Kapitel Sechs

Von weichen Betten hielt Gyltha nicht viel. Adelia hatte sich eine Matratze mit Gänsedaunenfüllung gewünscht, wie die, auf der sie in Salerno schlief. Schließlich war der Himmel über Cambridge mit Gänsen übersät.

»Gänsefedern zu waschen ist eine Plackerei«, sagte Gyltha.

»Stroh ist sauberer, kannst du jeden Tag wechseln.«

Zwischen ihnen herrschte eine unerwünschte Spannung. Adelia hatte um mehr Salat zu den Mahlzeiten gebeten, und Gyltha hatte die Bitte als Majestätsbeleidigung empfunden. Jetzt war der Augenblick der Konfrontation gekommen, der darüber entscheiden würde, wer hier in Zukunft das Sagen hatte.

Einerseits war Adelia keineswegs in der Lage, selbst einen so bescheidenen kleinen Haushalt zu führen, weil ihr die notwendigen Fähigkeiten dazu fehlten: Sie verstand nichts von Vorratswirtschaft und hatte außer mit Apothekern noch nie mit irgendwelchen Händlern zu tun gehabt. Sie konnte weder spinnen noch weben, und ihr Wissen über Kräuter und Gewürze war eher medizinischer als kulinarischer Natur. Ihr Geschick als Näherin beschränkte sich darauf, offene Wunden zu verschließen oder sezierte Kadaver wieder zusammenzuflicken.

In Salerno spielte das alles keine Rolle. Der gesegnete Mann, der ihr Ziehvater war, hatte in ihr früh einen Verstand erkannt, der es mit dem seinen aufnehmen konnte, und da sie nun einmal in Salerno waren, hatte er ihr das Studium der Medizin nahegebracht, schließlich waren er und seine Frau beide Ärzte.

Die Führung des Haushaltes in ihrer großen Villa blieb seiner Schwägerin überlassen, einer Frau, die dafür gesorgt hatte, dass alles wie am Schnürchen lief, ohne je ihre Stimme zu erheben. Zu alldem fügte Adelia noch den Umstand hinzu, dass ihr Aufenthalt in England nur vorübergehend war und ihr keine Zeit für Häuslichkeit bleiben würde.

Andererseits war sie nicht gewillt, sich von einer Dienerin herumkommandieren zu lassen. Sie sagte scharf: »Dann sorg dafür, dass es auch wirklich jeden Tag gewechselt wird.«

Ein Kompromiss mit leichten Vorteilen für Gyltha, endgültiger Ausgang noch offen. Und er würde jetzt auch nicht entschieden werden, weil sie Kopfschmerzen hatte.

Letzte Nacht hatte der Aufpasser das Sonnenzimmer mit ihr geteilt – eine weitere verlorene Schlacht. Auf Adelias Einwand, der Hund stinke unerträglich und solle draußen schlafen, hatte Gyltha erwidert: »Befehl des Priors. Der Hund geht dahin, wo du hingehst.« Und so hatte sich das Schnarchen des Tieres mit den fremdartigen Rufen und Schreien vom Fluss vermischt, während ihr Traum durch Simons Andeutung, das Gesicht des Mörders könnte ihnen bekannt sein, schreckliche Formen annahm.

Ehe sie zu Bett gingen, war Simon diesem Gedanken nachgegangen: »Wer hat an dem Lagerfeuer neben der Straße geschlafen, und wer hat es verlassen? Ein Mönch? Ein Ritter? Der Jäger? Der Steuereintreiber? Hat sich einer von ihnen davongestohlen, um diese armen Gebeine zu holen – sie waren leicht, wie ihr wisst, und vielleicht hat er ein Pferd genommen. Der Händler? Einer von den Knappen? Der Spielmann? Ein Diener? Wir müssen sie alle in Betracht ziehen.«

Einer von ihnen war jedenfalls in der Nacht in Gestalt einer Elster durch ihr Sonnenfenster hereingeflogen. Sie trug ein lebendes Kind in den Krallen und setzte sich auf Adelias Brust, wo sie anfing, den Körper zu zerhacken. Ein lidloses Auge glitzerte sie herausfordernd an, während der Schnabel die Kinderleber herausriss.

Das grässliche Bild war so lebendig, dass Adelia keuchend erwachte und einen Moment lang glaubte, ein Vogel habe die Kinder getötet.

»Wo ist Master Simon?«, fragte sie Gyltha. Es war früher Morgen; das Westfenster der Halle blickte auf eine Wiese, die noch im Schatten des Hauses lag und zur Cam hinunter abfiel, die bereits in Sonnenlicht getaucht war und so blitzsauber aussah, sich so tief und glatt an den Weidenbäumen entlangschlängelte, dass Adelia den jähen Drang verspürte, in den Fluss zu springen und wie eine Ente darin herumzuplantschen.

»Weggegangen. Wollte wissen, wo die Wollhändler zu finden sind.«

Gereizt sagte Adelia: »Wir wollten doch heute zum Wandlebury Ring.« Am Vorabend waren sie sich einig gewesen, dass sie zunächst das Versteck des Mörders finden müssten.

»Hat er auch gesagt, aber weil unser Master Braunkopf nicht raus kann, will er eben morgen hin.«

»Mansur«, fauchte Adelia, »er heißt Mansur. Weshalb kann er nicht raus?«

Gyltha winkte sie zum Ende der Halle und in den Laden des alten Benjamin. »Deshalb.«

Adelia stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte durch eine der Schießscharten.

Vor dem Tor hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Einige saßen auf dem Boden, als wären sie schon lange dort.

»Die warten auf Doktor Mansur«, sagte Gyltha mit Nachdruck.

»Deshalb könnt ihr nicht zu den Hügeln.«

Das war ein Problem. Sie hätten es vorhersehen können, aber als sie Mansur als Arzt ausgaben, als neuen, fremdländischen Arzt in einer geschäftigen Stadt, waren sie gar nicht auf die Idee gekommen, dass er sich vor Patienten nicht würde retten können. Die Nachricht von ihrer Begegnung mit dem Prior hatte sich herumgesprochen; in der Jesus Lane konnte man von Leiden geheilt werden.

Adelia war bestürzt. »Aber wie soll ich sie denn behandeln?«

Gyltha zuckte die Achseln. »Wie’s aussieht, sind die meisten sowieso schon halbtot. Schätze, da war der Kleine St. Peter mit seinem Latein am Ende.«

Der Kleine St. Peter, das zarte, wundertätige Skelett, dessen Knochen die Priorin auf dem ganzen Weg von Canterbury hierher angepriesen hatte wie ein Marktschreier.

Adelia seufzte bei dem Gedanken an ihn, an die Verzweiflung, die leidende Menschen zu ihm trieb, und an die Enttäuschung, die sie nun hierher geführt hatte. Die Wahrheit war, dass sie in den allermeisten Fällen selbst auch nicht mehr tun konnte. Kräuter, Blutegel, der ein oder andere Heiltrunk, selbst der Glaube konnte die Flut von Krankheiten nicht aufhalten, unter denen der größte Teil der Menschheit litt. Sie wünschte, es wäre anders. Bei Gott, wie sehr sie das wünschte.

Es war jedenfalls lange her, dass sie außer in Extremfällen, wie der Prior einer gewesen war, mit lebenden Patienten zu tun gehabt hatte.

Dennoch, vor dem Haus hatte sich Leiden angesammelt, und das konnte sie nicht einfach ignorieren. Es musste etwas geschehen. Andererseits, wenn sie dabei ertappt wurde, dass sie als Ärztin praktizierte, würde jeder Doktor in Cambridge zum Bischof laufen. Die Kirche hatte das menschliche Einmischen bei Krankheiten stets missbilligt und über Jahrhunderte hinweg gelehrt, dass Gebete und Heiligenreliquien die göttliche Art des Heilens seien und alles andere vom Teufel herrühre. Sie gestattete den Klöstern, Kranke zu behandeln, und fand sich notgedrungen mit den weltlichen Ärzten ab, solange sie ihre Grenzen nicht überschritten, aber Frauen, die an sich schon sündig waren, war die Medizin als Beruf verboten, mit Ausnahme der zugelassenen Hebammen – und die mussten aufpassen, dass man sie nicht der Hexerei bezichtigte.

Selbst in Salerno, dem angesehensten Zentrum der Medizin, hatte die Kirche versucht, die Regel durchzusetzen, dass Ärzte im Zölibat leben sollten. Sie war damit gescheitert, ebenso wie sie damit gescheitert war, den Frauen den Zugang zum Ärzteberuf zu verbieten. Aber das war eben Salerno, die Ausnahme, die die Regel bestätigte.

»Was sollen wir tun?«, fragte sie. Margaret, die praktischste aller Frauen, hätte es gewusst. Es gibt immer einen Weg. Überlass das ruhig der alten Margaret.

Gyltha schnalzte mit der Zunge. »Was greinst du denn so? Das ist doch ein Kinderspiel. Du tust so, als wärst du die rechte Hand vom Doktor, die für ihn die Arzneien anrührt oder so.

Die erzählen dir in gutem Englisch, was sie für Wehwehchen haben. Du sagst es dem Doktor in dem Kauderwelsch, das ihr sprecht, der kauderwelscht irgendwas zurück, und du sagst ihnen, was sie machen sollen.«

Ein bisschen grob formuliert, aber genial einfach. Falls Behandlungen erforderlich waren, konnten sie so tun, als gäbe Doktor Mansur seiner Helferin Anweisungen. Adelia sagte: »Das ist ziemlich gewitzt.«

Gyltha zuckte die Achseln. »Könnte uns aus dem Schlamassel retten.«

Als Mansur von der Situation in Kenntnis gesetzt wurde, reagierte er gelassen wie immer. Gyltha hingegen war unzufrieden mit seinem Äußeren. »Doktor Braose drüben am Markt, der hat einen Umhang mit Sternen drauf und einen Schädel auf dem Tisch und so ein Ding, um die Sterne lesen zu können.«

Adelia erstarrte, wie immer, wenn Medizin mit Magie in Verbindung gebracht wurde. »Unser Arzt ist Mediziner, kein Zauberer.« Cambridge würde sich mit einer Kaffiyeh, die ein dunkles Adlergesicht umrahmte, und einer Stimme in gehobener Tonlage begnügen müssen. Mehr Magie kam nicht in Frage.

Ulf wurde mit einer Einkaufsliste zum Apotheker geschickt.

Der Raum, der einmal die Pfandleihe gewesen war, wurde zum Wartezimmer umfunktioniert.

Die ganz Reichen hatten eigene Ärzte, die ganz Armen behandelten sich selbst. Diejenigen, die in die Jesus Lane kamen, waren weder das eine noch das andere: Handwerker, Tagelöhner, die, wenn es hart auf hart ging, die eine oder andere Münze entbehren konnten oder notfalls mit einem Huhn bezahlten.

Bei den meisten ging es hart auf hart: Die alten Hausrezepte hatten nicht gewirkt, ebenso wenig die Geld- und Geflügelspenden an das Nonnenkloster St. Radegund. Wie Gyltha gesagt hatte: Bei ihnen war der Kleine St. Peter mit seinem Latein am Ende.

»Wie ist das passiert?«, fragte Adelia die Frau eines Schmieds, während sie ihr behutsam die gelb verkrusteten und verklebten Augen betupfte. Und fügte nachträglich hinzu: »Der Doktor will das wissen.«

Offenbar hatte die Priorin von St. Radegund die Frau aufgefordert, einen Lappen in die Flüssigkeiten zu tunken, die aus dem halbverwesten Fleisch austraten, das der Körper des Kleinen St.

Peter gewesen war, als man ihn aus dem Fluss zog, und sich damit über die Augen zu wischen, um eine beginnende Erblindung zu heilen.

»Diese Priorin sollte man erschlagen«, sagte Adelia auf Arabisch zu Mansur.

Die Frau des Schmieds verstand zwar nicht die Worte, aber deren Bedeutung und sagte beschwichtigend: »War nich die Schuld vom Kleinen St. Peter. Die Priorin hat gesagt, ich hätte nich genug gebetet.«

»Ich werde sie erschlagen«, sagte Adelia. Gegen die Blindheit der Frau konnte sie nichts tun, aber sie gab ihr einen verdünnten, abgeseihten Extrakt aus Odermennig mit, der sie, wenn sie die Augen regelmäßig damit spülte, von der Entzündung befreien müsste.



Der Rest des Morgens trug nicht dazu bei, Adelias Zorn zu lindern. Gebrochene Knochen, die zu lange unbehandelt geblieben und schief gerichtet worden waren. Einem Säugling, tot in den Armen der Mutter, wären mit einem Sud aus Weidenrinde die Koliken erspart geblieben. Drei gequetschte Zehen waren brandig geworden – ein in Opium getränktes Tuch, dem jungen Mann eine halbe Minute unter die Nase gehalten, und ein geschickter Einsatz des Messers, retteten den Fuß, aber die Amputation der Zehen wäre nicht nötig gewesen, wenn der Patient keine Zeit damit verloren hätte, sich hilfesuchend an den Kleinen St. Peter zu wenden.

Als der Amputierte genäht und verbunden und nach einer kurzen Ruhezeit nach Hause gebracht worden war, als das Wartezimmer sich geleert hatte, war Adelia völlig außer sich.

»Zum Teufel mit St. Radegund und all seinen Knochen. Hast du den Säugling gesehen? Hast du ihn gesehen?« In ihrem Zorn ging sie auf Mansur los. »Und was sollte bitte schön die Zuckerempfehlung für das Kind mit dem Husten?«

Mansur hatte Geschmack an der Macht gefunden. Er hatte angefangen, kabbalistische Zeichen über den Köpfen der Patienten zu machen, wenn sie sich vor ihm verneigten. Er starrte Adelia an. »Zucker gegen Husten«, sagte er.

»Bist du jetzt auf einmal Arzt? Zucker mag ja das arabische Gegenmittel sein, aber er wird in diesem Land nicht angebaut und ist sehr teuer und hätte verdammt noch mal in diesem Fall kein bisschen genutzt.«

Sie stapfte in die Küche, schöpfte sich Wasser aus der Tonne und warf den Zinnbecher anschließend wieder hinein. »Der Teufel soll sie alle holen mit ihrer verdammten Ahnungslosig-keit.«

Gyltha, die damit beschäftigt war, Teig auszurollen, hob den Kopf. Sie war ein paar Mal zu Hilfe gekommen, wenn Adelia mit dem einheimischen Dialekt Schwierigkeiten hatte. »Aber dem jungen Coker hast du den Fuß gerettet.«

»Er ist Dachdecker«, sagte Adelia. »Wie soll er denn mit nur zwei Zehen an einem Fuß eine Leiter hochklettern?«

»Immer noch besser als gar kein Fuß.«

Gylthas Verhalten hatte sich verändert, aber Adelia war zu niedergeschlagen, um das zu bemerken. Heute Morgen waren einundzwanzig verzweifelte Menschen zu ihr gekommen – oder besser gesagt zu Doktor Mansur –, und bei acht von ihnen kam jede Hilfe zu spät. So hatte sie lediglich drei retten können; na ja, eigentlich vier. Der Husten des Kindes ließ sich vielleicht durch Inhalieren von Kiefernessenz heilen, falls die Lunge nicht schon angegriffen war.

Daran, dass sie gar keine Zulassung hatte, um irgendwen zu behandeln, hatte sie keinen Gedanken verschwendet; die Menschen waren in Not gewesen.

Geistesabwesend mümmelte Adelia einen Keks, den Gyltha ihr in die Hand geschoben hatte. Wenn die Patienten weiter so zahlreich kamen, überlegte sie, würde sie eine eigene Küche brauchen. Für die Herstellung von Tinkturen, Suden, Salben und Pulvern war Platz und Zeit vonnöten.

Normale Apotheker neigten zur Knauserigkeit. Sie vertraute ihnen nicht mehr, seit Sgr. D’Amelia dabei erwischt worden war, dass er seine teuren Pulver mit Kreide vermischte.

Kreide. Genau da sollten sie und Simon und Mansur jetzt eigentlich sein. Sie sollten den Kreideboden auf dem Wandlebury Ring absuchen, obwohl sie zugeben musste, dass Simon gut daran getan hatte, diesen unheimlichen Ort nicht allein aufzusuchen, und wenn auch nur, weil mehr als bloß eine Person erforderlich war, um in all die seltsamen Gruben zu spähen, von der Möglichkeit, dass der Mörder zurückspähen könnte, ganz zu schweigen, wobei es sehr praktisch wäre, Mansur dabeizuhaben.

»Du hast gesagt, Master Simon wollte zu den Wollhändlern?« Gyltha nickte. »Hat die Streifen mitgenommen, mit denen dieser Teufel die Kindchen gefesselt hat. Wollte fragen, ob die irgendwer verkauft hat und an wen.«

Ja. Adelia hatte zwei von den Streifen für ihn gewaschen und getrocknet. Da der Wandlebury Ring warten musste, nutzte Simon die Zeit eben auf andere Weise, obwohl sie sich wunderte, dass er Gyltha in sein Vorhaben eingeweiht hatte. Nun ja, da die Haushälterin offenbar mit ins Vertrauen gezogen wurde …

»Komm mit nach oben«, sagte Adelia zu ihr und ging voraus.

Dann zögerte sie. »Dieser Keks …«

»Mein Honighafergebäck.«

»Sehr nahrhaft.«

Sie führte Gyltha an den Tisch im Sonnenzimmer, auf dem sie den Inhalt ihrer Ziegenledertasche ausgebreitet hatte. Sie zeigte auf etwas. »Hast du so was schon einmal gesehen?«

»Was ist das?«

»Ich glaube, es ist eine Art Bonbon.«

Das Ding war rautenförmig, steinhart getrocknet und grau. Sie hatte ihr schärfstes Messer benutzt, um einen Span davon abzuschaben, und darunter war ein rosafarbenes Inneres zum Vorschein gekommen. Außerdem hatte sie dabei den Hauch eines Duftes gerochen, so schwach wie eine fast verlorene Erinnerung. Sie sagte: »Das klebte in Marys Haar.«

Gyltha presste die Augen zu, bekreuzigte sich und musterte es dann gründlich.

»Gelatine, würde ich sagen«, legte Adelia ihr nahe, »mit Blüten aromatisiert, oder mit Früchten. Gesüßt mit Honig.«

»Die Süßigkeit eines reichen Mannes«, sagte Gyltha sofort.

»So was hab ich noch nicht gesehen. Ulf.«

Ihr Enkel war augenblicklich im Zimmer, was Adelia vermuten ließ, dass er an der Tür gelauscht hatte.

»Hast du das schon mal gesehen?«, fragte Gyltha ihn.

»Bonbons«, knurrte der Junge – also hatte er gelauscht. »Ich kauf ja dauernd Bonbons, oh ja, weiß gar nich wohin mit meinem Geld, ich …«

Während er vor sich hin grollte, wanderten seine wachen kleinen Augen über die Raute, die Fläschchen, die restlichen Wollstreifen, die vor dem Fenster trockneten, all die Spuren und Beweise, die sie aus der Klause St. Werbertha mitgebracht hatte.

Adelia breitete schnell ein Stück Stoff darüber. »Und?«

Ulf schüttelte mit überzeugender Autorität den Kopf. »Hat nich die richtige Form für unsere Gegend. Hier gibt’s bloß Stangen und Kugeln.«

»Dann verschwinde«, sagte Gyltha. Als der Junge weg war, breitete sie die Hände aus. »Wenn er das nich kennt, dann gibt’s das hier auch nich.«

Es war ernüchternd. Am Abend zuvor hatten sie entschieden, den Kreis der Verdächtigen auf die Pilger einzugrenzen, also nicht mehr jeden Mann in Cambridge als möglichen Täter in Betracht zu ziehen. Doch selbst wenn man Ehefrauen, Nonnen und Dienerinnen abzog, blieben immer noch siebenundvierzig, die in Frage kamen. »Aber den Händler aus Cherry Hinton können wir doch wohl ausschließen? Der macht einen harmlosen Eindruck.« Doch durch Nachfragen bei Gyltha stellte sich heraus, dass Cherry Hinton westlich von Cambridge und damit auf einer Linie mit dem Wandlebury Ring lag.

»Wir schließen niemanden aus«, hatte Simon gesagt.

Um nicht alle siebenundvierzig Leute befragen zu müssen, hatten sie sich überlegt, die Zahl mit Hilfe der vorhandenen Beweismittel zu verringern; Simon wollte die Herkunft der Wollstreifen klären, und Adelia die des rautenförmigen Bonbons.

Was aber offenbar nicht so einfach war.

»Aber wir müssen davon ausgehen, dass die Seltenheit des Bonbons die Verbindung zu dem Mörder untermauern wird, wenn wir ihn erst gefunden haben«, sagte Adelia jetzt.

Gyltha legte den Kopf schief. »Du denkst, er hat Mary damit gelockt?«

»Ja.«

»Das arme Lämmchen Mary, hatte Angst vor ihrem Vater – der hat sie und ihre Mutter ständig verhauen –, hatte Angst vor allem. Ist nie weit weggelaufen.« Gyltha betrachtete das Bonbon. »Hast du sie weggelockt, du Kerl?«

Die beiden Frauen stellten es sich gemeinsam vor … eine winkende Hand, in der anderen eine fremdartige Süßigkeit, das Kind, das näher gelockt wird, ein Vogel, der auf seine Beute herabstößt …

Gyltha eilte davon, um Ulf zu warnen, dass Männer, die Leckereien anbieten, gefährlich sind.

Sechs Jahre alt, dachte Adelia. Ein Kind, das vor allem Angst hat, sechs Jahre mit einem brutalen Vater und dann ein grauenhafter Tod. Was kann ich tun? Was soll ich tun?

Sie ging nach unten. »Kann ich mir Ulf mal ausleihen? Es könnte ganz hilfreich sein, wenn ich mir die Orte anschaue, wo die Kinder verschwunden sind. Außerdem würde ich gerne die Gebeine des Kleinen St. Peter untersuchen.«

»Die können dir nich mehr viel sagen, Mädchen. Die Nonnen haben sie gekocht.«

»Ich weiß.« Das machte man üblicherweise mit den Gebeinen von angeblichen Heiligen. »Aber Knochen können sprechen.«

Peter war der Primus inter Pares der ermordeten Kinder, der Erste, der verschwand, und der Erste, der starb. Soweit es sich sagen ließ, war er vermutlich in Cambridge ermordet worden, was bei den anderen nicht der Fall war.

Außerdem war sein Tod der einzige, der mit Kreuzigung in Verbindung gebracht worden war, und wenn es ihr und Simon nicht gelang, das zu widerlegen, wären sie mit ihrer Mission, die Juden zu entlasten, gescheitert, ganz gleich, wie viele Mörder sie in den Kreidehügeln aufspürten.

Das alles erklärte sie Gyltha. »Vielleicht sind die Eltern des Jungen bereit, mit mir zu reden. Sie haben seinen Leichnam doch bestimmt noch gesehen, ehe er gekocht wurde.«

»Walter und sein Weib? Die haben Nägel in den kleinen Händen gesehn und die Dornenkrone auf dem armen kleinen Kopf, und was anderes werden die nich sagen, weil sie nämlich sonst ’nen Batzen Geld verlieren.«

»Sie bereichern sich am Tod ihres Sohnes?«

Gyltha zeigte flussaufwärts. »Geh mal nach Trumpington zu ihrer Hütte, die du gar nich mehr sehen kannst vor lauter Leuten, die sich davor drängen. Die woll’n alle rein, um die Luft zu atmen, die der Kleine St. Peter geatmet hat, und um das Hemd vom Kleinen St. Peter anzufassen, was gar nich geht, weil das Hemd, das er anhatte, sein einziges war, und Walter und Ethy sitzen in der Tür und kassieren einen Penny pro Nase.«

»Wie schäbig.«

Gyltha hängte einen Kessel über das Feuer und drehte sich dann um. »Du hast im Leben wohl noch nie viel entbehren müssen, Mistress.« Das »Mistress« klang bedrohlich, und die freundliche Annäherung, die ihnen im Laufe des Morgens gelungen war, verpuffte.

Adelia gab zu, dass dem so war.

»Dann würd ich vorschlagen, du wartest, bis du sechs Kinder zu ernähren hast, außer dem, das gestorben ist, und bis du vier Tage die Woche auf den Feldern vom Kloster pflügen und ernten musst, neben deinen eigenen, nur damit du ein Dach überm Kopf hast, und putzen gehn muss Agnes auch noch. Vielleicht gefällt dir nich, was sie tun, aber es ist nich schäbig, das nennt man Überleben.«

Adelia war sprachlos. Nach einer Weile sagte sie: »Dann gehe ich nach St. Radegund und bitte, mir die Knochen im Reliquiar ansehen zu dürfen.«

»Ha.«

»Ich kann mich doch wenigstens ein bisschen umsehen«, sagte Adelia gekränkt. »Kommt Ulf nun mit oder nicht?«

Ulf kam mit, aber nicht gerne. Das Gleiche galt für den Hund, der ebenso missmutig dreinblickte wie der Junge.

Na ja, mit solchen Begleitern würde sie in Cambridge bestimmt nicht auffallen.

»Nicht auffallen«, sagte sie mit Nachdruck zu Mansur, als der sich anschickte mitzukommen. »Du bleibst schön hier. Dann könnte ich ja gleich mit einer Gauklertruppe durch die Straßen ziehen.«

Er protestierte, doch sie beruhigte ihn damit, dass es schließlich helllichter Tag war, dass jede Menge Leute unterwegs waren, dass sie ihren Dolch dabeihatte und einen Hund, der allein schon mit seinem Geruch jeden Angreifer in die Flucht schlagen würde. Am Ende, so dachte sie, war es ihm gar nicht unlieb, bei Gyltha in der Küche zu bleiben.

Die drei marschierten los.

Hinter einem Obstgarten führte eine erhöhte Böschung am Rande eines Gemeinschaftsfeldes entlang, das sich bis zum Fluss erstreckte und aus einer Vielzahl von Gemüsebeeten bestand. Männer und Frauen behackten die Pflanzen, die sie im Frühjahr gesetzt hatten. Ein oder zwei grüßten Adelia, indem sie die Hand an die Stirn legten. Weiter vorne blähte sich frische Wäsche im leichten Wind.

Die Cam war eine Grenze, wie Adelia nun sah. Auf der anderen Flussseite stieg die teils bewaldete, teils parkähnliche Landschaft sachte an, und ein Herrensitz in der Ferne sah aus wie ein Spielzeughaus. Hinter ihr belebte die Stadt mit ihren lärmenden Kais das rechte Ufer, als genieße sie die ungehindert freie Aussicht.

»Wo liegt Trumpington?«, fragte sie Ulf.

»Trumpington«, brummte der Junge dem Hund zu. Sie gingen nach links.

Der Stand der Nachmittagssonne zeigte, dass sie sich nach Süden gewandt hatten. Kähne glitten vorbei, Frauen und Männer stakten ihre Boote auf dem Weg zu irgendwelchen Verrichtungen, und der Fluss war ihre Hauptstraße. Manche winkten Ulf zu, und der Junge nickte zurück und verriet dem Hund dann den jeweiligen Namen. »Sawney unterwegs, um seine Mieten einzutreiben, der alte Geizkragen … Oma White mit der Wäsche für die Chenies … Schwester Speckgesicht bringt den Einsiedlern Essen, sieh dir bloß den Hintern an … die alte Moggy war auf dem Markt und hat früher Schluss gemacht …«

Der feste Pfad, auf dem sie sich befanden, verhinderte, dass Adelias Stiefel, die nackten Füße des Jungen und die Pfoten des Aufpassers in der feuchten Wiese einsanken, wo Kühe unter Weiden und Erlen das hohe Gras und Butterblumen fraßen und jedes Mal, wenn sie sich ein neues Fleckchen suchten, mit den Hufen saugende Geräusche machten.

Noch nie hatte Adelia so viele unterschiedliche Grüntöne gesehen. Oder so viele Vögel. Oder so fette Rinder. In Salerno eignete sich das ausgedörrte Weideland nur für Ziegen.

Der Junge blieb stehen und zeigte auf ein paar strohgedeckte Häuser und einen Kirchturm in der Ferne. »Trumpington«, teilte er dem Hund mit.

Adelia nickte. »Und wo ist jetzt der Baum der heiligen Radegund?«

Der Junge verdrehte die Augen, stieß ein gedehntes »St. Raddy« aus und stapfte zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

Aufpasser trottete lustlos hinter ihnen drein, als sie über eine Fußbrücke die Cam überquerten und dann am linken Ufer Richtung Norden gingen, während der Junge sich mit jedem Schritt bei dem Hund beschwerte. Nach dem, was Adelia verstehen konnte, war er entschieden gegen Gylthas Berufswechsel. Als Laufbursche im Aalhandel seiner Großmutter erhielt er gelegentlich Trinkgeld von den Kunden, eine Einnahmequelle, die nun versiegt war.

Adelia ging nicht darauf ein.

Ein Jagdhorn ertönte wohlklingend in den Hügeln im Westen. Aufpasser und Ulf hoben ihre unansehnlichen Köpfe und blieben stehen. »Wolf«, sagte Ulf zu dem Hund. Der Klang verhallte, und sie gingen weiter.

Jetzt hatte Adelia freien Blick über das Wasser hinweg auf die Stadt Cambridge. So konkurrenzlos vor dem klaren Himmel gewann das Dächergewirr, aus dem spitze Kirchtürme aufragten, an Bedeutung und sogar Schönheit.

In der Ferne war die Große Brücke zu sehen, ein wuchtiger, kunstvoller Bogen, auf dem reger Verkehr herrschte. Dahinter, wo der Fluss am Fuße des Hügels mit der Burg – in dieser Gegend schon fast ein Berg – einen tiefen Teich bildete, lagen so viele Boote an den Kais, dass es fast unmöglich schien, sie je wieder voneinander zu lösen. Holzkräne hoben und senkten sich wie Reiher. Rufe und Befehle erschallten in verschiedenen Sprachen. Die Schiffsarten waren ebenso vielfältig wie die Sprachen: Lastkähne, von Pferden gezogene Schleppkähne, Stechkähne, Flöße, bauchige Schiffe wie Archen und zu Adelias Erstaunen sogar eine Dau. Männer mit blonden Zöpfen und Tierfellen am Leib, in denen sie aussahen wie Bären, führten zur Unterhaltung der Dockarbeiter zwischen den Booten einen Hüpftanz auf.

Der Lärm des geschäftigen Treibens, der vom Wind zu ihnen herübergetragen wurde, ließ das Ufer, auf dem Adelia mit dem Jungen und dem Hund unterwegs war, noch stiller wirken. Sie hörte, wie Ulf dem Hund erklärte, dass sie sich nun dem Baum von St. Radegund näherten.

Das hätte Adelia auch allein erkannt. Der Baum war umzäunt worden. Gleich daneben war ein Stand aufgebaut, auf dem ein Haufen Äste lag. Zwei Nonnen brachen davon Zweige ab, befestigten Bänder daran und verkauften sie an Reliquiensucher. Hier also hatte der Kleine St. Peter seine Osterzweige gepflückt, und hier war später Chaim der Jude aufgehängt worden.

Der Baum stand in der Nähe einer Mauer, die das Grundstück des Nonnenklosters begrenzte und auf der Flussseite ein Tor hatte, von wo aus man zu einem Bootshaus und einer kleinen Anlegestelle gelangte. Auf der Westseite verlief sie hingegen so weit in die bewaldete Landschaft hinein, dass Adelia nicht sehen konnte, wo sie endete.

Durch das offene Tor sah Adelia im Hof des Klosters Nonnen zwischen den Pilgerscharen wieseln wie schwarzweiße Bienen, die Honigsammler zu ihren Waben dirigierten. Vor dem Tor saß eine Nonne in der Sonne an einem Tisch. Sie erklärte gerade einem Mann und einer Frau, die vor ihr standen: »Ein Penny für den Besuch am Grab des Kleinen St. Peter.« Dann fügte sie hinzu: »Oder ein Dutzend Eier, wir sind knapp an Eiern, die Hennen legen nicht.«

»Ein Topf Honig?«, schlug die Frau vor.

Die Nonne war zwar nicht ganz zufrieden, erlaubte ihnen aber dennoch durchzugehen. Adelia zahlte zwei Penny, weil die Nonne sonst Aufpasser nicht durchgelassen hätte und Ulf ohne den Hund nicht hineinwollte. Ihre Münzen klimperten in eine fast volle Schale. Durch die Debatte hatte sich hinter ihr eine Menschenschlange gebildet, und eine der Nonnen, die die Aufsicht führten, war so verärgert über die Verzögerung, dass sie sie fast durch das Tor schubste.

Unwillkürlich verglich Adelia dieses erste englische Nonnenkloster, das sie nun betrat, mit San Giorgio, dem größten von drei Frauenkonventen in Salerno, das ihr noch dazu am vertrautesten gewesen war. Der Vergleich war ungerecht, wie sie wusste: San Giorgio war reich, ein Ort voller Marmor und Mosaiken, mit Bronzetüren, die auf Innenhöfe führten, wo Brunnen die Luft kühlten. Ein Ort, wie Mutter Ambrosia immer gesagt hatte, »um die hungrigen Seelen, die zu uns kommen, mit Schönheit zu stärken«.

Falls die Seelen von Cambridge im Kloster St. Radegund auf solche Nahrung hofften, würden sie es mit leerem Bauch verlassen müssen. Dieses Frauenhaus hatte nur wenige Stifter, was darauf schließen ließ, dass die Reichen Englands keine hohe Meinung von weiblicher Gottesfurcht hatten. Zugegeben, die schmucklosen, langgezogenen Steingebäude des Klosters, von denen keines größer oder beeindruckender war als die Scheune, in der man in San Giorgio das Korn aufbewahrte, ließen in ihrer Gesamtheit eine gewisse ansprechende Schlichtheit der Form erkennen, aber es mangelte an Schönheit. Auch an Mildtätigkeit. Hier waren die Nonnen angehalten, eher zu verkaufen denn zu verschenken.

Der Weg zur Kirche war gesäumt von Ständen, die Talismane des Kleinen St. Peter feilboten, Abzeichen, Figürchen, Tafeln, Flechtwerk vom Weidenbaum des Kleinen St. Peter, Ampullen, die das Blut des Kleinen St. Peter enthielten, das man, falls es sich überhaupt um menschliches Blut handelte, so stark verdünnt hatte, dass es nur noch eine ganz leichte Rosatönung aufwies.

Der Ansturm der Käufer war groß. »Was ist gut gegen Gicht? … Gegen die Ruhr? … Für Fruchtbarkeit? … Hilft das gegen Schwindel bei Kühen?«

St. Radegund wartete nicht ab, bis die Heiligkeit seines Sohnes, der den Märtyrertod gestorben war, nach Jahren vom Vatikan bestätigt werden würde. Aber das hatte Canterbury auch nicht getan. Dort war die Geschäftemacherei mit dem Martyrium von St. Thomas à Becket ungleich größer und besser organisiert.

Adelia hatte noch Gylthas Bemerkungen über die Not der Leute im Ohr, und sie konnte einem armen Konvent keinen Vorwurf daraus machen, dass er versuchte, Kapital aus der Situation zu schlagen, aber sie konnte die Vulgarität verachten, mit der das geschah. Sie sah Roger aus Acton, der die Warteschlange der Pilger abschritt, eine Ampulle schwenkte und die Menschen zum Kauf aufforderte. »Wer mit dem Blut des Kindes gewaschen wird, muss sich nie wieder waschen.« Als er an ihr vorbeikam, ließ der säuerliche Lufthauch vermuten, dass er sich an seinen eigenen Rat hielt.

Der Mann war auf der Reise von Canterbury hierher nicht zu überhören gewesen, ein irrer Affe, der ständig herumschrie. Die Kappe mit den Ohrenklappen war ihm noch immer zu groß, seine grünschwarze Robe war noch mit denselben Schlammspritzern und Essensflecken besudelt.

In einer Pilgergruppe, die hauptsächlich aus gebildeten Menschen bestand, hatte der Mann wie ein Idiot gewirkt. Hier jedoch, unter den Verzweifelten, hatte seine spröde Stimme Überzeugungskraft. Roger aus Acton sagte: »Kauft«, und alle kauften.

Man sagte, Gottes Finger erfülle diejenigen, die er berühre, mit heiligem Wahn. Acton flößte den Respekt ein, der Männern gebührte, die nur noch Haut und Knochen waren und in den Höhlen des Ostens vor sich hin murmelten, oder einem Säulenheiligen oben in luftiger Höhe. Nahmen Heilige körperliches Unbehagen nicht bereitwillig an? Hatte der Leichnam von St. Thomas à Becket nicht ein härenes Hemd getragen, das völlig verlaust war? Schmutz, religiöse Verzückung und die Fähigkeit, aus der Bibel zu zitieren, waren untrügliche Zeichen von Heiligkeit.

Roger aus Acton gehörte zu einem Menschenschlag, den Adelia schon immer gefährlich gefunden hatte. Männer wie er erklärten exzentrische alte Frauen zu Hexen und schleiften Ehebrecher vor Gericht, ihre Stimmen riefen zu Gewalt gegen andere Rassen, andere Religionen auf.

Die Frage war nur, wie gefährlich.

Warst du es?, dachte Adelia, während sie ihn beobachtete. Bist du am Wandlebury Ring herumgeschlichen? Hast du dich wirklich im Blut der Kinder gewaschen?

Nun, sie würde ihn das noch nicht fragen, erst wenn sie Grund dazu hatte, aber vorläufig blieb er ein möglicher Kandidat.

Er erkannte sie nicht. Ebenso wenig wie Priorin Joan, die auf ihrem Weg zum Tor an ihnen vorbeikam. Sie trug Reitkleidung, hatte einen Gerfalken auf dem Handgelenk sitzen und ermunterte die Käufer im Vorbeigehen mit einem »Horrido«.

So selbstbewusst und rücksichtslos, wie die Priorin auftrat, hätte Adelia erwartet, dass das Haus, dessen Oberhaupt die Frau war, ein Muster an Organisation wäre. Doch stattdessen war überall Nachlässigkeit zu sehen: Um die Kirche herum wucherte Unkraut, im Dach fehlten Schindeln. Die Nonnen trugen geflickte Habits, das weiße Leinen unter den schwarzen Schleiern wirkte schmuddelig, und sie benahmen sich ungehobelt.

Während Adelia langsam in der Schlange Richtung Kirche schlurfte, fragte sie sich, was wohl mit dem Geld geschah, das der Kleine St. Peter dem Kloster einbrachte. Bislang diente es jedenfalls nicht dem größeren Ruhme Gottes. Auch nicht dazu, den Pilgern ein paar Annehmlichkeiten zu bieten. Niemand half den Kranken, es gab keine Bänke für die Lahmen, keine Erfrischungen. Der einzige Hinweis auf Übernachtungsmöglichkeiten war eine am Kirchentor hängende verwitterte Liste mit den Gasthöfen in der Stadt.

Doch die Bittsteller, die sich gemeinsam mit ihr Schritt für Schritt vorarbeiteten, schienen sich nicht daran zu stören. Eine Frau mit Krücken erzählte den Umstehenden stolz von ihren Besuchen in Canterbury, Winchester, Walsingham, Bury St. Edmunds und St. Albans und zeigte allen ihre Andenken. Die Ärmlichkeit hier betrachtete sie mit Nachsicht. »Von dem hier erhoff ich mir einiges«, sagte sie. »Das ist noch ein junger Heiliger, und immerhin haben die Juden ihn gekreuzigt. Auf den hört Jesus, ganz bestimmt.«

Ein englischer Heiliger, der das gleiche Schicksal, noch dazu von denselben Händen, erlitten hatte wie der Sohn Gottes. Der die Luft geatmet hatte, die sie jetzt atmeten. Unwillkürlich begann Adelia zu beten, dass die Frau Recht behielt.

Sie war inzwischen im Innern der Kirche. An einem Tisch neben der Tür saß ein Schreiber, der die Aussage einer bleichen Frau niederschrieb, die ihm erzählte, sie fühle sich besser, seit sie die Reliquie berührt hatte.

Das war Roger aus Acton offenbar zu wenig, und er kam mit raschen Schritten näher. »Ihr wurdet gestärkt? Ihr habt den Heiligen Geist gefühlt? Ihr seid nun rein von Sünden? Euer Leiden ist verschwunden?«

»Ja«, sagte die Frau und dann mit größerer Inbrunst: »Ja.«

»Ein weiteres Wunder!« Sie wurde nach draußen gezerrt und den wartenden Menschen präsentiert. »Eine Heilung, liebe Leute! Lasset uns Gott und seinen kleinen Heiligen preisen.«

In der Kirche roch es nach Holz und Stroh. Die Kreideumrisse eines Labyrinths auf dem Boden ließen vermuten, dass jemand versucht hatte, das Labyrinth von Jerusalem auf die Steine zu zeichnen, doch nur wenige Pilger gehorchten der Nonne, die dazu aufforderte, es abzuschreiten, die übrigen schoben sich auf eine Seitenkapelle zu, wo die Reliquie lag. Adelia konnte sie wegen der vielen Leute vor ihr noch nicht sehen.

Während sie wartete, schaute sie sich um. An einer Wand hing eine schöne Steintafel mit der Aufschrift: »Im Jahre Unseres Herrn 1138 bestätigte König Stephen die Schenkung, die der Goldschmied William le Moyne den Nonnen der neu gegründeten Zelle in der Stadt Cambridge für die Seele des verstorbenen Königs Henry zuteil werden ließ.«

Das erklärte vermutlich die Armut, dachte Adelia. Stephens Krieg gegen seine Kusine Matilda hatte mit dem Triumph Matildas geendet oder besser gesagt, mit dem ihres Sohnes Henry II. Der derzeitige König war wohl nicht gewillt, ein Haus zu fördern, dessen Gründung sich auf den Mann berief, gegen den seine Mutter dreizehn Jahre lang gekämpft hatte.

Einer Aufzählung der Priorinnen war zu entnehmen, dass Joan ihre Position erst vor zwei Jahren übernommen hatte. Der verwahrloste Zustand der Kirche verriet, dass sie keine sonderlich engagierte Priorin war. Ihre eher weltlichen Vorlieben ließ ein Gemälde erahnen, das ein Pferd darstellte und die Unterschrift trug: »Braveheart. AD 1151 – AD 1167. Gut gemacht, du guter, treuer Gefährte«. Ein Zaumzeug mit Trense hing von den hölzernen Fingerspitzen einer Statue der Jungfrau Maria.

Das Paar vor ihr hatte jetzt das Reliquiar erreicht. Sie fielen auf die Knie, und Adelia konnte es zum ersten Mal sehen.

Ihr stockte der Atem. Hier im strahlenden Kerzenschein wartete etwas Erhabenes, etwas, das alles, was ihr auf dem Weg hierher anstößig vorgekommen war, verzeihen ließ. Nicht bloß das schimmernde Reliquiar, sondern auch die junge Nonne, die starr wie Stein an seinem Kopfende kniete, das Gesicht tragisch, die Hände zum Gebet erhoben, erweckten eine Szene aus den Evangelien zum Leben. Eine Mutter, ihr totes Kind: Gemeinsam ergaben sie ein Bild von anrührender Zartheit.

Adelia spürte ein Prickeln im Hals. Plötzlich empfand sie den leidenschaftlichen Wunsch zu glauben. Hier, an diesem Ort, ruhte eine leuchtende Wahrheit, die allen Zweifel hinauf in den Himmel fegen konnte, wo Gott darüber lachen würde.

Das Paar betete. Ihr Sohn war in Syrien – sie hatte gehört, wie sie über ihn sprachen. Gemeinsam, als hätten sie es geübt, flüsterten sie: »O heiliges Kind, wenn du dem Herrn von unserem Jungen erzählen würdest und ihn gesund wieder nach Hause schickst, wären wir dir bis ans Ende unserer Tage unendlich dankbar.«

Lass mich glauben, Gott, dachte Adelia. Eine so reine und schlichte Bitte muss erhört werden. Nur lass mich glauben. Ich sehne mich nach Glauben.

Der Mann und die Frau entfernten sich eng umschlungen. Adelia kniete nieder. Die Nonne lächelte sie an. Es war die kleine scheue, die die Priorin nach Canterbury und wieder zurück begleitet hatte, jetzt jedoch hatte sich Schüchternheit zu Mit gefühl gewandelt. Ihre Augen waren voller Liebe. »Der Kleine St. Peter wird Euch erhören, Schwester.«

Das Reliquiar hatte die Form eines Sarges und stand auf einem gemeißelten Steingrab, so dass die Knienden es in Augenhöhe hatten. Hier also war das Geld des Konvents hingeflossen – in einen langen, juwelenbesetzten Kasten, den ein meisterlicher Goldschmied mit häuslichen und ländlichen Szenen aus dem Leben eines Jungen verziert hatte, sein Martyrium durch Unholde und sein Aufstieg ins Paradies, getragen von der heiligen Maria.

An einer Seite war hauchdünnes Perlmutt eingelassen, das als Fenster diente. Als Adelia hindurchspähte, konnte sie die Knochen einer Hand sehen, die so auf einem kleinen Samtkissen drapiert war, dass sie eine segnende Haltung einnahm.

»Ihr dürft den Fingerknöchel küssen, wenn Ihr möchtet.« Die Nonne zeigte auf ein Kissen mit einer Monstranz auf dem Reliquiar. Sie erinnerte an eine angelsächsische Brosche und enthielt einen knotigen, winzig kleinen Knochen, der in Gold und Edelsteinen eingefasst war.

Es war das Os trapezium, das große Vieleckbein der rechten Hand. Alle Herrlichkeit verschwand. »Ein weiterer Penny, wenn ich das ganze Skelett sehen darf«, sagte sie.

Die helle Stirn der Nonne – sie war schön – legte sich in Falten.

Dann beugte sie sich vor, nahm die Monstranz herunter und hob den Deckel des Reliquiars an. Dabei rutschte ihr Ärmel hoch und gab einen Arm frei, der mit dunklen Blutergüssen übersät war.

Adelia sah sie schockiert an. Dieses sanfte, liebe Mädchen wird hier geschlagen. Die Nonne lächelte und zog den Ärmel wieder herunter. »Gott ist gut«, sagte sie.

Adelia hoffte es. Ohne um Erlaubnis zu bitten, nahm sie eine der Kerzen und hielt die Flamme nah an das Skelett.

Gütiger Himmel, es war so klein. Priorin Joan hatte die Maße ihres Heiligen im Geiste übertrieben. Das Reliquiar war zu groß geraten; das Skelett verlor sich förmlich darin. Adelia musste an einen kleinen Jungen in zu großen Anziehsachen denken.

Tränen brannten ihr in den Augen, während sie zugleich registrierte, dass die einzige sichtliche Verstümmelung an Händen und Füßen das fehlende Vieleckbein war. In diese Extremitäten waren keine Nägel geschlagen worden, und Brustkorb und Rückgrat waren unversehrt. Die vermeintliche Speerwunde, die Prior Geoffrey Simon gegenüber erwähnt hatte, war vermutlich mit dem Prozess der Verwesung zu erklären, bei dem der Körper so stark angeschwollen war, dass die Haut ihn nicht mehr fassen konnte. Der Bauch war aufgeplatzt.

Doch da, am Beckenknochen waren die gleichen scharfen, unregelmäßigen Kerben, die ihr auch bei den anderen Kindern aufgefallen waren. Sie musste sich beherrschen, dass sie nicht die Hand in das Reliquiar schob, um das Becken herauszunehmen und genauer zu betrachten, aber sie war sich so gut wie sicher. Es war mehrfach auf den Jungen eingestochen worden, und zwar erneut mit jener ungewöhnlichen Klinge, wie sie noch nie eine gesehen hatte.

»He, Missus.« Die Wartenden hinter ihr wurden allmählich unruhig.

Adelia bekreuzigte sich und ging zur Tür, wo sie ihren Penny auf den Tisch des Schreibers legte. »Seid Ihr geheilt, Mistress?«, fragte er. »Ich muss die Wunder verzeichnen.«

»Ihr könnt schreiben, dass ich mich besser fühle«, sagte sie.

»Bestätigt«, wäre zutreffender gewesen. Sie wusste jetzt, womit sie es zu tun hatte. Der Kleine St. Peter war nicht gekreuzigt worden; er war sogar noch grässlicher gestorben. Wie die anderen.

Und wie sollte sie das bei einer offiziellen Leichenbeschau erklären, dachte sie erbittert. Ich, Doktor Trotula, habe eindeutige Beweise dafür, dass der Junge nicht am Kreuz gestorben ist, sondern durch die Hände eines Schlächters, der noch frei unter euch herumläuft.

Und das vor Leuten, die nichts von wissenschaftlicher Anatomie verstanden und sich auch nicht darum scherten und die das alles von einer fremdländischen Frau erklärt bekamen.

Erst draußen an der frischen Luft fiel ihr auf, dass Ulf nicht mitgekommen war. Als sie ihn fand, saß er neben dem Tor auf dem Boden, die Arme um die Knie geschlungen.

Adelia kam der Verdacht, dass sie gedankenlos gewesen war. »Hast du den Kleinen St. Peter gekannt?«

Bemühter Sarkasmus richtete sich an den Aufpasser. »Im Winter bin ich nie mit ihm in die Schule gegangen, oder? Natürlich nich.«

»Ich verstehe. Es tut mir leid.« Sie war wirklich gedankenlos gewesen. Das Skelett dahinten war dem Jungen hier einmal ein Schulkamerad und Freund gewesen, und wahrscheinlich hatte er um ihn getrauert. Sie sagte höflich: »Aber wer kann schon von sich sagen, dass er mit einem Heiligen die Schulbank gedrückt hat.«

Der Junge zuckte die Achseln.

Adelia kannte sich nicht mit Kindern aus, weil sie es meistens mit Toten zu tun hatte. Sie sah keinen Grund dafür, sie anders anzusprechen als jedes andere vernünftige menschliche Wesen, und wenn sie nicht darauf reagierten, wusste sie nicht weiter. »Wir gehen noch mal zum Baum von St. Radegund«, sagte sie. Sie wollte mit den Nonnen dort sprechen.

Auf dem Weg dorthin kam Adelia plötzlich ein Gedanke. »Hast du deinen Schulkameraden vielleicht an dem Tag gesehen, als er verschwand?«

Der Junge verdrehte entnervt die Augen Richtung Hund. »Das war Ostern. Ostern waren Gran und ich doch noch im Sumpf.«

»Ach so.« Sie ging weiter. Fragen kostete ja nichts.

Hinter ihr sprach der Junge weiter mit dem Hund. »Aber Will hat ihn gesehen. Will war dabei, nich?«

Adelia drehte sich um. »Will?«

Ulf schnalzte mit der Zunge. Der Hund war schwer von Begriff. »Er und Will haben beide Weidenkätzchen gepflückt.« Prior Geoffrey hatte, als er Simon den letzten Lebenstag des Kleinen St. Peter geschildert hatte, keinen Will erwähnt, das hätte Simon ihr sicherlich nicht vorenthalten.

»Wer ist Will?«

Als das Kind wieder den Hund ansprechen wollte, legte Adelia eine Hand auf den Kopf des Jungen und drehte ihn zu ihr um. »Es wäre mir lieber, wenn du direkt mit mir reden würdest.«

Ulf wandte den Kopf ab, so dass er wieder den Aufpasser ansah.

»Wir können sie nich leiden«, erklärte er ihm.

»Ich mag dich auch nicht«, stellte Adelia klar, »aber hier geht es darum, wer deinen Schulkameraden getötet hat, wie und warum. Ich verstehe mich darauf, solche Dinge zu untersuchen, und in diesem Fall brauche ich deine Kenntnisse als Einheimischer – worauf ich auch ein Recht habe, denn schließlich arbeiten du und deine Großmutter für mich. Ob wir einander mögen oder nicht, spielt dabei keine Rolle.«

»Die Juden waren’s.«

»Bist du sicher?«

Zum ersten Mal sah Ulf sie richtig an. Wäre der Steuereintreiber in diesem Moment bei ihnen gewesen, er hätte bemerkt, dass die Augen das Gesicht des Jungen älter wirken ließen, wie bei Adelia, wenn sie arbeitete. Adelia entdeckte eine fast beängstigende Schläue darin.

»Komm mal mit«, sagte Ulf.

Adelia wischte sich die Hand am Rock ab – das Haar des Kindes, das unter seiner Mütze hervorlugte, war fettig und wahrscheinlich auch verlaust – und ging hinter ihm her. Er blieb stehen.

Sie blickten über den Fluss auf ein großes und imposantes Herrenhaus mit einem Rasen davor, der bis hinunter zu einem kleinen Bootssteg reichte. Die allesamt geschlossenen Fensterläden und das Unkraut, das in den Dachrinnen wucherte, ließen erkennen, dass es unbewohnt war.

»Das Haus vom Oberjuden«, sagte Ulf.

»Chaims Haus? In dem Peter angeblich gekreuzigt worden ist?«

Ulf nickte. »Ist er aber nich. Da noch nich.«

»Soweit ich weiß, hat eine Frau den Jungen in einem der Zimmer hängen sehen.«

»Martha«, sagte Ulf in einem Tonfall, der den Namen in die Nähe von Rheuma rückte, unbeliebt, aber unvermeidlich. »Die erzählt alles Mögliche, bloß um sich wichtig zu machen.« Als wäre er mit seinem vernichtenden Urteil über eine Mitbürgerin zu weit gegangen, fügte er hinzu: »Ich sag ja nich, dass das überhaupt nich stimmt, ich sag nur, dass sie das nie im Leben da gesehen hat, wo sie es gesehen haben will. Genau wie der alte Peaty. Komm mit.«

Wieder ging es weiter, vorbei an St. Radegunds Weidenbaum mit dem Stand, wo Zweige verkauft wurden, bis zur Brücke. Von dieser Stelle aus hatte ein Mann, der Torf in die Burg liefern wollte, gesehen, wie zwei Juden ein Bündel, vermutlich den Körper des kleinen Peter, in die Cam warfen. Sie sagte: »Der Torfhändler hat sich auch geirrt?«

Der Junge nickte. »Der alte Peaty ist halbblind, ein gerissener alter Lügner. Der hat gar nix gesehen. Weil nämlich …«

Sie gingen jetzt wieder den Weg zurück, den sie gekommen waren, bis zu der Stelle gegenüber von Chaims Haus.

»Weil nämlich …«, sagte Ulf und zeigte auf den leeren Bootssteg, der ins Wasser hineinragte, »… weil nämlich da die Leiche gefunden worden ist. Hatte sich unter ’nem Pfosten verfangen. Deshalb kann keiner was von der Brücke geschmissen haben, weil nämlich …?«

Er blickte sie gespannt an, ein Test.

»Weil nämlich«, sagte Adelia, »Leichen nicht flussaufwärts treiben.«

Die altklugen Augen blickten plötzlich heiter, wie die eines Lehrers, dessen Schülerin doch mehr Grips im Kopf hat als vermutet. Sie hatte bestanden.

Aber wenn die Aussage des Torfhändlers so offensichtlich falsch war und damit auch die der Frau fragwürdig machte, die behauptet hatte, nur kurz zuvor den gekreuzigten Kinderkörper in Chaims Haus gesehen zu haben, warum hatte man dann trotzdem sofort mit dem Finger auf die Juden gezeigt und ihnen die Schuld gegeben?

»Weil sie’s gewesen sind«, sagte Ulf, »nur nich dann.« Er bedeutete ihr mit einer schmuddeligen Hand, sich ins Gras zu setzen, und ließ sich dann neben ihr nieder. Er fing an, sehr schnell zu reden, gewährte ihr Einblick in die Welt von Kindern, deren Theoriebildung auf Wahrnehmungen und Schlussfolgerungen beruhte, die sich stark von denen der Erwachsenen unterschieden.

Adelia hatte Mühe zu folgen, weil er gelegentlich Dialektworte benutzte, mit denen sie nichts anfangen konnte, so dass sie sich bei größeren Verständnislücken den Zusammenhang irgendwie zusammenreimen musste.

Will, so erfuhr sie, war ein Junge in Ulfs Alter, und er war mit demselben Auftrag unterwegs gewesen wie Peter, nämlich Weidenkätzchen zu schneiden, mit denen das Haus für Palmsonntag geschmückt werden sollte. Will wohnte direkt in Cambridge, aber er und der Junge aus Trumpington waren sich an St. Radegunds Baum begegnet, wo sie beide fasziniert die Hochzeitsfeierlichkeiten auf Chaims Rasen am anderen Flussufer beobachtet hatten. Daraufhin war Will mit Peter zusammen über die Brücke und durch die Stadt gegangen, um zu sehen, was sich in den Stallungen hinter Chaims Haus Interessantes abspielte.

Anschließend hatte Will seinen Gefährten verlassen, um die Weidenzweige seiner Mutter nach Hause zu bringen.

Hier stockte die Erzählung, doch Adelia wusste, dass noch mehr kommen würde – Ulf war ein geborener Geschichtenerzähler. Die Sonne wärmte sie, und es war recht angenehm, im Halbschatten der Weiden zu sitzen, wenngleich sich während ihres Spazierganges irgendetwas Übelriechendes im Fell vom Aufpasser eingenistet hatte, das noch mehr Würze entwickelte, als es allmählich trocknete.

Ulf, der seine vorwitzigen Füße in den Fluss getaucht hatte, klagte über Hunger. »Wenn ich ’nen Penny krieg, hol ich uns was vom Bäcker.«

»Später.« Adelia drängte ihn, weiterzureden. »Ich fasse zusammen: Will ist also nach Hause gegangen, und Peter ist in Chaims Haus verschwunden und wurde nie wieder gesehen.« Ulf stieß ein höhnisches Schnauben aus. »Wurde nie wieder von keinem gesehen, außer von Will.«

»Will hat ihn danach noch einmal gesehen?«

Es war später am selben Tag gewesen, und es wurde schon dunkel. Will war zurück an die Cam gegangen, um seinem Vater einen Topf mit Essen zu bringen, weil der noch bis spät in die Nacht hinein einen der Lastkähne kalfatern musste, der am nächsten Morgen fertig sein sollte.

Und Will hatte von der Stadtseite aus Peter am linken Ufer stehen sehen – »Hier, genau hier. Wo wir zwei jetzt sitzen.« Will hatte Peter zugerufen, er solle machen, dass er nach Hause kommt.

»Wenn er bloß auf ihn gehört hätte«, fügte Ulf bedauernd hinzu. »Wenn du nämlich nachts im Trumpington-Marschland unterwegs bist, dann packen dich die Weidenbolde und reißen dich in die Hölle.«

Adelia überging die »Weidenbolde«. Sie wusste nicht, wer oder was die waren, und wollte es auch gar nicht wissen. »Erzähl weiter.«

»Also, Peter ruft zurück, dass er gleich irgendwen trifft, wegen den Jujus.«

»Weswegen?«

»Den Jujus.« Ulf war ungeduldig und stieß zweimal mit dem Finger durch die Luft Richtung Chaims Haus. »Jujus, die Juden, das sagte er. Er würde einen wegen den Jujus treffen, und ob Will Lust hätte mitzukommen. Aber Will hat nee gesagt, und er ist verdammt froh, dass er das gemacht hat, weil nämlich danach dann wirklich keiner mehr Peter gesehen hat.«

Jujus. Er würde jemanden wegen den Jujus treffen? Irgendein Botengang für die Jujus? Und was sollte dieser infantile Ausdruck? Es gab zahllose abfällige Bezeichnungen für Juden; seit sie in England war, hatte sie die meisten davon schon gehört, aber den noch nie.

Sie grübelte darüber nach, stellte sich vor, wie sich die Szene am Fluss an dem Abend abgespielt hatte. Selbst heute, bei hellem Sonnenschein und mit den vielen Menschen um St. Radegunds Baum ein Stück weiter oben, war dieser Teil des Ufers ruhig, umgeben von Wald und Wiesen. Wie dunkel mochte es damals gewesen sein.

Peter, so dachte sie, wirkte in dieser Schilderung geradezu übermütig, ein bisschen romantisch. Ulf hatte ein Kind beschrieben, das sich leichter ablenken ließ als der verlässliche Will. Sie sah ihn jetzt vor sich: eine kleine Gestalt, die ihrem Freund zuwinkte, blass im Dämmerlicht der Bäume, in dem sie dann für immer verschwand.

»Hat Will irgendwem davon erzählt?«

Das hatte Will nicht, zumindest keinem Erwachsenen. Zu groß war seine Angst, dass die verdammten Juden sich ihn als Nächsten vorknöpfen würden. Und Ulf war der Ansicht, dass er gut daran getan hatte. Nur unter seinesgleichen, in der verborgenen, missachteten, geheimen Welt kindlicher Kameradschaft hatte Will sein Geheimnis enthüllt.

Und das erwünschte Ergebnis hatte sich ja dann auch eingestellt: Die Juden waren beschuldigt worden und der Täter und seine Frau bestraft.

Womit der Mörder freie Bahn hatte, erneut zu töten, dachte Adelia.

Ulf beobachtete sie: »Willste noch mehr? Es gibt noch mehr. Kriegste aber nasse Füße bei.«

Er zeigte ihr den letzten Beweis dafür, dass Peter später am Abend zu Chaims Haus zurückgekehrt war, den Beweis für Chaims Schuld. Da sie dafür die Böschung hinunterklettern und sich tief bücken musste, holte sie sich tatsächlich nasse Füße. Und einen nassen Rocksaum. Und sie bekam jede Menge feinen Cambridger Schwemmsand auf die übrige Kleidung. Aufpasser folgte ihnen.

Als sie zu dritt wieder ans Ufer krochen, fielen dunklere Schatten als die der Bäume auf sie.

»Bei Gott, das fremdländische Weibstück«, sagte Sir Gervase. »Steigt wie Aphrodite aus dem Fluss«, sagte Sir Joscelin.

Sie trugen lederne Jagdkleidung und saßen auf schweißglänzenden Pferden wie Götter. Ein Wolf lag vor Sir Joscelin quer über dem Sattel. Ein Umhang war darüber gebreitet, doch eine tropfende Schnauze ragte darunter hervor, im Tod zu einem Zähnefletschen erstarrt.

Ein Stück hinter ihnen stand der Jäger, der sie auf der Pilgerfahrt begleitet hatte, und hielt drei Wolfshunde an der Leine, von denen jeder groß genug war, um Adelia hochzuheben und davonzutragen. Die Augen der Hunde blickten sie sanft aus wilden, bärtigen Gesichtern an.

Sie wollte weitergehen, doch Sir Gervase trieb sein Pferd nach vorn, so dass sie und Ulf und Aufpasser in einem Dreieck standen, das auf zwei Seiten von Pferden und hinter ihnen vom Fluss gebildet wurde.

»Wir sollten uns fragen, was die Besucherin unserer Stadt wohl da unten im Matsch zu suchen hat, Gervase.« Sir Joscelin amüsierte das.

»Das sollten wir. Wir sollten außerdem dem Sheriff von ihrer verdammten magischen Wurfaxt erzählen, wenn ein Herr geruht, sie zur Kenntnis zu nehmen.« Etwas jovialer heute, aber noch immer bedrohlich. Gervase wollte seine Überlegenheit wieder herstellen, die er bei der Begegnung mit Adelia verloren hatte. »Na? Was ist damit, du Hexe? Wo steckt denn dein Araberhengst heute?« Er wurde mit jeder Frage lauter. »Was planschst du da im Wasser rum? Hä? Hä? Ist das Balg von ihm? Sieht ja verdreckt genug aus.«

Diesmal hatte sie keine Angst. Du ignoranter Tölpel, dachte sie. Dass du es überhaupt wagst, mich anzusprechen.

Gleichzeitig war sie fasziniert und betrachtete ihn genau. Schon wieder Hass, einer, der es durchaus mit dem von Roger aus Acton aufnehmen konnte. Er hätte sie auf diesem Hügel vergewaltigt, nur um zu beweisen, dass er es konnte – und er würde es jetzt tun, wenn sein Freund nicht dabei wäre. Macht über die Machtlosen.

Warst du es?

Ulf neben ihr war totenstill. Der Hund war hinter ihren Beinen in Deckung gegangen, wo die Wolfshunde ihn nicht sehen konnten.

»Gervase«, sagte Sir Joscelin scharf. Dann an sie gerichtet:

»Achtet nicht auf meinen Freund, Mistress. Er ist erbost, weil sein Speer den alten Lupus hier verfehlt hat …«, er tätschelte den Kopf des Wolfes, »… und meiner nicht.« Er lächelte seinen Gefährten kurz an, ehe er wieder zu Adelia hinabschaute. »Wie ich höre, hat der gute Prior Euch eine bessere Bleibe verschafft als einen Karren.«

»Danke«, sagte sie, »das hat er.«

»Und Euer Freund, der Doktor? Lässt er sich hier nieder?«

»Das tut er.«

»Quacksalbernder Sarazene und Hure, das würde sich gut auf dem Schild machen.« Sir Gervase wurde ungeduldig und noch unverschämter.

So war das also, zu den Schwachen zu gehören, dachte Adelia. Die Starken können dich ungestraft beleidigen. Nun, wir werden sehen.

Sir Joscelin überging seinen Freund. »Ich vermute, der Doktor kann nichts für unseren armen Gelhert hier tun, oder? Der Wolf hat ihm das Bein aufgerissen.«

Er deutete mit dem Kinn auf einen der Hunde, der eine Pfote hochhielt.

Und auch das ist eine Beleidigung, dachte Adelia, obwohl du es vielleicht nicht so gemeint hast. Sie sagte: »Er versteht sich besser auf Menschen. Ihr solltet Eurem Freund raten, ihn baldmöglichst aufzusuchen.«

»Hä? Was hat das Weibsstück gesagt?«

»Denkt Ihr denn, er ist krank?«, fragte Joscelin.

»Es gibt Anzeichen dafür.«

»Was für Anzeichen?« Gervase war beunruhigt. »Was für Anzeichen, Weib?«

»Das darf ich nicht sagen«, erwiderte sie an Joscelin gerichtet.

Und das stimmte, es gab nämlich keine. »Aber es wäre gut für ihn, wenn er einen Arzt aufsuchen würde – und zwar schnell.« Beunruhigung verwandelte sich in Angst. »O Gott, ich hab heute Morgen ganze sieben Mal geniest.«

»Niesen«, sagte Adelia nachdenklich. »Da haben wir’s.«

»O Gott.« Er riss an den Zügeln, wendete sein Pferd und schlug ihm die Sporen in die Flanken, so dass Adelia ihm schlammbespritzt, aber hochzufrieden nachschaute.

Lächelnd hob Joscelin seine Kappe. »Guten Tag, Mistress.«

Der Jäger verbeugte sich vor ihr, zog die Hunde zurück und folgte ihnen.



Es könnte jeder von ihnen sein, sagte Adelia sich, während sie ihnen hinterhersah. Dass Gervase ein Rüpel ist und der andere nicht, hat keinerlei Bedeutung. Sir Joscelin kam trotz seines freundlichen Auftretens als Täter ebenso in Frage wie sein widerwärtiger Gefährte, den er offensichtlich mochte. Auch er war an jenem Morgen auf dem Hügel gewesen.

Andererseits, wer nicht? Hugh der Jäger, dessen Gesicht so ausdruckslos wie Milch war, der aber durchaus genauso viel Boshaftigkeit in sich bergen mochte wie Roger aus Acton, nur ohne es zu zeigen. Der fettwangige Händler aus Cherry Hinton. Und der Spielmann. Die Mönche – der eine, der Bruder Gilbert hieß, war ein Hasser, wie er im Buche stand. Alle hatten sie in jener Nacht auf den Wandlebury Ring steigen können. Und was den neugierigen Steuereintreiber betraf, an dem war einfach alles verdächtig.

Und wieso eigentlich nur die Männer? Da waren auch noch die Priorin, die Nonne, die Frau des Händlers, Dienerinnen.

Doch nein, sie sprach alle Frauen frei, das war kein Verbrechen von der Hand einer Frau. Natürlich waren auch Frauen zu Grausamkeiten an Kindern fähig – Adelia hatte schon viele Folgen von Quälerei und Vernachlässigung untersuchen müssen –, doch bei den wenigen Fällen, die auch nur annähernd an die sexuelle Brutalität heranreichten, die sie hier vorgefunden hatte, waren Männer die Täter gewesen, immer nur Männer.



»Die haben mit dir geredet.« Ulfs Erstarrung war anders als ihre eigene überwältigte Ehrfurcht gewesen. »Kreuzfahrer sind das. Alle beide. Die waren im Heiligen Land.«

»In der Tat«, sagte sie ausdruckslos.

Und sie waren als reiche Männer zurückgekommen, die sich ihre Sporen verdient hatten. Sir Gervase wohnte im Coton Manor, dem Ritterlehen der Priorei, Sir Joscelin im Grantchester Manor, das St. Radegund gehörte. Sie waren leidenschaftliche Jäger und borgten sich Hugh und seine Wolfshunde von Prior Geoffrey, wenn sie so ein Untier zur Strecke bringen mussten wie den Wolf, der quer über Sir Joscelins Pferd gehangen hatte – der hatte drüben in Trumpington Lämmer gerissen –, weil nämlich Hugh der beste Wolfsjäger in ganz Cambridgeshire war …

Männer, dachte Adelia, während sie Ulfs bewundernden Erklärungen lauschte. Selbst wenn sie noch kleine Jungen sind … Aber der hier blickte jetzt wieder mit altklugen Augen zu ihr hoch. »Und du hast es denen gezeigt.«

Auch sie hatte sich ihre Sporen verdient.

Einträchtig gingen sie gemeinsam zurück zum Haus des alten Benjamin, und der in Ungnade gefallene Aufpasser schlich hinterdrein.

Es war schon dunkel, als Simon endlich ins Haus zurückkam, sich hungrig über die Aalsuppe mit Klößen und die Fischpastete hermachte, die für ihn bereit standen – es war Freitag, und Gyltha hielt sich strikt daran –, während er darüber klagte, wie unglaublich viele Wollhändler in Cambridge und Umgebung ihr Gewerbe betrieben.

»Ausnahmslos freundliche Menschen, und jeder hat mir ganz freundlich erklärt, dass die Wollstreifen aus einem alten Posten Wolle stammten … hat anscheinend irgendwas mit der Garnstärke zu tun … dass es aber, du liebe Güte ja, nicht unmöglich sei herauszufinden, wo der Ballen herkam, wenn ich bereit sei, gründlich nachzuforschen.«

Obwohl Simon aus Neapel sich unscheinbar gab und kleidete, stammte er aus einer reichen Familie und hatte noch nie darüber nachgedacht, welche Reise die Wolle vom Schaf bis zum Tuchhändler durchlief.

Während er aß, klärte er Mansur und Adelia auf.

»Wusstet ihr, dass man Urin benutzt, um Schaffelle zu reinigen? Die waschen die mit Pisse in Bottichen, die von ganzen Familien gefüllt werden.« Kämmen, Spinnen, Weben, Färben, Beizen. »Könnt ihr euch vorstellen, wie schwierig es ist, die Farbe Schwarz hinzubekommen? Experto credite, basiert sie auf einem Dunkelblau, Waid oder einer Kombination von Gerbsäure und Eisen. Ehrlich, Gelb ist einfacher. Ich habe heute Färber kennen gelernt, denen es am liebsten wäre, wenn wir uns alle nur noch gelb kleiden würden, wie die Damen der Nacht …«

Adelia begann mit den Fingern zu trommeln. Simons gute Stimmung ließ vermuten, dass seine Suche erfolgreich gewesen war, aber auch sie hatte Neues zu berichten.

Er bemerkte es. »Oh, na schön. Die Fesseln bestehen offenbar aus fein gekämmter Wolle, weil sie eine so feste, kompakte Oberfläche haben, aber trotzdem hätte mich das nicht weitergebracht, wenn nicht an diesem Streifen hier …«, Simon strich liebevoll mit der Hand darüber, und Adelia merkte ihm an, dass er vor lauter Begeisterung über seine erfolgreiche Nachforschung völlig vergessen hatte, wozu dieser Streifen gedient hatte, »… wenn nicht an diesem Streifen ein Stück von einer Webkante gewesen wäre, einer welligen Webkante, die typisch ist für den Weber …«

Er fing ihren Blick auf und erbarmte sich. »Die Wolle stammt aus einer Lieferung, die vor drei Jahren an den Abt von Ely gegangen ist. Der Abt besitzt die Konzession, alle religiösen Häuser in Cambridgeshire mit den Stoffen zu versorgen, in die sie ihre Mönche und Nonnen kleiden.«

Mansur reagierte als Erster. »Ein Habit? Es stammt von einem Mönchshabit?«

»Ja.«

Wieder trat nachdenkliches Schweigen ein, wie immer häufiger bei ihren gemeinsamen Abendessen.

Adelia sagte: »Der einzige Mönch, den wir ausschließen können, ist der Prior, denn der war die ganze Nacht bei uns.«

Simon nickte. »Seine Mönche tragen Schwarz unter dem Rochett.«

Mansur sagte: »Die frommen Frauen auch.«

»Das stimmt«, räumte Simon mit einem Lächeln ein, »ist aber in diesem Fall unbedeutend, weil ich im Laufe meiner Nachforschungen wieder dem Händler aus Cherry Hinton begegnet bin, der, wie der Zufall es will, mit Wolle handelt. Er hat mir versichert, dass seine Frau und die Dienerinnen die ganze Nacht unter Segeltuch verbracht haben, umringt und bewacht von den Männern der Gesellschaft. Wenn eine der Damen unser Mörder wäre, wie hätte sie da unbemerkt Leichen vom Hügel schaffen können?«

Damit blieben die drei Mönche in Prior Geoffreys Begleitung. Simon zählte sie auf.

Der junge Bruder Ninian? Bestimmt nicht. Aber andererseits, wieso eigentlich nicht?

Bruder Gilbert? Ein unangenehmer Zeitgenosse und möglicher Verdächtiger.

Der andere?

Keiner konnte sich an das Gesicht oder die Persönlichkeit des dritten Mönches erinnern.

»Wir müssen weitere Nachforschungen anstellen, bis dahin sind Spekulationen nutzlos«, sagte Simon. »Ein schmutziges Habit, vielleicht auf den Abfall geworfen. Der Mörder hätte es sonst wo herhaben können. Wir machen weiter, wenn wir uns ausgeruht haben.«

Er lehnte sich zurück und griff nach seinem Weinbecher. »Und jetzt, Doktor, verzeiht mir. Wir Juden sind so selten unter den Verfolgern, dass wir gerne ebenso weitschweifig wie die Jäger erzählen, wie wir die Beute zur Strecke gebracht haben. Was habt Ihr heute Neues herausgefunden?«

Adelia begann ihren Bericht chronologisch, erzählte aber straffer. Ihre Bemühungen am heutigen Tage waren ergiebiger gewesen als die von Simon, aber sie glaubte kaum, dass ihm das Ergebnis gefallen würde. Ihr jedenfalls nicht.

Ihre Beschreibung der Knochen des Kleinen St. Peter gab ihm Auftrieb. »Ich hab’s gewusst. Das ist einmal eine gute Nachricht für uns. Der Junge wurde gar nicht gekreuzigt.«

»Nein, wurde er nicht«, sagte sie und nahm ihre Zuhörer mit auf die andere Seite des Flusses und zu ihrer Unterhaltung mit Ulf.

»Da haben wir’s.« Simon spuckte fast seinen Wein aus. »Doktor, Ihr habt Israel gerettet. Das Kind wurde gesehen, nachdem es Chaims Haus verlassen hatte? Dann müssen wir ja nur noch

diesen jungen Will finden und mit ihm zum Sheriff marschieren. ›Ihr seht, Mylord Sheriff, das ist der lebende Beweis dafür, dass die Juden nichts mit dem Tod des Kleinen St. Peter zu tun haben‹ …« Seine Stimme erstarb, als er Adelias Gesichtsausdruck sah.

»Ich fürchte doch«, sagte sie.