Prolog

Da kommen sie. Wir hören das Klirren von Pferdegeschirr und sehen ein Stück weiter die Straße hinunter eine Staubwolke in die warme Frühlingsluft aufsteigen.

Pilger, die nach Ostern aus Canterbury zurückkehren. Sie haben sich Andenken an den zuerst zum Erzbischof und dann zum Märtyrer gemachten heiligen Thomas an Umhänge und Hüte gesteckt – die Mönche in Canterbury müssen sich eine goldene Nase verdienen.

Sie sind eine angenehme Abwechslung von den ununterbrochen vorbeiziehenden Ochsenkarren, deren mürrisch dreinblickende Fahrer vom Pflügen und Säen genauso erschöpft sind wie ihre Ochsen. Diese Leute hier sind wohl genährt, sie lärmen und jubeln vor Freude über die himmlische Gnade, die ihnen die Pilgerfahrt verschafft hat.

Aber einer unter ihnen, der ebenso fröhlich ist wie die Übrigen, hat Kinder getötet. Gottes Gnade wird keinem Kindermörder gewährt.

Die Frau an der Spitze der Prozession – beleibt auf einer beleibten Fuchsstute – hat ein Heiligenandenken aus Silber an ihren Nonnenschleier gesteckt. Wir kennen sie. Sie ist die Priorin des Nonnenklosters St. Radegund in Cambridge. Sie redet. Laut. Die Nonne in ihrer Begleitung, fügsamer Zelter, ist still und konnte sich ihren Thomas Becket nur in Zinn leisten.

Der große Ritter, der auf einem gut abgerichteten Schlachtross zwischen ihnen reitet – er trägt über der Rüstung einen Wappenrock mit Kreuz als Zeichen, dass er an einem Kreuzzug teilgenommen hat, und ist wie die Priorin silbergeschmückt –, gibt halblaute Kommentare zu den Erklärungen der Priorin ab. Die Priorin hört seine Worte nicht, aber der jungen Nonne entlocken sie ein Lächeln. Ein nervöses Lächeln.

Hinter der Gruppe ziehen Maultiere einen flachen Karren, auf dem ein einziger Gegenstand liegt: rechteckig, ein wenig zu klein für die Größe der Ladefläche, doch der Ritter und ein Knappe scheinen ihn zu bewachen. Ein Tuch mit einem Wappen darauf ist darübergebreitet. Vom Ruckeln des Karrens verrutscht das Tuch ein wenig, und eine Ecke aus getriebenem Gold kommt zum Vorschein – entweder ein großes Reliquiar oder ein kleiner Sarg. Der Knappe beugt sich von seinem Pferd hinab und zieht das Tuch gerade, so dass der Gegenstand wieder verhüllt ist.

Und der da ist ein königlicher Steuereintreiber. Recht jovial, füllig, für sein Alter zu schwer, wie ein Bürger gekleidet, aber es ist unverkennbar. Zum einen trägt sein Diener den königlichen Wappenrock mit den angevinischen Leoparden darauf, zum anderen ragt nicht nur ein Abakus aus seiner übervollen Satteltasche, sondern auch das spitze Ende einer Geldwaage. Abgesehen von dem Diener reitet er allein. Steuereintreiber sind unbeliebt.

Jetzt kommt ein Prior. Ihn erkennen wir an dem violetten Rochett, das er wie alle Kanoniker von St. Augustine trägt. Wichtig. Prior Geoffrey von St. Augustine in Barnwell, dem Stift, das über die große Biegung des Flusses Cam und das vergleichsweise winzige St. Radegund hinwegblickt. Man munkelt, dass er und die Priorin einander nicht grün sind. Er wird nicht nur von drei Mönchen begleitet, sondern zudem von einem Ritter – dem Wappenrock nach ein weiterer Kreuzfahrer – und einem Knappen.

Ach, er ist krank. Eigentlich sollte er die Prozession anführen, aber offenbar macht ihm sein Bauch, der bemerkenswert ist, zu schaffen. Er stöhnt und achtet gar nicht auf den tonsurierten Kleriker, der sich um seine Aufmerksamkeit bemüht. Der Ärmste, auf diesem Abschnitt der Reise ist keine Hilfe für ihn in Sicht, nicht einmal ein Gasthof, bis er seine eigene Krankenstube in der Abtei erreicht.

Ein fleischgesichtiger Bürger und seine Frau, die sich beide besorgt um den Prior zeigen und seinen Mönchen Ratschläge erteilen. Ein Spielmann, der zur Laute singt. Hinter ihm folgt ein Jäger mit Speeren und Hunden – Hunden in der Farbe des englischen Wetters.

Dann kommen die Packesel und die anderen Diener. Das übliche Gesindel.

Ha, und jetzt. Ganz am Ende des Zuges. Ärmlicher als der Rest. Ein Wagen mit Segeltuchplane, die mit bunten kabbalistischen Zeichen bemalt ist. Zwei Männer auf dem Bock, ein großer, ein kleiner, beide dunkelhäutig, der größere mit der Kopfbedeckung der Muselmanen, die auch um die Wangen gewickelt ist. Vermutlich fahrende Händler, die irgendwelche Arzneien verkaufen.

Und hinten auf der Ladeklappe sitzt eine Frau und lässt die berockten Beine baumeln wie ein Bauer. Sie schaut sich mit brennender Neugier um. Ihre Augen betrachten fragend einen Baum, ein Fleckchen Gras: Wie heißt du? Wofür bist du gut? Und wenn nicht, warum nicht? Wie ein Magister am Hofe. Oder eine Närrin.

Auf dem breiten Streifen zwischen uns und all diesen Menschen (selbst an der Great North Road, selbst jetzt, im Jahre 1171, darf kein Baum weniger als einen Bogenschuss von der Straße entfernt wachsen, damit sich keine Wegelagerer in der Nähe verstecken können) steht ein kleiner Schrein am Wegesrand, die übliche, von fleißigen Händen gezimmerte Schutzhütte für die Heilige Jungfrau.

Einige der Reiter wollen mit einer Verbeugung und einem »Gegrüßet seist du Maria« vorbeireiten, doch die Priorin tut sich wichtig, indem sie nach einem Reitknecht ruft, der ihr beim Absteigen helfen muss. Sie schleppt sich schwerfällig über das Gras, kniet nieder und betet. Laut.

Nacheinander gesellen sich die Übrigen mit einigem Widerwillen dazu. Prior Geoffrey verdreht die Augen und ächzt, als ihm vom Pferd geholfen wird.

Sogar die drei von dem Planwagen sind abgestiegen und knien jetzt, obwohl der dunklere der beiden Männer, der im Hintergrund kaum auffällt, seine Gebete eher gen Osten zu richten scheint. Gott stehe uns bei, wenn Sarazenen und andere Gottlose ungestraft über die Straßen von Henry II ziehen dürfen. Lippen raunen Gebete, an die Heilige gerichtet, Hände schlagen unsichtbare Kreuze. Gewiss weint Gott, und doch lässt Er zu, dass die Hände, die sich an unschuldigem Fleisch vergingen, unbefleckt bleiben.

Der Reiterzug sitzt wieder auf, zieht weiter und verschwindet um die Biegung Richtung Cambridge. Das Geplapper verklingt, und wieder hören wir nur noch das Rumpeln der Bauernkarren und Vogelgezwitscher.

Aber jetzt halten wir ein Knäuel in der Hand, dessen Faden uns zu dem Kindermörder führen wird. Um es zu entwirren, müssen wir zunächst zwölf Monate rückwärts in die Zeit reisen …