Kapitel Drei

Als das Morgenlicht auf die Pilger am Straßenrand fiel, waren sie durchgefroren und gereizt. Ungehalten fauchte die Priorin ihren Ritter an, als er zu ihr kam und fragte, ob sie gut geschlafen habe. »Wo wart Ihr, Sir Joscelin?«

»Ich habe den Prior beschützt, Madam. Er befand sich in den Händen von Fremdlingen und hätte vielleicht Hilfe brauchen können.«

Die Priorin interessierte das nicht. »Er wollte es so. Ich hätte gestern Abend noch weiterreisen können, wenn Ihr zu unserem Schutz da gewesen wärt. Bis Cambridge sind es nur noch vier Meilen. Der Kleine St. Peter wartet auf dieses Reliquiar, das seine Knochen beherbergen wird, und er hat lange genug gewartet.«

»Ihr hättet die Knochen mitnehmen sollen, Madam.«

Die Reise der Priorin nach Canterbury war nicht nur eine fromme Pilgerfahrt gewesen, sondern hatte auch den Zweck gehabt, das Reliquiar abzuholen, das ein Jahr zuvor bei den Goldschmieden von St. Thomas à Becket bestellt worden war. Wenn die Gebeine des neuen Heiligen ihres Klosters, die derzeit noch in Cambridge in einer schlichten Kiste ruhten, erst einmal darin bestattet waren, erhoffte sie sich Großes davon.

»Ich habe seinen heiligen Fingerknochen mitgenommen«, zisch te sie, »und wenn Prior Geoffrey so gläubig wäre, wie er sein sollte, hätte das genügt, um ihn zu heilen.«

»Dennoch, Mutter, wir konnten den Prior in seiner misslichen Lage doch nicht einfach Fremden überlassen, oder?«, fragte die kleine Nonne sanft.

Die Priorin hätte es ohne Bedenken gekonnt. Prior Geoffrey war ihr ebenso zuwider wie sie ihm. »Er hat doch seinen eigenen Ritter, oder etwa nicht?«

»Um die ganze Nacht Wache zu stehen, muss man zu zweit sein«, sagte Sir Gervase. »Damit einer wachen und einer schlafen kann.« Er war gereizt. Ja, beide Ritter hatten rot geränderte Augen, als hätte keiner von ihnen ausreichend Ruhe gefunden.

»Habe ich etwa schlafen können? Bei der Unruhe hier, durch das ständige Kommen und Gehen von Leuten. Und wieso verlangt er überhaupt eine doppelte Wache?«

Die Missstimmung zwischen dem Kloster St. Radegund und dem Stift St. Augustine in Barnwell war zu einem erheblichen Teil darauf zurückzuführen, dass Priorin Joan dem Prior Eifersucht und Neid unterstellte, weil die Gebeine des Kleinen St. Peter im Nonnenkloster bereits einige Wunder gewirkt hatten. Wenn sie nun angemessen aufbewahrt wurden, würde sich ihr Ruhm weiter verbreiten, sie würden Wallfahrer anlocken, was dem Einkommen des Klosters zugutekäme, die Wunder würden zunehmen. Und zweifellos auch Prior Geoffreys Neid. »Brechen wir auf, ehe er sich wieder erholt hat.« Sie schaute sich um. »Wo steckt denn dieser Hugh mit meinen Hunden? Ach zum Teufel, er ist doch wohl nicht mit ihnen auf den Berg gestiefelt.«

Sir Joscelin machte sich sogleich auf die Suche nach dem abgängigen Jäger. Sir Gervase, der seine eigenen Hunde in Hughs Meute hatte, folgte ihm.



Der Prior hatte gut geschlafen und kam allmählich wieder zu Kräften. Er saß auf einem Baumstumpf, aß Eier aus einer Pfanne über dem Feuer der Reisenden aus Salerno und wusste gar nicht, was er zuerst fragen wollte. »Ich kann es noch immer nicht fassen, Master Simon«, sagte er.

Der kleine Mann ihm gegenüber nickte mitfühlend. »Das verstehe ich, Mylord. ›Certum est, quia impossibile.‹«

Dass ein armseliger fahrender Händler Tertullian zitierte, verwunderte den Prior noch mehr.

Wer waren diese Leute? Wie dem auch sei, der Bursche hatte es auf den Punkt gebracht: Die Situation musste so sein, weil sie unmöglich war. Nun denn, immer schön der Reihe nach. »Wo ist sie hin?«

»Sie durchstreift gerne die Berge, Mylord, studiert die Natur, sammelt Kräuter.«

»Bei dem Berg hier sollte sie vorsichtig sein. Die Einheimischen machen einen weiten Bogen um ihn und überlassen ihn allein ihren Schafen. Sie sagen, am Wandlebury Ring treiben Hexen und die Wilde Jagd ihr Unwesen.«

»Mansur begleitet sie stets.«

»Der Sarazene?« Prior Geoffrey hielt sich für einen aufgeschlossenen Menschen, der noch dazu dankbar war, doch das enttäuschte ihn. »Dann ist sie also eine Hexe?«

Simon verzog das Gesicht. »Mylord, ich bitte Euch … Wenn Ihr das Wort in ihrer Anwesenheit vermeiden könntet … Sie ist eine ausgebildete Ärztin.«

Er stockte kurz und fügte dann hinzu: »Gewissermaßen.« Wieder blieb er bei der buchstäblichen Wahrheit. »Die Schule von Salerno gestattet Frauen, als Arzt zu praktizieren.«

»Das habe ich auch schon gehört«, sagte der Prior. »Salerno, hä? Aber ich hab’s nicht geglaubt, genauso wenig, wie ich glaube, dass Kühe fliegen können. Anscheinend muss ich von nun an auf Kühe am Himmel achten.«

»Das ist immer ratsam, Mylord.«

Der Prior schaufelte sich noch einen Löffel Ei in den Mund, schaute sich um und genoss das Frühlingsgrün und das Vogelgezwitscher wie schon lange nicht mehr. Er wog die Sachlage ab. Diese kleine Gruppe war zwar offenbar nicht von Stand, aber doch gelehrt, was bedeutete, dass der erste Eindruck täuschte. »Sie hat mich gerettet, Master Simon. Hat sie diesen speziellen Eingriff in Salerno gelernt?«

»Von den besten ägyptischen Ärzten, soweit ich weiß.«

»Bemerkenswert. Nennt mir ihr Honorar.«

»Sie wird sich nicht bezahlen lassen.«

»Wirklich?« Das wurde ja immer rätselhafter. Weder dieser Mann noch die Frau sahen aus, als würden sie auch nur einen Shilling ihr Eigen nennen. »Sie hat mich beschimpft, Master Simon.«

»Mylord, ich bitte um Vergebung. Leider gehört gutes Benehmen am Krankenbett nicht gerade zu ihren Stärken.«

»Nein, offenbar nicht.« Und weibliche Schliche waren ihr wohl ebenso fremd, soweit der Prior das beurteilen konnte. »Verzeiht einem alten Mann seine Unverschämtheit, aber nur damit ich sie richtig anspreche, zu wem von Euch beiden … gehört sie?«

»Zu keinem von uns, Mylord.« Der Mann schien eher amüsiert als beleidigt. »Mansur ist ihr Diener, ein Eunuch – ein Unglück, das über ihn kam. Und ich selbst bin in Liebe an meine Frau und Kinder in Neapel gebunden. Es gibt also keine Zugehörigkeit in diesem Sinne. Wir sind lediglich durch die Umstände verbündet.«

Und der Prior, obgleich kein leichtgläubiger Mensch, glaubte ihm, was seine Neugier noch weiter steigerte. Was zum Teufel wollten die drei hier?

»Dennoch«, sagte er laut und streng. »Ich muss Euch sagen, ganz gleich, welcher Grund Euch nach Cambridge führt, Eure eigenartige Dreiermenage wird Missfallen erregen. Die Mistress Ärztin sollte in weiblicher Begleitung reisen.«

Diesmal war Simon der Überraschte, und Prior Geoffrey sah, dass die Frau für diesen Mann tatsächlich nur eine Kollegin war. »Vermutlich habt Ihr Recht«, sagte Simon. »Als wir zu unserer Mission aufbrachen, hatte sie eine Begleiterin, ihre Amme aus Kindertagen, doch die alte Frau ist unterwegs gestorben.«

»Ich rate Euch, eine andere zu suchen.« Der Prior schwieg kurz, dann fragte er: »Ihr sprecht von einer Mission. Darf ich fragen, worum es sich dabei handelt?«

Simon schien zu zögern.

Prior Geoffrey sagte: »Master Simon, ich vermute, Ihr seid nicht den weiten Weg von Salerno hierhergekommen, allein um irgendwelche Allheilmittelchen zu verkaufen. Falls Eure Mission delikater Natur ist, könnt Ihr es mir bedenkenlos anvertrauen.«

Als der Mann immer noch zögerte, schnalzte der Prior ärgerlich mit der Zunge, weil er etwas klarstellen musste, was doch eindeutig auf der Hand lag. »Master Simon, Ihr könntet mich sozusagen an meiner empfindlichsten Stelle treffen, genau wie letzte Nacht. Wie könnte ich denn Euer Vertrauen missbrauchen, wo Ihr doch jetzt in der Lage seid, einen derartigen Verrat auf der Stelle zu rächen, indem Ihr den Stadtausrufer davon in Kenntnis setzt, dass ich, ein Kanonikus von St. Augustine und ein Mann von einigem Ansehen in Cambridge und, wie ich mir schmeicheln darf, auch im weiteren Umland, nicht nur zugelassen habe, dass eine Frau mein Gemächt in die Hände nimmt, sondern dass sie auch noch eine Pflanze hineinschiebt? Wie würde das, um den unsterblichen Horaz zu paraphrasieren, in Korinth ankommen?«

»Ha«, sagte Simon.

»Fürwahr. Sprecht frei heraus, Master Simon. Befriedigt die Neugier eines alten Mannes.«

Und Simon erzählte es ihm. Sie seien gekommen, um herauszufinden, wer die Kinder von Cambridge entführte und ermordete, sagte er. Keinesfalls, sagte er, sei ihre Mission als Anmaßung gegenüber der hiesigen Obrigkeit zu verstehen, aber »eine Ermittlung durch die Obrigkeit verschließt mitunter mehr Münder, als sie öffnet, wo wir hingegen, inkognito und unauffällig …« Da Simon nun einmal Simon war, ging er auf diesen Punkt ausführlich ein. Es sei keine Einmischung. Weil aber die Entdeckung des Täters auf sich warten lasse … offensichtlich ein ganz besonders verschlagener und gerissener Mörder … könnten in diesem Fall besondere Maßnahmen … »Unsere Herren, die uns entsandt haben, sind offenbar der Ansicht, dass die Mistress Ärztin und ich über die Fähigkeiten verfügen, die für diese Aufgabe erforderlich sind …«

Während Prior Geoffrey der Schilderung lauschte, erfuhr er, dass Simon aus Neapel Jude war. Sogleich erfasste ihn eine Welle von Panik. Als Herr einer großen klösterlichen Stiftung war er für den Zustand der Welt mitverantwortlich, wenn sie Gott am Tag des Jüngsten Gerichts zurückgegeben werden musste, was in allernächster Zukunft der Fall sein könnte. Wie sollte er vor einem Allmächtigen Rechenschaft ablegen, der geboten hatte, dass in dieser Welt nur ein wahrer Glaube zu herrschen habe? Wie vor dem Thron Gottes die Existenz einer unbekehrten Infektion in einem Körper erklären, der doch heil und vollkommen zu sein hatte? Und gegen die er nichts unternommen hatte?

Menschlichkeit kämpfte gegen die Lehren des Priesterseminars – und gewann. Es war ein alter Kampf. Was konnte er denn tun? Er gehörte nicht zu jenen, die sich für die Vernichtung aussprachen. Er wollte nicht zulassen, dass die Seele, falls Juden überhaupt eine Seele hatten, vom Körper getrennt und in den Höhlenpfuhl gestoßen wurde. Er unterstützte die Juden von Cambridge, und damit nicht genug, er schützte sie auch, obwohl er mit aller Macht gegen andere Kirchenmänner wetterte, die der Sünde der Wucherei Vorschub leisteten, indem sie sich bei den Juden Geld liehen.

Und jetzt stand er selbst bei einem von ihnen in der Schuld – schuldete ihm sein Leben. Und wenn dieser Mann, ob nun Jude oder nicht, tatsächlich das Geheimnis lösen konnte, unter dem Cambridge so qualvoll litt, dann würde Prior Geoffrey ihm zu Diensten sein. Warum aber hatte er einen Arzt, nein, eine Ärztin, bei sich?

Also hörte sich Prior Geoffrey Simons Geschichte an, und wenn er zuvor schon erstaunt gewesen war, so verschlug es ihm nun vollends die Sprache – nicht zuletzt wegen der Offenheit des Mannes, einer Eigenschaft, die ihm unter seinesgleichen bislang noch nicht begegnet war. Statt Gerissenheit oder gar Verschlagenheit hörte er hier die Wahrheit.

Er dachte: Armer Tölpel, er muss nicht lange überredet werden, um seine Geheimnisse preiszugeben. Er ist zu arglos, ohne Falsch. Wer hat ihn bloß geschickt, den armen Tölpel?

Als Simon geendet hatte, trat Stille ein, nur auf einem Wildkirschbaum zwitscherte eine Amsel.

»Ihr seid von den Juden entsandt worden, um die Juden zu retten?«

»Keineswegs, Mylord. Wirklich, nein. Die treibende Kraft bei diesem Unternehmen scheint der König von Sizilien zu sein, ein Normanne, wir Ihr sicherlich wisst. Ich habe mich schon selbst darüber gewundert. Aber ich kann mir nicht helfen, mir scheint, dass auch noch andere Kräfte am Werk sind. Jedenfalls wurden unsere Pässe in Dover gar nicht überprüft, so dass ich vermute, dass die englische Obrigkeit nicht in Unkenntnis über unsere Absichten ist. Seid versichert, sollte sich herausstellen, dass die Juden von Cambridge dieses grausigen Verbrechens schuldig sind, werde ich selbst nicht zögern, den Strick zu knüpfen, an dem sie aufgehängt werden.«

Gut. Das akzeptierte der Prior. »Aber warum war es nötig, auch noch ein Weib mitzunehmen, wenn ich fragen darf? Eine derartige Kuriosität wird, so sie herauskommt, höchst ungebetene Aufmerksamkeit erregen.«

»Auch ich hatte da zunächst meine Zweifel«, sagte Simon.

Zweifel? Er war entsetzt gewesen. Das Geschlecht der Person, die ihn begleiten sollte, war ihm erst klar geworden, als sie und ihre Entourage an Bord des Schiffes kamen, das sie alle nach England bringen sollte. Zu einem Zeitpunkt, als es für jeden Protest zu spät war, und er hatte protestiert – Gordinus der Afrikaner, der größte Arzt und naivste Mensch, hatte sein wildes Gestikulieren als Abschiedswinken verstanden und freundlich zurückgewinkt, während der Abstand zwischen Heckreling und Kai sich unaufhaltsam weitete.

»Ich hatte meine Zweifel«, wiederholte er, »doch sie erwies sich als bescheiden, fähig und des Englischen überaus mächtig. Und außerdem …« Simon strahlte, wobei sein durchfurchtes Gesicht vor Vergnügen noch mehr Falten warf und die Aufmerksamkeit des Priors von einem heiklen Punkt ablenkte; der Augenblick würde kommen, an dem er Adelias spezielle Fähigkeiten offenbaren würde, aber noch war es nicht so weit. »… die Pläne des Herrn sind unergründlich, wie meine Frau sagen würde. Warum wohl war sie denn gerade in der Stunde Eurer größten Not zur Stelle?«

Prior Geoffrey nickte bedächtig. Das war unstrittig. Er selbst hatte dem allmächtigen Gott bereits auf Knien dafür gedankt, dass er sie zu ihm geführt hatte.

»Es wäre hilfreich«, sprach Simon aus Neapel behutsam weiter, »wenn wir vor unserer Ankunft in der Stadt möglichst viel darüber erfahren würden, wie das Kind ermordet wurde und wie es dazu kommen konnte, dass zwei weitere vermisst werden …« Er ließ den Satz im Raum stehen.

»Die Kinder«, sagte Prior Geoffrey schließlich mühsam. »Ich muss Euch sagen, Master Simon, dass sich ihre Zahl zu dem Zeitpunkt, als wir nach Canterbury aufgebrochen sind, nicht mehr auf zwei belief, wie man Euch gesagt hat, sondern auf drei. Fürwahr, hätte ich nicht geschworen, diese Pilgerfahrt anzutreten, ich hätte Canterbury nicht verlassen, weil ich fürchte, dass die Zahl weiter steigt. Gott sei ihrer Seele gnädig, wir alle fürchten, dass den Kleinen das Gleiche widerfahren ist wie dem ersten Kind, Peter. Kreuzigung.«

»Nicht durch die Hand von Juden, Mylord. Wir kreuzigen keine Kinder.«

Ihr habt den Sohn Gottes gekreuzigt, dachte der Prior. Armer Tölpel, wenn du dort, wo du hinwillst, bekennst, dass du Jude bist, reißen sie dich in Stücke. Und deine Ärztin gleich mit. Verdammt, dachte er, ich werde nicht umhin können, mich einzumischen.

Er sagte: »Master Simon, ich muss Euch sagen, dass unser Volk gegen die Juden sehr aufgebracht ist und fürchtet, dass weitere Kinder geraubt werden könnten.«

»Mylord, was haben die Nachforschungen bislang ergeben? Welche Beweise gibt es dafür, dass die Juden schuldig sind?«

»Die Anschuldigung wurde gleich zu Anfang erhoben«, sagte Prior Geoffrey, »und ich fürchte, nicht ohne Grund …«

Simon Menahem aus Neapel besaß in seiner Eigenschaft als Agent, Ermittler, Vermittler, Aufklärer, Spion – die Mächtigen, die ihn gut kannten, hatten ihn bereits in all diesen Funktionen eingesetzt – die große Gabe, Menschen glauben zu machen, er sei der, der er zu sein schien. Sie konnten sich einfach nicht vorstellen, dass dieser schmächtige, nervöse kleine Mann, der so übereifrig, ja simpel wirkte, der Informationen ausplauderte, die allesamt vertraulich waren, tatsächlich klüger sein konnte als sie. Erst wenn der Handel abgeschlossen war, die Allianz besiegelt, das Geheimnis enträtselt, erst dann wurde ihnen klar, dass Simon genau das erreicht hatte, was seine Herren wollten. »Aber er ist und bleibt ein Tölpel«, redeten sie sich ein.

Und ebendiesem Tölpel, der den Charakter und die frische Dankesschuld des Priors bis aufs Kleinste durchschaut hatte, erzählte ein gefügiger Prior nun alles, was der Tölpel wissen wollte … Es war vor etwas über einem Jahr gewesen. Am Freitag vor Palmsonntag. Der achtjährige Peter, ein Kind aus Trumpington, einem Dorf am südwestlichen Rand von Cambridge, war von seiner Mutter losgeschickt worden, um Weidenkätzchenzweige zu schneiden, »die in England am Palmsonntag statt der Palmen als Dekoration verwendet werden«.

Peter war nicht zu den Weiden in der Nähe seines Elternhauses gelaufen, sondern an der Cam entlang Richtung Norden, wo er zu einem Baum wollte, der direkt am Flussufer unweit des Klosters St. Radegund stand und als besonders heilig galt, weil ihn die heilige Radegund selbst gepflanzt hatte.

»Als ob«, unterbrach der Prior seine Erzählung erbost, »eine deutsche Heilige aus der finsteren Zeit bis nach Cambridgeshire gelaufen wäre, um einen Baum zu pflanzen. Aber dieser Raffzahn …«, er meinte die Priorin von St. Radegund, »behauptet ja die tollsten Dinge.«

Es traf sich, dass ausgerechnet an dem Tag etliche der reichsten und bedeutendsten Juden Englands nach Cambridge gekommen waren, um im Haus von Chaim Leonis die Hochzeit von Chaims Tochter zu feiern. Peter war unterwegs zu dem Weidenbaum auf die Feierlichkeiten auf der anderen Flussseite aufmerksam geworden.

Deshalb war er nicht auf demselben Weg zurück nach Hause gegangen, sondern hatte die kürzere Strecke zum Judenviertel genommen, über die Brücke und durch die Stadt, um sich die Kutschen und herausgeputzten Pferde der fremden Juden in Chaims Ställen anzusehen.

»Sein Onkel, Peters Onkel, war nämlich Chaims Stallmeister.«

»Dürfen Christen denn hier für Juden arbeiten?«, fragte Simon, als wüsste er die Antwort nicht schon. »Großer Gott.«

»Aber ja. Die Juden sind gute Arbeitgeber. Und Peter war oft in den Ställen, sogar in der Küche, wo ihm Chaims Koch – der Jude war – manchmal irgendwelche Leckereien zugesteckt hat, was dem ganzen Haus dann später als Verführung zur Last gelegt wurde.«

»Sprecht weiter, Mylord.«

»Nun, Peters Onkel Goodwin hatte bei den vielen Pferden, um die er sich kümmern musste, keine Zeit für den Kleinen und schickte ihn nach Hause, wo der Junge aber nie ankam. Das fiel erst am späten Abend auf, als Peters Mutter in der ganzen Stadt nach ihm fragte. Die Wache wurde verständigt, ebenso die Flusswächter – es stand zu befürchten, dass der Junge in die Cam gefallen war. Im Morgengrauen wurden beide Ufer abgesucht. Nichts.«

Über eine Woche lang nichts. Während Städter und Dörfler am Karfreitag in ihren Pfarrkirchen auf den Knien zum Kreuz krochen, wurden Gebete an den Allmächtigen gerichtet, er möge Peter aus Trumpington doch wieder zurückbringen.

Am Ostermontag wurden die Gebete erhört. Doch wie grässlich. Man fand Peters Leiche im Fluss nicht weit von Chaims Haus, wo sie sich unter einem Bootssteg verfangen hatte.

Der Prior zuckte mit den Achseln. »Doch da gab noch niemand den Juden die Schuld. Kinder stolpern, sie fallen in Flüsse, Brunnen, Gräben. Nein, wir glaubten an einen Unfall, bis Martha die Wäscherin sich zu Wort meldete. Martha wohnt auf der Bridge Street, und einer ihrer Kunden ist Chaim Leonis. Sie sagte, sie habe an dem Abend, als der kleine Peter verschwand, einen Korb mit sauberer Wäsche zu Chaim gebracht. Da die Hintertür offen stand, ist sie hineingegangen …«

»Sie hat so spät noch Wäsche ausgeliefert?«, fragte Simon erstaunt.

Prior Geoffrey neigte den Kopf. »Ich denke, wir können davon ausgehen, dass Martha neugierig war. Sie hatte noch nie eine jüdische Hochzeit gesehen. Das hat natürlich keiner von uns. Wie dem auch sei, sie ist hineingegangen. Der rückwärtige Teil des Hauses war menschenleer, da sich die Feierlichkeiten hauptsächlich im Garten vor dem Haus abspielten. Eine Tür zu einem Zimmer, das vom Flur abging, war nur angelehnt …«

»Schon wieder eine offene Tür«, sagte Simon offensichtlich erneut verwundert.

Der Prior warf ihm einen Blick zu. »Erzähle ich Euch etwas, was Ihr bereits wisst?«

»Verzeiht mir, Mylord. Redet weiter, ich bitte Euch.«

»Also schön, Martha warf einen Blick in das Zimmer und sah ein Kind – wie sie sagt – ein Kind, das mit den Händen an einem Kreuz hing. Sie war zu nichts anderem fähig, als vor Entsetzen wie gelähmt zu sein, denn genau in diesem Moment kam Chaims Frau den Flur entlang, verfluchte sie, und Martha rannte vor Schreck einfach davon.«

»Ohne die Wache zu alarmieren?«, fragte Simon.

Der Prior nickte. »In der Tat, das ist der Schwachpunkt in ihrer Geschichte. Falls, falls Martha den Jungen tatsächlich zu dem Zeitpunkt gesehen hat, dann hat sie die Wachen nicht alarmiert. Bis Peter tot aufgefunden wurde, hat sie überhaupt niemanden alarmiert. Dann, erst dann hat sie es einer Nachbarin zugeflüstert, die es einer anderen Nachbarin zuflüsterte, die dann zur Burg ging und es dem Sheriff erzählte. Danach häuften sich die Beweise geradezu. Ein Weidenkätzchenzweig wurde in der Gasse direkt vor Chaims Haus gefunden. Ein Mann, der die Burg mit Torf beliefert hatte, sagte aus, er habe am Freitag vor Palmsonntag zwei Männer am anderen Flussufer beobachtet, von denen einer einen Judenhut trug, und gesehen, wie sie von der Großen Brücke aus ein Bündel in die Cam warfen. Dann gaben andere an, aus Chaims Haus Schreie gehört zu haben. Ich selbst habe den Leichnam inspiziert, nachdem man ihn aus dem Fluss geborgen hatte, und die Kreuzigungsstigmata an ihm gesehen.« Er runzelte die Stirn. »Der arme kleine Körper war natürlich entsetzlich aufgedunsen, aber man sah die Spuren an den Handgelenken, und der Bauch war aufgeschlitzt worden wie von einem Speer, und … es gab noch andere Verletzungen.«

In der Stadt war es augenblicklich zum Tumult gekommen. Um zu verhindern, dass sämtliche Männer, Frauen und Kinder im Judenviertel erschlagen wurden, hatten der Sheriff und seine Männer sie so schnell es ging in die Burg von Cambridge geschafft. Das war im Namen des Königs geschehen, unter dessen Schutz die Juden standen.

»Trotzdem wurde Chaim unterwegs von Rachsüchtigen gepackt und an der Weide bei St. Radegund aufgehängt. Und als seine Frau um sein Leben bettelte, hat man sie in Stücke gerissen.« Prior Geoffrey bekreuzigte sich. »Der Sheriff und ich selbst haben getan, was wir konnten, doch gegen den Zorn der Bevölkerung waren wir machtlos.« Seine Miene verfinsterte sich bei der schrecklichen Erinnerung. »Ich habe gesehen, wie sich anständige Männer in Höllenhunde verwandelten, Matronen in Mänaden.«

Er lüftete seine Kappe und fuhr sich mit der Hand über den fast kahlen Schädel. »Vielleicht, Master Simon, hätten wir die aufgebrachten Gemüter ja doch noch beruhigen können. Es gelang dem Sheriff nämlich, die Ordnung wiederherzustellen, so dass wir schon hofften, die überlebenden Juden könnten nun, da Chaim tot war, wieder in ihre Häuser zurückkehren. Aber nein. Jetzt kommt der Auftritt des Roger aus Acton, eines Klerikers, der neu in unserer Stadt ist und an unserer Pilgerfahrt nach Canterbury teilnimmt. Gewiss ist er Euch aufgefallen, dünne Beine, böses Gesicht, käsige Haut, ein lästiger Bursche von fragwürdiger Sauberkeit. Master Roger ist zufällig …«, der Prior warf Simon einen fast vorwurfsvollen Blick zu, »… zufällig ein Vetter der Priorin von St. Radegund, und er strebt nach Ruhm, indem er fromme Traktate verfasst, die im Grunde nur seine Ignoranz verraten.«

Die beiden Männer schüttelten den Kopf. Die Amsel zwitscherte weiter.

Prior Geoffrey seufzte. »Master Roger hat das Schreckenswort ›Kreuzigung‹ gehört und es begierig wie ein Frettchen aufgeschnappt. Endlich einmal etwas Neues. Nicht bloß der Vorwurf der Folter, was den Juden ja gerne unterstellt wird … Ich bitte um Vergebung, Master Simon, aber so war es schon immer.«

»Leider ja, Mylord, leider ja.«

»Dies hier sah ganz nach einer Nachahmung von Ostern aus: ein Junge, der dazu auserkoren worden war, die Schmerzen des Gottessohnes zu erleiden, und der daher zweifellos sowohl ein Heiliger als auch ein Wundertäter sein musste. Ich hätte das Kind anständig beerdigt, doch diese Hexe in Menschengestalt, die sich als Nonne von St. Radegund ausgibt, hat das verhindert.«

Der Prior drohte mit der Faust Richtung Straße. »Sie hat den Leichnam des Kindes entführt und Anspruch darauf erhoben, weil Peters Eltern auf einem Stück Land wohnen, das St. Radegund gehört. Mea culpa. Ich muss zugeben, dass wir uns um den Leichnam gestritten haben. Aber, Master Simon, diese Frau, diese Höllenkatze, sieht in dem Leichnam nicht die sterblichen Überreste eines kleinen Jungen, der ein christliches Begräbnis verdient hat, sondern einen Erwerb für diese Sukkubenhöhle, die sie Kloster nennt, eine Möglichkeit, Pilger und Lahme und Kranke, die sich Heilung erhoffen, ordentlich zu schröpfen. Eine Attraktion, Master Simon.« Er lehnte sich zurück. »Und genau das ist er geworden. Roger aus Acton hat ihn bekannt gemacht. Unsere Priorin hat sich von den Geldwechslern in Canterbury beraten lassen – dafür gibt es Zeugen –, wie die Reliquien des Kleinen St. Peter und Heiligenandenken an der Klosterpforte verkauft werden sollten. Quid non mortalia pectoa cogis, auris sacra fames! Was stellst du mit dem menschlichen Herzen an, du verfluchter Hunger nach Gold!«

»Mylord, ich bin entsetzt«, sagte Simon.

»Und das mit Recht, Master Simon. Sie hat einen Knochen aus der Hand des Jungen dabei. Sie und ihr Vetter haben ihn mir in meiner Bedrängnis aufgelegt und gesagt, er würde mich augenblicklich heilen. Ihr müsst wissen, Roger aus Acton möchte mich gerne auf die Liste der Geheilten setzen, für den Bittbrief an den Vatikan, den Kleinen St. Peter doch offiziell heiligzusprechen.«

»Ich verstehe.«

»Der Knochen, und in meiner Pein habe ich mich nicht gescheut, ihn anzufassen, war wirkungslos. Meine Erlösung kam von einer unverhoffteren Seite.« Der Prior stand auf. »Dabei fällt mir ein, ich spüre den Drang zu pinkeln.«

Simon streckte einen Arm aus und hielt ihn zurück. »Aber was ist mit den anderen Kindern, Mylord? Die noch vermisst werden?«

Prior Geoffrey blieb einen Moment stehen, als lauschte er dem Gesang der Amsel. »Eine Weile geschah nichts«, sagte er. »Mit Chaim und Miriam hatte die Stadt ihren Durst nach Rache gestillt. Die Juden in der Burg schickten sich an, in ihre Häuser zurückzukehren. Doch dann verschwand wieder ein Junge, und wir wagten es nicht, sie gehen zu lassen.«

Der Prior wandte das Gesicht ab, so dass Simon es nicht sehen konnte. »Es war in der Nacht auf Allerseelen. Ein Junge aus meiner Schule.« Simon hörte das Zittern in der Stimme des Priors. »Als Nächstes ein kleines Mädchen, die Tochter eines Vogeljägers. Ausgerechnet, Gott stehe uns bei, am Tag der Unschuldigen Kinder, an dem wir des Kindermordes in Bethlehem gedenken. Und dann, kürzlich erst, am Festtag von St. Edward, König und Märtyrer, wieder ein Junge.«

»Aber Mylord, wie kann man den Juden denn auch diese Fälle zur Last legen? Sie sind doch noch immer in der Burg eingeschlossen, nicht wahr?«

»Ach, Master Simon, mittlerweile hat man den Juden die Fähigkeit verliehen, über Burgmauern zu fliegen, um sich die Kinder zu schnappen und sie zu fressen und die Überreste in den nächsten Tümpel zu werfen. Ich muss Euch raten, Euch nicht als Jude zu erkennen zu geben. Wisst Ihr …«, der Prior stockte kurz, »… es gab da gewisse Zeichen.«

»Was für Zeichen?«

»Man hat sie in der Gegend entdeckt, wo die Kinder zuletzt gesehen wurden. Kabbalistische Flechtarbeiten. Die Stadtbewohner sagen, sie erinnern an den Davidstern. Und jetzt«, Prior Geoffrey hatte die Beine gekreuzt, »muss ich wirklich pinkeln. Ein bedeutender Augenblick.«

Simon sah ihm nach, wie er zum Waldrand humpelte. »Viel Glück, Mylord.«

Es war richtig, dass ich ihm so viel erzählt habe, dachte er. Wir haben einen wertvollen Verbündeten gewonnen. Ich habe Informationen gegen Informationen eingetauscht – ich habe jedoch nicht alles verraten.



Die Schneise, die zur Kuppe des Wandlebury Hill hinaufführte, war durch einen Erdrutsch entstanden, der Breschen in die großen Gräben gerissen hatte, die vor langer Zeit von alten Völkern angelegt worden waren, um den Berg zu verteidigen. Weidende Schafherden hatten den Hang noch weiter eingeebnet, und Adelia erklomm mit ihrem Korb am Arm in wenigen Minuten den Gipfel, ohne dabei außer Atem zu geraten. Oben angekommen, betrat sie eine menschenleere, große kreisrunde Wiese, die mit Schafmist übersät war.

Aus der Ferne hatte die Kuppe kahl gewirkt. Bis auf ein kleines Wäldchen am Ostrand standen die einzigen hohen Bäume am Hang, und der Rest war mit buschigen Weißdorn– und Wacholdersträuchern bewachsen. In dem recht flachen Boden waren hier und dort eigentümliche Senken zu sehen, von denen einige zwei bis drei Fuß tief waren und einen Durchmesser von mindestens sechs Fuß hatten. Wer nicht aufpasste, konnte sich hier leicht den Knöchel verstauchen.

Nach Osten hin, wo gerade die Sonne aufging, fiel das Gelände sanft ab, nach Westen zum Flachland hin steil.

Adelia öffnete ihren Umhang, verschränkte die Hände im Nacken und reckte sich, ließ die frische Luft durch die vermaledeite, in Dover gekaufte Tunika aus grober Wolle dringen, die sie nur trug, weil Simon aus Neapel sie so beschwörend darum gebeten hatte. »Wir müssen uns unter die Bürger Englands begeben, Doktor. Wenn wir uns unter sie mischen, um herauszufinden, was sie wissen, müssen wir so aussehen wie sie.«

»Und Mansur sieht natürlich aus wie der geborene angelsächsische Leibeigene«, hatte sie entgegnet. »Und was ist mit unserem Akzent?«

Aber Simon hatte sich nicht davon abbringen lassen, dass drei fremde fahrende Händler, die Arzneien verkauften, was beim einfachen Mann stets gut ankam, mehr Geheimnisse herausfinden würden als tausend Inquisitoren. »Wir lassen uns nicht durch Standesunterschiede von denjenigen fernhalten, die wir befragen müssen. Uns geht es um die Wahrheit, nicht um Respekt.«

»In diesem Aufzug«, hatte sie über die Tunika gesagt, »wird man mich bestimmt nicht mit Respekt überschütten.« Doch Simon, der in der Kunst der Täuschung erfahrener war als sie, leitete nun einmal diese Mission. Adelia hatte das Kleidungsstück übergestreift – praktisch ein Schlauch, der an den Schultern mit Spangen festgehalten wurde –, hatte aber ihr seidenes Untergewand anbehalten. Sie war zwar nie im Strom der Mode mitgeschwommen, aber sie dachte gar nicht daran, Sackleinen auf ihrer Haut zu dulden, nicht einmal für den König von Sizilien.

Das Licht blendete sie, und sie schloss die Augen, erschöpft von einer Nacht, in der sie bei ihrem Patienten gewacht hatte, ob er auch kein Fieber bekam. Im Morgengrauen hatte sich die Haut des Priors kühl angefühlt, sein Puls regelmäßig. Die Behandlung hatte vorläufig Erfolg gezeitigt. Jetzt blieb abzuwarten, ob er ohne Hilfe und schmerzfrei urinieren konnte. So weit, so gut, wie Margaret immer gesagt hatte.

Sie stapfte los, und während sie den Blick auf der Suche nach nützlichen Pflanzen schweifen ließ, bemerkte sie, dass ihr mit jedem Schritt, den sie in den billigen Stiefeln tat – ein weiterer verflixter Bestandteil ihrer Verkleidung –, süße, unbekannte Düfte in die Nase stiegen. Hier oben im Gras versteckten sich kleine Kostbarkeiten, die ersten Eisenkrautblättchen, Gundermann, Katzenminze, Günsel, Clinopodium vulgare, das die Engländer wildes Basilikum nannten, obwohl es weder so aussah noch so roch wie echtes Basilikum. Sie hatte einmal ein altes englisches Pflanzenbuch gekauft, das die Mönche von Santa Lucia erworben hatten, aber nicht lesen konnten, und es Margaret geschenkt, als Erinnerung an ihre Heimat. Dann aber hatte sie es selbst gründlich studiert.

Und hier nun wuchsen die Abbildungen aus dem Buch lebendig zu ihren Füßen, was sie so begeisterte, als hätte sie ein berühmtes Gesicht auf der Straße entdeckt.

Der kräuterkundige Verfasser des Buches hatte sich wie die meisten seiner Zunft stark an Galen angelehnt und die üblichen unbewiesenen Behauptungen aufgestellt: Lorbeer zum Schutz gegen Blitzschlag, Baldrian, um die Pest abzuwehren, Majoran, um den Uterus zu festigen – als ob der Uterus einer Frau bis zum Hals hinaufschwebte und dann wieder nach unten wie eine Kirsche in einer Flasche. Wieso sah sich das keiner an?

Sie begann Kräuter zu sammeln.

Plötzlich beschlich sie ein ungutes Gefühl. Es gab gar keinen Grund dafür. Die große kreisrunde Wiese war nach wie vor menschenleer. Wolken veränderten das Licht, wenn ihre Schatten rasch über das Gras glitten. Ein verkrüppelter Weißdornbusch nahm die Gestalt einer gebückten alten Frau an, ein jäher Schrei – eine Elster – scheuchte kleinere Vögel auf.

Was auch immer es war, ihr war beklommen zumute, und sie kam sich in diesem flachen Gelände auf einmal viel zu auffällig vor. Sie war töricht gewesen. Die Pflanzen und die vermeintliche Einsamkeit der Bergkuppe hatten sie gelockt, sie war der plappernden Gesellschaft überdrüssig gewesen, von der sie seit Canterbury umgeben war. Deshalb hatte sie die Dummheit, die Tollheit begangen, allein loszuziehen, nachdem sie Mansur angewiesen hatte, zurückzubleiben und sich um den Prior zu kümmern. Ein Fehler. So war sie jedem Mann, der sich an ihr vergehen wollte, schutzlos ausgeliefert. Ohne die Begleitung von Margaret und Mansur hätte sie sich genauso gut ein Schild mit der Aufschrift Vergewaltige mich um den Hals hängen können. Falls einer das Angebot annahm, würde man ihr die Schuld geben, nicht dem Vergewaltiger.

Zum Teufel mit dem Gefängnis, in dem Männer Frauen gefangen hielten. Seine unsichtbaren Gitterstäbe waren ihr schon damals verhasst gewesen, als Mansur darauf bestanden hatte, sie auf dem Weg von Vorlesung zu Vorlesung durch die langen dunklen Gänge der Schule in Salerno zu begleiten, wodurch sie sich bevorzugt und lächerlich vorkam. Aber sie hatte ihre Lektion gelernt, oh ja, sie hatte sie an dem Tag gelernt, als sie seiner Aufsicht entwischt war. Die Empörung, die Verzweiflung, mit der sie sich gegen einen Mitstudenten hatte zur Wehr setzen müssen, die Demütigung, dass sie um Hilfe rufen musste, die dann auch Gott sei Dank kam, die anschließende Standpauke von ihren Professoren und natürlich von Mansur und Margaret über die Sünde des Hochmuts und ihren nachlässigen Umgang mit ihrem guten Ruf.

Dem jungen Mann hatte keiner irgendwelche Vorhaltungen gemacht, wenngleich Mansur ihm hinterher die Nase gebrochen hatte, um ihm Manieren beizubringen.

Da Adelia nun einmal Adelia und noch immer ein bisschen hochmütig war, zwang sie sich weiterzugehen, aber diesmal in Richtung der Bäume, und die eine oder andere Pflanze zu pflücken, ehe sie sich erneut umsah.

Nichts. Schwankende Weißdornblüten im Wind, wieder ein jähes Erblassen des Lichts, als eine Wolke vor der Sonne dahinjagte. Ein Fasan stieg flatternd und kreischend auf. Sie wandte sich um.

Es war, als wäre er aus der Erde gewachsen. Er kam auf sie zugeschritten, warf einen langen Schatten. Diesmal war es kein pickeliger Student. Einer von den wuchtigen und stolzen Kreuzfahrern in der Pilgerschar. Die Metallglieder seines Kettenhemdes knirschten unter dem Wappenrock. Der Mund lächelte, doch die Augen waren so hart wie das Eisen, das Kopf und Nase umschloss. »Na, wen haben wir denn da«, sagte er genüsslich. »Wenn das nicht die kleine Mistress ist.«

Adelia spürte einen tiefen Ekel – vor ihrer eigenen Dummheit, vor dem, was nun kommen würde. Sie hatte Hilfsmittel. Eines davon, ein tückischer kleiner Dolch, der in ihrem Stiefel steckte, war ein Geschenk ihrer sizilianischen Ziehmutter. Die wackere Frau hatte ihr geraten, auf das Auge des Angreifers zu zielen. Ihr jüdischer Ziehvater hatte eine geschicktere Verteidigung empfohlen: »Sag ihnen, dass du Ärztin bist, und tu so, als wärst du besorgt über ihr Aussehen. Frag sie, ob sie mit Pestkranken zu tun gehabt hätten. Da streicht jeder Mann die Flagge.«

Sie glaubte allerdings, dass keine der beiden Maßnahmen gegen diese nahende eisenbewehrte Masse etwas ausrichten würde. Außerdem wollte sie ihren Beruf nicht öffentlich bekannt geben, das hätte ihrer Mission geschadet.

Er war noch ein Stück von ihr entfernt. Sie richtete sich auf und versuchte, möglichst herablassend zu wirken. »Ja?«, rief sie scharf. Wäre sie Vesuvia Adelia Rachel Ortese Aguilar in Salerno gewesen, hätte das vielleicht Wirkung erzielt, doch hier, auf diesem einsamen Hügel, nützte es einer ärmlich gekleideten fremdländischen Metze wenig, die bekanntermaßen in einem Händlerwagen mit zwei Männern unterwegs war.

»Das gefällt mir«, rief der Mann zurück. »Eine Frau, die ja sagt.«

Er kam näher. Jetzt waren seine Absichten klar.

Sie duckte sich, griff in ihren Stiefel. Dann geschah gleichzeitig zweierlei – aus verschiedenen Richtungen.

Aus dem Wäldchen kam das zischende Wusch-Wusch-Geräusch von Luft, die verdrängt wird, weil etwas durch sie hindurchwirbelt. Eine kleine Axt grub ihre Klinge in das Gras zwischen Adelia und dem Ritter.

Zugleich ertönte ein Ruf von jenseits des Hügels. »Im Namen Gottes, Gervase, ruf deine verdammten Hunde und komm endlich. Die Alte will nicht länger warten.«

Adelia sah, wie sich der Blick der Ritters veränderte. Sie bückte sich, zog mit einem kräftigen Ruck die Axt aus dem Boden und richtete sich lächelnd wieder auf. »Das muss Magie sein«, sagte sie.

Der andere Kreuzfahrer rief seinem Freund erneut zu, er solle endlich seine Hunde holen und zur Straße hinuntergehen.

Die Niederlage, die sich im Gesicht des Mannes spiegelte, schlug erst in Hass, dann bewusst in Desinteresse um, ehe er auf der Stelle umdrehte und davoneilte.

Du hast dir hier keine Freunde gemacht, sagte Adelia sich. Gott, ich hasse es, Angst zu haben. Der Teufel soll ihn holen. Und dieses verdammte Land gleich mit. Ich wollte doch eigentlich gar nicht herkommen.

Verärgert, weil sie noch immer zitterte, ging sie auf einen Schatten unter den Bäumen zu. »Ich habe dir gesagt, du sollst beim Wagen bleiben«, sagte sie auf Arabisch.

»Fürwahr«, bestätigte Mansur.

Sie gab ihm seine Axt zurück – er nannte sie Parvaneh, Schmetterling. Er schob sie seitlich in seinen Gürtel, so dass sie unter seinem Umhang verschwand und nur sein traditioneller Dolch in der kunstvollen Scheide vorn in der Mitte zu sehen war. Die Wurfaxt war als Waffe bei den Arabern selten, aber nicht bei dem Stamm, dem Mansur angehörte. Seine Ahnen hatten mit den Wikingern Handel getrieben, die bis nach Arabien vorgestoßen waren und dort gegen die exotischen Reichtümer des Landes nicht nur Waffen eingetauscht hatten, sondern auch das Geheimnis, wie sie den edlen Stahl für ihre Klingen herstellten.

Gemeinsam gingen Herrin und Diener zwischen den Bäumen den Hang hinunter, Adelia stolpernd, Mansur mit so sicheren Schritten, als wäre er auf einer Straße.

»Welcher von den beiden Ziegenkötteln war es?«, wollte er wissen.

»Der, den sie Gervase nennen. Der andere heißt Joscelin, glaube ich.«

»Kreuzfahrer«, sagte er und spuckte aus.

Auch Adelia hatte keine gute Meinung von Kreuzfahrern. Salerno lag auf einer der Routen ins Heilige Land, und die meisten Soldaten des Kreuzfahrerheeres waren unerträglich gewesen, ganz gleich ob auf dem Hin– oder Rückweg. Auf dem Hinweg hatten sie, strohdumm und voller Begeisterung für das Werk Gottes, die Harmonie zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen und Rassen im Königreich Sizilien gestört, indem sie gegen die Anwesenheit von Juden, Moslems und sogar Christen protestierten, die ihren Glauben anders praktizierten als sie. Häufig hatten sie sie sogar angegriffen. Auf dem Rückweg waren sie meist verbittert, krank und verarmt – nur wenige waren mit dem Vermögen oder der heiligen Gnade belohnt worden, auf die sie gehofft hatten – und bereiteten daher ebenso viele Probleme.

Sie kannte einige, die gar nicht weiter nach Outremer gefahren waren und stattdessen in Salerno blieben, bis sie dessen Freigebigkeit erschöpft hatten, ehe sie nach Hause zurückkehrten, um sich vor ihrer Stadt oder ihrem Dorf mit ein paar erlogenen Geschichten und einem Kreuzfahrermantel großzutun, den sie für wenig Geld auf dem Markt von Salerno erstanden hatten.

»Na, dem hast du ganz schön Angst eingejagt«, sagte sie jetzt.

»Ein guter Wurf.«

»Nein«, sagte der Araber. »Ich hab ihn verfehlt.«

Adelia fuhr ihn an. »Mansur, jetzt hör mir mal zu. Wir sind nicht hier, um die Bevölkerung abzumurksen …«

Sie verstummte. Sie waren zu einer Schneise gelangt und sahen ein kleines Stück entfernt den anderen Kreuzfahrer, den Beschützer der Priorin, der Joscelin genannt wurde. Er hatte einen der Hunde gefunden und bückte sich gerade, um ihn an die Leine zu nehmen, während er den Jäger ausschimpfte, der neben ihm stand.

Als sie näher kamen, hob er den Kopf, lächelte, nickte Mansur zu und wünschte Adelia einen guten Tag. »Ich bin froh, Euch in Begleitung zu sehen, Mistress. Hier sollte eine hübsche Lady nicht allein umherstreifen, und übrigens auch sonst niemand.«

Keine deutliche Erwähnung des Vorfalls auf der Hügelkuppe, aber geschickt formuliert. Eine Entschuldigung für seinen Freund, ohne sich direkt zu entschuldigen, und ein Tadel in ihre Richtung. Aber warum nannte er sie »hübsch«, wo sie es doch gar nicht war und in ihrer derzeitigen Rolle auch nicht sein wollte? Konnten Männer nicht anders als galant sein? Wenn dem so war, so dachte sie widerstrebend, dann hatte der da wahrscheinlich mehr Erfolg als die meisten.

Er hatte den Helm und die Kappe abgenommen, so dass sein volles schwarzes Haar zu sehen war, das sich schweißfeucht lockte. Seine Augen waren erstaunlich blau. Und trotz seines Standes zeigte er Höflichkeit gegenüber einer Frau, die offenbar selbst keinen besaß.

Der Jäger stand etwas abseits, schwieg und betrachtete die anderen mürrisch.

Sir Joscelin erkundigte sich nach dem Prior. Sie war so umsichtig, auf Mansur zu zeigen und zu sagen, der Arzt glaube, dass der Patient gut auf die Behandlung angesprochen habe.

Sir Joscelin verneigte sich vor dem Araber, und Adelia dachte, dass er auf seinem Kreuzzug zumindest gutes Benehmen gelernt hatte. »Ah ja, die arabische Medizin«, sagte er. »Wir haben großen Respekt vor ihr gewonnen, diejenigen unter uns, die im Heiligen Land waren.«

»Wart Ihr zusammen mit Eurem Freund dort?« Sie wunderte sich über die Unterschiedlichkeit der beiden Männer.

»Zu verschiedenen Zeiten«, sagte er. »Wir stammen beide aus Cambridge, aber seltsamerweise sind wir uns erst nach unserer Rückkehr wieder begegnet. Outremer ist riesengroß.«

Der Qualität seiner Stiefel und dem dicken Goldring an seinem Finger nach zu urteilen, war es ihm dort gut ergangen.

Sie nickte und ging weiter, und erst als sie und Mansur schon an ihm vorbei waren, fiel ihr ein, dass sie vor ihm einen Knicks hätte machen müssen. Dann vergaß sie ihn, vergaß sogar den Rohling, der sein Freund war. Sie war Ärztin und richtete ihre Aufmerksamkeit auf ihren Patienten.



Als der Prior triumphierend wieder zum Lager kam, stellte er fest, dass die Frau zurückgekehrt war und allein an der erloschenen Feuerstelle saß, während der Sarazene den Wagen belud und die Maultiere einspannte.

Ihm hatte vor diesem Augenblick gegraut. So ehrbar er auch war, er hatte halbnackt und ängstlich wimmernd vor einer Frau gelegen, einer Frau, ohne jede Beherrschung und Würde.

Nur seine Dankesschuld, das Wissen, dass er ohne ihre Behandlung gestorben wäre, hatte ihn daran gehindert, sie zu ignorieren oder sich davonzustehlen, bevor sie einander wieder begegnen konnten.

Als sie seine Schritte hörte, sah sie auf. »Konntet Ihr Wasser lassen?«

»Ja.« Barsch.

»Schmerzfrei?«

»Ja.«

»Gut«, sagte sie.

Es war … jetzt erinnerte er sich wieder. Eine obdachlose Frau war vor dem Stiftstor von Wehen überrascht worden, und Bruder Theo, der Krankenpfleger der Priorei, hatte ihr notgedrungen bei der schwierigen Geburt beigestanden. Am nächsten Morgen, als er mit Theo die Mutter und das Kind aufsuchte, hatte er sich gefragt, wer von beiden sich bei dieser Begegnung mehr schämen würde – die Frau, die während der Geburt ihre intimsten Körperregionen einem Mann enthüllt hatte, oder der Mönch, der sich damit hatte befassen müssen.

Nichts dergleichen. Keine Verlegenheit. Sie hatten sich voller Stolz angeschaut.

Und so war es jetzt auch. Die hellbraunen Augen, die ihn musterten, waren eindeutig geschlechtslos, die eines Waffengefährten. Er war ein Kamerad, vielleicht ein Untergebener. Sie hatten gemeinsam den Feind bekämpft und gesiegt.

Er war ihr dafür ebenso dankbar wie für seine Rettung. Schnell trat er vor und führte ihre Hand an seine Lippen. »Puella mirabile.«

Es war Adelia noch nie leicht gefallen, ihre Gefühle zu zeigen, sonst hätte sie den Mann umarmt. Es hatte also geklappt. Sie hatte so lange nicht mehr Allgemeinmedizin praktiziert, dass sie schon fast die unermessliche Freude vergessen hatte, die einen überkam, wenn man sah, dass ein Mensch von seinem Leiden befreit worden war. Dennoch, er musste erfahren, wie seine Prognose aussah.

»Nicht ganz so mirabile, wie es scheint«, sagte sie. »Es könnte wieder passieren.«

»Verdammt«, sagte der Prior. »Verdammt, verdammt.« Er fing sich wieder. »Ich bitte um Verzeihung, Mistress.«

Sie tätschelte ihm die Hand, schob ihn auf den Baumstumpf und setzte sich im Schneidersitz ins Gras. »Männer haben eine Drüse, die zu ihren Fortpflanzungsorganen gehört«, erklärte sie. »Sie umschließt den Hals der Blase und den Beginn der Harnröhre. Ich glaube, in Eurem Fall ist sie vergrößert. Gestern war ihr Druck so stark, dass die Blase nicht mehr arbeiten konnte.«

»Was soll ich tun?«, fragte er.

»Ihr müsst lernen, die Blase so zu entleeren, wie ich es getan habe, sollte es wieder so weit kommen – mit einem Stück Schilfrohr als catheter.«

»Catheter?« Sie hatte das griechische Wort für Rohr benutzt.

»Ihr könntet es üben. Ich kann es Euch zeigen.«

Großer Gott, dachte er, das würde sie wahrhaftig. Und es wäre für sie lediglich ein medizinisches Verfahren. Ich bespreche diese Dinge mit einer Frau: Sie bespricht sie mit mir.

Auf der Reise von Canterbury bis hierher hatte er sie lediglich als eine aus dem Gesindel zur Kenntnis genommen, wenngleich sie, jetzt, wo er darüber nachdachte, bei den Übernachtungen in den Gasthöfen stets zu den Nonnen in die Frauenunterkünfte gegangen war, anstatt im Wagen bei den Männern zu bleiben. Letzte Nacht, als sie stirnrunzelnd sein Geschlecht betrachtet hatte, hätte sie auch einer seiner Schreiber sein können, der sich auf ein schwieriges Manuskript konzentriert. Und heute Morgen hatte ihre berufliche Sachlichkeit sie über die Untiefen der Geschlechtlichkeit hinweggetragen.

Trotzdem war und blieb sie eine Frau und, armes Ding, so schmucklos wie ihre Sprache. Eine Frau, die unbemerkt in der Menge untergehen würde, eine Frau für den Hintergrund, eine Maus unter Mäusen. Jetzt, da er seine volle Aufmerksamkeit auf sie richtete, empfand Prior Geoffrey fast ein wenig Ärger, dass dem so war. Es gab keinen Grund für diese Unscheinbarkeit. Ihre Gesichtszüge waren zart und ebenmäßig, ebenso wie das, was er unter dem weiten Umhang von ihrem Körper erahnen konnte. Die Haut war rein und hatte diese leicht dunkle, samtige Tönung, die man manchmal in Norditalien und Griechenland fand. Weiße Zähne. Unter der Kappe, mit der gerollten Krempe, die sie bis zu den Ohren heruntergezogen hatte, steckten vermutlich Haare. Wie alt war sie? Noch jung.

Die Sonne beschien ein Gesicht, das sich statt für Liebreiz für Intelligenz entschieden hatte, dessen Aufgewecktheit jede Spur von Weiblichkeit überdeckte. Es war so rein gescheuert wie ein Waschbrett, und obwohl der Prior ansonsten strikt gegen Farbe an Frauen war, empfand er bei seinem Gegenüber das völlige Fehlen jeglicher Zierde schon fast als Affront. Noch Jungfrau, darauf würde er schwören.

Adelia sah einen allzu wohlgenährten Mann vor sich, wie das so viele klösterliche Würdenträger waren, obwohl in seinem Fall die Gefräßigkeit nicht darauf zurückzuführen war, dass er mit der Lust auf Essen den Verzicht auf Geschlechtlichkeit ausglich. Sie fühlte sich wohl in seiner Gesellschaft. Frauen waren natürliche Wesen für ihn, das hatte sie gleich gemerkt, weil es so selten war, keine Harpyien, keine Verführerinnen. Fleischliches Begehren wurde anerkannt, aber beherrscht, jedoch nicht durch Selbstzüchtigung. Die freundlichen Augen ließen erkennen, dass dieser Mann im Einklang mit sich selbst lebte, dass sich in ihm Weltlichkeit und Güte zu einer behaglichen – allzu behaglichen – Lebensführung vereinten. Ein Mann, der kleine Sünden verzieh, auch seine eigenen. Er fand sie seltsam, natürlich, wie jeder, sobald er sie zur Kenntnis genommen hatte.

Doch so liebenswert er auch war, sie wurde allmählich ungehalten. Sie hatte seinetwegen die ganze Nacht kein Auge zugetan, jetzt konnte er wenigstens ihre Ratschläge befolgen.

»Hört Ihr mir nicht richtig zu, Mylord?«

»Ich bitte um Vergebung, Madam.« Er setzte sich aufrechter hin.

»Ich sagte gerade, dass ich Euch zeigen kann, wie man einen catheter verwendet. Das Verfahren ist nicht schwer, wenn man weiß, wie es geht.«

Er sagte: »Ich denke, Madam, wir sollten abwarten, bis sich die Notwendigkeit ergibt.«

»Also schön.« Es lag bei ihm. »Außerdem seid Ihr zu schwer. Ihr müsst Euch mehr bewegen und weniger essen.«

Gekränkt sagte er: »Ich jage einmal die Woche.«

»Zu Pferd. Folgt den Hunden von nun an zu Fuß.« Anmaßend, dachte Prior Geoffrey. Und sie kommt aus Sizilien? Seine Erfahrung mit sizilianischen Frauen – sie war kurz, aber unvergesslich gewesen – beschwor Erinnerungen an die Verlockungen Arabiens herauf; dunkle Augen, die ihn über einen Schleier hinweg anlächelten, die Liebkosung eines mit Henna gefärbten Fingers, Worte so weich wie die Haut, der Duft von …

Zum Donnerwetter, dachte Adelia, warum ist ihnen Flitterkram nur so wichtig? »Dafür ist mir meine Zeit zu schade«, sagte sie schneidend.

»Hä?«

Sie seufzte ungeduldig. »Wie ich sehe, findet Ihr es bedauerlich, dass die Frau ebenso schmucklos ist wie die Ärztin. Es ist doch immer dasselbe.« Sie funkelte ihn zornig an. »Master Prior, Ihr bekommt von beiden reinen Wein eingeschenkt. Wenn Ihr sie herausgeputzt haben wollt, dann wendet Euch an andere. Dreht diesen Stein um«, sie deutete auf einen Schieferbrocken in der Nähe, »und Ihr werdet einen Scharlatan finden, der Euch mit der günstigsten Konjunktion von Merkur und Venus blendet, Eure Zukunft in den leuchtendsten Farben malt und Euch für ein Goldstück gefärbtes Wasser verkauft. Dafür ist mir meine Zeit zu schade. Von mir hört Ihr die Wahrheit.«

Er war verblüfft. Aus dieser Frau sprach das Selbstbewusstsein, sogar der Hochmut eines erfahrenen Handwerkers. Sie hätte ein Schmied sein können, den er gebeten hatte, ein geplatztes Rohr zu flicken.

Nur dass sie, so rief er sich in Erinnerung, im Gegenteil dafür gesorgt hatte, dass gerade bei ihm etwas nicht platzte. Dennoch, auch Sachlichkeit stand ein wenig Ausschmückung gut zu Gesicht. »Seid Ihr bei all Euren Patienten so unverblümt?«, fragte er.

»Normalerweise habe ich keine Patienten«, sagte sie.

»Das wundert mich nicht.«

Und sie lachte.

Bezaubernd, dachte der Prior bezaubert. Horaz fiel ihm ein: Dulce ridentem Lalagen amabo. Die lieblich lachende Lalage werde ich lieben. Aber das Lachen dieser jungen Frau widersprach dem streng tadelnden Ton, den sie zuvor angenommen hatte, und ließ sie schlagartig verletzlich und unschuldig wirken, so dass die jäh in ihm aufsteigende Zuneigung nicht einer Lalage galt, sondern einer Tochter. Ich muss sie beschützen, dachte er.

Sie hielt ihm etwas hin. »Ich habe eine Diät für Euch aufgeschrieben.«

»Papier, großer Gott«, sagte er. »Wie kommt Ihr denn an Papier?«

»Die Araber stellen es her.«

Er schaute auf die Liste. Ihre Schrift war scheußlich, aber er konnte sie mit Müh und Not entziffern. »Wasser? Abgekochtes Wasser? Acht Becher am Tag? Madam, wollt Ihr mich umbringen? Schon der Dichter Horaz hat gesagt, dass Wassertrinker nichts Rechtes zustande bringen.«

»Haltet Euch an Martial«, sagte sie, »der hat länger gelebt. Non est vivere, sed valere vita est. Leben heißt nicht bloß leben, sondern gut leben.«

Er schüttelte staunend den Kopf. Demütig sagte er: »Ich bitte Euch, nennt mir Euren Namen.«

»Vesuvia Adelia Rachel Ortese Aguilar«, antwortete Adelia.

»Oder, wenn Euch das lieber ist, Dr. Trotula, ein Titel, der den weiblichen Professoren an der Schule verliehen wird.«

Es war ihm nicht lieber. »Vesuvia? Ein hübscher Name, sehr ungewöhnlich.«

»Adelia«, sagte sie. »Ich bin bloß auf dem Vesuv gefunden worden.« Sie streckte die Hand aus, als wollte sie die seine ergreifen. Ihm stockte der Atem.

Doch sie nahm sein Handgelenk, legte den Daumen obendrauf und die übrigen Finger auf die weiche Unterseite. Ihre Fingernägel war kurz und so sauber wie alles an ihr. »Ich wurde als Säugling auf dem Berg ausgesetzt. In einem Krug.« Sie sprach geistesabwesend, und er merkte, dass sie ihm eigentlich nichts mitteilen, sondern ihn nur ruhig halten wollte, während sie seinen Puls fühlte. »Die beiden Ärzte, die mich fanden und aufzogen, dachten, ich wäre möglicherweise Griechin, weil das Aussetzen ungewollter Töchter bei den Griechen verbreitet war.«

Sie ließ sein Handgelenk los und schüttelte den Kopf. »Zu schnell«, sagte sie. »Wirklich, Ihr solltet abnehmen.«

Er muss erhalten bleiben, dachte sie. Sein Tod wäre ein wahrer Verlust.

Eine Eigentümlichkeit jagte die nächste, und dem Prior drehte sich schon der Kopf. Der Herr mochte ja Menschen niederer Herkunft erhöhen, wenn es Ihm gefiel, doch es war nun wirklich nicht nötig, dass sie aller Welt von ihren unwürdigen Anfängen erzählte. Meine Güte, meine Güte. Ohne ihre vertraute Umgebung wäre sie so schutzlos wie eine Schnecke ohne Haus. Er fragte: »Ihr wurdet von zwei Männern großgezogen?«

Sie war entrüstet, als hätte er unterstellt, dass sie irgendwie abnorm erzogen worden wäre. »Von einer Frau und einem Mann, und sie waren verheiratet«, sagte sie stirnrunzelnd. »Meine Pflegemutter ist auch eine Trotula. Eine als Christin geborene Frau aus Salerno.«

»Und Euer Pflegevater?«

»Ein Jude.«

Schon wieder. Mussten diese Leute es denn in die Welt hinausposaunen? »Dann wurdet Ihr in seinem Glauben erzogen?« Das war ihm wichtig. Sie war eine Fackel, seine Fackel, eine ungemein kostbare Fackel, die vor dem Verbrennen errettet werden musste.

Sie sagte: »Ich glaube an nichts, was nicht bewiesen werden kann.«

Er war entsetzt: »Glaubt Ihr denn nicht an die Schöpfung? An Gottes Plan?«

»Eine Schöpfung hat es gegeben, gewiss. Ob es einen Plan gab, weiß ich nicht.«

Mein Gott, mein Gott, dachte er, triff sie nicht mit Deinem Zorn. Ich brauche sie. Sie weiß nicht, was sie sagt.

Sie erhob sich. Ihr Eunuch hatte den Wagen für die Fahrt hinunter zur Straße bereit gemacht. Simon kam auf sie zu.

Da selbst Apostaten bezahlt werden mussten und er gerade diese hier aus tiefstem Herzen bemitleidete, sagte der Prior: »Mistress Adelia, ich stehe in Eurer Schuld und möchte meine Seite der Waage beschweren. Bittet um etwas, und mit Gottes Gnade werde ich es gewähren.«

Sie wandte sich um und betrachtete ihn nachdenklich. Sie sah die freundlichen Augen, den klugen Verstand, die Güte; sie mochte ihn. Aber ihr berufliches Interesse galt allein seinem Körper – noch war es nicht so weit, aber eines Tages. Die Drüse, die die Blase eingeengt hatte, wiege sie ab, vergleiche sie …

Simon fiel in Laufschritt. Er kannte diesen Blick bei ihr. Sie dachte an nichts anderes als an Medizin. Sie würde den Prior bitten, ihr seinen Körper zur Verfügung zu stellen, wenn er starb. »Mylord, Mylord.« Er schnappte nach Luft. »Mylord, wenn Ihr die Güte hättet, bringt die Priorin dazu, dass sich Dr. Trotula die sterblichen Überreste des Kleinen St. Peter ansehen darf. Vielleicht kann sie Licht in die Umstände seines Ablebens bringen.«

»Tatsächlich?« Prior Geoffrey musterte Vesuvia Adelia Rachel Ortese Aguilar. »Und wie wollt Ihr das anstellen?«

»Ich bin eine Ärztin der Toten«, sagte sie.