Kapitel Eins

ENGLAND, 1170



Ein Jahr der Schreie.

Ein König schrie, man möge ihn von seinem Erzbischof erlösen. Die Mönche von Canterbury schrien, als Ritter das Gehirn des besagten Erzbischofs auf die Steinplatten seiner Kathedrale spritzen ließen.

Der Papst schrie, besagter König müsse Buße tun. Die englische Kirche schrie im Triumph – jetzt hatte sie besagten König genau da, wo sie ihn haben wollte.

Und weit weg in Cambridgeshire schrie ein Kind. Ein dünner blecherner Klang, dieser Schrei, aber auch er würde seinen Platz unter den anderen finden.

Am Anfang lag Hoffnung in dem Schrei: Kommt und holt mich, ich habe Angst. Bis dahin hatten Erwachsene den Kleinen vor Gefahren bewahrt, hatten ihn von Bienenstöcken und brodelnden Töpfen und dem Feuer in der Schmiede weggetragen. Sie mussten einfach gleich kommen, so wie sie es immer getan hatten.

Bei dem Klang hoben Rehe, die auf der mondbeschienenen Wiese ästen, die Köpfe und blickten sich um. Aber es war keines ihrer Jungen, das sich da fürchtete, also ästen sie weiter. Ein Fuchs verharrte in seinem Lauf, eine Pfote in der Luft, um zu lauschen und abzuschätzen, ob er selbst in Gefahr war.

Die Kehle, die den Schrei ausstieß, war zu klein und der Ort zu abgelegen und einsam, um ein menschliches Ohr zu erreichen. Der Schrei veränderte sich: Er wurde ungläubig, war so hoch auf der Skala des Erstaunens, dass er wie der schrille Pfiff eines Jägers klang, der seine Hunde dirigiert.

Die Rehe flüchteten in alle Richtungen zwischen den Bäumen, und ihre weißen Wedel sahen aus wie Dominosteine, die ins Dunkel purzelten.

Jetzt war der Schrei ein Flehen, das sich vielleicht an den Peiniger richtete, vielleicht an Gott, bitte nicht, bitte nicht, ehe er zu einem einförmigen Ton der Qual und Hoffnungslosigkeit zusammenfiel.

Die Luft war dankbar, als das Geräusch endlich verstummte und sich die üblichen Klänge der Nacht wieder durchsetzten. Das Rascheln des Windes in den Büschen, das Knurren eines Dachses, die unzähligen Schreie kleiner Säugetiere und Vögel, die in den Fängen ihrer natürlichen Feinde starben.



In Dover wurde ein alter Mann hastig durch eine Burg geführt, schneller, als es sein Rheuma erlaubte. Es war eine riesige Burg, sehr kalt, und in ihren Mauern hallten wilde Geräusche. Trotz seiner raschen Schritte blieb dem alten Mann kalt – denn er hatte Angst. Der Hofmeister brachte ihn zu einem Mann, der allen Angst machte.

Sie gingen über lange, steinerne Korridore, mitunter an offenen Türen vorbei, aus denen Licht und Wärme, Stimmengewirr und die Klänge einer Gambe drangen, und an anderen, die geschlossen waren und hinter denen nach der Vorstellung des alten Mannes gottlose Dinge geschahen.

Burgdiener, die nicht schnell genug auswichen, wurden rüde beiseite gestoßen, und so zogen die beiden Männer in ihrer Hast eine Spur von zu Boden gefallenen Tabletts, umgekippten Nachttöpfen und unterdrückten Schmerzensschreien hinter sich her.

Eine letzte Wendeltreppe, und sie gelangten auf eine lange Galerie mit einer Reihe von Schreibtischen an der Wand und einem wuchtigen Tisch in der Mitte. Die mit grünem Filz ähnlichem Stoff bezogene Tischplatte war in Quadrate eingeteilt, auf denen unterschiedlich große Häufchen von Zählperlen lagen. Dreißig oder noch mehr Schreiber erfüllten den Raum mit dem Kratzen von Federn auf Papier. Bunte Kugeln flirrten und klickten auf den Drähten ihrer Abakusse hin und her, so dass es sich anhörte wie auf einem Feld mit emsigen Grillen.

Der einzige untätige Mensch im ganzen Raum war ein Mann, der auf einer Fensterbank saß.

»Aaron aus Lincoln, Mylord«, verkündete der Hofmeister.

Aaron aus Lincoln sank auf ein schmerzendes Knie und berührte die Stirn mit den Fingern der rechten Hand, die er sodann mit der Handfläche nach oben ausstreckte, um dem Mann auf der Fensterbank seine Ehrerbietung zu zeigen.

»Wisst Ihr, was das da ist?«

Aaron blickte unbeholfen nach hinten auf den riesigen Tisch, antwortete aber nicht. Er wusste, was es war, doch die Frage des Königs war rein rhetorisch gewesen.

»Jedenfalls kein Spieltisch, so viel steht fest«, sagte Henry II. »Das ist meine Staatskasse. Die Quadrate verkörpern meine englischen Countys, und die Zählperlen darauf zeigen, wie viel Abgaben sie an das königliche Schatzamt zahlen müssen. Steht auf.«

Er zog den alten Mann hoch, führte ihn zum Tisch und zeigte auf eines der Quadrate. »Das ist Cambridgeshire.« Er ließ Aaron los. »Unter Einsatz Eures beträchtlichen finanziellen Sachverstandes, Aaron, was schätzt Ihr, wie viele Perlen liegen da wohl?«

»Nicht genug, Mylord?«

»Wahrhaftig nicht«, sagte Henry. »Cambridge ist ein einträgliches County – normalerweise. Ein bisschen flach, aber es bringt stattliche Mengen an Korn und Vieh hervor und zahlt pünktlich an das Schatzamt – normalerweise. Auch seine große jüdische Bevölkerung zahlt pünktlich an das Schatzamt – normalerweise. Würdet Ihr sagen, dass die Anzahl der Zählperlen, die im Augenblick da liegen, keine wahrheitsgetreue Darstellung seines Wohlstands ist?«

Wieder gab der alte Mann keine Antwort.

»Und warum ist das so?«, fragte Henry.

Aaron sagte matt: »Ich denke mir, wegen der Kinder, Mylord. Der Tod von Kindern ist immer bedauerlich …«

»Fürwahr.« Henry hievte sich auf die Tischkante und ließ die Beine baumeln. »Und wenn er sich noch dazu auf die Wirtschaft auswirkt, dann ist er eine Katastrophe. Die Bauern von Cambridge sind im Aufstand, und die Juden sind … wo sind sie?«

»Sie haben in der dortigen Burg Zuflucht gesucht, Mylord.«

»In dem, was davon übrig ist«, bestätigte Henry. »Ja, das haben sie, wahrhaftig. In meiner Burg. Wo sie von meiner Mildtätigkeit leben, mein Essen essen und es gleich an Ort und Stelle wieder ausscheißen, weil sie Angst haben, die Burg zu verlassen. Und das alles bedeutet, dass sie mir kein Geld einbringen, Aaron.«

»Nein, Mylord.«

»Und die aufgebrachten Bauern haben den Ostturm niedergebrannt, in dem sich das Verzeichnis sämtlicher Schulden an die Juden und damit an mich befindet – ganz zu schweigen von den Steuerverzeichnissen –, weil sie glauben, dass die Juden ihre Kinder quälen und töten.«

Zum ersten Mal ertönte zwischen den Hinrichtungstrommeln im Kopf des Alten eine Pfeife der Hoffnung. »Aber Ihr nicht, Mylord?«

»Was nicht?«

»Glaubt Ihr nicht, dass die Juden die Kinder töten?«

»Ich weiß es nicht, Aaron«, sagte der König leichthin. Ohne den alten Mann aus den Augen zu lassen, hob er eine Hand. Ein Schreiber kam angelaufen und schob ein Stück Pergament hinein. »Hier habe ich einen Bericht von einem gewissen Roger aus Acton. Darin heißt es, dass das ein regelmäßiger Brauch bei euch ist. Laut dem wackeren Roger foltern die Juden zu Ostern mindestens ein Christenkind zu Tode, indem sie es in ein Fass stecken, das innen mit Nägeln gespickt ist. Das haben sie schon immer getan und werden es auch weiterhin tun.«

Er blickte kurz auf das Pergament. »›Sie stecken das Kind in das Fass und schließen den Deckel, so dass die Nägel ihm ins Fleisch dringen. Dann fangen diese Teufel das herausrinnende Blut in Behältnissen auf, um es in ihr rituelles Backwerk zu mischen.‹«

Henry II blickte auf: »Nicht sehr angenehm, Aaron.« Er konsultierte wieder das Pergament. »Oh, und lachen tut ihr auch noch dabei.«

»Ihr wisst, dass das nicht wahr ist, Mylord.«

Der König nahm den Einwurf des Alten so wenig zur Kenntnis, als wäre er nur ein weiteres Klicken auf einem Abakus gewesen.

»Aber dieses Jahr Ostern, Aaron, dieses Jahr Ostern habt ihr begonnen, sie zu kreuzigen. Jedenfalls behauptet unser wackerer Roger aus Acton, dass man das Kind, das gefunden wurde, gekreuzigt hat – wie hieß das Kind noch gleich?«

»Peter aus Trumpington, Mylord«, antwortete der Oberschreiber prompt.

»Dass Peter aus Trumpington gekreuzigt wurde und dass daher vermutlich auch die anderen zwei vermissten Kinder das gleiche Schicksal ereilt hat. Kreuzigung, Aaron.« Der König sprach das ungeheure und schreckliche Wort ganz sanft aus, aber es hallte die kalte Galerie entlang und gewann auf seinem Weg mehr und mehr an Kraft. »Es gibt bereits Bestrebungen, den kleinen Peter zum Heiligen zu machen, als hätten wir nicht schon genug davon. Bis jetzt werden zwei Kinder vermisst, und ein ausgebluteter, zerfetzter kleiner Körper wurde in meinem Sumpfland gefunden, Aaron. Das ist ziemlich viel Backwerk.«

Henry sprang vom Tisch, schritt die Galerie entlang und ließ, dicht gefolgt von dem alten Mann, das Feld mit den Grillen hinter sich. Der König zog einen Hocker unter einem Fenster hervor und stieß ihn mit dem Fuß in Aarons Richtung. »Setzt Euch.«

Auf dieser Seite war es ruhiger. Feuchtkalte Luft drang durch die unverglasten Fenster herein und ließ den alten Mann frösteln. Aaron war der eleganter Gekleidete der beiden. Henry II sah aus wie ein Jäger mit einem Hang zur Nachlässigkeit. Die Höflinge seiner Königin salbten sich das Haar mit Ölen und dufteten nach Blumenessenzen, doch Henry roch nach Pferd und Schweiß. Seine Hände waren ledrig, sein rotes Haar kurz geschoren und sein Kopf so rund wie eine Kanonenkugel. Und doch, so dachte Aaron, sah jeder in ihm sogleich den, der er war: Gebieter über ein Reich, das sich von den Grenzen Schottlands bis zu den Pyrenäen erstreckte.

Aaron liebte ihn beinahe und hätte ihn wirklich lieben können, wenn der Mann nicht so erschreckend unberechenbar gewesen wäre. Wenn der König in Wut geriet, biss er in Teppiche, und Menschen starben.

»Gott hasst euch Juden, Aaron«, sagte Henry. »Ihr habt Seinen Sohn getötet.«

Aaron schloss die Augen und wartete.

»Und Gott hasst mich.«

Aaron öffnete die Augen.

Die Stimme des Königs erhob sich zu einem Klagegesang, der die Galerie wie eine Posaune der Verzweiflung erfüllte. »Gütiger Gott, vergib diesem unglückseligen und reuigen König. Du weißt, dass Thomas Becket sich mir in allem widersetzt hat, so dass ich in meiner Raserei seinen Tod herbeiwünschte. Peccavi, peccavi, denn einige Ritter missverstanden meinen Zorn, sie brachen auf und töteten ihn, mir zum Gefallen. Für diese Missetat hast Du in Deiner Gerechtigkeit Dein Antlitz von mir abgewendet. Ich bin ein Wurm, mea culpa, mea culpa, mea culpa. Ich winde mich in Deinem Zorn, während Erzbischof Thomas eingegangen ist in Deine Herrlichkeit und sitzet zur Rechten Deines barmherzigen Sohnes Jesus Christus.«

Gesichter wandten sich ihnen zu. Schreibfedern verharrten über Zahlenkolonnen, Abakusse standen still.

Henry hörte auf, sich auf die Brust zu schlagen. Im Plauderton sagte er: »Und ich könnte mir denken, dass er dem Herrn genauso auf den Sack geht wie mir.« Er beugte sich vor, legte Aaron aus Lincoln einen Finger unter das Kinn und hob es sachte an. »In dem Augenblick, als diese Bastarde Becket erschlugen, bin ich verwundbar geworden. Die Kirche sinnt auf Rache, sie will meine Leber, warm und dampfend, sie will Wiedergutmachung und muss sie bekommen, und unter anderem verlangt sie etwas, was sie schon immer verlangt hat, nämlich die Vertreibung der Juden aus der Christenheit.«

Die Schreiber hatten sich wieder ihrer Arbeit zugewandt.

Der König wedelte mit dem Dokument in seiner Hand vor der Nase des Juden. »Das ist eine Petition, Aaron, mit der Forderung, alle Juden aus meinem Reich zu vertreiben. In diesem Augenblick ist eine Abschrift, gleichfalls von Master Acton verfasst, mögen die Höllenhunde seine Eier fressen, auf dem Weg zum Papst. Das ermordete Kind in Cambridge und die beiden vermissten sollen als Vorwand dienen, um die Vertreibung Eures Volkes zu verlangen, und jetzt, wo Becket tot ist, werde ich mich dem nicht widersetzen können, denn sonst wird sich Seine Heiligkeit dazu überreden lassen, mich zu exkommunizieren und über mein gesamtes Königreich das Interdikt zu verhängen. Versteht Ihr, was ein Interdikt bedeutet? Das Königreich wird zurück in die Dunkelheit gestoßen, Neugeborenen wird die Taufe verweigert, es gibt keine kirchlichen Trauungen mehr, die Toten bleiben ohne den Segen der Kirche unbestattet. Und jeder kleine Hosenscheißer kann mein Recht als Herrscher in Frage stellen.«

Henry stand auf und schritt auf und ab, blieb dann stehen, um die Ecke eines Wandteppichs gerade zu zupfen, die der Wind umgeschlagen hatte. Mit dem Rücken zu Aaron stehend, sagte er: »Bin ich nicht ein guter König, Aaron?«

»Das seid Ihr, Mylord.« Die richtige Antwort. Und die Wahrheit.

»Und bin ich nicht gut zu den Juden, Aaron?«

»Das seid Ihr, Mylord. Wahrlich, das seid Ihr.« Wieder die Wahrheit. Henry besteuerte die Juden, wie ein Bauer seine Kühe molk, und doch war kein anderer Monarch auf Erden ihnen gegenüber gerechter oder sorgte in seinem engen kleinen Königreich für so viel Ordnung, dass die Juden hier sicherer waren als fast in jedem anderen Land der bekannten Welt. Aus Frankreich, Spanien, aus den Kreuzzugsländern, aus Russland kamen sie her, um die Privilegien und die Sicherheit zu genießen, die das England des Plantagenets ihnen bot.

Wohin könnten wir gehen, dachte Aaron. Herr, Herr, schicke uns nicht zurück in die Wüste. Wenn wir unser Gelobtes Land nicht mehr haben können, dann lass uns zumindest unter diesem Pharao leben, der uns schützt.

Henry nickte. »Wucherei ist eine Sünde, Aaron. Die Kirche missbilligt sie, lässt nicht zu, dass Christen ihre Seele damit beflecken. Überlässt das euch Juden, die ihr keine Seele habt. Das hindert die Kirche natürlich nicht daran, von euch Geld zu leihen. Wie viele ihrer Kathedralen sind eigentlich mit euren Darlehen erbaut worden?«

»Lincoln, Mylord.« Aaron begann, sie an seinen zitternden, arthritischen Fingern abzuzählen. »Peterborough, St. Albans, dann noch mindestens neun Zisterzienserabteien, des Weiteren …«

»Ja, ja. Entscheidend ist jedenfalls, dass ein Siebtel meiner jährlichen Einnahmen aus der Besteuerung von euch Juden stammt. Und die Kirche will, dass ich euch loswerde.« Der König stapfte auf und ab, und erneut dröhnten abgehackte angevinische Silben durch die Galerie. »Sorge ich denn nicht dafür, dass dieses Königreich einen nie gekannten Frieden erlebt? Herrgott, was meinen die denn, wie ich das anstelle?«

Verstörte Schreiber ließen ihre Federn fallen und nickten. Jawohl, Mylord. Das tut Ihr, Mylord.

»Das tut Ihr, Mylord«, sagte Aaron.

»Jedenfalls nicht mit Beten und Fasten, so viel steht fest.« Henry hatte sich wieder beruhigt. »Ich brauche Geld, um meine Armee auszurüsten, meine Richter zu bezahlen, die Aufstände auf dem Festland niederzuschlagen und meiner Frau ihre sündhaft teuren Gewohnheiten zu ermöglichen. Frieden ist Geld, Aaron, und Geld ist Frieden.« Er packte den alten Mann vorn an seinem Umhang und zog ihn nah an sich heran.

»Wer ermordet diese Kinder?«

»Wir nicht, Mylord. Mylord, wir wissen es nicht.«

Einen kurzen eindringlichen Moment lang spähten fürchterliche blaue Augen mit kurzen, fast unsichtbaren Wimpern in Aarons Seele.

»Nein, wir wissen es nicht«, sagte der König. Der alte Mann wurde losgelassen, kurz gehalten, als er taumelte, und sein Umhang mit raschen Händen wieder Ordnung gebracht, doch das Gesicht des Königs blieb dicht vor ihm, und seine Stimme war ein zartes Flüstern. »Aber ich denke, wir sollten das besser herausfinden, was? Und zwar schnell.«

Als der Hofmeister Aaron aus Lincoln zur Treppe geleitete, rief Henry ihm nach: »Ihr Juden würdet mir fehlen, Aaron.«

Der Alte wandte sich um. Der König lächelte oder zumindest bleckte er seine lückenhaften, starken, kleinen Zähne zu einer Art Lächeln. »Aber bei weitem nicht so sehr, wie ich euch Juden fehlen würde«, sagte er.



Einige Wochen später in Süditalien …

… blinzelte Gordinus der Afrikaner seinen Besucher freundlich an und drohte ihm mit dem Finger. Er kannte den Namen; er war mit großem Pomp verkündet worden: »Aus Palermo, als Vertreter unseres allergütigsten Königs, Seine Lordschaft, Mordecai fil Berachyah.« Er kannte sogar das Gesicht, aber Gordinus konnte sich Menschen nur anhand ihrer Krankheiten merken.

»Hämorrhoiden«, sagte er schließlich triumphierend. »Ihr hattet Hämorrhoiden. Wie steht es damit?«

Mordecai fil Berachyah ließ sich nicht leicht aus der Fassung bringen. Als Sekretär und Vertrauter des Königs von Sizilien und als Hüter der königlichen Geheimnisse konnte er sich das nicht leisten. Er war beleidigt, selbstverständlich – die Hämorrhoiden eines Mannes sollten nicht in aller Öffentlichkeit erörtert werden –, aber sein großes Gesicht blieb teilnahmslos, seine Stimme kühl. »Ich bin hier, um mich zu erkundigen, ob Simon aus Neapel gut abgereist ist.«

»Abgereist?«, fragte Gordinus interessiert.

Der Umgang mit Genies war stets schwierig, dachte Mordecai, und wenn die Genialität, wie in diesem Fall, allmählich im Schwinden begriffen war, wurde es nahezu unmöglich. Er beschloss, das Gewicht des königlichen »wir« einzusetzen. »Nach England abgereist, Gordinus. Simon Menahem aus Neapel. Wir schicken Simon Menahem nach England, damit er sich um ein Problem kümmert, das die dortigen Juden haben.«

Gordinus’ Sekretär kam ihnen zu Hilfe, indem er zu einer Wand voller kleiner Holzfächer trat, aus denen Pergamentrollen wie Röhrenenden ragten. Er sprach aufmunternd wie zu einem Kind. »Ihr werdet Euch erinnern, Herr, wir hatten doch ein königliches Schreiben … ach du Schreck, er hat’s woanders hingetan.«

Das würde dauern. Lord Mordecai trottete schwerfällig über den Mosaikboden, der angelnde Amorfiguren darstellte; römisch, mindestens tausend Jahre alt. Das hier war einmal eine von Hadrians Villen gewesen.

Diese Mediziner ließen es sich gut gehen. Mordecai überging die Tatsache, dass sein eigener Palazzo in Palermo mit Böden aus Marmor und Gold ausgestattet war.

Er setzte sich auf die Steinbank, die entlang einer offenen Balustrade verlief, und blickte hinunter auf die Stadt und das türkisfarbene Tyrrhenische Meer dahinter.

Gordinus, immerhin noch der allzeit aufmerksame Arzt, sagte: »Seine Lordschaft wird ein Kissen benötigen, Gaius.«

Ein Kissen wurde gebracht. Ebenso Datteln. Und Wein, woraufhin Gaius unsicher fragte: »Ist das genehm, Mylord?« Die Entourage des Königs setzte sich ebenso wie das Königreich Sizilien und Süditalien aus so vielen Glaubensrichtungen und Rassen zusammen – Arabern, Lombarden, Griechen, Normannen und, wie in Mordecais Fall, Juden –, dass eine dargebotene Erfrischung leicht ein Verstoß gegen irgendeine religiöse Essensvorschrift sein konnte.

Seine Lordschaft nickte; er fühlte sich besser. Das Kissen war eine Wohltat für sein Hinterteil, die kühle Brise vom Meer erquickte ihn, der Wein war gut. Er sollte sich nicht durch die Unverblümtheit eines alten Mannes beleidigt fühlen. Ja, wenn die offizielle Angelegenheit geklärt war, würde er sogar selbst das Gespräch auf seine Hämorrhoiden bringen. Letztes Mal hatte Gordinus sie auch kuriert. Immerhin war er hier in der Stadt der Heiler, und falls irgendwer praktisch als Oberhaupt dieser hervorragenden Medizinschule gelten konnte, dann war das Gordinus der Afrikaner.

Er beobachtete, wie der alte Mann vergaß, dass er einen Gast hatte, und sich wieder dem Manuskript widmete, das er zuvor studiert hatte. Er sah die schlaffe braune Haut an dem Arm, den der Arzt ausstreckte, um die Feder in seiner Hand in Tinte zu tauchen und eine Änderung vorzunehmen. Was war er? Tunesier? Maure?

Bei seiner Ankunft in der Villa hatte Mordecai den Majordomus gefragt, ob er vor dem Eintreten die Schuhe ausziehen solle: »Ich habe vergessen, welchen Glauben Euer Herr hat.«

»Er auch, Mylord.«

Nur in Salerno, so dachte Mordecai jetzt, vergessen Männer über der hingebungsvollen Pflege der Kranken ihre Manieren und ihren Gott.

Er wusste nicht recht, ob er das gutheißen konnte. Immerhin wurden ewige Gesetze gebrochen, tote Körper seziert, Frauen von lebensbedrohenden Föten befreit, dem Weibervolk wurde erlaubt zu praktizieren und der Leib vom Chirurgenmesser durchdrungen.

Sie kamen zu Hunderten, Menschen, die vom Ruf Salernos gehört hatten und, entweder selbst krank oder mit kranken Angehörigen, Wüsten, Steppen, Sümpfe und Gebirge überwanden, weil sie hier auf Heilung hofften.

Mordecai blickte hinunter auf das Labyrinth aus Dächern, Türmen und Kuppeln, während er seinen Wein trank, und wunderte sich nicht zum ersten Mal darüber, dass ausgerechnet diese Stadt, nicht Rom, nicht Paris, nicht Konstantinopel, nicht Jerusalem, eine Medizinschule hervorgebracht hatte, die sie zum Arzt der Welt machte.

Genau in diesem Moment prallte der Klang der Klosterglocken, die die None schlugen, mit dem Gebetsruf der Muezzins von den Minaretten zusammen und wetteiferte mit der Stimme der Synagogenkantoren, und all das trieb den Berg hinauf und stürmte auf die Ohren des Mannes auf dem Balkon ein – ein wirrer Schwall aus Dur und Moll.

Aber genau das war es, natürlich. Die Mischung. Die harten, gierigen normannischen Abenteurer, die aus Sizilien und Süditalien ein Königreich gemacht hatten, waren Pragmatiker gewesen, aber Pragmatiker mit Weitblick. Wenn ein Mann ihren Zwecken dienen konnte, war es ihnen gleichgültig, welchen Gott er anbetete. Wenn sie den Frieden und damit Wohlstand sichern wollten, dann mussten sie die verschiedenen Völker, die sie unterworfen hatten, irgendwie einen. Es würde keine Sizilianer zweiter Klasse geben. Arabisch, Griechisch, Latein und Französisch sollten die offiziellen Sprachen sein. Und jedermann jedes Glaubens konnte etwas werden, solange er nur fähig war.

Und ich kann mich wahrhaftig nicht beklagen, dachte er. Immerhin arbeitete er, ein Jude, zusammen mit griechisch-orthodoxen Christen und papistischen Katholiken für einen normannischen König. Die Galeere, die ihn hergebracht hatte, gehörte zur königlichen sizilianischen Flotte unter Oberbefehl eines arabischen Kapitäns.

In den Straßen da unten streifte die Djellaba das ritterliche Kettenhemd, der Kaftan die Mönchskutte, und ihre Träger bespuckten einander nicht, nein, sie tauschten Grüße und Neuigkeiten aus und, vor allem, Gedanken.

»Hier ist es, Herr«, sagte Gaius.

Gordinus nahm das Schreiben.

»Ach ja, natürlich. Jetzt fällt’s mir wieder ein … ›Simon Menahem aus Neapel soll zu einer besonderen Mission aufbrechen …‹ hmmm, hmmm, ›… sich die Juden von England in einer recht gefährlichen Notlage befinden … Kinder des Landes gequält und getötet werden …‹ Wie furchtbar, ›… und die Juden dieser Taten beschuldigt werden …‹ Wie furchtbar, wie entsetzlich. ›Ihr seid beauftragt, ei ne Person auszuwählen, die sich gut mit Todesursachen auskennt, die sowohl der englischen als auch der jiddischen Sprache mächtig ist, aber in keiner von beiden geschwätzig, und sie zusammen mit dem genannten Simon zu entsenden.‹«

Er sah zu seinem Sekretär auf und lächelte. »Und das habe ich doch, nicht wahr?«

Gaius wich aus. »Es gab damals gewisse Unklarheiten, Herr …« »Aber natürlich habe ich jemanden geschickt, das weiß ich genau. Und nicht bloß jemanden, der sich mit den Verfallsprozessen des Körpers auskennt, sondern noch dazu Latein, Französisch, Griechisch und die verlangten Sprachen spricht. Eine sehr gelehrige Person. Das habe ich auch Simon gesagt, weil der ein bisschen besorgt schien. Es gibt keine bessere Wahl, habe ich gesagt.«

»Ausgezeichnet.« Mordecai erhob sich. »Ausgezeichnet.«

»Ja«, sagte Gordinus mit einem triumphierenden Unterton. »Ich denke, wir haben die Forderungen des Königs haargenau erfüllt, nicht wahr, Gaius?«

»Bis zu einem gewissen Punkt, Herr.«

Mordecai war darin geübt, auf Kleinigkeiten zu achten, und ihm fiel die Zurückhaltung des Dieners auf. Und wieso eigentlich war Simon aus Neapel wegen der Wahl des Mannes, der ihn begleiten sollte, besorgt gewesen?

»Übrigens, wie geht’s dem König?«, erkundigte sich Gordinus. »Hat sich das kleine Problem gelöst?«

Mordecai überging das kleine Problem des Königs und sah Gaius an. »Wen hat er geschickt?«

Gaius schielte zu seinem Herrn hinüber, der wieder anfing zu lesen, und senkte die Stimme: »Die Auswahl der Person in diesem Fall war ungewöhnlich, und ich habe mich gefragt …«

»Genug, Mann, diese Mission ist äußerst heikel. Er hat doch wohl keinen Orientalen ausgesucht, oder? Einen Gelben? Der in England auffallen würde wie eine Zitrone?«

»Nein, habe ich nicht.« Gordinus’ Aufmerksamkeit galt wieder ihnen.

»Ja, wen habt Ihr denn nun mitgeschickt?«

Gordinus sagte es ihm.

Mordecai traute seinen Ohren nicht und fragte erneut: »Ihr habt … wen geschickt?«

Gordinus sagte es ihm noch einmal.

Mordecais Schrei gesellte sich zu den anderen in diesem Jahr der Schreie. »Du dummer, dummer alter Narr.«