Carrie Williams
Sarah hatte ihm nie erzählt, was sich an jenem Tag unten am Ganges zugetragen hatte, während er abwechselnd schwitzend und fröstelnd in ihrem Zimmer lag und Angst hatte, an Malaria erkrankt zu sein. Das Einzige, was er wusste, war, dass sie danach nicht mehr dieselbe war. Als er sie schließlich darauf ansprach, war sie schon so weit von ihm entfernt, dass er wusste, er hatte sie für immer verloren. Er wusste auch, dass er sie liebte, obwohl sie zuletzt so anders gewesen war und ihn so verächtlich behandelt hatte. Obwohl sie sich verändert hatte. Vielleicht noch mehr hatte sich der Sex verändert ... Na ja, der Sex war seitdem wirklich überragend. Er war so beglückend, dass es ihm Angst machte.
Ich weiß jetzt, dass ich für Sara alles tun würde, sagte er sich, als er den Mädchen zum Fluss folgte.
Es war ihr egal, als Neil plötzlich absagte. Wenn sie ehrlich war, freute sie sich, weil sie Banhi an diesem Abend für sich hatte. Banhi war halb Inderin, halb Britin und glich keinem Menschen, dem Sara bisher begegnet war. Sie war so interessant, wusste faszinierende Anekdoten und Geschichten zu erzählen und war ... so lebendig! Neben ihr verblasste Neil, ach, ihr lieber Neil, zur Bedeutungslosigkeit.
Während sie die Speisekarte begutachtete und auf ihre neue Freundin wartete, dachte sie über ihren Freund nach. Bisher war alles in Ordnung gewesen – oder hatte zumindest den Anschein gehabt. Bis zu dieser Woche, die nun hinter ihnen lag. Sie hatten sich während ihres letzten Semesters an der Universität kennengelernt und gemeinsam die Abschlussprüfungen durchgestanden. Anschließend belohnten sie sich mit dieser sechswöchigen Rundreise durch Indien. Sie genoss die Reise und seine Gesellschaft. Aber in den letzten Tagen hatte sie sich immer häufiger gefragt, ob das reichte.
Und der Sex? Das hatte auch gut angefangen. Sogar ausgezeichnet, wenn sie ehrlich war. Aber so fing es immer an, oder nicht? In jeder Beziehung, die mit dieser wilden Honeymoon-Phase losging, während der die frisch Verliebten die Hände nicht voneinander lassen konnten. Es konnte ja nicht ewig so weitergehen. Und ihre Erfahrung war, dass es nicht so weiterging.
Vielleicht war das der Grund. Vielleicht ging der Honeymoon mit Neil zu Ende, und sie wurde mit voller Wucht in die Wirklichkeit zurückgeworfen. Vielleicht langweilte sie sich mit ihm. Wenn sie für eine Minute die Augen schloss, konnte sie noch einmal den letzten Abend durchleben. Den halbherzigen Blowjob, den sie ihm zuteil werden ließ, weil sie gehofft hatte, er würde schnell kommen und sie von ihrer Verpflichtung befreien. Sie sagte sich dabei, dass sie müde war, aber tief in ihr wusste sie, dass sie ihn lieben könnte, wenn sie es wirklich wollte. Auch dann, wenn sie müde war. Und sie wusste auch, dass sie einige ihrer besten Ficks erlebt hatte, wenn sie müde, benommen und nachgiebig war. Das war der Zeitpunkt, wenn sie sich am besten öffnete. Als würde sie sich einer universellen Macht unterwerfen, die stärker war als sie selbst.
»Sara.« Banhi saß ihr gegenüber, als wäre sie aus dem Nichts aufgetaucht. Sie lächelte und zeigte ihre perfekten, weißen Zähne. Sara wusste nicht, was sie sagen sollte. Banhi machte sie immer atemlos und ließ sie verzweifelt nach den richtigen Worten ringen.
Sie erwiderte das Lächeln. »Hi«, brachte sie schließlich hervor.
Banhi nahm eine Speisekarte. Ihr Blick huschte immer wieder über den Rand der Speisekarte und begegnete Saras Augen.
»Schon entschieden, was du gerne möchtest?«, fragte sie schließlich. Dieses Mal hielt sie Saras Blick fest.
Sara rutschte nervös auf ihrem Stuhl herum. Sie fragte sich manchmal, ob Banhi mit ihr flirtete oder ob sie bei jedem so war. Sie gab Sara das unglaublich intensive Gefühl, der Mittelpunkt ihrer Welt zu sein. Oder zumindest im Rampenlicht zu stehen. Als wäre sie etwas Besonderes. Das Gefühl hatte ihr noch nie jemand vermittelt, und sie fand es gleichermaßen aufregend und schrecklich. Wenn Banhi etwas von ihr wollte – konnte Sara mit den hohen Erwartungen der anderen Frau denn überhaupt mithalten?
Sie teilten sich eine große Platte vegetarisches Thali und redeten während des Essens darüber, was Sara und Neil auf ihrer Besichtigungstour heute gesehen hatten. Banhi erzählte von den Vorlesungen an der Universität, wo sie hinduistische Mythologie studierte.
»Ich habe heute viel über dich gelernt«, bemerkte sie mit einem verschmitzten Grinsen.
»Wie meinst du das?«, fragte Sara.
»Es ging um die Göttin Kali«, erzählte Banhi. »Die mit den vier Armen. Du weißt schon – überall stehen Statuen von ihr herum.«
»Die mit den Totenschädeln um den Hals?«
»Genau die.«
»Und was hat sie mit mir zu tun?«
»Ich habe heute gelernt, dass ein anderer Name für sie Sara ist. Man nennt sie auch die Schwarze Göttin. Zumindest nennen die Zigeuner sie so. Ich hab das nicht gewusst.«
»Sara? Das ist aber ein merkwürdiger Name für eine indische Göttin.«
»Ja, es ist ziemlich verrückt und ein großes Durcheinander, aber so ist es immer mit den Mythen und Legenden. Es gibt in Südfrankreich einen Ort, Saintes-Maries-de-la-Mer. Dort gehen die Roma hin, um ihrer Schutzheiligen Sara zu huldigen. Sara, die sie auch Sara-la-Kali nennen. Das bedeutet auf Roma ›Sara die Schwarze‹.«
Banhi trommelte mit ihren langen, schlanken Fingern auf die Tischplatte. »Kurz gesagt: Einige Gelehrte behaupten, die zigeunerische Sara und die indische Kali sind ein und dieselbe.«
»Und worauf fußt diese Annahme?«
»Einerseits auf das Wort kali, aber vor allem auf die Ähnlichkeit, die zwischen der Pilgerreise der Zigeuner und der Huldigung Kalis besteht. Bei beiden wird man in Wasser getaucht. Sie sagen, Sara sei keine richtige Heilige, sondern nur die Übertragung von Kalis Eigenschaften auf eine christliche Figur.«
»Und warum ist sie – oder beide – schwarz?«
»Kali, die vielleicht dieselbe Göttin wie Durga ist – vielleicht auch nicht, da streitet man sich noch, es kommt drauf an, wen du fragst –, wird gewöhnlich mit einem schwarzen Gesicht dargestellt. Ist dir das bei den Statuen aufgefallen? Sie ist schwarz, weil sie die Göttin der Schöpfung, zugleich aber auch die Göttin von Krankheit und Tod ist.«
Banhi schwieg einen Augenblick. Sara fühlte sich von ihrem dunklen Blick durchbohrt. Die Pupillen der anderen Frau wirkten unnatürlich groß, als würden sie alles verschlingen und versuchen, das Licht aufzusaugen.
»Sie ist eine höchst interessante Kreatur«, fuhr Banhi schließlich fort. »Sie gibt und nimmt das Leben gleichermaßen. Sie ist ein Erlöser und eine Muttergöttin, dennoch ist sie unaussprechlich grausam. Rachsüchtig und unvorstellbar brutal. Es gibt diesen berühmten Mythos, dass sie Ruktabija bekämpfte, den König der Dämonen, der sich mit jedem seiner Blutstropfen, die vergossen werden, verdoppelt. Kali hat gegen ihn gewonnen, indem sie ihm jeden Tropfen Blut aussaugte. Danach hat sie seine Doppelgänger in ihr riesiges Maul genommen. Und schließlich hat sie auf dem Schlachtfeld auf den Leichnamen derer getanzt, die sie getötet hat.«
Banhi lehnte sich zurück, als habe es sie sehr angestrengt, diese Geschichte zu erzählen. »Langweile ich dich, Sara? Meine schwarze Göttin?«, fragte sie mit hochgezogenen Brauen.
»Natürlich nicht«, widersprach Sara überraschend vehement. Sie verspürte neue Energie. Wenn sie mit Banhi zusammen war, fühlte sie sich so ... ja, so lebendig. So fühlte sie sich in Neils Gesellschaft nie. Neil ist ein netter Kerl, sagte sie sich. Aber neben Banhi mit ihrem riesigen Wissen über Sachen, die Sara so fremd waren, wirkte er geradezu grau und eintönig. Sie könnte Banhi die ganze Nacht zuhören. Und noch länger.
»Wie wär’s mit Nachtisch?«, fragte sie, weil sie spürte, wie Banhis Blick auf ihr ruhte. Insgeheim fragte sie sich, welches Interesse ihre neue Freundin an ihr haben könnte. Banhi wusste faszinierende Geschichten zu erzählen und führte ein glamouröses Leben, das sie von einer Universität zur nächsten führte. Sie war die ewig Suchende und Unersättliche. Neben ihr hatte Sara das Gefühl, ein Nichts zu sein und nichts zu sagen zu haben.
Banhi schüttelte den Kopf. Sie stand auf und winkte dem Kellner, dass er ihnen die Rechnung brachte. »Komm, wir machen einen Spaziergang«, schlug sie vor. Sara hatte das Gefühl, keine Knochen im Leib zu haben, und folgte ihr willenlos. Es fühlte sich ein bisschen so an, als gerate sie in den Bannkreis einer lebendigen Kraft, der sie unmöglich widerstehen konnte.
»Komm, wie spazieren am Fluss entlang«, sagte Banhi. Ihre Augen waren wie Teiche aus einer dunklen Flüssigkeit, in der Sara zu ertrinken drohte.
Am Fluss war nicht eine Menschenseele unterwegs. Dafür sorgte die Sperrstunde, die in den religiös geprägten Hostels galt, in denen die meisten westlichen Touristen wohnten, weil sie so billig waren. Sara äußerte sich besorgt darüber, dass man sie für die Nacht aussperren könne. Aber Banhi winkte bloß ab und behauptete, sie würden schon einen Weg zurück ins Hostel finden, wenn das passieren sollte.
Dieselbe Hand legte sich irgendwann während ihres Spaziergangs am Flussufer auf Saras Rücken. Es fühlte sich an wie ein elektrischer Stromschlag, der durch Saras Körper raste und ihre Nervenenden stimulierte. Sie trug nur ein knappes Top, und durch den dünnen Stoff spürte sie die Hitze von Banhis Hand. Es fühlte sich wie ein Brandmal an. Sara war sich sicher, dass sie später genau an dieser Stelle eine handförmige Verbrennung finden würde, einen Abdruck, den Banhi auf ihr hinterließ. Wie sollte sie Neil das erklären? Sie hoffte, dass er schlief, wenn sie heimkam.
Sie redeten, während sie so dahinliefen. Aber wenn sie später versuchte, sich an das Gespräch zu erinnern, wusste Sara nichts mehr. Sie schob es auf die verwirrende Wirkung, die Banhis Hand auf ihrer Haut hatte. Auf ihre Gedanken, die chaotischen Bahnen folgten. Rückblickend hatte es sich so angefühlt, als würde sie hypnotisiert. Von Banhis langsamer, betonter Stimme und dem einschläfernden Rhythmus, in dem das Wasser gegen das Ufer brandete.
Aber sie würde nie vergessen, was geschah, als sie zur Pension zurückkehrten und Banhi schließlich stehen blieb. Sie wandte sich Sara zu. Ihre Hände glitten zu Saras Schultern hinauf und zogen sie an sich. Die Nacht war fast mondlos, und aus den Gebäuden um sie herum drang kein Licht. Sie vermutete, das lag wieder mal an einem nächtlichen Stromausfall, wie sie hier ständig vorkamen. Dennoch sah sie einen merkwürdigen, rötlichen Schimmer in Banhis Augen. Eine Patina, die wie aus einer anderen Welt zu ihr vordrang und Sara schwindeln ließ.
Banhis Hände bewegten sich hinab zu Saras Hüften und machten kreisende, liebkosende Bewegungen. Wenn sie lächelte, glitzerten ihre Zähne wie Glasscherben, weil es so dunkel war. Sara erschauerte, obwohl die Nacht angenehm warm war. Ihr ganzes Leben hing an einem seidenen Faden, das spürte sie. Alles hing davon ab, was sie als Nächstes tat. Was wollte sie? Mehr von dem, was Neil ihr bot – oder ein anderer Mann, der Neil ähnelte – eine endlose Prozession von Neils, denen sie im Laufe der kommenden Jahre begegnete? Oder wollte sie lieber das, was Banhi ihr bot?
Die Hände der anderen Frau hatten ihre Brüste erreicht. Sara wusste, was sie wollte. Ihr Kopf ruckte nach hinten, und sie stöhnte laut auf. Ihr Stöhnen zerriss die Stille der Nacht, als sie Banhi ihren blassen Hals darbot.
Er konnte nicht genau benennen, inwiefern sie sich verändert hatte. Er wusste nur: Sie war anders. Zuerst hatte er diese Veränderung auf seinen fiebrigen Malariaanfall geschoben, denn der Sex mit ihr nahm eine Intensität an, die an eine Halluzination grenzte. Es hatte ihn umso mehr überrascht, da er sich zuletzt häufig gesorgt hatte, Sara könne ihn verlassen. Sie hatte sich ihm immer häufiger verweigert, hatte Entschuldigungen gefunden und dann, wenn sie sich seinen Wünschen beugte, ihm das Gefühl gegeben, sie tue ihm damit einen Gefallen. Sie hatte meistens behauptet, sie sei zu müde, obwohl es dafür keinen Grund gab. Es war ja nicht so, als hätten sie Kinder, Himmel!
Aber an jenem Abend, als sie mit Banhi unterwegs gewesen war ... Ja, an dem Abend hatte es angefangen. Diesmal war er derjenige, der nicht in Stimmung war, wohingegen sie darauf bestanden hatte. Sie hatte das Zimmer leise betreten und ihn nicht mal gefragt, ob es ihm besser ging. Sie war einfach zu ihm aufs Bett gekrochen und hatte ihn in den Mund genommen, noch ehe er vollständig erigiert war. Während sie seinen Schwanz langsam zum Leben erweckte, liebkoste sie zugleich seine Hoden; erst ganz zärtlich, dann mit mehr Eifer. Erst da drückte er das Kreuz durch und drängte sich gegen ihre unermüdlichen Hände. Er war entzückt, dass sie zu ihm zurückgekommen war, obwohl ihr Verlangen nach ihm zuletzt abgeklungen war.
Sie nahm seinen Schwengel in eine Hand. Ihr Mund umschloss erst einen Hoden, dann beide. Während ihre Hand an seinem Schwengel auf und ab glitt, schob sie die andere unter seinen Hintern und umschloss eine Arschbacke. Seine Erregung wuchs. Er spürte, wie auch sie wilder wurde. Ihre Fingernägel gruben sich in seine Haut, und sie begann, ein fremdartiges, kehliges Stöhnen von sich zu geben, das wie ein religiöser Gesang klang. Sie hob sich von ihm und starrte zu ihm nieder. Er fürchtete sich vor ihren Augen, denn in diesen Augen lag plötzlich eine Leere, obwohl sie ihn mit so viel Leidenschaft liebte, weshalb er sich scheute, die Augen wirklich »leer« zu nennen. Er lächelte sie an, wollte sich ihrer versichern. Aber sie erwiderte das Lächeln nicht, sondern riss sich stattdessen einfach die Hose herunter, schob den Schritt ihres Höschens beiseite und pfählte sich mit seinem aufragenden Schwanz. Er kam mit einem Schrei, der sein Entsetzen und seine Furcht ausdrückte. Er fürchtete sich vor diesem fremden Wesen, das sich offenbar in der Frau manifestiert hatte, die er so gut zu kennen glaubte. Er bemerkte kaum, wie sie ihm einen Finger in den Arsch schob.
Als sie sich danach von ihm gelöst hatte, blieb sie rittlings auf ihm sitzen. Ihre tropfnasse Möse presste sich auf seinen Bauch. Sie massierte ihre Klit unnachgiebig mit einer Handfläche, bis sie den Kopf in den Nacken legte und mit einem unheimlichen Kreischen kam, das ihn erschauern ließ. Ihm kam es so vor, als habe er Unzucht mit einem Tier getrieben, und obwohl er Saras Passivität nicht vermisste, die sie vor dieser Nacht an den Tag gelegt hatte, war er nicht sicher, was er mit dieser neuen Sara anfangen sollte. Sie fühlte sich fremder an als zuvor.
Wenn das überhaupt möglich war.
Sie erinnerte sich, wie sie in das Zimmer ging und Neil auf dem Bett liegen sah. Er war nackt, ein Buch lag aufgeschlagen neben ihm. Dann wurde alles ganz verschwommen und, auch wenn das paradox klingt, gleichzeitig äußerst real. Es kam ihr so vor, als wären ihre Sinne um einiges schärfer als zuvor. Als ob ihr ganzer Körper neu ausgerichtet sei. Die Weichheit seines Schwengels, der saubere, salzige Geschmack seines Lusttropfens auf ihrer Zunge. Die Seidigkeit seiner Hoden, als sie beide in ihrem Mund bewegte. Das Gefühl ihrer eigenen Säfte, die über ihre Finger geflossen waren, als sie sich selbst zum Höhepunkt brachte. Wie Samt, der über ihre Finger rann.
Aber zugleich war da dieser Nebel, das Gefühl, dass sie einem krankhaften Reflex folgte und die Flucht nach vorne antrat. Das waren bestimmt die Überreste ihrer Erfahrung am Fluss. Diese schien ihr rückblickend gleichermaßen aufs Höchste intensiv und verwirrend unwirklich zu sein. Sie hatte Banhis Mund auf ihrem Hals gespürt, während ihre Freundin zugleich mit einer Hand ihre kurze Hose und den Slip nach unten gezogen hatte. Danach hatte sie ihre Fingerspitzen gespürt, die sanft über ihre Klitoris getanzt waren. Sie wusste, dass sie in dem Augenblick gekommen war, während sie den Kopf in den Nacken legte und zu den Sternen aufblickte, die über ihrem Kopf kreisten. Aber danach ... Wie war sie zurück zur Pension gelangt? Es waren nur wenige Schritte bis zu dem Gebäude, doch sie erinnerte sich an keinen einzigen. Waren sie ausgesperrt worden, wie sie es vorher befürchtet hatte? Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren und wusste nicht mehr, wie lange Banhi und sie sich am Fluss herumgetrieben hatten. Es war schon merkwürdig – sie hätte den Alkohol im Verdacht, wenn sie welchen getrunken hätte. Weil es aber so heiß war, hatten Banhi und sie zum Thali nur ein paar salzige Lassis getrunken.
Aber jetzt konnte sie nicht einschlafen und beobachtete, wie die Morgendämmerung den Himmel hinter dem Fenster langsam erhellte. Sie streckte übers Bett hinweg die Hand nach Neil aus.
Ihr Hunger auf ihn war neu erwacht.
Es war beinahe wie zu den guten alten Zeiten, als sie nie genug von ihm hatte bekommen können und mitten in der Nacht zum College gefahren war, um einen längst fälligen Aufsatz abzugeben, und anschließend in sein Zimmer gestürmt kam, ihn weckte und verlangte, dass er sie liebte. Wenn sie ihn in der Bibliothek fand, hatte sie ihm immer in der Philosophie-Abteilung einen geblasen und dabei sämtliche Proteste ignoriert, dass er seine Arbeit noch korrigieren müsse. Es war ja nicht so, als wäre ihm die Angelegenheit wirklich wichtig. Nein, er liebte es, wenn sie es ihm so besorgte, das hatte er ihr mehrfach gesagt. Ihm gefiel, dass sie eine unersättliche Frau war. Er liebte es, dass sie ihm das Gefühl gab, gebraucht zu werden.
Er öffnete ein Auge, als sie sich wieder auf ihn setzte und seinen Schwengel mit der Faust umschloss. Mit der freien Hand nahm sie seine und führte sie zu ihrer Möse. Instinktiv presste er die Finger aneinander, und sie schob seine Hand in ihr Inneres. Oh, sie brauchte kein Gleitgel. Er hatte zwar gewusst, dass sie geil war, aber das war mehr als nur ein bisschen Geilheit.
Sie rieb sich an ihm, stieß seine Hand immer tiefer und heftiger in sich, bis er fürchtete, ihr wehzutun. Ihr Gesicht jedoch zeigte einen Ausdruck geradezu religiöser Verzückung. Sie sah wie die Statue einer Heiligen aus. Er sagte ihren Namen, ganz leise nur, aber sie reagierte nicht. Er sagte ihn lauter und noch lauter. Ihre Augen blieben geschlossen. Sie hatte sich weit von ihm entfernt und war ganz woanders.
Er setzte sich halb auf. Jetzt wollte er in ihr sein, wollte sich irgendwie mit ihr verbinden. Aber sie stieß ihn weg. Ihre Bewegungen waren erschreckend kraftvoll. Ihr Mund legte sich wieder auf ihn. Er versuchte, sich zurückzuhalten, aber trotzdem begann er unwillkürlich, seine Hüften ihrem Mund entgegenzuheben. Er verlor die Kontrolle. Als sein Samen aus ihm herausschoss, spürte er ihren Mund, der sich fester um ihn schloss. Sie formte eine so enge und gierige Hülle, dass er fürchtete, sie könne ihn vollständig aussaugen und ihn all seines Lebenssaftes berauben.
Sie ließ ihn in ihrem Zimmer zurück. Er war sichtlich verstört. Banhi erwartete sie auf der Terrasse und beobachtete das langsame, kaum sichtbare Fließen des Flusses.
»Zeit«, sagte sie, ohne den Blick vom Wasser abzuwenden, als Sara sich neben sie setzte, »scheint hier nicht zu existieren.«
»Vielleicht ist das der Grund, warum du diesen Ort so sehr liebst«, gab Sara zurück. »Vielleicht mögen wir alle Indien deshalb so gerne. Hier vergeht alles langsamer. Oder es scheint zumindest langsamer zu vergehen.«
Banhi richtete ihren Blick auf Sara. Sara musste den Blick abwenden, weil die Gefühle, die in Banhis Blick brannten, so intensiv in ihr widerhallten. Diese Frau, dieses beinahe unanständig schöne Wesen hatte sie erst letzte Nacht zum Höhepunkt gebracht. Erwartete sie denn wirklich, dass Sara einfach mit ihr beisammensitzen und über irgendwelche Dinge plaudern konnte, als wäre nichts passiert? Und was hatte das alles zu bedeuten? Taten sie es wieder? Waren sie jetzt Liebende? Wollte sie, Sara, das denn? Und wie hatte das, was Banhi mit ihr unten am Fluss getan hatte, in ihr den Wunsch geweckt, Neil mit einer Leidenschaft zu vögeln, die sie seit Monaten nicht mehr für ihn empfunden hatte? Es war alles so schrecklich verwirrend. Ein Teil von ihr wollte einfach nur noch weglaufen. Aber sie wusste, dass sie das nicht konnte. Dass Banhi sie irgendwie festhielt.
»... von Kundalini-Yoga gehört?«, hörte sie ihre Freundin fragen.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht.«
»Kundalini heißt übersetzt schlängeln, man bewegt sich also wie eine Schlange. Die Schlange ist das Symbol für die Energien, die man noch nicht angezapft hat. Sie steht für neue Möglichkeiten.«
»Praktizierst du diese Yogaform?«
Banhi nickte. »Ich trainiere jeden Tag. Immer.« Sie lächelte, aber sie schaute schon wieder auf den langsam dahinfließenden Ganges. »Ich habe mich verwandelt«, erklärte sie. Ihre Augen huschten zu Sara. »Komm, ich zeig’s dir.« Sie stand auf.
In Banhis Zimmer bemerkte Sara als Erstes, dass es dem Raum ähnelte, den Neil und sie bewohnten. Er war nur wenige Quadratmeter kleiner, und der Geruch nach Weihrauch hing in der Luft. Sara erkannte Sandelholz und noch etwas anderes, das sie nicht kannte. Es roch erdig, fast ein bisschen animalisch. Es gab ein kleines Fenster ohne Scheibe, aber vergittert, das an der Stirnseite des Raums Tageslicht einließ. Vermutlich sollten die Gitterstreben verhindern, dass die Äffchen ins Haus gelangten, die draußen auf der Mauer herumhüpften. Banhi entzündete neben dem Bett eine Kerze.
»Leg dich hin«, befahl sie. Als Sara erstaunt die Brauen hob, fügte sie hinzu: »Du sollst erst mal nur zusehen.«
Sara legte sich also aufs Bett und beobachtete, wie Banhi aus ihrer Kleidung schlüpfte und sich vor sie kniete, die Füße hüftweit auseinander. Zwischen ihren Beinen konnte Sara den Flaum über ihrem Geschlecht erkennen. Ihre eigene Möse erwachte zu Leben und wurde nass. Sie musste sich beherrschen, um sich nicht selbst zu berühren oder die Hand nach Banhi auszustrecken.
»Das hier«, sagte Banhi, »nennt man die Heldenstellung, die man auch Keuschheitshaltung nennt. Es ist eine meditative Haltung, die deine sexuelle Energie kanalisiert und im Rückgrat fließen lässt. Und jetzt«, sie legte die Hände vor ihrem Körper aneinander. Dieselben Hände, dachte Sara, mit denen sie mich gestern Nacht zum Orgasmus gebracht hat. Banhi verschränkte die Finger.
»Jetzt«, fuhr sie fort, »nehme ich die Venusfalle ein. Die Wirkung besteht darin, dass ich Druck auf die Venushügel unterhalb der Daumen ausübe. So wird die Sinnlichkeit gesteigert, und die Drüsen werden wieder ins Gleichgewicht gebracht. Das hilft, wenn man sich auf etwas konzentrieren möchte.«
Sie entspannte sich. »Das ist alles«, sagte sie. Ihr Blick bohrte sich in Saras. »Es geht nur darum, was man will. Und wie viel.«
Sara schluckte. Es tat fast weh.
Ihre Freundin fuhr fort, und erneut glaubte Sara, das merkwürdige, rötliche Glühen in Banhis Augen zu sehen. War da nicht ein Aufblitzen ihrer Zähne, wenn sie sprach? »Was genau willst du, Sara?«, fragte Banhi.
Sie setzte sich auf und streckte den Arm aus. Ohne Zweifel wusste sie es plötzlich. Sie wollte Banhi. Niemand würde ihr jetzt genügen, nur diese Frau.
Neil wartete auf sie. Doch dieses Mal hatte er Angst. Er wollte zuerst mit ihr reden, ehe er sich ihrem neu erwachten Appetit unterwarf. Irgendwas Merkwürdiges verstörte ihn, und er vermutete, dass es etwas mit Saras neuer Freundin Banhi zu tun hatte.
Seit sie Banhi am Ganges kennengelernt hatten, beobachtete er sie misstrauisch. Es war Sara, die darauf beharrt hatte, wieder zum Fluss zu gehen und zuzusehen, wie die Leichen verbrannt wurden. Er fand diesen Wunsch eher makaber und war nur mitgekommen, weil er sich nicht wohl fühlte, wenn er sie allein gehen ließ. Banhi hatte sich zu ihnen gesellt und sich an Sara geheftet wie ein Blutegel. Nach wenigen Minuten redeten sie wie die besten Freundinnen miteinander, die sich nach Jahren der Trennung wiedersahen. Das war für Sara eher ungewöhnlich. Normalerweise war sie recht misstrauisch und reserviert, wenn sie neue Leute kennenlernte. Sie hielt sich mit ihrem Vertrauen gewöhnlich lange zurück. Neil hatte sich von Anfang an bedrängt gefühlt, als wollten sie ihn nicht dabeihaben. Selbst dann, wenn Banhi das Wort an ihn richtete, hatte er das Gefühl, in ihrem Blick etwas Spöttisches zu entdecken. Er wusste, dass sie sich nicht für ihn interessierte.
Das war ihm anfangs ziemlich egal gewesen. Aber Sara hatte nicht aufgehört, von Banhi zu reden. Wie interessant sie war, wie exotisch und gut sie aussah. Es kam ihm fast so vor, als habe Banhi sie verhext. Er hätte am liebsten seinen dicken Reiseführer nach Sara geworfen oder darauf bestanden, dass sie Varanasi möglichst schnell hinter sich ließen. Er hätte alles getan, um so schnell wie möglich aus dem Bannkreis dieser verdammten Frau zu gelangen, die irgendwie Saras Gedanken bestimmte. Seine Freundin redete nur noch über Chakras, über Göttinnen und ähnlichen Kram, und sie bestand darauf, ihren Aufenthalt zu verlängern oder andere Ziele anzusteuern, die Banhi ihr vorschlug. Er wurde von einem Tempel zum nächsten gezerrt, musste sich erotische Schnitzereien, Shiva-Lingams und Yonisteine anschauen, obwohl er inzwischen längst in einem Nationalpark sein und Elefanten reiten wollte.
Er setzte sich auf, weil er nervös und von sexueller Energie aufgeladen war. Trotzdem hielt ihn etwas zurück. Was würde sie als Nächstes mit ihm tun? Sein Fieber war abgeklungen, seine Sorge, sich mit Malaria angesteckt zu haben, war unbegründet. Er wollte diesen Ort schleunigst hinter sich lassen und mit ihm auch die Seltsamkeiten. Er wollte die alte Sara zurück. Die Sara, die er kannte. Auch wenn das bedeutete, dass ihr Liebesleben wieder erstarb. Diese Frau, das sah er jetzt ganz deutlich, war eine Betrügerin.
Die Tür öffnete sich. Sara trat ein und kam zu ihm. Ein merkwürdiges Feuer brannte in ihren Augen.
»Sara«, sagte er.
Sie gab keine Antwort. Auf ihn wirkte sie wie eine Schlafwandlerin, die keinen eigenen Willen hatte und sich wie eine Maschine bewegte.
»Sara. Was ist passiert? Was ist mit dir los?«
Sie kam näher, und er bemerkte, wie er unwillkürlich die Luft anhielt. Er wollte ihr sagen, dass sie gehen sollte, aber ein Teil von ihm, der sich dunkel tief in ihm erstreckte, verbot ihm, zu sprechen.
Sie kletterte aufs Bett und stieß ihn nach hinten. Er wusste plötzlich, was sie wollte, obwohl sie sich noch immer wie ein Roboter bewegte.
»Sara«, beschwor er sie. »Bitte, Sara!«
Sie war jetzt die Herrin, so viel verstand er. Wegen ihrer großen Leidenschaft hatte er sich in sie verliebt; das war der Funke, an dem sich einst die Feuersbrunst ihrer Liebe entzündet hatte. Aber damals war er ihrer Leidenschaft mit ähnlicher Heftigkeit begegnet. In diesem Moment jedoch schien Sara von einem Feuer beseelt zu sein, dem er nichts entgegenzusetzen hatte.
Sie drückte ihre Lippen auf seinen Bauch, bewegte sich langsam nach oben und legte ihren Mund abwechselnd auf seine Brustwarzen. Er ließ den Kopf in den Nacken fallen und ergab sich. Er gehörte ihr, er gab ihr alles, was sie von ihm wollte.
Sara grub die Fingernägel in seine Schultern, als sie ihn sich bis zum Anschlag in die Möse schob. Für einen Augenblick hatte er das Gefühl, ihm müssten die Sinne schwinden. Er hatte das Gefühl, in einen Abgrund oder ein schwarzes Loch zu fallen, aus dem es kein Zurück gab. Seine Hände, mit denen er bisher die Bettpfosten umklammert hatte, legte er jetzt auf ihre Hüften, während sie ihn wild ritt und wie eine Wölfin bellte. Sie schien sich ganz in dem Gefühl zu verlieren, das sie durchströmte. Er wusste nicht, wo sie jetzt war, aber er wusste, dass sie sich weit von ihm entfernt hatte.
Weil sie seinen Höhepunkt spürte, der rasant kam, stieg sie von ihm herunter. Ihre Hand legte sich um seinen Schaft, ihre Lippen presste sie auf die Eichel. Sie drückte ihn fest zusammen, als die milchig-weiße Flüssigkeit in ihren Mund strömte. Er hob den Kopf und beobachtete, wie sie ihn trank. Es kam ihm so vor, als würde sie von einem Durst getrieben, den nichts stillen konnte. Er kam und kam. Es war ein Orgasmus, wie er ihn noch nie erlebt hatte. So genau wusste er nicht, ob es ihr Verlangen war, das bisher ungenutzte Reserven in ihm weckte, oder ob es seine eigene Erregung war, weil er sehen konnte, wie sie ihn trank.
Danach war er zu erschöpft, um sie zu befriedigen, und sah ihr deshalb dabei zu, wie sie es sich selbst besorgte. Doch wenn er glaubte, ›Lust‹ sei der richtige Begriff, um das zu beschreiben, was sie dabei empfand, musste er sich eines Besseren belehren lassen, als die Wellen ihres Ausbruchs ihren ganzen Leib erfassten und sich allzu deutlich auf ihrem Gesicht abzeichneten.
Sie verließ ihn. Er schlief oder war bewusstlos, so genau wusste sie das nicht. Wie eine Schlafwandlerin lief sie in Banhis Zimmer. Ihre Freundin erwartete sie schon.
»Also?«, fragte sie und hob eine Augenbraue. »Ist er bereit?«
Sara nickte. Sie hatte bisher geglaubt, sie liebe Neil. Aber das war, bevor sie von der Flutwelle fortgeschwemmt wurde, die Banhi darstellte. Sie nahm das hübsche, ovale Gesicht ihrer Freundin in beide Hände und küsste sie wild. Banhi erwiderte den Kuss, indem sie in Saras Unterlippe biss. Als beide Zungen einander umkreisten und umspielten wie Schlangen, die miteinander kämpften, vermischte sich ihr Blut mit dem Speichel zu einem rosigen Schaum.
Schließlich machte Banhi einen Schritt nach hinten. »Wie wär’s mit einer Zigarette?«, fragte sie und wischte sich Mund und Kinn mit dem Handrücken ab. Sara war einverstanden.
»Wer bist du?«, fragte sie, während die Freundin zwei Zigaretten entzündete und ihr eine gab.
»Frag lieber, wer wir sind«, sagte Banhi. »Denn wir sind dasselbe. Wir sind Schwestern und Liebende, deren Seelen so schwarz sind wie die Nacht.«
»Ich muss es verstehen«, wandte Sara ein. »Wenn ich bei dir bleibe, muss ich ...« Sie stockte. Neils Name kam ihr nicht über die Lippen.
Kalt beobachtete Banhi sie. »Man begegnet im Laufe eines Lebens vielen Menschen, die sich mit meinem Thema befassen«, sagte sie schließlich. »Es gibt Skeptiker und Gläubige, Rationalisten und Mystiker, Engel und Dämonen.«
»Sind wir Engel oder Dämonen?«
»Vielleicht sind wir von beidem ein bisschen. Wir können nie genau ergründen, was wir sind.«
»Gibt es ein Wort ... einen Begriff für Leute wie uns?«
»Ich weiß es wirklich nicht, Sara. Aber wenn ich über uns nachdenke, dann kommt mir der Begriff Rakshasa in den Sinn.«
»Wer sind diese Rakshasa?«
»Es sind Wesen, die einst von Brahma erschaffen wurden, um das Meer vor denen zu beschützen, die das Elixier der Unsterblichkeit daraus stehlen wollten. Das ist zumindest eine Version dieses Mythos. Es sind Gestaltwandler, die manchmal als Tiger erscheinen oder, wenn sie in ihrer menschlichen Gestalt umhergehen, als verführerische Frauen, die Männer in den Tod locken, ihr Blut trinken und manchmal auch ihr Fleisch essen.«
»Und du glaubst das alles? Glaubst du an diese Mythen?«
Banhi maß Sara mit einem leidenschaftslosen Blick. »Ich weiß nicht, was ich glaube«, gab sie zu. »Ich weiß nur«, fuhr sie fort, »dass du die schwarze Göttin bist, auf die ich so lange gewartet habe. Ich habe dich ausgewählt, weil ich dich als Frau mit großem, sexuellem Appetit erkannt habe. Du bist wie ich.«
Sara dachte kurz etwas schuldbewusst an Neil, der in ihrem Zimmer schlief. Neil, den sie einst geliebt hatte und der einst dieselben Worte benutzt hatte, um sie zu beschreiben. Aber dann blickte sie wieder Banhi an, und ihre Reue schwand wie Rauch, der im Sonnenlicht verfliegt.
Ein Klopfen an der Zimmertür ließ beide Frauen aufblicken.
»Neil«, sagte Sara tonlos. Es kam ihr vor, als steige er direkt aus ihren Gedanken auf.
»Es ist Zeit«, antwortete Banhi. Ihre Stimme klang ebenso ruhig. Sie streckte die Hand nach ihrer Freundin aus.
Neil stand zum zweiten Mal am Ufer des Ganges und beobachtete, wie die Leichname langsam auf den kleinen Scheiterhaufen am Flussufer verbrannten, ehe die Asche im Wasser verstreut wurde. In manchen Fällen wurden die Leichen so ins Wasser geworfen, wie sie waren, in traditionelle Kleidung gehüllt und mit Girlanden aus Ringelblumen geschmückt. In die Gewänder genähte Steine zogen sie in die Tiefe. Jetzt sah er deutlich, wie schön der Tod sein konnte. Ja, der Tod war sogar erstrebenswert. Und Varanasi war vermutlich der beste Ort, um zu sterben, denn dann wurde man aus dem ewigen Kreis von Geburt und Wiedergeburt erlöst.
Wie die Hindus, die zu Tausenden an das Ufer des Ganges kamen, akzeptierte er sein Schicksal. Er hieß es sogar willkommen. Er war so schrecklich müde. Sara hatte ihm allen Lebenssaft ausgesaugt. Er verstand jetzt ihre neu erwachten Lebensgeister. Es hatte nichts mit Sex zu tun, sondern mit einem kunstvollen Tanz mit dem Tode selbst.
Sie hatte ihn ausgesaugt und nur einen Schatten von Mann zurückgelassen. Ein blutleeres Wesen. Er drehte sich zu ihr um. Sie stand hinter ihm. Ihre Hand ruhte in Banhis. Ihre Augen funkelten ihn an. In der blauen Stunde des heraufdämmernden Morgens strahlten ihre Augen. In ihren Augen glaubte er einen Hauch von Ewigkeit zu erkennen.
Aus der Hosentasche zog er eine Schachtel Streichhölzer, die Banhi ihm auf dem Weg von der Pension an den Strand gegeben hatte. Er entzündete ein Streichholz und hielt es an seine blasse, papierne Haut.
Banhi wandte sich bereits ab. Ihre Augen strahlten heller, als würden sie von der aufgehenden Sonne befeuert. Sie drückte Saras Hand, als sie die Stufen zur Stadt wieder hinaufstiegen. Beide Frauen verschlossen die Ohren vor Neils Schreien. Banhi lächelte Sara an.
»Und wer ist der Nächste?«, fragte sie.