Kapitel Vierzehn

Sie saß am Ufer der Cam, an derselben Stelle, auf demselben umgedrehten Eimer, auf dem Ulf beim Angeln gesessen hatte.

Sie beobachtete den Fluss. Sonst nichts.

Hinter dem Haus in ihrem Rücken waren die Straßen erfüllt von Lärm und Gedränge, zum Teil wegen der Assise, aber zum größeren Teil wegen der Suche nach Ulf. Gyltha selbst, Mansur, die beiden Matildas, Adelias Patienten, Gylthas Kunden, Freunde, Nachbarn, der Gemeindevogt und alle, die einfach nur helfen wollten, suchten nach dem Kind – und zwar mit wachsender Hoffnungslosigkeit.

»Der Junge hat sich in der Burg gelangweilt und wollte angeln gehen«, hatte Mansur Adelia so ruhig erklärt, dass er fast starr wirkte. »Ich bin mit ihm gegangen. Dann hat mich die kleine Dicke«, er meinte Matilda B, »ins Haus gerufen, um ein Tischbein auszubessern. Als ich wieder nach draußen kam, war er weg.« Er sah ihr nicht in die Augen, was seine innere Anspannung verriet. »Sag der Frau, dass es mir leid tut«, fügte er hinzu.

Gyltha hatte ihm keine Vorwürfe gemacht, hatte niemandem Vorwürfe gemacht. Das Entsetzen war zu groß, um in Zorn umzuschlagen. Ihr Körper schien geschrumpft zu sein, einer viel kleineren, älteren Frau zu gehören, aber sie war rastlos. Mansur und sie waren bereits den Fluss hinaufund hinuntergefahren, hatten jeden, den sie trafen, nach dem Jungen gefragt, waren in Boote gesprungen und hatten Decken zurückgeschlagen, wenn sie meinten, dass etwas darunter verborgen lag. Heute befragten sie die Händler an der Großen Brücke.

Adelia ging nicht mit ihnen. Die ganze Nacht hatte sie an dem großen Sonnenfenster gestanden und den Fluss beobachtet. Heute saß sie da, wo Ulf gesessen hatte, und beobachtete ihn weiter, von einer so fürchterlichen Trauer erfasst, dass sie bewegungsunfähig war – obwohl sie in jedem Fall am Fluss geblieben wäre. »Der Fluss ist es«, hatte Ulf gesagt, und in ihrem Kopf lauschte sie wieder und wieder auf seine Worte, denn wenn sie aufhörte, darauf zu lauschen, würde sie ihn schreien hören.

Rowley kam schwerfällig durch das Schilf, humpelnd, und versuchte, sie von ihrem Platz wegzuholen. Er redete auf sie ein, hielt sie in den Armen. Anscheinend wollte er sie mit auf die Burg nehmen, wo er bleiben musste, weil er während der Assise dort gebraucht wurde. Immer wieder sprach er vom König; sie verstand ihn kaum.

»Es tut mir leid«, sagte sie, »aber ich muss hierbleiben. Der Fluss ist es, verstehst du. Der Fluss holt sie sich.«

»Wie kann der Fluss sich denn Kinder holen?« Er sprach sanft, hielt sie für wahnsinnig, was sie natürlich auch war.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie, »und ich muss hierbleiben, bis ich es verstehe.«

Er bedrängte sie. Sie liebte ihn, aber nicht genug, um mit ihm zu kommen. Sie wurde von einer anderen gebieterischen Liebe geleitet.

»Ich komme wieder«, sagte er schließlich.

Sie nickte, merkte kaum, dass er fort war.

Es war ein schöner Tag, sonnig und warm. Einige der Leute auf den vorbeigleitenden Booten, die wussten, was geschehen war, riefen der Frau, die da auf einem umgedrehten Eimer mit einem Hund neben sich am Ufer saß, Ermutigungen zu. »Keine Bange, Schätzchen. Vielleicht spielt er ja bloß irgendwo. Der kommt schon wieder.« Andere wandten die Augen von ihr ab und blieben stumm.

Auch das sah und hörte sie nicht. Was sie sah, war Ulfs nackter kleiner Körper, wie er sich in Gylthas Händen wehrte, als sie ihn über den Badebottich hielt, um ihn ins Wasser plumpsen zu lassen.

Der Fluss ist es.

Sie hatte ihren Entschluss gefasst, als Schwester Veronica und Schwester Walburga am späten Nachmittag auf einem Stechkahn vorbeikamen. Walburga sah sie und stakte ans Ufer. »Bitte Mistress, macht uns jetzt keine Vorhaltungen. Von den Vorräten, die der Prior den Fluss raufgeschickt hat, könnte nicht einmal ein Kätzchen satt werden, und wir müssen noch mehr hinbringen. Aber wir sind wieder richtig bei Kräften, nicht wahr, Schwester? Gestärkt durch die Kraft Gottes.«

Schwester Veronica war besorgt. »Was habt Ihr, Mistress? Ihr seht erschöpft aus.«

»Kein Wunder«, sagte Walburga. »Sie hat sich bei unserer Pflege aufgerieben. Ein wahrer Engel, das ist sie, Gott segne sie.« Der Fluss ist es.

Adelia stand von ihrem Eimer auf. »Ich komme mit Euch, wenn ich darf.«

Erfreut halfen sie ihr in den Kahn und ließen sie auf der Ruderbank im Heck sitzen, die Knie unters Kinn gezogen, die Füße auf einer Kiste mit Hühnern. Sie lachten, als sich Aufpasser – »der alte Stinker«, nannten sie ihn – verdrossen in Bewegung setzte, um ihnen auf dem Treidelpfad zu folgen.

Priorin Joan, so sagten sie, erzählte aller Welt, dass die Ehre des Kleinen St. Peter wiederhergestellt sei, denn wann waren schon mal so viele so krank gewesen und nur zwei gestorben, eine noch dazu recht alt? Der Heilige war auf die Probe gestellt worden und hatte sich als verlässlich erwiesen.

Die beiden Nonnen wechselten sich mit einer Häufigkeit beim Staken ab, die verriet, dass sie noch nicht ganz wieder bei Kräften waren, aber sie spielten das herunter. »Gestern war es anstrengender«, sagte Walburga. »Da waren wir mit zwei Kähnen unterwegs. Aber die Kraft Gottes ist mit uns.« Sie hielt jeweils länger durch, ehe sie sich ausruhen musste. Dafür war Veronica geschickter und geschmeidiger in ihren Bewegungen, und sie gab ein anmutigeres Bild ab, wenn ihre schlanken Arme gegen die Stange drückten und sie wieder hoben, ohne dabei das Wasser aufzuwühlen, das im Licht der untergehenden Sonne bernsteinfarben glänzte.

Trumpington glitt vorbei. Grantchester …

Sie erreichten den Teil des Flusses, den Adelia an dem Tag mit Mansur und Ulf nicht erkundet hatte. Hier teilte er sich, wurde zu zwei Flüssen, die Cam aus dem Süden, der andere aus östlicher Richtung.

Der Kahn bog nach Osten. Walburga, die gerade mit Staken an der Reihe war, beantwortete Adelias Frage – die erste, die sie überhaupt gestellt hatte. »Dieser Fluss? Das ist die Granta. Hier geht’s zu den Einsiedlerklausen.«

»Und zu deiner Tante«, sagte Veronica lächelnd. »Hier geht’s auch zu deiner Tante.«

Walburga grinste. »Auch das. Die wird staunen, dass sie mich gleich zweimal in einer Woche zu Gesicht bekommt.«

Die Landschaft veränderte sich mit dem Fluss, erinnerte jetzt eher an ein flaches Hochland, wo Schilf und Erlen allmählich von Gras und höheren Bäumen verdrängt wurden. Im Dämmerlicht sah Adelia nun weniger Deiche und mehr Hecken und Zäune. Der Mond, der eine dünne, runde Oblate am Abendhimmel gewesen war, nahm jetzt kräftigere Gestalt an.

Aufpasser begann zu humpeln, und Veronica schlug vor, ihn in den Kahn zu holen, das arme Tier. Nachdem die Hühner ihren lautstarken Protest gegen ihn wieder eingestellt hatten, wurde die Stille nur vom letzten Vogelgezwitscher durchbrochen.

Walburga steuerte den Kahn in eine schmale Bucht, von wo ein Pfad zu einem Bauernhof führte. Als sie schwerfällig ausstieg, sagte sie: »Aber lass dir bloß nicht einfallen, die ganzen schweren Sachen allein zu tragen, Schwester. Die alten Burschen sollen ruhig mit anfassen.«

»Das werden sie.«

»Und schaffst du es auch wirklich allein wieder zurück?«

Veronica nickte und lächelte. Walburga verabschiedete sich mit einem Knicks von Adelia und winkte ihnen dann hinterher.

Die Granta wurde schmaler und dunkler, suchte sich ihren Weg durch ein gewundenes, flaches Tal, in dem die Buchen mitunter so dicht am Wasser standen, dass Veronica unter den Ästen den Kopf einziehen musste.

Sie hielt an, um eine Laterne anzuzünden, die sie auf das Brett vor ihren Füßen stellte, so dass das Licht etwa einen Meter vor dem Boot das dunkle Wasser erhellte und sich in den grünen Augen von Tieren spiegelte, die sie kurz anstarrten, ehe sie im Unterholz verschwanden.

Als sie die Bäume hinter sich ließen, beschien der silbrige Mond eine schwarzweiße Landschaft aus Weiden und Hecken. Veronica steuerte das linke Ufer an. »Das Ende der Fahrt, der Herr sei gepriesen«, sagte sie.

Adelia spähte geradeaus und deutete auf eine mächtige, oben abgeflachte Silhouette in der Ferne. »Was ist das?«

Veronica wandte sich um. »Das da? Das ist Wandlebury Hill.« Natürlich, was auch sonst?

Ein winziger funkelnder Stern schien auf dem Kopf des Hügels gelandet zu sein, trügerisch, wie Sterne so sind, denn er verschwand mit einem Blinken, um mit dem nächsten wieder zurückzukehren.

Adelia rückte zur Seite, damit Veronica die Kiste mit den Hühnern unter ihren Beinen hervorziehen konnte. »Ich werde hier warten«, sagte sie.

Die Nonne warf ihr einen unsicheren Blick zu, schaute dann auf die Körbe, die noch zu den unsichtbaren Einsiedlerklausen getragen werden mussten.

Adelia sagte: »Würdet Ihr die Laterne hier bei mir lassen?«

Schwester Veronica legte den Kopf schief. »Angst vor der Dunkelheit?«

Adelia überlegte kurz. »Ja.«

»Dann behaltet sie, und möge der Herr Euch behüten. Ich bin bald wieder zurück.« Die Nonne schwang sich einen Sack über die Schulter, packte die Kiste mit der anderen Hand und verschwand über einen mondbeschienenen Pfad zwischen den Bäumen.

Adelia wartete einen Moment, dann setzte sie Aufpasser ans Ufer, nahm die Laterne, vergewisserte sich, dass die Stumpenkerze noch länger halten würde, und marschierte los.

Eine Weile schlängelte sich der Fluss mit seinem Uferpfad halbwegs in die Richtung, in die sie wollte, doch nach zirka einer Meile merkte sie, dass sie zu weit nach Süden abkam. Sie wandte sich vom Ufer ab und ging schnurgerade nach Osten, Luftlinie, nur dass sie eben nicht durch die Luft flog, sondern auf durchaus irdische Hindernisse stieß: dichtes Dornengestrüpp, kleine Hügel und Senken, die vom letzten Regen noch rutschig waren, hohe Flechtzäune, die sie mal kletternd, mal kriechend überwand, mitunter aber auch schlicht umgehen musste.

Falls menschliche Augen vom Wandlebury aus Ausschau hielten, so sahen sie ein winziges, verlorenes Licht, das über das dunkle Land irrte, scheinbar ziellos mal in diese, mal in jene Richtung, während Adelia immer wieder irgendeinem Hindernis auswich. Manchmal stockte das Licht, weil sie strauchelte und ungeschickt stürzte, damit die Laterne nicht zu Boden fiel und ausging. Und immer blieb Aufpasser neben ihr stehen, bis sie wieder auf den Beinen war.

Mitunter erschrak sie sich, wenn wie aus dem Nichts ein Reh oder ein Fuchs ihren Weg kreuzte. Ihr eigener schluchzender Atem war so laut, dass sie nichts anderes mehr hörte, doch sie schluchzte nicht vor Trauer oder Erschöpfung, sondern vor Anstrengung.

Aber der Beobachter auf dem Wandlebury, falls dort einer war, hätte sehen können, dass das kleine Licht trotz aller Kapriolen stetig näher kam.

Und während Adelia sich durch das finstere Tal arbeitete, sah sie den Hügel allmählich anschwellen, bis er alles andere vor ihr überragte. Der Stern, der sich auf seiner Kuppe verfangen hatte, blinkte nicht mehr, sondern leuchtete ruhig und friedlich.

Sie musste fast würgen, während sie weiterging, angewidert von ihrer eigenen Dummheit. Warum bin ich nicht direkt dorthin? Die Kinderleichen haben es mir gesagt, sie haben es mir gesagt. Kreide, haben sie gesagt. Wir wurden auf Kreideboden ermordet. Der Fluss hat mich abgelenkt. Aber der Fluss führt zum Wandlebury. Ich hätte es wissen müssen.

Zerkratzt und blutig, aber mit einer noch immer brennenden Laterne schleppte sie sich humpelnd eine Böschung hoch auf ein flaches Stück und merkte, dass es just die Stelle auf der römischen Straße war, wo Prior Geoffrey damals für alle Ohren hörbar gebrüllt hatte, dass er nicht pinkeln konnte.

Jetzt war die Straße menschenleer; ja, es war schon spät, und der Mond stand hoch am Himmel, aber Adelia war irgendwie aus der Zeit herausgefallen. Es gab keine Vergangenheit, in der Menschen lebten. Es gab kein Kind namens Ulf, sie hatte aufgehört, ihn zu hören oder zu sehen. Es gab einen Hügel, und sie musste den Gipfel erreichen. Gefolgt von dem Hund, stapfte sie den steilen Weg hinauf, ohne einen Gedanken daran, wie sie ihn das erste Mal erklommen hatte; für sie zählte nur, dass es der richtige war.

Oben angekommen, hielt sie nach dem Licht Ausschau und wunderte sich, dass es sie aus der Ferne hergeführt hatte, aber jetzt nirgends zu sehen war. O Gott, bitte lass es nicht erloschen sein. In der Dunkelheit, auf dieser weiten Fläche voller Senken und Mulden würde sie die Stelle niemals finden.

Sie entdeckte es, ein Schimmern hinter ein paar Büschen weiter vorn, und lief einfach los, ohne an die Unebenheiten des Bodens zu denken. Als sie diesmal hinfiel, ging die Laterne aus. Unwichtig. Sie kroch weiter.

Es war ein seltsames Licht, weder von einem Feuer noch von mehreren Kerzen, eher ein Strahl, der nach oben schien. Als sie darauf zurobbte, griffen ihre Hände ins Leere, und sie rutschte eine kurze Schräge hinunter. Aufpasser spähte geradeaus, und da war es, drei Meter vor ihr in der Mitte einer schüsselförmigen Senke. Es war kein Feuer und keine Laterne. Es war niemand da. Das Licht drang aus einem Loch im Boden. Es war das klaffende Höllenmaul, das von Flammen aus der Tiefe beschienen wurde.

In diesem Augenblick musste Adelia ihre gesammelte Bildung, jeden Funken logisches Denken, jede bewiesene Hypothese, jedes bisschen gesunden Menschenverstand gegen die Unvernunft aufbieten, die jetzt kreischende Panik in ihr aufsteigen ließ und sie beschwor, schreiend und brüllend von dem Loch wegzulaufen. Sie betete um Erlösung. Behüte mich, allmächtiger Gott, vor nächtlichem Schrecken.

»Es ist nicht die Höllengrube«, sagte eine nüchterne Stimme in ihrem Kopf. »Es ist bloß eine Grube.«

Genau. Eine Grube. Bloß eine Grube. Und Ulf war darin.

Sie robbte sich vor und stieß mit dem Knie gegen etwas, was im Gras lag und ausgesehen hatte, als würde es zum Boden gehören. Doch als ihre Hände es abtasteten, entpuppte es sich als ein großes und schweres Rad. Sie kroch darüber hinweg und merkte, dass es gänzlich mit Gras bewachsen war.

Sie streckte eine Hand aus, damit Aufpasser sich nicht zu weit vorwagte, dann reckte sie so langsam wie eine Schildkröte den Hals, um über den Rand der Grube zu spähen.

Nein, keine Grube. Ein Schacht, etwa sechs Fuß im Durchmesser und Gott weiß wie tief – schwer einzuschätzen bei dem Licht, das von unten aufstieg –, aber auf jeden Fall tief. Eine Leiter führte ins Weiße hinab, weiß, alles weiß, so weit das Auge sehen konnte.

Kreide. Natürlich war es Kreide, die Kreide auf den toten Kindern.

Den Schacht hatte Rakshasa nie und nimmer allein gegraben. Dafür waren viele Hände erforderlich. Er hatte ihn gefunden und genutzt. Mein Gott, und wie er ihn genutzt hatte.

War das die Erklärung für die vielen Mulden auf dem Hügel? Handelte es sich um aufgefüllte Schachteingänge? Aber wer hatte denn so viel Kreide gebraucht?

Das ist unwichtig; ihr Zweck ist jetzt unwichtig. Ulf ist da unten.

Und der Mörder. Er hat sich Licht gemacht – das da unten sind Fackeln. Das Licht, das der Schäfer gesehen hat. Großer Gott, wir hätten es finden müssen; wir haben diesen verdammten Hügel abgesucht, in jede Senke geschaut. Wie konnten wir diese offene Pforte in die Unterwelt übersehen?

Weil sie nicht offen war, dachte sie. Das grasbewachsene Rad, über das sie gekrochen war, war gar kein Rad, es war eine Tarnung, ein Deckel, eine Brunnenabdeckung. Wenn es an Ort und Stelle lag, sah die Mulde aus wie jede andere auch.

Ein schlauer Bursche, dieser Rakshasa.

Aber Adelias grässliche Angst vor dem Mörder, das Entsetzen, das ihr auf der Haut kribbelte, legte sich ein wenig bei dem Gedanken, dass Rakshasa selbst in Panik geraten war, als Simons Wagen mit Prior Geoffrey den Weg zum Wandlebury Ring hochgerumpelt war. Rakshasa war ein schuldhaftes Wesen und hatte sich auch genauso verhalten, als er in der Nacht die Leichen aus dem Schacht holte und sie den Hang hinuntertrug, damit sein Versteck geheim blieb.

Dieser Schacht ist dein Zuhause, dachte sie, so kostbar, dass er dich angreifbar macht. Er strahlt für dich, so wie er das jetzt für mich tut, selbst wenn der Deckel darauf liegt. Er ist der Schacht in deinen Körper, der Eingang zu deiner verkommenen Seele, dein Schicksal, das offenbart wird. Für dich schreit seine Existenz zum Himmel, der darüber empört ist.

Und ich habe ihn gefunden.

Sie lauschte. Ringsum wisperte und raunte das Leben auf dem Hügel, doch aus dem Schacht drang kein Laut. Sie hätte nicht allein herkommen sollen, gütiger Gott, nein, wirklich nicht. Wie sollte sie dem kleinen Jungen helfen, ohne Verstärkung und ohne irgendjemandem erzählt zu haben, wohin sie wollte?

Aber der Augenblick hatte es so verlangt. Ihr fiel nichts ein, was sie hätte anders machen können. Es war ohnehin nicht mehr zu ändern, die Milch war verschüttet, und sie musste sie jetzt irgendwie aufwischen.

Falls Ulf tot war, könnte sie die Leiter hochziehen und das Rad über die Öffnung schieben, den Mörder gleichsam lebendig begraben und Rakshasa tobend in seiner eigenen Gruft zurücklassen.

Aber sie hatte in dem Glauben gehandelt, dass Ulf nicht tot war, dass die anderen Kinder in Rakshasas Folterkammer noch eine Weile gelebt hatten, ehe er bereit für sie war – eine Hypothese, die auf dem beruhte, was ihr der Körper eines toten Jungen einst erzählt hatte. Ein so dünner Beweis, eine so zarte Hoffnung, und doch stark genug, um sie in den Kahn der Nonnen zu ziehen und dann querfeldein marschieren zu lassen bis hierher, zu diesem Höllenloch, damit …

Damit … was?

Adelia lag ausgestreckt da, den Kopf über den Rand des Schachtes gereckt, und erwog ihre Möglichkeiten mit der eiskalten Logik der Verzweiflung.

Sie konnte Hilfe holen, doch das würde zu lange dauern – die letzte menschliche Behausung, die sie gesehen hatte, war der Hof von Schwester Walburgas Tante gewesen. Und jetzt, wo sie Ulf so nahe war, konnte sie ihn nicht im Stich lassen. Sie konnte in den Schacht hinuntersteigen und getötet werden, wozu sie letzten Endes bereit sein musste, falls Ulf dadurch die Flucht ermöglicht wurde.

Oder, und das wäre erheblich verdienstvoller, wie sie fand, sie könnte hinuntersteigen und den Mörder töten. Wozu sie unbedingt eine Waffe benötigte. Ja, sie musste etwas finden, einen Knüppel oder einen Stein, irgendetwas Scharfes …

Neben ihr zuckte Aufpasser plötzlich zusammen. Zwei Hände packten Adelias Fußknöchel und rissen sie hoch, so dass sie vorwärts glitt. Und dann stieß sie jemand mit einem angestrengten Stöhnen in das Loch hinab.

Die Leiter war ihre Rettung. Sie prallte auf halbem Weg nach unten dagegen, brach sich durch die Wucht des Aufschlags ein paar Rippen und rutschte dann, durch die unteren Sprossen gebremst, weiter abwärts. Sie hatte noch Zeit – erstaunlich lange Zeit, wie es ihr schien – für den Gedanken: Ich muss bei Bewusstsein bleiben, bevor sie mit dem Kopf auf den Boden schlug und gar nichts mehr denken konnte.



Das Bewusstsein ließ sich lange Zeit, ehe es sie wieder erreichte. Es schob sich gemächlich durch eine undeutliche Ansammlung von Menschen, die sie hartnäckig bedrängten und hin und her schoben und auf sie einredeten, was sie derart störend fand, dass sie ihnen gerne gesagt hätte, sie sollten damit aufhören, doch die Schmerzen waren zu stark.

Allmählich verschwanden sie, und das Gewirr von Stimmen wurde immer dünner, bis nur noch eine einzige übrig blieb, die aber ebenso störend war.

»Ruhe jetzt«, sagte Adelia und öffnete die Augen, doch das tat so weh, dass sie beschloss, noch eine Weile bewusstlos zu bleiben, was sich jedoch als unmöglich erwies, weil das Grauen auf sie und jemand anderen wartete, so dass ihr Verstand, der sich ihr eigenes Überleben und das des anderen Menschen in den Kopf gesetzt hatte, unbedingt weiterarbeiten wollte.

Bleib ruhig und denk nach. Gott, dieser Schmerz. Irgendwer bohrte ihr den Schädel auf. Das musste eine Gehirnerschütterung sein – sie konnte nicht abschätzen, wie schwer, weil sie nicht wusste, wie lange sie bewusstlos gewesen war. Die Zeitdauer war immer ein Symptom für die Schwere. Verdammt, tat das weh. Genau wie ihre Rippen, vermutlich waren zwei gebrochen, aber – mit schmerzverzerrtem Gesicht holte sie versuchsweise tief Luft – vermutlich keine Perforation der Lunge. Die Tatsache, dass sie offenbar stand und die Arme über den Kopf gestreckt hatte, war nicht gerade hilfreich, weil so Druck auf der Brust lastete.

Unwichtig. Du bist in großer Gefahr, dein Gesundheitszustand ist dagegen unwichtig. Denk nach und überlebe.

Also. Sie war in dem Schacht. Sie erinnerte sich, oben an der Öffnung gewesen zu sein; jetzt war sie ganz unten. Bei dem kurzen Blick in das Loch hatte sie ringsherum nur Weiß gesehen. Was sie nicht mehr wusste, war, wie sie von oben nach unten gekommen war – die natürliche Folge einer Gehirnerschütterung. Gestoßen oder gestürzt, offensichtlich.

Und es war noch jemand gestürzt, oder er war vor oder nach Adelia hierhergebracht worden, denn bei ihrem kurzen Versuch, die Augen zu öffnen, hatte sie an der gegenüberliegenden Wand eine Gestalt gesehen. Und diese Gestalt gab unaufhörlich störende Laute von sich.

»Rette-und-erlöse-mich, gütiger-Herr-und-Meister-und-ich-werde-Dir-nachfolgen-all-meine-Tage-und-ich-werde-Dich-fürchten. Züchtige-mich-mit-Deinen-Peitschen-und-Skorpio-nen-und-behüte-mich-dennoch …«

Das Gestammel kam von Schwester Veronica. Die Nonne stand etwa zehn Fuß entfernt auf der anderen Seite einer nach oben offenen Kammer, in die der Schacht mündete. Nonnenschleier und Haube waren heruntergerissen worden und hingen ihr um den Hals, und das gelöste Haar fiel ihr vors Gesicht wie dunkle Nebelfetzen. Die Hände hatte sie über den Kopf gereckt, wo sie wie die von Adelia an einen Bolzen gefesselt waren.

Sie war vor Entsetzen nicht mehr Herr ihrer Sinne, Speichel tropfte ihr vom Kinn, und ihr bebender Körper brachte die eisernen Handschellen an ihren Gelenken so heftig zum Klappern, dass es sich anhörte wie eine Begleitung zu dem Gebet um Errettung, das aus ihrem Mund strömte.

»Haltet doch mal den Mund«, sagte Adelia ärgerlich.

Veronicas Augen weiteten sich vor Schreck und, ein klein wenig, vor berechtigter Empörung. »Ich bin Euch gefolgt«, sagte sie. »Ihr wart weg, und ich bin Euch gefolgt.«

»Das war unklug«, stellte Adelia fest.

»Das Tier ist hier, Maria, Mutter Gottes, beschütze uns, es hat mich genommen, es ist hier unten, es wird uns fressen, oh, Jesus, Maria, errettet uns beide, es ist gehörnt.«

»Schon möglich, aber hört auf, so zu schreien.«

Adelia wappnete sich gegen den Schmerz und wandte den Kopf, um sich umzusehen. Ihr Hund lag mit gebrochenem Genick am Fuß der Leiter.

Ein Schluchzen stieg aus ihrer Kehle hoch. Nicht jetzt, nicht jetzt, beschwor sie sich. Dafür ist jetzt keine Zeit, du kannst jetzt nicht trauern. Wenn du überleben willst, musst du nachdenken. Aber, ach, Aufpasser …

Die Flammen zweier Fackeln, die in Kopfhöhe auf beiden Seiten der Kammer in Halterungen steckten, beschienen grobe, runde Wände, deren Weiß nur mancherorts von grünlichen Algen durchbrochen wurde. Es war, als stünden sie und Veronica auf dem Grund einer gewaltigen Röhre aus dickem, schmutzigem, zerknittertem Papier.

Sie waren allein. Von dem Tier der Nonne war nichts zu sehen, doch auf beiden Seiten gingen zwei Tunnel ab. Der links von Adelia hatte nur eine kleine Öffnung, ein Kriechraum, der mit einem Eisengitter abgesperrt war. Der rechts von ihr wurde von unsichtbaren Fackeln erhellt und war so groß, dass ein Mann hindurchkonnte, ohne sich bücken zu müssen. Eine Biegung versperrte ihr die Sicht, so dass sie nicht sehen konnte, wie lang er war, doch gleich am Anfang lehnte ein verbeulter, polierter Schild mit dem Kreuzfahrerkreuz darauf an der Wand und spiegelte die Kreide der gegenüberliegenden Seite wider.

Und in der Mitte dieser Folterkammer, auf halbem Weg zwischen ihr und Veronica und dem toten Hund, nahm der Altar des Tieres einen Ehrenplatz ein.

Es war ein Amboss. So alltäglich an seinem rechtmäßigen Platz, hier jedoch so grauenhaft. Ein Amboss, der von der strohgedeckten Wärme einer Schmiede hierhergeschleppt worden war, um Kinder darauf zu durchbohren. Obendrauf lag die Waffe, glänzend zwischen den Flecken, eine Speerspitze. Sie war facettiert – so wie die Wunden, die sie geschlagen hatte.

Feuerstein, großer Gott, Feuerstein. Feuerstein, der schichtweise in Kreidegestein eingelagert war. Uralte Teufel hatten diesen Schacht gegraben, um an den Feuerstein ranzukommen, den sie dann formten, um damit zu töten. Rakshasa, ebenso primitiv wie sie, hatte eine Waffe benutzt, die von einem finsteren Volk in finsteren Zeiten gefertigt worden war.

Sie schloss die Augen.

Aber die Blutflecken waren dunkel. Auf dem Amboss dort war in den letzten Stunden niemand gestorben. »Ulf!«, schrie sie gellend und riss die Augen auf. »Ulf!«

Links von ihr, aus der Dunkelheit des niedrigen Tunnels, gedämpft vom porösen Kreidegestein und doch hörbar, kam ein unsicheres Stöhnen.

Adelia wandte das Gesicht zu dem kreisrunden Stück Himmel über ihrem Kopf und stieß ein Dankgebet aus. Die Übelkeit von der Gehirnerschütterung, der Würgereiz vom Geruch der erstickenden Kreide, vom Gestank irgendeines Harzes, das die Fackeln verbrannten, wurde von einem Hauch frischer Mailuft verdrängt. Der Junge lebte.

Nun denn. Dort auf dem Amboss, nur wenige Schritte entfernt, lag eine Waffe für sie griffbereit.

Ihre Hände waren zwar über ihrem Kopf festgebunden, doch sehr wahrscheinlich waren ihre Handschellen genau wie die von Schwester Veronica an einem Bolzen befestigt, der in das nackte Kreidegestein getrieben worden war. Und Kreide war und blieb Kreide: sie war brüchig und schlecht geeignet, irgendetwas festzuhalten – wie Sand.

Adelia beugte die Ellbogen und zog an dem Bolzen über ihrem Kopf. O Gott, o verdammt. Ein wilder Schmerz durchfuhr wie ein glühendes Eisen ihre Brust. Diesmal hatte sie sich bestimmt, ganz bestimmt, die Lunge verletzt. Sie hing kraftlos da, keuchte, rechnete damit, dass ihr Blut aus dem Mund quoll. Nach einer Weile begriff sie, dass sie noch einmal Glück gehabt hatte, aber wenn diese verfluchte Nonne nicht mit der Jammerei aufhörte …

»Hört auf zu faseln«, schrie sie die junge Frau an. »Seht her, Ihr müsst ziehen. Ziehen, verdammt noch mal. Der Bolzen. In der Wand. Der kommt raus, wenn Ihr kräftig genug dran zerrt.« Trotz des Schmerzes hatte sie gespürt, dass die Kreide über ihr etwas nachgegeben hatte.

Aber Veronica konnte, wollte sie einfach nicht verstehen. Ihre Augen blickten groß und wild, wie ein Reh, das die Hunde nahen sieht; sie faselte.

Ich muss es allein schaffen.

Ein weiterer kräftiger Ruck kam nicht in Frage, aber wenn sie an den Handschellen rüttelte, würde sich der Bolzen vielleicht lockern und schließlich rausziehen lassen.

Hektisch begann sie, die Hände auf und ab zu bewegen, dachte an nichts anderes mehr als an das Stück Eisen, als wäre sie mit ihm zusammen von Kreide umschlossen, bewegte es kaum merklich, unter Schmerzen, Schmerzen, doch dann sah sie, wie sich der Bolzen in der Wand rührte …

Die Nonne schrie auf.

»Ruhe«, schrie Adelia zurück. »Ich muss mich konzentrieren.«

Die Nonne schrie weiter. »Er kommt.«

Rechts von ihr hatte sich etwas bewegt. Zögernd wandte Adelia den Kopf. Wegen der Tunnelbiegung konnte Adelia zwar nicht unmittelbar sehen, was Veronica sah, aber es spiegelte sich in dem Kreuzritterschild. Die unebene, konvexe Oberfläche warf das Bild eines dunklen Körpers zurück, verkleinert und monströs zugleich. Die Gestalt war nackt und betrachtete sich selbst. Sie posierte, berührte ihre Genitalien und dann das Gestell auf ihrem Kopf.

Der Tod bereitete sich auf seinen Auftritt vor.

Es war ein Augenblick äußersten Entsetzens, und mit einem Schlag war Adelia nicht mehr sie selbst. Wenn sie gekonnt hätte, sie wäre auf Knien zu dem Wesen hingekrochen und hätte gefleht: Nimm die Nonne, nimm den Jungen, verschone mich. Wären ihre Hände frei gewesen, sie wäre zur Leiter gerannt und hätte Ulf zurückgelassen. Sie verlor allen Mut, alle Vernunft, alles. Zurück blieb nur der nackte Selbsterhaltungstrieb.

Und Reue. Reue durchdrang die Panik mit einer Vision, in der sie nicht etwa ihren Schöpfer sah, sondern Rowley Picot. Sie würde sterben, grauenhaft sterben, ohne je einen Mann auf die einzige gesunde Weise geliebt zu haben, die es gab.

Das Wesen trat aus dem Gang; es war groß, wirkte noch größer durch das Geweih auf seinem Kopf. Der obere Teil des Gesichts und die Nase waren hinter einer Hirschkopfmaske verborgen, doch der übrige Körper war menschlich, mit dunklem Haar auf der Brust und im Schambereich. Der Penis war steif. Es kam auf Adelia zustolziert, drückte sich gegen sie. Wo Hirschaugen hätten sein sollen, waren Löcher, aus denen blaue menschliche Augen sie anstarrten. Der Mund grinste. Sie roch Tier.

Sie kotzte.

Als das Tier zurücksprang, um ihrem Erbrochenen auszuweichen, wippte das Geweih ein wenig, und Adelia sah, dass es mit Schnüren an Rakshasas Kopf festgezurrt war, aber recht locker, so dass die Geweihstangen wackelten, wenn er eine jähe Bewegung machte.

Wie gewöhnlich. Verachtung und Wut übermannten sie. Sie hatte Besseres zu tun, als hier rumzustehen, und sich von einem Scharlatan mit selbstgebasteltem Kopfschmuck ins Bockshorn jagen zu lassen. »Du stinkender Scheißkerl«, sagte sie zu ihm. »Mir machst du keine Angst.« Und in diesem Augenblick stimmte das auch beinahe.

Sie hatte ihn aus der Fassung gebracht. Die Augen in der Maske glitten weg, ein Zischen drang zwischen den Zähnen hervor. Als er zurückwich, sah sie, dass sein Penis erschlafft war.

Aber er griff mit einem Arm hinter sich, während er weiter Adelia ansah. Seine Hand ertastete Schwester Veronicas Körper, kroch nach oben, bis sie den Halsausschnitt ihres Habits packen konnte, und riss ihn nach unten bis zur Taille. Schwester Veronica schrie auf.

Den Blick noch immer auf Adelia gerichtet, blieb das Tier einen Moment hoch aufgerichtet stehen, dann drehte es sich um und biss Veronica in die Brust. Als es sich wieder umwandte und Adelias Reaktion beobachtete, war sein Penis erneut aufgerichtet.

Adelia fing an, ihn zu beschimpfen. Sprache war die einzige Waffe, die sie besaß, und sie beschoss ihn damit. »Du dämlicher, stinkender Trottel, was kannst du denn schon, was? Frauen und Kinder quälen, wenn sie gefesselt sind? Anders kannst du dir wohl keinen Spaß verschaffen? Verkleidest dich wie eine Jahrmarktsfigur, du Sohn einer räudigen Sau, und unter deiner Maskerade bist du kein Mann, bloß ein butterweiches Muttersöhnchen.«

Wer dieses schimpfende Ich war, wusste Adelia nicht, und es war ihr auch gleichgültig. Es würde sterben, aber es würde nicht gedemütigt sterben wie Veronica; es würde diese Welt fluchend verlassen.

Allmächtiger, sie hatte ins Schwarze getroffen. Das Wesen hatte schon wieder seine Erektion verloren. Es fauchte und riss, noch immer mit Blick auf Adelia, das Nonnenhabit bis zum Schritt herunter.

Arabisch, Hebräisch, Latein und Gylthas derbes Englisch, Adelia setzte alles ein, was ihr in den Sinn kam, selbst Zotigkeiten aus unbekannten Gossen.

Sie nannte ihn einen Schlappschwanz, einen rotznäsigen, arschleckenden, Ziegen fickenden, fettwanstigen, furzenden, nach Scheiße stinkenden Witz, einen Homo insanus.

Während sie auf ihn einbrüllte, beobachtete sie seinen Penis: Er war wie eine Flagge, ein Signal für ihren oder seinen Sieg. Der Akt des Tötens würde ihn zum Erguss bringen, das wusste sie, aber um überhaupt so weit zu kommen, brauchte das Tier die Angst seines Opfers. Es gab Kreaturen … ihr Ziehvater hatte ihr davon erzählt … Reptilien, die Menschen unter Wasser zerrten und dort lagerten, bis das Fleisch weich war und sich angenehm verspeisen ließ. Für die Kreatur hier war es das Entsetzen, was ihm das Fleisch schmackhaft machte. »Du … du Schuppenkrokodil«, schleuderte sie ihm entgegen. Furcht war Rakshasas Elixier, seine Wonne, seine Nahrung. Verweigerte man sie ihm, konnte er, so Gott gebe, nicht töten.

Sie kreischte ihn an: Er war ein furzender, wichsender Versager, ein saublödes Schwein mit einem Schwanz wie eine Nacktschnecke; sie hatte schon Himbeeren gesehen, die größer waren als seine Eier.

Keine Zeit, sich über sich selbst zu wundern. Überlebe. Verhöhne ihn. Halt das Blut in deinen Adern und raus aus seinen. Bei jedem Wort rüttelte sie an den Eisenschellen an ihren Handgelenken – und der Bolzen in der Kreide bewegte sich leichter und leichter.

An Veronicas Bauch war Blut, ihre Angst hatte das Entsetzen hinter sich gelassen und einen Zustand erreicht, in dem ihr Körper nicht mehr auf die Peinigungen des Tiers reagierte. Der Kopf war nach hinten geworfen, die Augen geschlossen, der Mund verzerrt wie in einem Totenschädel.

Adelia fluchte und beschimpfte ihn weiter.

Doch jetzt riss Rakshasa selbst die Handfesseln der Nonne aus der Wand. Er trat zurück und schlug Veronica auf den Mund, dann packte er sie im Nacken, zerrte sie zu dem niedrigen Tunnel und warf sie auf die Knie. Mit einem Ruck zog er das Gitter beiseite. Er zeigte hinein. »Hol ihn«, sagte er.

Adelias Schimpftirade geriet ins Stocken. Er würde den Jungen in diese Verkommenheit hineinholen und ihn besudeln.

Veronica lag auf den Knien und blickte zu ihrem Peiniger auf, anscheinend völlig verwirrt. Rakshasa trat ihr ins Gesäß und deutete auf die Tunnelöffnung, beobachtete aber dabei Adelia. »Hol den Jungen.«

Die Nonne kroch in den Tunnel, und das Klimpern ihrer Handschellen wurde leiser, als sie sich vorwärtsbewegte.

Adelia betete, ein lautloser Schrei. Allmächtiger Gott, nimm meine Seele, das ist mehr, als ich ertragen kann.

Rakshasa nahm den toten Aufpasser. Er warf ihn auf den Amboss, so dass der Hund auf dem Rücken lag. Er behielt Adelia weiter im Blick, griff mit einer Hand nach dem Feuersteinmesser und fuhr sich mit der Spitze versuchsweise über den Handrücken. Er hob den Arm, um ihr das Blut zu zeigen.

Er braucht meine Angst, dachte sie. Er hat sie.

Die Geweihstangen wackelten, als er die Augen zum ersten Mal von Adelia abwandte und nach unten sah. Er hob das Messer …

Sie schloss die Augen. Er spielte seine Taten nach, und sie würde ihm nicht dabei zusehen. Er wird mir die Augenlider abschneiden, und ich werde ihm nicht zusehen.

Aber sie musste zuhören, wie das Messer in Fleisch und Eingeweide stieß und Knochen splitterten. Endlos, endlos.

Sie hatte keine Beschimpfungen mehr in sich, keinen Trotz, ihre Hände waren reglos. Falls es eine Hölle gibt, dachte sie dumpf, sie reicht nicht an die hier heran.

Die Geräusche verstummten. Sie hörte seine Füße näher kommen, roch seinen Gestank. »Kuck zu«, sagte er.

Sie schüttelte den Kopf, doch als sie einen Schlag auf den linken Arm spürte, öffnete sie die Augen. Er hatte sie mit dem Messer verletzt, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Er war gereizt. »Kuck zu

»Nein.«

Sie hörten es beide, ein Schlurfen aus dem niedrigen Gang. Zähne zeigten sich unter der Hirschmaske. Er blickte zum Eingang hinüber, aus dem Ulf getaumelt kam. Auch Adelia sah hin.

Gott schütze ihn, der Junge war so klein, so schlicht, zu wirklich, zu normal auf dieser monströsen Bühne, die die Kreatur für ihn bereitet hatte, und Adelia schämte sich richtig, gleichzeitig mit ihm darauf eine Rolle zu spielen.

Er war vollständig bekleidet, aber er torkelte und war benommen. Seine Hände waren vor dem Körper gefesselt. Um Mund und Nase hatte er Flecken. Opiumtinktur. Aufs Gesicht gedrückt. Um ihn ruhig zu halten.

Seine Augen glitten langsam zu der zerfetzten Masse auf dem Amboss und weiteten sich.

Sie rief: »Hab keine Angst, Ulf.« Es war keine Aufmunterung, sondern ein Befehl: Zeig ihm keine Furcht, liefere ihm kein Futter.

Sie sah, wie er versuchte, sich zu sammeln: »Hab ich nich«, flüsterte er.

Adelia fasste wieder Mut. Und zugleich kam die Wut. Und die Entschlossenheit. Kein Schmerz auf Erden konnte sie davon abhalten. Rakshasa hatte sich halb von ihr abgewandt, in Ulfs Richtung. Sie riss die Hände nach vorn, und der Bolzen flog aus der Wand. Mit derselben Bewegung versuchte sie, Rakshasa die Kette zwischen den beiden Handschellen über den Kopf und um den Hals zu schlingen, um ihn damit zu erwürgen.

Sie kam nicht hoch genug, und die Kette verfing sich in dem Geweih. Als sie daran zog, kippte die Maske grotesk nach hinten und zur Seite, und die Schnüre, mit denen sie befestigt war, spannten sich straff unter Rakshasas Nase und über den Augen.

Er war für einen Moment blind, und die Attacke brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Sein Fuß rutschte weg, und er fiel, Adelia mit ihm – in die Masse aus Hundegedärmen, die den Boden schlüpfrig machten.

Ein Knurren ertönte, ihr eigenes oder Rakshasas, sie ließ nicht locker, mehr konnte sie nicht tun. Sie hing mit der Kette in dem Geweih fest, an dem er mit Schnüren hing. Sie kamen nicht voneinander los, sein Körper gebeugt unter ihrem, ihr Knie auf seinem ausgestreckten Messerarm. Er versuchte, sie abzuschütteln, um dann nach hinten zuzustoßen, sie kämpfte, damit er sie nicht abwarf und tötete. Die ganze Zeit über rief sie: »Lauf weg, Ulf. Die Leiter. Lauf weg!«

Der Rücken unter ihr hob sich; sie hob sich mit ihm und sackte dann wieder nach unten, als Rakshasa erneut ausglitt. Das Messer rutschte ihm aus der Hand in die glitschige Masse. Mit Adelia auf dem Rücken kroch er darauf zu, stieß dabei gegen Ulf und Veronica, die nun auch in das Gewühl fielen. Alle vier rollten sie unentwirrbar auf dem Boden durcheinander.

Von irgendwo war etwas Neues zu hören. Ein Laut. Er bedeutete nichts. Adelia war blind und taub. Sie hatte die Geweihstangen mit beiden Händen gepackt und versuchte, sie so zu drehen, dass sich eine Spitze in Rakshasas Schädel bohrte. Das neue Geräusch war nichts, ihr eigener Schmerz nichts. Dreh. Dreh ihm das Geweih ins Gehirn. Dreh. Lass dich nicht abwerfen. Lass nicht los. Dreh. Töte.

Die Schnur des Geweihs riss, und sie hielt es weiter fest. Der Körper unter ihr glitt von ihr weg, fuhr herum und wollte sich auf sie stürzen.

Eine Sekunde lang belauerten sie sich gegenseitig, mit wildem Blick und keuchend. Das Geräusch war jetzt laut. Es kam oben vom Schachteingang, eine Mischung von vertrauten Klängen, die so schlecht zu diesem Kampf auf Leben und Tod passten, dass Adelia gar nicht darauf achtete.

Aber das Tier nahm sie wahr. Seine Augen veränderten sich, sie sah, wie etwas in ihnen erlosch. Die pure Lust des Tötens verschwand aus ihnen. Das Wesen war noch immer ein Tier mit gebleckten Zähnen, aber es hatte den Kopf gereckt, schnüffelte, überlegte: Es hatte Angst.

Gütiger Himmel, dachte sie und fürchtete sich fast zu glauben, was sie da hörte. Schön, o wie schön, ein Jagdhorn und das Bellen von Hunden.

Rakshasas Jäger nahten.

Ihre Lippen öffneten sich zu einem Grinsen, das ebenso bestialisch war wie seins. »Jetzt stirbst du«, sagte sie.

Ein Ruf drang von oben in den Schacht. »Hallooo.« Schön, o wie schön. Es war Rowleys Stimme. Und Rowleys große Füße kamen die Leiter herab.

Die Augen des Tiers waren überall, suchten verzweifelt nach dem Messer. Adelia sah es zuerst. »Nein.« Sie warf sich darauf, bedeckte es. Das kriegst du nicht.

Rowley, das Schwert in der Hand, war fast am Fuß der Leiter, doch die Körper von Ulf und Veronica lagen ihm im Weg.

Vom Boden aus versuchte Adelia Rakshasas Fuß zu packen, als er an ihr vorbeilief, doch ihre Finger rutschten ab. Rowley schob die Nonne und den Jungen mit dem Fuß beiseite.

Rakshasa verschwand in dem großen Tunnel, und Adelias Sicht auf seine Beine und sein Gesäß wurde von Rowleys Beinen und Gesäß versperrt, als der hinter ihm herstürmte. Sie sah Rowley über den Schild straucheln und mit wedelnden Armen stürzen; sie hörte ihn fluchen – dann war er verschwunden. Sie setzte sich auf und blickte nach oben. Das Hundegebell war jetzt laut. Sie sah Nasen und Zähne über den Rand des Schachtlochs ragen. Die Leiter bebte. Irgendwer kletterte nach unten. Ihr ganzer Körper schmerzte. Zusammenzubrechen wäre jetzt schön gewesen, aber sie wagte es noch nicht. Es war nicht zu Ende – das Messer war verschwunden.

Ebenso wie Veronica und das Kind.

Rowley kam aus dem Tunnel gerannt, trat den Schild beiseite, der gegen den Amboss prallte. Er riss eine Fackel aus der Wandhalterung und verschwand damit wieder im Tunnel.

Adelia war in Dunkelheit gehüllt; die andere Fackel war ebenfalls weg. Ein kurzer Lichtschein offenbarte ihr eine kleine Kalkstaubwolke und den Saum eines schwarzen Habits, der gerade in dem Tunnel verschwand, aus dem Ulf gekommen war. Adelia kroch hinterher. Nein. Nein, jetzt doch nicht mehr. Wir sind gerettet. Gib ihn mir.

Es war ein kleiner Versuchstunnel, aus dem aber nicht gefördert worden war, denn das Licht von Veronicas Fackel ließ eine unebene glänzende Schicht Feuerstein erkennen, die sich wie eine Wandverkleidung über den gesamten Gang erstreckte. Der Tunnel machte einen Knick, und das Licht von vorn verschwand. Sogleich wurde Adelia in so tiefe Finsternis getaucht, als wäre sie plötzlich blind geworden. Sie kroch weiter.

Nein. Jetzt nicht mehr. Nicht jetzt, wo wir gerettet sind.

Sie konnte nur halbschräg kriechen; ihr linker Arm, in den Rakshasa sein Messer gestoßen hatte, wurde immer schwächer. Müde, so müde. Sie war es müde, sich zu fürchten. Keine Zeit, müde zu sein, nein. Jetzt nicht mehr. Kreidebröckchen zerbröselten unter ihrer rechten Hand, wenn sie sie aufsetzte. Ich werde ihn dir wegnehmen. Gib ihn mir.

Sie fand sie in einer winzigen Kammer, zusammengedrängt wie zwei Kaninchen. Ulf schlaff in der Umklammerung der Nonne, die Augen geschlossen. Schwester Veronica reckte die Fackel mit einer Hand hoch; die andere, die um das Kind lag, hielt das Messer.

Die schönen Augen der Nonne blickten nachdenklich. Sie war bei Verstand, obwohl ihr der Speichel aus dem Mundwinkel tropfte. »Wir müssen ihn beschützen«, erklärte sie Adelia. »Den Jungen hier soll das Tier nicht bekommen.« »Nein«, sagte Adelia bedächtig. »Er ist fort, Schwester. Sie werden ihn jagen und zur Strecke bringen. Gebt mir jetzt das Messer.«

Ein paar Lumpen lagen neben einem Eisenpfahl, der tief in den Boden eingelassen war und an dem eine Hundeleine hing. Das Halsband war gerade groß genug für einen Kinderhals. Sie waren in Rakshasas Vorratskammer.

Die kreisrunden Wände wurden durch das flackernde Fackellicht rot gefärbt. Die Zeichnungen darauf wanden sich. Adelia, die es nicht wagte, die Nonne aus den Augen zu lassen, hätte sie sich ohnehin nicht angesehen. In dieser Perversion eines Mutterschoßes hatten die Embryos nicht auf ihre Geburt gewartet, sondern auf den Tod.

Veronica sagte: »Wer aber Ärgernis gibt einem dieser Kleinen, dem wäre besser, dass ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde.«

»Ja, Schwester«, sagte Adelia. »Das wäre es.« Sie kroch vor und nahm der Nonne das Messer aus der Hand.

Gemeinsam zerrten sie Ulf durch den niedrigen Gang. Als sie herauskamen, sahen sie Hugh den Jäger, der sich fassungslos umsah, eine Laterne in der Hand. Rowley kam aus dem anderen Tunnel gelaufen. Er fluchte und tobte. »Er ist mir entwischt. Da unten gibt es Dutzende von diesen verdammten Gängen, und die verfluchte Fackel ist ausgegangen. Der Hundsfott kennt sich hier aus, ich nicht.« Er fuhr zu Adelia herum, als wäre er wütend auf sie – er war wütend auf sie. »Gibt es hier irgendwo noch einen Schacht?« Dann fügte er nachträglich hinzu: »Seid ihr Frauen verletzt? Wie geht’s dem Jungen?«

Er bugsierte sie die Leiter hoch, klemmte sich Ulf unter den Arm.

Für Adelia war der Aufstieg schier endlos, jede Sprosse ein Sieg, den sie gegen ihre Schmerzen und das Schwächegefühl errang, und sie wäre wohl wieder nach unten gestürzt, wenn Hugh sie nicht mit einer Hand gestützt hätte. Die Stichwunde am Arm brannte, und sie fürchtete schon, dass das Messer vergiftet gewesen sein könnte. Wie lächerlich, jetzt zu sterben. Tu Weinbrand drauf, dachte sie immerzu, oder Torfmoos. Du wirst doch jetzt nicht sterben, wo wir gewonnen haben.

Und als ihr Kopf über den Schachtrand ragte und sie frische Luft spürte … wir haben gewonnen. Simon, Simon, wir haben gewonnen.

Sie hielt sich an der obersten Sprosse fest und blickte zu Rowley hinab. »Jetzt werden sie erfahren, dass die Juden es nicht getan haben.«

»Das werden sie«, sagte er. »Kletter weiter.« Veronica klammerte sich an ihn, weinte und stammelte unzusammenhängendes Zeug. Als Adelia endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, wurde sie sogleich von Hunden beschnuppert, die vor Freude über die erfolgreiche Fährtensuche wie verrückt mit den Schwänzen wackelten. Hugh rief ihnen etwas zu, und sie wichen zurück. Als Rowley auftauchte, sagte Adelia: »Sag du es ihnen. Sag ihnen, dass die Juden es nicht getan haben.«

Zwei Pferde grasten in der Nähe.

Hugh sagte: »Ist unsere Mary da gestorben? Da unten? Wer hat ihr das angetan?«

Sie sagte es ihm.

Er blieb einen Moment lang ganz still stehen, und die Laterne, die ihn von unten beschien, verzerrte sein Gesicht mit schrecklichen Schatten.

Rowley, der vor Frustration und Ratlosigkeit nicht aus noch ein wusste, schob Ulf in Adelias Arme. Er brauchte Männer, um die Gänge unter der Erde zu durchsuchen, aber die beiden Frauen waren nicht in der Verfassung, Unterstützung zu holen, und er wagte es nicht, selbst zu gehen oder Hugh zu schicken.

»Jemand muss diesen Schacht bewachen. Er steckt irgendwo unter diesem verdammten Hügel, und früher oder später wird er rausgeflitzt kommen wie ein verdammtes Karnickel, aber vielleicht gibt es irgendwo hier noch einen Ausgang.« Er schnappte sich Hughs Laterne und begann, die Hügelkuppe abzusuchen, obwohl er wusste, obwohl alle wussten, dass es ein hoffnungsloses Unterfangen war.

Adelia legte Ulf auf das Gras oberhalb der Senke, zog ihren Mantel aus und schob ihn dem Jungen unter den Kopf. Dann setzte sie sich neben ihn und atmete die Gerüche der Nacht ein – wie konnte es nur noch immer Nacht sein? Sie roch Weißdorn und Wacholder. Der Duft von Kalmus rief ihr in Erinnerung, wie verdreckt sie war. Schweiß klebte an ihr und Blut und Urin, vermutlich ihr eigener, und ein Gestank, der ihr wohl nie wieder ganz aus der Nase verschwinden würde, selbst wenn sie den Rest ihres Lebens in einem Bad verbrachte: der von Rakshasas Körper.

Sie fühlte sich ausgelaugt, als wäre sie leer und hohl, nur noch eine zitternde Hülle aus abgestreifter Haut.

Neben ihr fuhr Ulf mit einem Ruck hoch, sog gierig die frische Luft ein, die Fäuste geballt. Er blickte sich um, sah die Landschaft, den Himmel, Hugh, die Hunde, Adelia. Er hatte Mühe zu sprechen. »Wo … bin ich? Bin ich raus?«

»Raus und in Sicherheit«, beruhigte sie ihn.

»Haben die … ihn erwischt?«

»Das werden sie.« Gebe Gott, dass sie Recht behielt.

»Der hat mir keine … Angst gemacht«, sagte Ulf und begann zu schlottern. »Ich hab mich gegen das Schwein gewehrt, hab geschrien … und nich aufgehört.«

»Ich weiß«, sagte Adelia. »Die mussten dich mit Mohnsaft beruhigen. Du warst zu tapfer für sie.« Sie legte ihm einen Arm um die Schultern, als ihm die Tränen kamen. »Jetzt musst du nicht mehr tapfer sein.«

Sie warteten.

Ein Hauch von Grau am östlichen Himmel verkündete, dass die Nacht doch noch ein Ende haben würde. Auf der anderen Seite der Mulde lag Schwester Veronica auf den Knien, und ihre geflüsterten Gebete waren wie das Rascheln von Blättern. Hugh hatte einen Fuß auf die Leiter im Schacht gestellt, um sofort jede Bewegung darauf zu spüren. Eine Hand lag auf dem Jagdmesser in seinem Gürtel. Er beruhigte die Hunde, murmelte ihre Namen und versicherte ihnen, dass sie wackere Burschen waren.

Er sah zu Adelia hinüber. »Sind den ganzen Weg der Witterung von Eurem alten Köter gefolgt, meine Jungs«, sagte er.

Die Hunde blickten auf, als wüssten sie, dass von ihnen die Rede war. »Sir Rowley, der war vielleicht aus dem Häuschen. ›Sie ist dem Jungen nach‹, hat er gesagt, ›Und wird höchstwahrscheinlich selbst dabei umgebracht.‹ Hat sich ein paar schöne Schimpfnamen für Euch ausgedacht in seinem Zorn. Aber ich hab ihm was gesagt. ›Das ist ein prächtiger alter Stinker, der Köter von ihr. Den wittern meine Jungs zehn Meilen gegen den Wind‹, hab ich ihm gesagt. War das der alte Knabe da unten?«

Adelia nahm sich zusammen. »Ja«, sagte sie.

»Tut mir wirklich leid. Aber er hat seine Sache gut gemacht.« Die Stimme des Jägers war beherrscht, dumpf. Irgendwo in den Gängen unter ihren Füßen lief die Kreatur herum, die seine Nichte abgeschlachtet hatte.

Ein Rascheln ertönte, und Hugh zog augenblicklich das Messer aus dem Gürtel, doch es war nur eine Waldohreule, die zu ihrem letzten Beuteflug der Nacht abhob. Ein schläfriges Zwitschern verriet, dass die ersten kleinen Vögel erwachten. Jetzt war Rowley selbst zu erkennen und nicht bloß seine Laterne, eine große Gestalt, die emsig mit dem Schwert im Boden herumstocherte. Doch jeder Busch auf der buckligen, unebenen Kuppe warf im Mondlicht einen Schatten, der einer beweglichen Dunkelheit bei ihrer verstohlenen Flucht Deckung bieten mochte.

Der Himmel im Osten verwandelte sich spektakulär in ein gefährliches, drohendes Rot, durchzogen von zerfetzten Streifen aus Schwarz.

»Morgenrot, Schlechtwetterbot«, sagte Hugh, »des Teufels Morgendämmerung.«

Adelia betrachtete es matt. Ulf neben ihr wirkte ähnlich teilnahmslos.

Er ist beschädigt, dachte Adelia, ebenso wie ich. Wir waren an Orten jenseits aller Vorstellungskraft und sind von ihnen gezeichnet. Vielleicht kann ich das verkraften, aber kann er es? Denn er ist besonders perfide verraten worden.

Und mit diesem Gedanken spürte sie neue Energie. Unter Schmerzen stand sie auf und ging um die Mulde herum zu der Stelle, wo Veronica kniete, die gefalteten Hände so hoch erhoben, dass das Morgenlicht darauffiel, den anmutigen Kopf im Gebet gesenkt – so wie Adelia sie am Grab des Kleinen St. Peter gesehen hatte.

»Gibt es einen anderen Ausgang?«, fragte Adelia.

Die Nonne bewegte sich nicht. Ihre Lippen verharrten einen Moment, ehe sie das geflüsterte Paternoster wieder aufnahmen.

Adelia versetzte ihr einen Tritt. »Gibt es einen anderen Ausgang?«

Hugh räusperte sich schockiert.

Ulfs Blick war Adelia gefolgt und huschte jetzt zu der Nonne. Seine Knabenstimme hallte über den Wandlebury Ring. »Sie war es.« Er zeigte auf Veronica. »Sie ist ein böses, böses Weib.«

Hugh flüsterte entsetzt. »Still, Junge.«

Tränen rannen über Ulfs hässliches kleines Gesicht, aber es lag wieder Begreifen darin und Entschlossenheit und erbitterter Zorn. »Die war’s. Sie hat mir was aufs Gesicht gedrückt, hat mich mitgenommen. Die steckt mit dem unter einer Decke.« »Ich weiß«, sagte Adelia. »Sie hat mich in den Schacht geworfen.«

Die Augen der Nonne starrten flehend zu ihr hoch. »Der Teufel war zu stark für mich«, sagte sie. »Er hat mich gefoltert – Ihr habt ihn gesehen. Ich wollte das nicht, wollte es nie.« Ihre Augen glitten ab und glühten rot, als sie die Morgendämmerung in Adelias Rücken reflektierten.

Hugh und auch Ulf hatten sich plötzlich nach Osten gewandt. Adelia wirbelte herum. Der Himmel schien in einem wüsten Weltenbrand zu lodern, als stünde eine ganze Hemisphäre in Flammen und wollte über sie alle hinwegbrausen. Und da, als hätte er das Feuer heraufbeschworen, hob sich der Teufel selbst schwarz davor ab, rannte nackt mit großen Sprüngen dahin wie ein Hirsch.

Rowley, fünfzig Schritte entfernt, stürmte los, um ihm den Weg abzuschneiden. Die Gestalt schlug ein paar Haken und änderte die Richtung. Die Zuschauer hörten Rowleys Verzweiflungsschrei: »Hugh! Er entkommt. Hugh.«

Der Jäger kniete sich hin und raunte seinen Hunden etwas zu. Dann ließ er sie von der Leine. Mit der Leichtigkeit von galoppierenden Pferden begannen sie die Hetzjagd in den Sonnenaufgang hinein.

Der Teufel rannte, Gott, und wie er rannte, doch jetzt zeichneten sich auch die Hunde vor demselben Streifen Himmel ab. Es gab einen Augenblick, der denjenigen, die ihn erlebten, im Gedächtnis haften blieb wie ein Detail in einer illuminierten Handschrift, Schwarz auf Rotgold, die Hunde mitten im Sprung und der Mann mit erhobenen Händen, als wollte er in die Luft klettern, ehe das Rudel über Sir Joscelin von Grantchester herfiel und ihn in Stücke riss.