Kapitel Elf

Die Burgmauer war ein Schutzwall, von wo aus Bogenschützen einen Angriff auf die Burg zurückschlagen konnten – und während des Krieges zwischen Stephen und Matilda auch zurückgeschlagen hatten. Heute war hier alles still und leer, bis auf einen Wachtposten, der auf dem Wehrgang seine Runde machte, und die in einen Umhang gehüllte Frau mit Hund, die an einer der Schießscharten stand und seinen Gruß unerwidert ließ.

Ein schöner Nachmittag. Der Westwind hatte den Regen weiter nach Osten getrieben; er blies jetzt Schäfchenwolken über einen frisch gewaschenen, blauen Himmel, und weil er die Segeltuchdächer der Marktstände flattern, die Weidenzweige weiter hinten anmutig tanzen ließ und immer wieder glitzernde kleine Wellen auf den Fluss malte, wirkte die hübsche, geschäftige Szene, auf die Adelia hinabblickte, noch hübscher und geschäftiger.

Sie sah nichts davon.

Wie hast du es getan, fragte sie Simons Mörder. Was hast du gesagt, wie hast du es geschafft, ihn ins Wasser zu stoßen? Es war gewiss nicht viel Kraft erforderlich, ihm die Stange zwischen die Schultern zu drücken und ihn unter Wasser zu halten. Du wirst dein ganzes Gewicht daraufgelegt haben, damit er sich nicht befreien konnte.

Eine Minute, zwei, in denen er wie ein Käfer über den Grund scharrte, bis dieses so vielschichtige Leben voller Güte erloschen war. Gott im Himmel, wie muss das für ihn gewesen sein? Sie sah wilde Wolken aus Schwemmsand in dem Flussgras, das ihn umgab und festhielt, beobachtete die Luftblasen des letzten Atemzugs auf ihrem Weg nach oben. Sie empfand die Panik nach und fing an zu keuchen … als atmete sie Wasser ein und nicht die saubere Luft von Cambridge.

Hör auf damit. Das nützt ihm nichts.

Was denn dann?

Zweifellos, seinen Mörder, der auch die Kinder getötet hatte, vor Gericht zu bringen, aber wie viel schwieriger würde das ohne ihn werden. »Genau das müssen wir vielleicht, ehe das alles hier vorbei ist, Doktor. So denken, wie er denkt

Und sie hatte geantwortet: »Dann tut Ihr das. Ihr seid doch der Scharfsinnige unter uns

Jetzt musste sie versuchen, sich in jemanden hineinzuversetzen, für den der Tod ein Mittel war, und zwar ein lustvolles, wenn es um Kinder ging.

Doch im Augenblick konnte sie nur die Schwächung sehen, die sie empfand. Sie war kleiner geworden. Sie wusste jetzt, dass der Zorn, den sie über die Folter der Kinder verspürt hatte, der eines Deus ex Machina gewesen war, der herabstieg, um die Ordnung wiederherzustellen. Sie und Simon waren losgelöst gewesen, außerhalb der Handlung, ihr Finale, nicht ihr Fortgang. Für sie, so gestand sie sich ein, war es eine Form von Überlegenheit gewesen – in dem Stück war nicht vorgesehen, dass seine Götter zu Protagonisten werden –, die ihr durch Simons Ermordung nun abhanden gekommen war, so dass sie sich unversehens zwischen den Akteuren in Cambridge wiederfand, genauso unwissend und hilflos wie irgendeine dieser winzigen, vom Wind zerzausten und vom Schicksal gebeutelten Figuren da unten.

Sie war nun in eine Demokratie der Trauer mit Agnes gestellt, die unten vor ihrer kleinen Hütte saß, mit Hugh, der um seine Nichte geweint hatte, mit Gyltha und jedem Menschen, der eine geliebte Seele verloren und zu verlieren hatte.

Erst als sie die vertrauten Schritte über den Wehrgang kommen hörte, merkte sie, dass sie darauf gewartet hatte. Die einzige Planke, an die sie sich in diesem Strudel klammern konnte, war das Wissen, dass der Steuereintreiber ebenso unschuldig an den Morden war wie sie selbst. Sie hätte sich gerne, furchtbar gerne bei ihm für ihren Verdacht demütig entschuldigt – wenn er nicht ganz beachtlich zu ihrer Verwirrung beigetragen hätte.

Außer bei den ihr vertrauten Menschen gab sich Adelia alle Mühe, möglichst unerschütterlich zu wirken, und sie hatte sich das freundliche, aber distanzierte Verhalten eines Menschen angeeignet, der sich gänzlich dem Gott der Medizin verschrieben hatte. Diese Fassade hatte ihr geholfen, die Unverschämtheiten, die plumpen Vertraulichkeiten und mitunter gar eindeutig körperlichen Anmaßungen seitens ihrer Mitstudenten und ersten Patienten abzuwehren. Ja, sie sah sich selbst als der Menschheit enthoben, eine ruhige und versteckte Zuflucht, auf die man in der Stunde der Not zurückgriff, die selbst jedoch nicht angreifbar war.

Aber vor dem Besitzer der nahenden Schritte hatte sie Trauer und Panik gezeigt, hatte um Hilfe gerufen, gefleht, sich auf ihn gestützt und war selbst in ihrem Unglück dankbar dafür gewesen, dass er bei ihr war.

Demzufolge war das Gesicht, das Adelia nun Sir Rowley Picot zuwandte, ausdruckslos. »Wie lautet das Urteil?«

Sie war nicht als Zeugin geladen worden, um bei der hastig angesetzten Leichenbeschau von Simons Körper eine Aussage zu machen. Sir Roland war der Ansicht gewesen, dass es nicht in ihrem Interesse oder dem der Wahrheit lag, wenn sie sich als Expertin des Todes offenbarte. »Erstens seid Ihr eine Frau, zweitens seid Ihr nicht von hier. Selbst wenn sie Euch glauben, Ihr würdet traurige Berühmtheit erlangen. Ich werde ihnen den Bluterguss auf dem Rücken zeigen und erklären, dass Master Simon Nachforschungen zu den Finanzen des Kindermörders angestellt hat und deshalb sein Opfer wurde, obgleich ich nicht glaube, dass der Leichenbeschauer oder seine Beisitzer – das sind alles Bauerntölpel – dem verworrenen Faden wirklich folgen können und mir glauben.«

Jetzt sah sie ihm an, dass seine Vermutung sich bewahrheitet hatte: »›Tod durch Ertrinken, ein Unfall‹«, antwortete er. »Die haben mich für verrückt gehalten.«

Er legte die Hände auf die Schießscharte und stieß einen wütenden Atemzug über die Stadt unter ihnen aus. »Das Einzige, was ich vielleicht erreicht habe, ist, ein klein wenig an ihrer Überzeugung gerüttelt zu haben, dass die Juden den Kleinen St. Peter und die anderen Kinder ermordet haben und nicht einer von ihnen.«

Einen kurzen Augenblick lang erhob sich etwas aus dem wilden Chaos, das in Adelias Kopf tobte, zeigte grässliche Zähne und versank dann wieder, um von Trauer, Enttäuschung und Angst überdeckt zu werden.

»Und die Bestattung?«, fragte sie.

»Ah«, sagte er. »Kommt mit.«

Ergeben hievte sich der Aufpasser sogleich auf seinen spindeldürren Beinen hoch und trottete hinter ihm her. Adelia folgte langsamer.

Im großen Hof wurde gebaut. Das Geplapper zahlloser Schreiber wurde von einem unaufhörlichen, ohrenbetäubenden Gehämmer auf Holz übertönt. In einer Ecke wurde ein Gerüst für die drei Galgen errichtet, die während der Assise benötigt werden würden, wenn die wandernden Richter die Kerker von Cambridgeshire leerten und über das Schicksal der Häftlinge zu Gericht saßen. Ein langer Tisch und eine Bank wurden nahe des Burgtors auf einem Podest aufgestellt, das fast so hoch war, wie die Schlingen hängen würden, um die Richter über das Volk zu erheben.

Der Lärm ließ ein wenig nach, als Sir Rowley mit Adelia und ihrem Hund um eine Ecke bog. Hier hatte es der sechzehnjährige Friede unter dem angevinischen König den Sheriffs von Cambridgeshire ermöglicht, einen Anbau vorzunehmen, eine Erweiterung ihrer Räumlichkeiten, von wo aus Stufen in einen tiefer gelegenen ummauerten Garten führten, der von außen durch einen Torbogen begehbar war.

Als sie die Treppe hinunterstiegen, wurde es noch ruhiger, und Adelia konnte die ersten Bienen des Frühlings hören, die emsig von einer Blüte zur nächsten taumelten.

Ein sehr englischer Garten, der nicht unbedingt das Auge erfreuen sollte, sondern hauptsächlich medizinischen Zwecken diente, und um wohlriechende Kräuter anzubauen, die dann in den Wohnräumen auf dem Boden verstreut werden konnten. Um diese Jahreszeit fehlte es an Farben, bis auf die Schlüsselblumen zwischen den Steinen des Pfades und einem Hauch von Blau unten entlang der Mauer, wo sich Veilchen duckten. Der Duft war frisch und erdig.

»Wird es hier gehen?«, fragte Sir Rowley beiläufig.

Adelia starrte ihn stumm an.

Er sagte mit übertriebener Langmut: »Das ist der Garten des Sheriffs und seiner Lady. Sie sind einverstanden, dass Simon hier beerdigt wird.«

Er nahm ihren Arm und führte sie einen Pfad hinunter, wo die Äste eines Wildkirschenbaums zarte weiße Blüten über hohem Gras mit Gänseblümchen in die Luft reckten. »Hier, dachten wir.«

Adelia schloss die Augen und atmete ein. Nach einer Weile sagte sie: »Ich muss ihnen das bezahlen.«

»Ganz sicher nicht.« Der Steuereintreiber war beleidigt. »Wenn ich sage, das ist der Garten des Sheriffs, dann müsste ich eigentlich sagen, der Garten des Königs, weil dem König letztlich jedes Fleckchen englischer Boden gehört, bis auf die kirchlichen Besitzungen. Und da Henry Plantagenet den Juden wohlgesinnt ist und da ich Henry Plantagenets Mann bin, musste Sheriff Baldwin lediglich darauf hingewiesen werden, dass er, indem er den Juden eine Bleibe bietet, zugleich auch dem König eine Bleibe bietet, was er im wahrsten Sinne des Wortes auch bald tun wird. Sogar sehr bald, denn Henry wird diese Burg in absehbarer Zeit besuchen, ein weiterer Faktor, auf den ich Seine Lordschaft aufmerksam gemacht habe.«

Er stockte und runzelte die Stirn. »Ich werde den König auf die Notwendigkeit eines jüdischen Friedhofs in jeder Stadt hinweisen, der jetzige Zustand ist ein Skandal. Ich glaube nicht, dass er sich dessen bewusst ist.«

Dann ging es also nicht um Geld. Aber Adelia wusste, wem sie etwas schuldete. Es war Zeit, das einzugestehen, und zwar in angemessener Weise.

Sie beugte das Knie und verneigte sich tief vor Rowley Picot. »Sir, ich stehe in Eurer Schuld, nicht nur für diese Freundlichkeit, sondern auch für den schlimmen Verdacht, den ich gegen Euch gehegt habe. Es tut mir aufrichtig leid.«

Er sah zu ihr hinab. »Was für einen Verdacht?«

Sie verzog verlegen das Gesicht. »Ich dachte, Ihr könntet der Mörder sein.«

»Ich?«

»Ihr wart auf einem Kreuzzug«, erklärte sie, »genau wie er, wie ich glaube. Ihr wart zu den entsprechenden Zeiten in Cambridge. Ihr wart bei den Leuten, die in der Nacht, als die Leichen der Kinder weggebracht wurden, in der Nähe des Wandlebury Ring waren …« Großer Gott, je mehr sie ihre Theorie erläuterte, umso vernünftiger erschien sie ihr. Wieso entschuldigte sie sich eigentlich dafür? »Was hätte ich also sonst denken sollen?«, fragte sie ihn.

Er war starr wie eine Statue geworden, starrte sie mit seinen blauen Augen an, zeigte mit einem Finger fassungslos zuerst auf sie und dann auf sich. »Ich?«

Sie wurde ungehalten. »Ich sehe ja ein, dass es eine niederträchtige Unterstellung war.«

»Und ob«, sagte er mit solcher Inbrunst, dass er ein Rotkehlchen aufscheuchte. »Madam, Ihr solltet wissen, dass ich Kinder mag. Ich vermute, dass ich bereits einige gezeugt habe, obwohl ich mir da nicht ganz sicher bin. Gottverdammt, ich bin auf der Jagd nach diesem Schwein, das hab ich Euch doch gesagt.«

»Das hätte der Mörder genauso gut sagen können. Ihr habt nicht erklärt, wieso.«

Er überlegte einen Moment. »Nein, stimmt. Im Grunde geht das ja auch nur mich etwas an … aber unter den gegebenen Umständen …« Er starrte zu ihr hinunter. »Das muss unter uns bleiben, Madam.«

»Das wird es«, sagte sie.

Ein Stück weiter im Garten war eine grasüberwachsene Bank, wo junge Hopfenblätter am Mauerwerk einen Wand teppich gebildet hatten. Er zeigte darauf und setzte sich dann neben sie, legte die gefalteten Hände auf ein Knie.

Er erzählte von sich. »Ihr müsst wissen, dass das Glück es gut mit mir meint.« Sein Vater war bei Lord von Aston in Hertfordshire Sattler, was ihm den Besuch einer Schule ermöglicht hatte; er fiel anderen durch seine Körpergröße und Kraft auf; er besaß einen wachen Verstand … »Ihr solltet auch wissen, dass ich über eine außergewöhnliche mathematische Begabung verfüge und es mir leichtfällt, fremde Sprachen zu erlernen …«

Schüchtern ist er nun wahrhaftig nicht, dachte Adelia amüsiert.

Der Herr seines Vaters hatte frühzeitig die Talente des jungen Rowley Picot erkannt und ihn auf die pythagoreische Schule hier in Cambridge geschickt, wo er griechische und arabische Wissenschaften studierte. Seine dortigen Lehrer empfahlen ihn wiederum Geoffrey de Luci, dem Kanzler des Königs, wo er in Dienst genommen wurde.

»Als Steuereintreiber?«, fragte Adelia arglos.

»Zunächst als Schreiber in der Hofkanzlei«, sagte Sir Rowley. »Natürlich wurde dann irgendwann der König auf mich aufmerksam.«

»Natürlich.«

»Soll ich weitererzählen?«, wollte er wissen. »Oder sollen wir übers Wetter reden?«

Ernüchtert sagte sie: »Ich bitte Euch, fahrt fort, Mylord. Es interessiert mich wirklich.« Warum necke ich ihn so, fragte sie sich, und das ausgerechnet heute? Weil er diesen Tag mit allem, was er tut oder sagt, für mich erträglich macht.

O gütiger Gott, dachte sie erschrocken, ich fühle mich zu ihm hingezogen.

Die Erkenntnis kam überfallartig, als hätte sie sich in irgendeinem dunklen, geheimen Winkel ihres Innersten angesammelt und wäre plötzlich zu groß geworden, um weiter unbemerkt zu bleiben. Zu ihm hingezogen? Bei dem Gedanken bekam sie weiche Knie, ihr Verstand registrierte eine Art Trunkenheit sowie Unglauben, weil es so unwahrscheinlich war, und Widerspruch, weil ihr nichts ungelegener hätte kommen können.

Der Mann ist mir zu leicht, ganz sicher nicht, was sein Gewicht angeht, aber vom Wesen her. Irgendwas hat mich befallen, eine Art Wahnsinn, ausgelöst durch einen Garten im Frühling und seine unerwartete sanfte Freundlichkeit. Oder weil ich im Augenblick so furchtbar traurig bin. Das geht vorbei; es muss vorbeigehen.

Er sprach gerade angeregt über Henry II. »… ich bin des Königs Mann für alle Fälle. Heute sein Steuereintreiber, morgen – was auch immer ich für ihn sein soll.«

Er wandte sich ihr zu. »Wer war Simon aus Neapel? Was hat er gemacht?«

»Er war …« Adelia versuchte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. »Simon? Nun ja … er hat im Geheimen für den König von Sizilien gearbeitet, unter anderem.« Sie presste die Hände zusammen – er durfte nicht sehen, dass sie zitterten; nein, das durfte er nicht sehen. Sie konzentrierte sich: »Er hat mir einmal gesagt, er sei so etwas wie ein Arzt für das Nichtstoffliche, jemand, der zerbrochene Situationen wieder richtet.«

»Ein Mädchen für alles. >Keine Sorge, Simon aus Neapel bringt das schon wieder in Ordnung.<«

»Ja. Ich denke, so kann man es beschreiben.«

Der Mann neben ihr nickte, und weil sie jetzt heftig daran interessiert war, alles über ihn zu erfahren, dämmerte ihr, dass auch er so eine Funktion hatte und dass der König von England wahrscheinlich in seinem angevinischen Französisch sagte: »Ne vous en faites pas, Picot va tout arranger.«

»Es ist doch eigenartig«, sagte dieser Mann für alle Fälle nun, »dass die Geschichte mit einem toten Kind ihren Anfang nimmt.«

Ein königliches Kind, Erbe des englischen Thrones und des Reiches, das sein Vater ihm erbaut hatte. William Plantagenet, der 1153 geborene Sohn von König Henry II und Königin Eleonor von Aquitanien. Gestorben 1156.

Rowley erklärte: »Henry hält nichts von Kreuzzügen. Verschwinde für ein Weilchen, sagt er, und schon klaut dir irgend so ein Bastard deinen Thron, während du unterwegs bist.« Er schmunzelte. »Eleonor ist da anders. Sie hat ihren ersten Gemahl auf einem Kreuzzug begleitet.«

Und hatte eine Legende geschaffen, die noch immer in der gesamten Christenheit erzählt wurde – wenn auch nicht in den Kirchen. Adelia sah vor ihrem geistigen Auge Bilder einer barbusigen Amazone, die sich unverfroren und lasterhaft ihren Weg durch die Wüste bahnte und den armen, frommen Louis, König von Frankreich, hinter sich herzog.

»Der kleine William war ein vorlautes Kind und hatte schon in seinem kindlichen Alter geschworen, dass er auf einen Kreuzzug gehen würde, wenn er groß war. Sie ließen sogar ein kleines Schwert für ihn machen, Eleonor und Henry, und nach dem Tod des Jungen wollte Eleonor es in das Heilige Land bringen lassen.«

Ja, dachte Adelia gerührt. Dergleichen hatte sie oft in Salerno gesehen: ein Vater, der das Schwert seines Sohnes trug, ein Sohn das seines Vaters, auf einem Stellvertreterkreuzzug unterwegs nach Jerusalem, um zu büßen oder ein Versprechen einzulösen, manchmal das eigene, manchmal das des Verstorbenen, das unerfüllt geblieben war.

Noch vor einem Tag wäre sie vielleicht nicht so bewegt gewesen, aber es war, als hätte Simons Tod und diese neue, unverhoffte Leidenschaft ihr Herz für all die schmerzliche Liebe in der Welt geöffnet.

Wie jammervoll sie doch war.

Rowley sagte: »Lange Zeit weigerte sich der König, irgendwen dafür zu entsenden. Er war der Meinung, dass Gott einem dreijährigen Kind nicht das Paradies verweigern würde, nur weil es ein Versprechen nicht eingelöst hatte. Doch die Königin gab keine Ruhe, und so bestimmte er – wann mag das gewesen sein, vor mittlerweile fast sieben Jahren, würde ich schätzen – Guiscard de Saumur, einen seiner angevinischen Onkel, das Schwert nach Jerusalem zu bringen.«

Wieder schmunzelte Rowley in sich hinein. »Für alles, was er tut, hat Henry immer mehr als nur einen Grund. Es war eine bewundernswerte Wahl, ausgerechnet Lord Guiscard mit dem Schwert zu entsenden. Stark, wagemutig und mit dem Osten vertraut, aber auch hitzköpfig wie alle Angevinen. Ein Streit mit einem seiner Vasallen bedrohte den Frieden in Anjou, und der König hoffte, dass sich die Dinge durch Guiscards längere Abwesenheit wieder beruhigen würden. Er sollte von einer berittenen Wache begleitet werden. Außerdem hielt Henry es für ratsam, einen seiner eigenen Männer mitzuschicken, einen durchtriebenen Burschen mit diplomatischen Fähigkeiten oder, wie er es ausdrückte: >Jemanden, der stark genug ist, den Kerl vor Ärger zu bewahren.<«

»Euch?«, fragte Adelia.

»Mich«, sagte Rowley selbstgefällig. »Henry schlug mich damals zum Ritter, weil ich der Schwertträger sein sollte. Eleonor selbst schnallte es mir auf den Rücken, und von dem Tag an hatte ich es stets bei mir, bis ich es zurück zum Grab des kleinen William brachte. Nachts nahm ich es ab und schlief neben ihm. Und so machten wir uns auf nach Jerusalem.«

Der Name der Stadt legte sich über den Garten und die beiden Menschen darin, erfüllte die Luft mit der Frömmigkeit und dem Schmerz der drei verfeindeten Religionen, die wie Planeten ihre eigenen lieblichen Akkorde summten, während sie unaufhaltsam aufeinander zurasten.

»Jerusalem«, wiederholte Rowley, und dann sprach er die Worte der Königin von Saba: »Und siehe, nicht die Hälfte hat man mir gesagt.«

Wie verzaubert war er über die von seinem Erlöser geheiligten Steine geschritten, war auf Knien über die Via Dolorosa gerutscht, hatte sich in der Grabeskirche weinend niedergeworfen. Damals war es ihm gut erschienen, dass dieser Nabel aller Tugend durch die Männer des ersten Kreuzzuges von heidnischer Tyrannei gereinigt worden war, so dass die christlichen Pilger ihren Heiland wieder so anbeten konnten, wie er es nun tat. Er war übermannt gewesen von Bewunderung für die Ritter.

»Bis heute weiß ich nicht, wie sie das geschafft haben.« Er schüttelte den Kopf, noch immer verwundert. »Fliegen, Skorpione, Durst, die Hitze – dein Pferd krepiert unter dir, du bekommst Brandblasen, wenn du deine verdammte Rüstung anfasst. Und sie waren in der Unterzahl, von Krankheiten dahingerafft. Nein, Gottvater war mit diesen frühen Kreuzfahrern, sonst hätten sie die Heimat Seines Sohnes niemals zurückerobern können. Zumindest dachte ich das damals.«

Es gab auch noch andere, irdischere Freuden. Die Abkömmlinge der ersten Kreuzfahrer hatten sich in dem Land, das sie Outremer nannten, eingerichtet. Wahrhaftig, es war schwierig gewesen, sie von den Arabern zu unterscheiden, deren Lebensstil sie jetzt nachahmten.

Der Steuereintreiber beschrieb ihre Marmorpaläste, die Höfe mit Brunnen und Feigenbäumen, die Bäder – »Ich schwöre Euch, herrliche, in den Boden eingelassene, maurische Bä der« –, und der schwere, würzige Duft der Verführung durchdrang den kleinen Garten.

Von all den Rittern der Gruppe war besonders Rowley von der entrückten, exotischen Heiligkeit des Ortes sowie seiner Vielschichtigkeit und Komplexität angetan gewesen. »Genau das erwartet man nicht – dass alles so miteinander verstrickt ist. Man denkt, der Mann da ist ein Feind, weil er Allah anbetet. Und der Mann, der da vor einem Kreuz kniet, ist Christ, also muss er auf deiner Seite sein – und er ist tatsächlich ein Christ, aber er ist nicht unbedingt auf deiner Seite, er könnte sich ebenso gut mit einem moslemischen Fürsten verbündet haben.«

Das wusste Adelia bereits. Lange bevor Papst Urban im Jahre 1096 dazu aufrief, die Heiligen Stätten von mohammedanischer Herrschaft zu befreien, hatten italienische Kaufleute unbekümmert mit ihren moslemischen Pendants in Syrien und Alexandrien Handel betrieben. Sie hatten den ersten Kreuzzug verflucht, und sie hatten erneut geflucht, als die Männer des zweiten Kreuzzuges 1147 ins Heilige Land zogen und mit ebenso wenig Einblick in das menschliche Mosaik dort wie ihre Vorgänger das einträgliche Miteinander zerstörten, das über Generationen hinweg zwischen den unterschiedlichen Religionen bestanden hatte.

Während Rowley die bunte Vielfalt beschrieb, die ihn begeistert hatte, stellte Adelia verstört fest, wie auch ihre letzten Schutzwälle zu Staub zerfielen. Sie, die Menschen gerne in Kategorien einteilte und rasch Urteile fällte, stellte an diesem Mann eine feine Wahrnehmungsfähigkeit und Scharfsicht fest, wie das bei Kreuzfahrern nur selten der Fall war. Nicht, nicht. Diese Schwärmerei muss aufhören, ich darf dich nicht anhimmeln. Ich will mich nicht verlieben.

Ahnungslos redete Rowley weiter. »Zuerst war ich erstaunt, dass Juden und Moslems ebenso inbrünstig an dem Heiligen Tempel hingen wie ich, dass er ihnen genauso heilig war. «Auch wenn diese Erkenntnis in ihm nicht den leisesten Zweifel an der Gerechtigkeit der Sache der Kreuzfahrer weckte – »das kam später« –, so entwickelte er doch eine Abneigung gegen die lärmende, herablassende Intoleranz der meisten anderen Neuankömmlinge. Er zog die Gesellschaft und die Lebensart von Kreuzrittern vor, die selbst Nachfahren von Kreuzrittern waren und in diesem Schmelztiegel einen Platz gefunden hatten, an dem sie mit ihrer Gastfreundschaft den adeligen Guiscard und seine Entourage teilhaben ließen.

An Heimkehr war nicht zu denken, noch nicht. Sie lernten Arabisch, sie badeten in mild duftendem Wasser, jagten wie ihre Gastgeber mit wilden kleinen Wüstenfalken, trugen bequeme weite Gewänder und genossen die Gesellschaft williger Frauen, Sherbets, weiche Kissen, schwarze Diener, scharfe Speisen. Als sie in den Krieg zogen, bedeckten sie ihre Rüstung zum Schutz vor der Sonne mit einem Burnus, so dass sie von ihren sarazenischen Feinden nur noch durch das Kreuz auf dem Schild zu unterscheiden waren.

Denn sie zogen in den Krieg, Guiscard und sein kleines Häuflein Ritter, so vollständig hatten sie sich von Pilgern in Kreuzfahrer verwandelt. König Amalric hatte einen dringenden Aufruf an alle Franken erlassen: Sie sollten verhindern, dass der arabische Feldherr Nur ad-Din, der in Ägypten einmarschiert war, die moslemische Welt gegen die Christen vereinte.

»Ein großer Krieger, dieser Nur ad-Din, und ein großer Hundsfott. Indem wir in das Heer des Königs von Jerusalem eintraten, wurden wir auch Kämpfer im himmlischen Heer, so sahen wir das damals, müsst Ihr wissen.«

Sie zogen gen Süden.

Bis jetzt, so bemerkte Adelia, hatte der Mann neben ihr anschaulich erzählt, hatte weiße und goldene Kuppeln für sie entstehen lassen, große Häuser für die Kranken, Straßen voller Menschengewimmel, die unendliche Weite der Wüste. Doch die Beschreibung seines Kreuzzuges fiel knapp aus. »Heiliger Wahnsinn«, mehr sagte er nicht, fügte dann jedoch hinzu: »Dennoch, auf beiden Seiten gab es Hochherzigkeit. Als Amalric krank wurde, ordnete Nur ad-Din eine Kampfpause an, bis es seinem Widersacher wieder besser ging.«

Doch dem Christenheer folgte der Abschaum Europas. Der Gnadenerlass des Papstes, der für Sünder und Verbrecher galt, solange sie nur das Kreuz nahmen, hatte Männer ins Outremer geschwemmt, die wahllos töteten – in der sicheren Gewissheit, dass Jesu Arme sie erwarteten, ganz gleich, was sie taten.

»Vieh«, sagte Rowley über sie, »das noch nach dem Stall stank, aus dem es kam. Sie waren der Sklaverei entkommen, und jetzt wollten sie Land und Reichtum.«

Sie schlachteten Griechen, Armenier und Kopten eines älteren Christentums ab, weil sie sie für Heiden hielten. Juden oder Araber, die sich mit griechischer und römischer Philosophie auskannten, die sich mit Mathematik, Medizin und Astronomie befassten, den Geschenken der semitischen Völker an den Westen, fielen durch das Schwert von Männern, die weder lesen noch schreiben konnten und auch keinen Grund sahen, es zu erlernen.

»Amalric versuchte, sie in Schach zu halten«, sagte Rowley, »aber sie waren allgegenwärtig, wie die Geier. Sie schlitzten den Gefangenen die Bäuche auf, weil sie glaubten, dass Moslems ihre Juwelen verschluckten, um sie zu verstecken. Frauen, Kinder, es war ihnen völlig egal. Manche von ihnen traten gar nicht dem Heer bei, sie zogen auf der Suche nach Beute über die Handelsstraßen. Sie brandschatzten und blendeten, und wenn sie erwischt wurden, sagten sie, sie täten es für ihre unsterblichen Seelen. Wahrscheinlich tun sie’s immer noch.«

Er schwieg einen Augenblick. »Unser Mörder war einer von ihnen«, sagte er.

Adelia wandte rasch den Kopf und sah zu ihm hoch. »Ihr kennt ihn? Er war dort?«

»Ich habe ihn nie gesehen. Aber er war dort, ja.«

Das Rotkehlchen war zurückgekommen. Es landete auf einem Lavendelbusch und betrachtete kurz die beiden schweigenden Menschen in seinem Territorium, ehe es wieder losflog, um eine Heckenbraunelle aus dem Garten zu jagen.

Rowley sagte: »Wisst Ihr, was unsere großartigen Kreuzzüge bewirken?«

Adelia schüttelte den Kopf. Ernüchterung gehörte nicht in sein Gesicht, aber jetzt war sie da und ließ ihn älter aussehen, und Adelia dachte, dass diese Bitternis vielleicht schon die ganze Zeit unter seiner Fröhlichkeit gelegen hatte wie ein steinernes Fundament.

»Ich will Euch sagen, was sie bewirken«, sagte er. »Sie wecken einen solchen Hass bei den Arabern, die sich früher gegenseitig hassten, dass sie die gewaltigste Kraft gegen die Christenheit vereinen, die die Welt je gesehen hat. Sie wird Islam genannt.«

Er wandte sich von ihr ab und ging ins Haus. Sie sah ihm nach. Er wirkte nicht mehr dick – wie hatte sie das je denken können? Wuchtig.

Sie hörte ihn rufen, dass man ihm Ale bringen solle.

Als er zurückkam, hielt er in jeder Hand einen Krug. Er reichte ihr einen. »Beichten macht durstig«, sagte er.

Tat er das? Sie nahm den Krug und nippte daran, unfähig, den Blick von ihm abzuwenden, und sie wusste mit beängstigender Klarheit, dass sie ihm jede, aber auch jede Sünde verzeihen würde, die er ihr beichtete.

Er blieb stehen und blickte zu ihr hinab. »Vier Jahre lang trug ich das kleine Schwert von William Plantagenet auf dem Rücken«, sagte er. »Unter dem Kettenhemd, damit es im Kampf nicht beschädigt werden konnte. Ich nahm es mit in die Schlacht und wieder zurück. Es hat sich in meine Haut eingegraben, so tief, dass ich jetzt ein Kreuzzeichen trage, wie der Esel, der Jesus bei seinem Einzug nach Jerusalem trug. Die einzige Narbe, auf die ich stolz bin.« Er blinzelte. »Wollt Ihr sie sehen?«

Sie lächelte ihn an. »Vielleicht nicht jetzt.«

Du bist eine Hure, schalt sie sich, die sich von der Erzählung eines Soldaten den Kopf verdrehen lässt. Outremer, Tapferkeit, Kreuzzug, eine trügerische Romanze. Reiß dich zusammen, Frau.

»Dann ein anderes Mal«, sagte er. Er trank gierig sein Ale und setzte sich. »Wo war ich stehen geblieben? Ach ja. Wir waren auf dem Weg nach Alexandria. Wir mussten Nur ad-Din daran hindern, in den Häfen entlang der ägyptischen Küste seine Schiffe zu bauen. Das heißt nicht, dass die Sarazenen den Krieg bereits aufs Meer getragen haben – ein arabisches Sprichwort besagt, dass es besser ist, die Blähungen von Kamelen zu hören als die Gebete von Fischen –, aber eines Tages werden sie es tun. Also erkämpften wir uns unseren Weg durch den Sinai.« Sand, Hitze, der Wind, den die Moslems Khamsin nennen und der einem die Augen versengt. Überraschungsangriffe von berittenen skythischen Bogenschützen – »die waren wie verdammte Zentauren, beschossen uns immer wieder, Pfeilhagel so dicht wie Heuschreckenschwärme, so dass Männer und Pferde hinterher wie Igel aussahen«. Durst.

Und mittendrin wurde Guiscard krank, sehr krank.

»Er war in seinem Leben so gut wie nie krank gewesen, und auf einmal jagte ihm seine eigene Sterblichkeit Angst ein – er wollte nicht in einem fremden Land sterben. >Bringt mich nach Hause, Rowley<, sagte er. >Versprecht, dass Ihr mich nach Anjou bringt.< Und ich versprach es ihm.«

Für seinen kranken Herrn war Rowley vor dem König von Jerusalem auf die Knie gefallen und hatte ihn um die Erlaubnis gebeten, nach Frankreich zurückzukehren. Die Bitte wurde0 ihm gewährt. »Ehrlich gesagt, ich war froh. Ich war das Töten satt. Ist unser Herr Jesus Christus dafür auf die Erde gekommen?, fragte ich mich immer wieder. Und der Gedanke an den kleinen Jungen, der im Grab auf sein Schwert wartete, suchte mich bereits im Schlaf heim. Aber dennoch …«

Er trank den letzten Schluck von seinem Ale, schüttelte dann müde den Kopf. »Aber dennoch, das Schuldgefühl, als ich adieu sagte … ich fühlte mich wie ein Verräter. Ich schwöre Euch, ich wäre nie mitten im Krieg unverrichteter Dinge heimgekehrt, wenn ich nicht die Pflicht gehabt hätte, Guiscard nach Hause zu bringen.«

Nein, dachte sie, das hättest du nicht getan. Aber warum die Entschuldigung? Du lebst, ebenso wie die Männer, die du getötet hättest, wenn du geblieben wärst. Warum ist die Scham, sich aus einem solchen Krieg verabschiedet zu haben, größer als die, in ihm zu kämpfen? Vielleicht ist es das Tier im Mann – und, großer Gott, es muss das gemeine Tier in mir sein, dass mich das erregt.

Er hatte begonnen, die Rückreise vorzubereiten. »Ich wusste, es würde nicht einfach werden«, sagte er. »Wir waren tief in der Weißen Wüste, an einem Ort namens Baharia, recht groß für eine Oase, aber es würde mich wundern, wenn Gott den Namen je gehört hätte. Ich hatte vor, in westlicher Richtung zurück bis zum Nil zu ziehen und dann nilabwärts nach Alexandria zu segeln – das damals noch in freundlichen Händen war. Von dort aus wollte ich eine Schiffspassage nach Italien nehmen. Aber abgesehen von der skythischen Reiterei, den Assassinen, die sich hinter jedem verfluchten Busch versteckten, und den vergifteten Quellen waren da noch unsere eigenen lieben christlichen Gesetzlosen, die auf Beute aus waren – und im Laufe der Jahre hatte Guiscard so viele Reliquien und Juwelen und Samit erworben, dass wir mit einem zweihundert Schritt langen Tross reisen mussten, geradezu eine Einladung, uns zu überfallen.«

Also hatte er Geiseln genommen.

Adelias Hand, die den Krug hielt, zuckte. »Ihr habt Geiseln genommen?«

»Aber natürlich.« Er war gereizt. »Das ist dort allgemein üblich. Wohlgemerkt, nicht um Lösegeld zu erpressen, wie hier im Westen. In Outremer bedeuten Geiseln Sicherheit.«

Sie waren eine Garantie, sagte er, ein Vertrag, eine lebende Form von gutem Glauben, ein Versprechen, dass ein Abkommen eingehalten werden würde, und unerlässlicher Bestandteil der Diplomatie und des kulturellen Austausches zwischen den Völkern. Frankenprinzessinnen im zarten Alter von vier Jahren wurden übergeben, um ein Bündnis zwischen ihren christlichen Vätern und deren mohammedanischen Gegnern abzusichern. Die Söhne großer Sultane lebten mitunter jahrelang in Haushalten der Franken, als Garantie für das gute Benehmen ihrer Familien.

»Geiseln ersparen Blutvergießen«, sagte er. »Sie sind eine gute Einrichtung. Einmal angenommen, Ihr werdet in einer Stadt belagert und wollt mit den Belagerern ein Abkommen schließen. Ganz einfach, dann verlangt Ihr Geiseln, um sicherzugehen, dass die Mistkerle nicht reingestürmt kommen und alles vergewaltigen und töten, sondern dass die Übergabe ohne Vergeltungsmaßnahmen erfolgt. Oder angenommen, Ihr müsst ein Lösegeld zahlen und könnt nicht die gesamte Summe auf einmal aufbringen, also bietet Ihr Geiseln als Sicherheit für den Rest an. Geiseln kann man fast immer gebrauchen. Als Kaiser Nikephoros sich die Dienste eines arabischen Dichters für seinen Hof ausborgen wollte, schickte er Harun al-Raschid, dem Kalifen des Dichters, Geiseln als Sicherheit dafür, dass der Mann wohlbehalten wieder zurückgesandt werden würde. Geiseln sind so etwas wie ein Faustpfand.«

Sie schüttelte staunend den Kopf. »Und das funktioniert?«

»Wunderbar.« Er überlegte kurz. »Nun ja, fast immer. Während meiner Zeit dort habe ich von keinem Fall gehört, in dem eine Geisel irgendwie zu Schaden gekommen wäre, aber ich könnte mir vorstellen, dass die ersten Kreuzfahrer manchmal etwas übereilt gehandelt haben.«

Es war ihm wichtig, sie zu beruhigen. »Es ist wirklich eine ausgezeichnete Sache, versteht Ihr. Bewahrt den Frieden, hilft beiden Seiten, einander besser zu verstehen. Zum Beispiel diese maurischen Bäder – wir Männer aus dem Westen hätten nie davon erfahren, wenn nicht irgendeine Geisel von edlem Geblüt darauf bestanden hätte, dass so ein Bad für sie gebaut wird.«

Adelia fragte sich, wie das System wohl im umgekehrten Fall funktionierte. Was konnten europäische Ritter, von deren Reinlichkeit sie keine hohe Meinung hatte, ihre Gastgeber im Gegenzug lehren?

Aber sie wusste, dass diese Frage nur ablenkte. Er erzählte jetzt langsamer. Er will nicht zum Ende kommen, dachte sie. Und ich will es auch nicht hören; es wird schrecklich sein.

»Also nahm ich Geiseln«, sagte er.

Sie sah, wie seine Finger die Tunika auf seinen Knien zusammenballten.

Er hatte einen Gesandten zu Al-Hakim Biamrallah in Farafra geschickt, einem Mann, der einen Großteil des Gebietes beherrschte, durch das sie ziehen mussten.

»Hakim hing dem Glauben der Fatimiden an, versteht Ihr, er war Schiit, und die Fatimiden hatten sich mit uns gegen Nur ad-Din verbündet, der keiner war.« Er schielte zu ihr hinüber. »Ich habe gesagt, dass es kompliziert ist.«

Der Gesandte hatte Geschenke überbracht und um Geiseln gebeten, die die Sicherheit von Guiscard, seinen Männern und Packtieren bis zum Nil garantieren sollten.

»Dort wollten wir sie dann freilassen. Die Geiseln. Hakims Männer sollten sie abholen.«

»Ich verstehe«, sagte sie sehr sanft.

»Hakim war ein gerissener alter Fuchs«, sagte Rowley, die Anerkennung eines gerissenen Fuchses gegenüber einem anderen. »Weißer Bart bis hier unten, aber Ehefrauen im Überfluss. Er und ich waren uns während des Feldzuges schon ein paar Mal begegnet. Wir waren zusammen auf Jagd gewesen. Ich mochte ihn.«

Adelia beobachtete noch immer Rowleys Hände, schöne Hände, die sich unentwegt öffneten und schlossen, wie Raubtierklauen auf einer behandschuhten Faust. »Und er war einverstanden?« »O ja, er war einverstanden.«

Der Gesandte war ohne die Geschenke und mit Geiseln zurückgekehrt, zwei Jungen. Ubayd, Hakims Neffe, und Jaafar, einer seiner Söhne. »Ubayd war fast zwölf, glaube ich, Jaafar … Jaafar war acht, der Liebling seines Vaters.«

Es entstand eine Pause, und die Stimme des Steuereintreibers wurde leiser. »Nette Jungen, gut erzogen, wie alle Sarazenenkinder. Sie waren begeistert, dass sie für ihren Onkel und Vater Geiseln sein durften. Das verlieh ihnen Ansehen. Sie betrachteten es als ein Abenteuer.«

Die großen Hände krümmten sich, zeigten Fingerknöchel unter der Haut. »Ein Abenteuer«, wiederholte er.

Das Tor zum Garten des Sheriffs öffnete sich quietschend, und zwei Männer mit Spaten kamen herein. Als sie Sir Rowley und Adelia passierten, lüfteten sie ihre Mützen, dann gingen sie weiter den Pfad entlang zu dem Kirschbaum. Sie fingen an zu graben.

Ohne ein Wort wandten der Mann und die Frau auf der Rasenbank die Köpfe und sahen ihnen zu, als beobachteten sie irgendwelche Gestalten in der Ferne, die nichts mit ihnen zu tun hatten, ein Geschehen, das sich irgendwo ganz anders abspielte.

Rowley war froh gewesen, dass Hakim nicht nur Maultier- und Kameltreiber mitgeschickt hatte, um beim Transport von Guiscards Reichtümern zu helfen, sondern noch dazu ein paar Kämpfer als Wachen.

»Zu diesem Zeitpunkt war unser kleines Häuflein an Rittern schon sehr geschrumpft. James Selkirk und D’Aix waren bei Antiochia getötet worden, Gerard de Nantes bei einer Schlägerei in einer Schenke. Übrig waren nur noch Guiscard und Conrad de Vries und ich.«

Guiscard war zum Reiten zu schwach und reiste daher in einer Sänfte, die nur so schnell vorankam wie die Sklaven, die sie trugen, daher war es ein langer, langsamer Zug, der sich über das ausgedörrte Land in Bewegung setzte. Schließlich verschlechterte sich Guiscards Zustand derart, dass sie nicht mehr weiterkonnten.

»Wir waren auf halbem Weg, umzukehren wäre ebenso weit gewesen wie weiterzuziehen, aber einer von Hakims Leuten wusste von einer Oase, die etwa eine Meile entfernt lag, also brachten wir Guiscard dorthin und schlugen unsere Pavillons auf. Es war ein winziges Fleckchen, menschenleer, ein paar Dattelpalmen, aber wie durch ein Wunder war die Quelle rein. Und dort ist er gestorben.«

»Das tut mir leid«, sagte Adelia. Der Kummer, der sich über den Mann neben ihr legte, war fast greifbar.

»Es tat mir auch leid, sehr.« Er hob den Kopf. »Aber es war keine Zeit, sich hinzusetzen und Tränen zu vergießen. Ihr wisst am besten, was mit Leichen geschieht, und in so einer Hitze geht es schnell. Bis wir den Nil erreicht hätten, wäre der Leichnam längst … nun ja.«

Aber Guiscard war ein Graf von Anjou gewesen, ein Onkel von Henry Plantagenet, nicht irgendein Vagabund, der in einem namenlosen Loch irgendwo im ägyptischen Sand verscharrt werden konnte. Seine Familie würde seinen Körper brauchen, um die Bestattungszeremonien zu vollziehen. »Und außerdem hatte ich ihm versprochen, ihn nach Hause zu bringen.«

Und so beging Rowley den Fehler, der ihn, wie er sagte, noch bis in Grab verfolgen würde. »Möge Gott mir vergeben, aber ich spaltete unseren Reisezug auf.«

Um schneller voranzukommen, beschloss er, die beiden jungen Geiseln dort zu lassen, wo sie waren, während er und De Vries zusammen mit ein paar Dienern den Leichnam schnellstens zurück nach Baharia bringen würden, um dort hoffentlich einen Einbalsamierer zu finden. »Wir waren schließlich in Ägypten, und Herodot erläutert ziemlich detailliert und widerwärtig, wie die Ägypter ihre Toten konservieren.«

»Ihr lest Herodot?«

»Sein ägyptisches Zeug, da erfährt man viel über Ägypten.«

Gott segne ihn, dachte sie. Der Mann zieht mit einem tausend Jahre alten Reiseführer durch die Wüste.

Er fuhr fort: »Sie waren zufrieden mit der Entscheidung, die Jungen, meine ich, ganz unbekümmert. Sie hatten die beiden Krieger, die Hakim mitgesandt hatte, zum Schutz, reichlich Diener und Sklaven. Ich ließ ihnen Guiscards herrlichen Falken da, mit dem sie jagen konnten, während wir fort waren – sie waren nämlich beide begeisterte Falkner. Nahrung, Wasser, Pavillons, Schutz in der Nacht. Und obendrein schickte ich einen der arabischen Diener zu Hakim, damit der erfuhr, was geschehen war und wo sich die Jungen befanden, nur für den Fall, dass mir irgendetwas passierte.«

Eine Liste von Entschuldigungen; er war sie wohl bereits tausendfach durchgegangen. »Ich dachte, wir wären es, die ein Risiko eingingen, De Vries und ich, weil wir nur zu zweit waren. Die Jungen hätten eigentlich in Sicherheit sein müssen.« Er wandte sich ihr zu, als wollte er sie schütteln. »Verdammt, es war ihr Land.«

»Ja«, sagte Adelia.

Hinten aus dem Garten, wo Simons Grab geschaufelt wurde, ertönten die regelmäßigen Spatengeräusche. Sie mochten sicher dreitausend Meilen weit entfernt sein von dem Glutofen aus heißem Sand, doch inzwischen bekam Adelia kaum noch Luft.

Die Sänfte mit Guiscards Leichnam wurde zwischen zwei Packtieren mit Pferdegeschirr verzurrt, dann brachen Sir Rowley Picot und sein Ritterfreund mit nur zwei Maultiertreibern auf und ritten so schnell sie nur konnten davon.

»Es stellte sich heraus, dass es in Baharia keinen Einbalsamierer gab, aber ich konnte einen alten Schamanen auftreiben, der für mich das Herz herausschnitt und es in Essig einlegte, während der übrige Körper bis aufs Skelett herunter gekocht wurde.«

Das Ganze dauerte länger, als Rowley erwartet hatte, doch endlich ritten er und De Vries, mit Guiscards Knochen in einer Tasche und seinem Herzen in einem fest verschlossenen Krug, wieder zurück zur Oase, der sie sich am achten Tag, nachdem sie von ihr aufgebrochen waren, näherten.

»Wir sahen die Geier schon, als wir noch drei Meilen entfernt waren. Das Lager war geplündert worden. Alle Diener erschlagen. Hakims Krieger hatten sich tapfer zur Wehr gesetzt, ehe sie in Stücke gehackt wurden, und drei Plünderer getötet. Die Pavillons waren verschwunden, die Sklaven, die Güter, die Tiere.«

In der schrecklichen Stille der Wüste hörten die beiden Ritter ein Wimmern, das oben aus einer der Dattelpalmen kam. Es war Ubayd, der ältere Junge, er lebte und war äußerlich unverletzt.

»Der Überfall hatte in der Nacht stattgefunden, versteht Ihr, und in der Dunkelheit war es ihm und einem der Sklaven geglückt, auf die Palme zu klettern und sich zwischen den Wedeln zu verstecken. Der Junge war einen Tag und zwei Nächte dort geblieben. De Vries musste hochklettern und seine Hände vom Baum lösen, um ihn runterzuholen. Er hatte alles gesehen, er konnte sich nicht bewegen.«

Den achtjährigen Jaafar konnten sie dagegen nicht finden.

»Wir suchten noch immer nach ihm, als Hakim und seine Männer eintrafen. Etwa zur selben Zeit, da er meine Botschaft erhielt, erfuhr er auch, dass eine Bande von Plünderern in der Gegend unterwegs war, und war in Windeseile zu der Oase geritten.«

Rowleys großer Kopf neigte sich wie unter der Last einer schweren Schuld. »Er machte mir keine Vorwürfe. Hakim. Nicht ein Wort, nicht einmal später, als wir … das fanden, was wir fanden. Ubayd erklärte ihm alles, sagte dem alten Mann, dass es nicht meine Schuld war, aber in den letzten Jahren habe ich begriffen, wessen Schuld es war. Ich hätte sie nicht zurücklassen dürfen, ich hätte die Jungen mitnehmen müssen. Ich war für sie verantwortlich, versteht Ihr? Sie waren meine Geiseln.«

Adelias Finger legten sich für einen Moment auf seine rastlosen Hände. Er merkte es nicht.

Als Ubayd endlich in der Lage war, darüber zu sprechen, erzählte er ihnen, dass die Plündererbande zwanzig bis fünfundzwanzig Mann stark gewesen war. Er hatte verschiedene Sprachen gehört, während das Massaker unter ihm stattfand. »Hauptsächlich Fränkisch«, sagte er. Er hörte seinen kleinen Vetter Allah um Hilfe anflehen.

»Wir verfolgten sie. Sie hatten sechsunddreißig Stunden Vorsprung, aber wir dachten uns, dass sie mit ihrer schweren Beute langsamer vorankämen. Am zweiten Tag sahen wir die Hufspuren eines einzelnen Pferdes, das sich von den übrigen getrennt hatte und nach Süden abgebogen war.«

Hakim schickte einen Teil seiner Männer hinter dem Haupttrupp der Plünderer her, während er und Rowley der Spur des einsamen Reiters folgten.

»Im Nachhinein weiß ich nicht, warum wir das taten. Der Mann hätte sich aus Dutzenden von Gründen von den anderen getrennt haben können. Aber ich glaube, wir wussten es.«

Sie wussten es, als sie die Geier über irgendetwas hinter einer der Dünen kreisen sahen. Der nackte kleine Körper lag gekrümmt wie ein Fragezeichen im Sand.

Rowley hatte die Augen geschlossen. »Er hatte diesem kleinen Jungen Dinge angetan, die kein menschliches Wesen sehen oder beschreiben sollte.«

Ich habe sie gesehen, dachte Adelia. Du warst wütend auf mich, als ich sie in der Hütte von St. Werbertha sah. Ich habe sie beschrieben, und es tut mir leid. Du tust mir so leid.

»Wir haben Schach gespielt«, sagte Rowley. »Der Junge und ich. Während der Reise. Er war ein schlaues Kerlchen, hat mich acht von zehn Mal geschlagen.«

Sie wickelten die Leiche in Rowleys Umhang und brachten ihn zu Hakims Palast, wo er noch in der Nacht unter dem Wehgeschrei trauernder Frauen beerdigt wurde.

Dann begann die Jagd erst richtig. Es war eine seltsame Jagd, angeführt von einem moslemischen Häuptling und einem christlichen Ritter, und sie führte vorbei an Schlachtfeldern, wo der Halbmond und das Kreuz einander bekriegten.

»Der Teufel war in dieser Wüste am Werk«, sagte Rowley. »Er schickte Sandstürme gegen uns, die Spuren verwischten, Orte der Rast waren ohne Wasser und entweder von Kreuzfahrern oder Muselmanen zerstört, aber wir ließen uns nicht aufhalten, und schließlich und endlich holten wir den Haupttrupp ein.«

Ubayd hatte Recht gehabt, es war ein wild zusammengewürfelter Haufen.

»Hauptsächlich Deserteure, Streuner, die Kerkerabfälle der Christenheit. Unser Mörder war ihr Anführer gewesen und hatte zusammen mit dem Körper des Jungen auch den größten Teil der Juwelen mitgenommen und seine Männer sich selbst überlassen, wodurch sie mehr oder weniger hilflos waren. Sie leisteten kaum Widerstand, die meisten von ihnen waren von Haschisch benebelt, und die Übrigen kämpften gegeneinander um die verbliebene Beute. Wir verhörten jeden Einzelnen von ihnen, ehe er starb. Wo ist euer Anführer hin? Wer ist er? Woher stammt er? Welches Ziel hat er? Keiner von ihnen konnte viel über den Mann sagen, dem sie gefolgt waren. Ein grimmiger Anführer, sagten sie. Ein Mann, dem das Glück lacht, sagten sie.«

Glück.

»Die Nationalität spielte bei diesem Abschaum keine Rolle. Für sie war er bloß ein Franke, was bedeutete, dass er von irgendwo zwischen Schottland und dem Baltikum stammen konnte. Ihre Beschreibungen waren nicht viel besser: groß, mittelgroß, dunkler Teint, heller Teint – natürlich sagten sie alles, von dem sie glaubten, dass Hakim es hören wollte, aber es war, als hätte ihn jeder irgendwie anders gesehen. Einer von ihnen sagte, er habe Hörner auf dem Kopf gehabt.«

»Und sein Name?«

»Sie nannten ihn Rakshasa. Das ist der Name eines Dämons, mit dem die Muselmanen unartigen Kindern drohen. Hakim hat mir erzählt, die Rakshasas kämen aus dem Fernen Osten, Indien, glaube ich. Die Hindus haben sie in irgendeiner alten Schlacht gegen die Moslems gehetzt. Sie nehmen verschiedene Formen an und überfallen des Nachts Menschen.«

Adelia beugte sich vor, pflückte einen Lavendelstängel und rieb ihn zwischen den Fingern. Sie ließ den Blick durch den Garten wandern, hielt sich innerlich an dem englischen Grün fest. »Er ist schlau«, sagte der Steuereintreiber und verbesserte sich dann. »Nein, nicht schlau, er hat Instinkt, er wittert Gefahr wie eine Ratte. Er wusste, dass wir hinter ihm her waren, ich wusste, dass er es wusste. Wenn er Richtung Oberlauf des Nils geritten wäre, wovon wir ausgingen, hätten wir ihn gehabt – Hakim hatte die Fatimiden-Stämme benachrichtigt –, aber er nahm den Weg nach Nordosten, zurück nach Palästina.«

In Gaza nahmen sie seine Fährte wieder auf und fanden heraus, dass er im Hafen Teda ein Schiff nach Zypern bestiegen hatte. »Wie?«, fragte Adelia. »Wie habt Ihr die Spur wieder gefunden?«

»Die Juwelen. Er hatte den größten Teil von Guiscards Juwelen mitgenommen. Er musste sie nach und nach verkaufen, damit wir ihn nicht einholten. Und jedes Mal, wenn er das tat, erfuhr Hakim durch die Stämme davon. Wir bekamen eine Beschreibung von ihm – ein großer Mann, fast so groß wie ich.«

In Gaza verlor Sir Rowley seine Gefährten. »De Vries wollte im Heiligen Land bleiben, und er stand ja auch nicht so in der Pflicht wie ich; Jaafar war nicht seine Geisel gewesen, und er hatte nicht die Entscheidung gefällt, die den Jungen letztlich das Leben kostete. Was Hakim betraf … der wackere Greis wollte mit mir kommen, aber ich sagte ihm, er sei zu alt dafür, und überhaupt, bei den Christen in Zypern würde er auffallen wie eine Huri in einer Mönchsprozession. Ich habe es natürlich etwas anders formuliert, aber darauf lief es hinaus. Und ich habe mich vor ihm hingekniet und ihm bei meinem Herrn Jesus Christus, bei der Dreifaltigkeit, bei der Mutter Maria geschworen, dass ich Rakshasa wenn nötig bis ins Grab verfolgen würde und dass ich diesem verdammten Hund den Kopf abschlagen und ihn Hakim schicken würde. Und mit Gottes Hilfe werde ich das auch tun.«

Der Steuereintreiber sank auf die Knie, nahm seine Kappe ab und bekreuzigte sich.

Adelia saß wie versteinert da, verwirrt von ihrem Abscheu und dem schrecklichen Trost, den sie in dem Mann fand. Etwas von der Einsamkeit, die sie seit Simons Tod erfasst hatte, war verschwunden. Aber er war kein zweiter Simon. Er war bei der Vernehmung der Plünderer dabei gewesen, hatte sich vielleicht daran beteiligt, und »Vernehmung« war zweifellos ein Euphemismus für Folter bis zum Tode, etwas, was Simon niemals getan hätte, wozu er gar nicht fähig gewesen wäre. Dieser Mann hatte bei Jesus Christus, dessen Merkmal doch die Gnade war, geschworen, Rache zu üben, betete jetzt in diesem Augenblick darum.

Aber als sie seine ruhelose Hand bedeckt hatte, war ihre eigene von seinen Tränen benetzt worden, und für einen Moment war der Platz, den Simon leer zurückgelassen hatte, von jemandem gefüllt worden, dessen Herz ebenso wie das von Simon für das Kind eines anderen Volkes und Glaubens brechen konnte.

Sie fasste sich wieder. Er stand auf und begann, auf und ab zu gehen, während er ihr den Rest erzählte.

So wie er sie auf seine Reise quer durch die Wüsten Outremers mitgenommen hatte, so begleitete sie ihn auch jetzt, während er noch immer die Reliquien des Toten mit sich trug und dem Mann, den sie Rakshasa nannten, zurück nach Europa folgte. Von Gaza nach Zypern. Von Zypern nach Rhodos – nur ein Boot hinter ihm, aber ein Sturm hatte Jäger und Gejagten voneinander getrennt, so dass Rowley die Spur erst auf Kreta wieder fand. Nach Syrakus von dort die Küste Apuliens hinauf. Nach Salerno …

»Wart Ihr damals da?«, fragte er.

»Ja, ich war da.«

Nach Neapel, nach Marseille und dann über Land durch Frankreich.

Eine eigentümlichere Reise hat wohl nie ein Mann durch ein christliches Land unternommen, erklärte er ihr, weil Christen kaum eine Rolle dabei spielten. Seine Helfer waren die Missachteten, Araber und Juden, Goldschmiede, Handwerker, die billigen Schmuck herstellten, Pfandleiher, Geldverleiher, Menschen, die in engen Gassen arbeiteten, in die christliche Bürger und Bürgerinnen nur ihre Diener schickten, um irgendetwas ausbessern zu lassen, Ghettobewohner – die Sorte Mensch, an die sich ein verfolgter und verzweifelter Mörder in Geldnot wenden würde, um ein Schmuckstück zu verkaufen.

»Das war nicht das Frankreich, das ich kannte, es hätte ein völlig anderes Land sein können. Ich war ein Blinder darin, und sie waren die geknotete Schnur, an der ich mich vorwärts tastete. Sie fragten mich: >Warum jagst du diesen Mann?< Und ich antwortete stets: >Er hat ein Kind getötet.< Das genügte. Ja, ihr Cousin, ihre Tante, der Sohn ihrer Schwägerin hatte von einem Fremden im Nachbardorf gehört, der irgendein Schmuckstück verkaufen wollte – und zu einem Spottpreis, weil er es schnell loswerden musste.«

Rowley stockte. »Wisst Ihr, dass jeder Jude und Araber in der Christenheit anscheinend jeden anderen Juden und Araber kennt?«

»Das müssen sie«, sagte Adelia.

Rowley zuckte die Achseln. »Jedenfalls blieb er nie irgendwo lange genug, dass ich ihn hätte einholen können. Wenn ich in der nächsten Stadt eintraf, hatte er bereits die Straße nach Norden genommen. Immer Richtung Norden. Ich wusste, dass er ein bestimmtes Ziel hatte.«

Es gab andere, grässliche Knoten in der Schnur. »Er tötete auf Rhodos, ehe ich dort eintraf, ein kleines Christenmädchen, das in einem Weinberg gefunden wurde. Die ganze Insel war in Aufruhr.« In Marseille gab es wieder ein totes Kind, diesmal einen Bettlerjungen, der von der Straße weg entführt worden war. Sein Körper wies so furchtbare Verletzungen auf, dass selbst die Obrigkeit, die sich um das Schicksal eines Vagabunden sonst nicht scherte, eine Belohnung auf den Mörder ausgesetzt hatte.«

In Montpellier wieder ein Junge, gerade mal vier Jahre alt.

Rowley sagte: »>An ihren Taten sollt ihr sie erkennen<, heißt es in der Bibel. Ich erkannte ihn an seinen. Er markierte meine Landkarte mit Kinderleichen, es war, als könnte er höchstens drei Monate durchhalten, bis er diese Befriedigung erneut brauchte. Wenn ich ihn verlor, musste ich nur abwarten, bis ich die Schreie von Eltern hörte, die von Stadt zu Stadt gellten. Dann stieg ich aufs Pferd und folgte ihnen.«

Er fand auch die Frauen, die Rakshasa hinter sich zurückließ. »Er übt auf Frauen einen Reiz aus, der Himmel weiß, warum; er behandelt sie nicht gut.« All die malträtierten Kreaturen, die Rowley befragt hatte, weigerten sich, ihm bei seiner Suche zu helfen. »Sie schienen darauf zu warten und zu hoffen, dass er zu ihnen zurückkommt. Aber das war mittlerweile egal. Ich folgte dem Vogel, den er bei sich hatte.«

»Einem Vogel?«

»Einem Hirtenstar. In einem Käfig. Ich wusste, wo er ihn gekauft hatte, in einem Souk in Gaza. Ich wusste sogar, wie viel er dafür bezahlt hatte. Aber warum er ihn bei sich hatte … vielleicht war er sein einziger Freund.« Ein verzerrtes Lächeln erschien auf Rowleys Gesicht. »Jedenfalls fiel er damit auf, Gott sei Dank. Mehr als einmal wurde mir von einem großen Mann mit einem Vogelkäfig am Sattel erzählt. Und schließlich verriet mir das Tier auch, wo er hinwollte.«

Inzwischen näherten sich Jäger und Gejagter dem Tal der Loire. Sir Rowley war innerlich zerrissen, weil Angers die Heimat der Knochen war, die er bei sich trug. »Sollte ich Rakshasa folgen, wie ich es geschworen hatte? Oder das Versprechen erfüllen, das ich Guiscard gegeben hatte, und ihn zu seiner letzten Ruhestätte bringen?«

In Tours, sagte er, führte ihn dieses Dilemma schließlich in die Kathedrale der Stadt, wo er um göttlichen Rat betete. »Und dort hielt der allmächtige Gott in Seiner Größe und Güte und weil Er sah, dass meine Sache gerecht war, Seine Hand über mich.«

Denn als Rowley die Kathedrale durch das prächtige Westportal verließ und blinzelnd ins Sonnenlicht trat, hörte er einen Vogelschrei aus einer Gasse. Dort hing der Käfig im Fenster eines Hauses.

»Ich sah zu ihm hoch. Der Vogel sah zu mir herab und sagte auf Englisch guten Tag. Und ich dachte: >Der Herr hat mich nicht grundlos in diese Gasse geführt. Mal sehen, ob das Rakshasas Reisebegleiter ist.< Ich klopfte an die Tür, und eine Frau öffnete. Ich fragte nach ihrem Mann. Sie sagte, er sei unterwegs, aber ich spürte irgendwie, dass er da war und dass er es war – sie sah genauso aus wie die anderen, ungepflegt und verängstigt. Ich zog mein Schwert und drängte mich an ihr vorbei, doch sie stürzte sich auf mich, als ich die Treppe hinaufwollte, krallte sich an meinem Arm fest wie eine Katze und schrie. Ich hörte ihn aus dem Zimmer oben rufen, dann ein Poltern. Er war aus dem Fenster gesprungen. Ich wollte wieder hinunter, aber die Frau hielt mich weiter fest, und als ich endlich auf die Gasse stürmte, war er verschwunden.«

Rowley strich sich zerfahren mit der Hand durch das volle, lockige Haar, als er die anschließende vergebliche Verfolgungsjagd schilderte. »Schließlich kehrte ich zu dem Haus zurück. Die Frau war weg, aber in dem Zimmer im Obergeschoss lag der Käfig mit dem flatternden Vogel auf dem Boden. Er hatte ihn wohl bei seinem Fenstersprung umgestoßen. Ich hob den Käfig auf, und der Vogel verriet mir, wo ich seinen Herrn finden würde.«

»Wie? Wie konnte er Euch das sagen?«

»Nun, er nannte mir nicht gerade seine Adresse. Er starrte mich mit diesen frechen Vogelaugen an und sagte, ich sei ein hübscher Junge und schlauer Junge – die üblichen Dinge eben, doch das Wissen, dass ich Rakshasas Stimme hörte, verlieh ihrer Banalität etwas Erschreckendes. Er hatte ihm Sprechen beigebracht. Nein, nicht, was er sagte, war aufschlussreich, sondern, wie er es sagte. Es war der Akzent. Er sprach den Akzent von Cambridgeshire. Der Vogel hatte die Sprechweise seines Herrn nachgeahmt. Rakshasa stammte aus Cambridgeshire.«

Der Steuereintreiber bekreuzigte sich, um dem Gott zu danken, der so gut zu ihm gewesen war. »Ich ließ den Vogel sein ganzes Repertoire runterrasseln«, sagte er. »Jetzt hatte ich genügend Zeit. Ich konnte Guiscard nach Angers bringen, weil ich wusste, welchen Weg Rakshasa nehmen würde. Er wollte nach Hause und sich mit dem Rest von Guiscards Juwelen dort niederlassen. Und das hat er getan, er ist hier, und diesmal wird er mir nicht entkommen.«

Rowley sah Adelia an. »Den Käfig habe ich immer noch«, sagte er.

»Was ist aus dem Vogel geworden?«

»Ich habe ihm den Hals umgedreht.«

Die Totengräber waren nach getaner Arbeit unbemerkt gegangen. Der lange Schatten der Wand am Ende des Gartens hatte nun die Rasenbank erreicht.

Adelia fröstelte in der kühlen Abendluft und merkte, dass ihr schon länger kalt war. Vielleicht gab es noch mehr zu sagen, doch im Augenblick fiel ihr nichts ein. Ihm ebenso wenig. Er stand auf: »Ich muss mich um die Vorbereitungen kümmern.« Das hatten schon andere für ihn besorgt.

Ein Sheriff, ein Araber, ein Steuereintreiber, der Prior von St. Augustine, zwei Frauen und ein Hund standen oben an der Treppe vor dem Haus, als Simon aus Neapel in seinem Weidensarg, geleitet von Fackelträgern und gefolgt von jedem jüdischen Mann in der Burg, zu seiner Ruhestätte unter dem Kirschbaum am anderen Ende des Gartens getragen wurde. Man forderte sie nicht auf, näher zu treten. Unter einem zunehmenden Mond sahen die Gestalten der Trauernden sehr dunkel und die Kirschblüten sehr weiß aus, ein schwebender Flockenwirbel.

Der Sheriff trat von einem Bein aufs andere. Mansur legte die Hände auf Adelias Schultern, und sie lehnte sich nach hinten gegen ihn, lauschte, ohne die Worte verstehen zu können, der tiefen, melodischen Stimme des Rabbi, der den 91. Psalm rezitierte.

Worauf sie nicht achtete, was keiner von ihnen zur Kenntnis nahm, weil sie sich an die unablässigen Geräusche in der Burg gewöhnt hatten, war der Klang erhobener Stimmen unten am Haupttor, wo Pater Alcuin, der Priester, seinem Missfallen Luft gemacht hatte.

Nachdem sie sich das angehört hatte, war Agnes aus ihrer Hütte gestürmt und hinunter in die Stadt gelaufen, und Roger aus Acton hatte den Wachen mehr und mehr eingeredet, dass ihre Burg durch die geheime Bestattung eines Juden auf ihrem Grund und Boden entweiht würde.

Die Trauernden unter dem Kirschbaum hörten es, denn ihre Ohren waren auf Gefahr geeicht.

»E ma’alah rachamim«, Rabbi Gotsces Stimme bebte nicht. »Schochain bahm-ro … Herr, der Du voll mütterlicher Gnade bist, schenke unserem Bruder Simon tiefe und vollkommene Ruhe unter den Schwingen Deiner schützenden Gegenwart zwischen den Hohen, Heiligen und Reinen, strahlend wie das leuchtende Firmament, und den Seelen aller aus Deinem Volk, die getötet wurden in und um die Länder, in denen unser Urvater Abraham wandelte.«

Worte, dachte Adelia. Ein unschuldiger Vogel kann die Worte eines Mörders wiederholen. Worte können am Grab des Menschen gesprochen werden, den er tötete, und sie können Balsam auf die Seele gießen. Sie hörte das dumpfe Klopfen von Erde, die auf den Sarg geworfen wurde. Jetzt bewegte sich der Zug durch den Garten auf das Tor zu, und obwohl sie keine Jüdin war und noch dazu nur eine Frau, wurde sie von jedem Mann gesegnet, der vor der Treppe vorbeiging, auf der sie stand. »Hamakom i’nachem etschem b’toch sch’ar awailai tzijon ee jeruschalajim. Möge Gott dich trösten zwischen all den Trauernden Zions und Jerusalems.«

Der Rabbi blieb stehen und verneigte sich vor dem Sheriff. »Wir sind dankbar für Eure Wohltätigkeit, Mylord, und möge man sie Euch nicht verübeln.« Dann waren sie fort.

»Nun denn«, sagte Sheriff Baldwin und wischte über sein Gewand. »Wir müssen wieder an die Arbeit, Sir Rowley. Falls der Teufel tatsächlich Arbeit für müßige Hände findet, dann würde er sich heute Abend vergeblich herbemühen.«

Adelia gab ihrer Dankbarkeit Ausdruck. »Und darf ich morgen das Grab besuchen?«

»Ich denke schon, ich denke schon. Ihr könntet auch unseren Master Doktor mitbringen. Von den vielen Sorgen hab ich eine Fistel bekommen, die mir das Sitzen erschwert.«

Er sah zum Tor hinüber. »Was ist das für ein Tumult, Rowley?«

Es waren rund zehn Männer, die angeführt von Roger aus Acton mit unterschiedlichen Gerätschaften wie Gartenforken und Aalmessern bewaffnet waren. In jedem von ihnen tobte eine fieberhafte Wut, die sich schon zu lange aufgestaut hatte, und als sie in den Garten gestürmt kamen, brüllten sie so laut durcheinander, dass es einen Augenblick dauerte, bis die Worte »Kindermörder« und »Jude« zu verstehen waren.

Acton kam die Treppe herab und schwenkte in einer Hand eine Fackel und in der anderen eine Mistgabel. Er schrie: »Der Jude soll in der Grube versinken, die er gegraben hat, denn der Herr hat uns von diesem Schmutz erlöst. Wir sind gekommen, um ihn aus unserem angestammten Erbe zu vertreiben. O ihr Verräter, fürchtet den Namen des Herrn.« Spucke sprühte aus seinem Mund. Hinter ihm reckte ein dicker Mann ein gefährlich aussehendes Hackbeil in die Luft.

Die anderen Männer verteilten sich, und er rief ihnen zu: »Findet das Grab, meine Brüder, damit wir unsere Wut an seinem Kadaver auslassen können. Denn es ist euch verheißen, wer die Heiden züchtigt, der soll nicht bestraft werden.«

»Nein«, sagte Adelia. Sie waren gekommen, um ihn auszugraben. Sie waren gekommen, um Simon auszugraben. »Nein.« »Metze.« Acton hatte die Mistgabel auf sie gerichtet. »Du hast das sündige Lager mit dem Kindermörder geteilt, doch wir dulden diese Scham hinfort nimmermehr.«

Einer der Männer stand jetzt unter dem Kirschbaum, winkte den anderen und schrie: »Hier, hier ist es.«

Adelia wich Acton aus, sprang die Treppe hinunter und lief auf das Grab zu. Was sie machen sollte, wenn sie dort ankam, fragte sie sich nicht – sie hatte nur den einen Gedanken: Sie musste diese Grässlichkeit verhindern.

Sir Rowley Picot rannte ihr nach, dicht gefolgt von Mansur, dem wiederum Roger aus Acton auf den Fersen war, während die anderen Eindringlinge von allen Seiten herbeigelaufen kamen, um sie abzufangen. Sie alle prallten in einem krachenden, heulenden, schlagenden, hauenden, stechenden, trampelnden Knäuel aufeinander. Adelia wurde regelrecht überrollt.

Eine derartige Brutalität war ihr fremd. Es war nicht der Schmerz, sondern vielmehr der atemlose Schock angesichts dieser jähen und wütenden Männerkraft. Ein Stiefeltritt brach ihr die Nase. Sie warf schützend die Hände über den Kopf, während die Welt über ihr in gezackte Scherben zerbrach. Irgendwo erhob sich eine ruhige und gebieterische Stimme – die des Priors.

Eine nach der anderen verschwanden die Scherben wieder. Übrig blieb ein Nichts. Dann war wieder etwas da, und sie kam unsicher auf die Beine und sah flüchtende Gestalten, während Rowley Picot auf dem Boden lag, blutüberströmt, die Klinge eines Hackbeils tief in der Leiste vergraben.