegen den lackierten Holzfußboden gepresst.

Trunken vor Entsetzen und Erregung winde ich mich unter ihm. Ich flehe ihn an, ich schluchze. Aber ich bin nicht sicher, worum ich flehe.

Der Alchemist schiebt mein Haar beiseite und legt meinen Nacken bloß. Seine Zähne dringen tief in mich ein, und zugleich gleitet sein Schwanz mit freudiger Leichtigkeit in meine Möse.

Und dann ficken wir, er trinkt mein Blut, und ich winde mich unter ihm, während Erinnerungen in mir aufsteigen. Wie Tränen, die in einen Kaffeebecher tropfen, werfen sie kleine, kräuselnde Wellen. Ich weiß, dass er diese Schnappschüsse ebenfalls sieht. Aber auch ich erhasche einen Blick auf seine Vergangenheit.

Ich sehe Billy. Er ist hier, im Labor, und lutscht den Schwanz des Alchemisten mit ebenso viel Genuss wie ich. Mein Herz zerbricht bei diesem Anblick, obwohl ich zugleich meinem Höhepunkt entgegensteuere. Ich habe gedacht, es sei bereits zerschmettert, aber jetzt erkenne ich, es hatte nur einen Riss abbekommen.

Sein Tempo wird drängender. Die Wunde in meinem Hals wird tiefer. Ich bin atemlos, und mir schwinden die Sinne, aber ich höre seinen Herzschlag, der in meinen Adern pocht. Schon bald fegt der Orgasmus über mich hinweg. Eine einzige Berührung meiner Klit trägt mich über den Gipfel hinweg. Ich verfluche ihn trotzdem, als ich komme. Nichts wird seinen Raub rechtfertigen können. Aber das heißt nicht, dass meine Rache nicht ebenso süß schmecken kann.

Nachdem er seinen Samen in mir verströmt hat, rollen wir uns herum. Jetzt liege ich auf ihm. Mein Blut glänzt auf seinen Lippen. Ich wische es mit den Fingerspitzen weg, aber ich kann mich gerade noch bremsen, die Finger abzulecken.

»Du musst endlich einsehen, dass Billy mir gehört hat.« Er sieht mich ernst an. »Du hast es doch gesehen. Und jetzt kennst du die Wahrheit. Er sollte nie mehr als nur ein Gastspiel in deinem Leben geben. Er war bloß ein Techtelmechtel. Was er dir auch vorgemacht hat, es war nicht real.«

Ich weiß nicht, ob ich seinen Visionen glauben soll. Wenn ich bedenke, wie mächtig er ist und wie gut er mit seiner Wissenschaft umzugehen versteht, glaube ich, dass er alles real erscheinen lassen kann.

»Es ist ein Schutzmechanismus. Das verstehe ich doch.« Zärtlich streichelt er mein Gesicht. »Aber du musst auch verstehen, dass er kein menschliches Wesen war. Er war ein Konstrukt. Mein Homunkulus.«

»Nein!« Ich kann es einfach nicht glauben.

Erneut sehe ich Billy, wie er vor dem Alchemisten kniet und sein Sperma trinkt, als handle es sich um die Substanz, die er zum Überleben braucht.

Nicht ihre homosexuelle Liebe bindet sie aneinander. Sie gehören zusammen. Der eine ist Teil des anderen.

»Neiiiiiiiin!« Aus meiner Tasche ziehe ich die erste Waffe.

Die braune Papiertüte zerreißt. Ich stopfe ihm die Hirse in den offenen Mund. Er würgt daran und spuckt die winzigen Getreidekörner in die Luft. Aber das ist egal, denn in der anderen Hand habe ich bereits die Waffe. Ich ziehe den Hahn. Nur ein Schuss, direkt ins Herz. Kurz höre ich sein Lachen. Er glaubt, jetzt hätte ich einen Fehler gemacht.

»Es sind Holzkugeln.« Kein Fehler. Ich habe die Äste des ältesten Weißdorns abgeschält, den ich finden konnte. Ich habe diese Kugeln eigenhändig in Form geschnitzt.

Seine Augen sind im Moment des Entsetzens ebenso dunkel wie noch kurz zuvor in größter Ekstase. Wenn er überhaupt Ektase gefühlt hat. Ich ziehe das Messer aus der Scheide am Oberschenkel und fahre mit der gnadenlos scharfen Schneide über seine nackte Kehle. Blutstropfen erblühen in dem Schnitt und fließen über seine Brust. Aber ich will seinen Kopf nicht mehr. Ich bin noch nicht bereit, diese Grenze zu überschreiten. Ich brauche Zeit, um nachzudenken und ihm ein Geschäft vorzuschlagen.

Nun, wenn er einen Billy erschaffen kann, wieso nicht auch einen zweiten für mich?

Ich lehne mich gegen die Reste des Knochenbetts und ziehe seinen kraftlosen Leib auf meinen Schoß. Sanft streichle ich seine kalte Stirn. »Wie wär’s also mit einem Handel?«, frage ich. »Dein Leben für die zweite Chance, mein Leben zu leben.«