Kapitel Sechzehn

Die Luft im Raum war heiß und schwül geworden. Die Augenlider der anwesenden Männer schlossen sich halb, ihre Münder wurden schlaff und ihre Körper steif. Veronica wälzte sich zwischen den Binsen auf dem Boden, riss an ihrem Habit, zeigte auf ihre Vagina und kreischte, dass der Teufel da in sie eingedrungen sei, da.

Es war, als sähe sie eine schwere Schuld durch die federleichten Andenken enthüllt. Eine Tür war aufgebrochen worden, und etwas Stinkendes quoll daraus hervor.

»Ich hab zur Muttergottes gebetet … errette mich, errette mich, gütige Maria … aber er hat mich mit seinem Horn durchbohrt, hier, hier. Es tat so weh … Er hatte ein Geweih … Ich konnte nicht … Geliebter Sohn Mariens, er zwang mich, ihm zuzusehen … wie er schreckliche Dinge tat, schreckliche Dinge … Blut, so viel Blut. Mich dürstete nach dem Blut Unseres Herrn, doch ich war die Sklavin des Teufels … er tat mir weh, so weh … Er hat mir in die Brüste gebissen, hier, hier, er hat mich ausgezogen … mich geschlagen … er hat sein Horn in meinen Mund gestoßen … Ich hab gebetet, der gute Heiland möge zu mir kommen … aber er ist der Fürst der Finsternis … seine Stimme in meinen Ohren, die mir auftrug, Dinge zu tun … Ich hatte Angst … haltet ihn auf, lasst ihn nicht …« Gebete, Erniedrigungen. Es ging weiter und weiter.

Aber auch dein Bund mit der Bestie, dachte Adelia. Weiter und weiter. Monatelang. Kind für Kind herbeigeschafft, bei seinen Qualen zugeschaut, und niemals ein Versuch, sich zu befreien. Das ist keine Versklavung.

Falls Veronica ihre Seele offenbarte, so offenbarte sie auch ihren jungen Körper. Der Rock war hochgerutscht, ihre kleinen Brüste waren durch die Risse im Habit zu sehen.

Es ist eine Vorstellung. Sie gibt dem Teufel die Schuld. Sie hat Simon getötet. Sie genießt es. Es bereitet ihr Lust, ja, Lust.

Ein Blick hinüber zu den Richtern zeigte ihr, dass sie gebannt waren, nicht nur gebannt, schlimmer noch: Der Bischof von Norwich drückte eine Hand in den Schritt, der alte Archidiakon hechelte. Hubert Walter sabberte. Sogar Rowley leckte sich die Lippen.

Als eine kurze Pause eintrat, in der Veronica um Atem rang, sagte der Bischof fast ehrfürchtig: »Ein Dämon ist in sie gefahren. Ein ganz klarer Fall von Besessenheit.«

Die Dämonen waren schuld. Ein weiterer Versuch des Fürsten der Finsternis, die Mutter Kirche zu Fall zu bringen. Ein bedauerlicher, aber erklärlicher Zwischenfall im Krieg zwischen Sünde und Heiligkeit. Nur der Teufel war schuld. Hilflos hob Adelia den Blick und sah in das Gesicht des einzigen Mannes im Raum, der sich das Ganze mit sardonischer Bewunderung ansah.

»Sie hat Simon aus Neapel getötet«, sagte Adelia.

»Ich weiß.«

»Sie hat geholfen, die Kinder zu töten.«

»Ich weiß.«

Veronica kroch jetzt über den Boden, schlängelte sich zu den Richtern. Sie umklammerte die Pantoffeln des Archidiakons, und ihr weiches, dunkles Haar ergoss sich über seine Füße. »Errettet mich, Mylord, lasst nicht zu, dass er mir wieder Gewalt antut. Mich dürstet nach Unserem Herrn, gebt mich meinem Erlöser zurück. Schickt den Teufel fort.« Sie war bar aller Vernunft, aufgelöst, ihre Unschuld war verschwunden, und sinnliche Schönheit hatte ihren Platz eingenommen, älter und angegriffener als diejenige, die sie verdrängt hatte, aber dennoch Schönheit.

Der Archidiakon beugte sich zu ihr. »Ist ja gut, Kind.«

Der Tisch erbebte, als Henry von ihm heruntersprang. »Haltet Ihr Schweine, Prior?«

Prior Geoffrey riss den Blick los. »Schweine?«

»Schweine. Und irgendwer helfe dieser Frau auf die Beine.« Anweisungen wurden erteilt. Die beiden Soldaten zogen Veronica hoch, so dass sie zwischen ihnen hing.

»Nun denn, Madam«, sagte Henry zu ihr, »Ihr könnt uns helfen.«

Als Veronicas Augen an ihm hochglitten, verrieten sie einen Moment lang Berechnung. »Gebt mich meinem Erlöser zurück, Mylord. Ich will mich im Blut Unseres Herrn von meinen Sünden reinwaschen.«

»Erlösung liegt in der Wahrheit und somit darin, dass Ihr uns erzählt, wie der Teufel die Kinder getötet hat. Auf welche Weise. Ihr müsst es uns zeigen.«

»Der Herr will das? Da war Blut, so viel Blut.«

»Er besteht darauf.« Henry hob warnend eine Hand, als die Richter empört aufsprangen. »Sie weiß es. Sie hat zugesehen. Sie soll es uns zeigen.«

Hugh kam mit einem Ferkel herein, das er dem König zeigte. Der nickte. Als der Jäger es Richtung Küche trug, sah eine verwirrte Adelia eine kleine runde, schnüffelnde Schnauze. Es roch nach Stall.

Einer der Soldaten bugsierte Veronica in dieselbe Richtung, gefolgt von dem anderen, der ein blattförmiges Messer feierlich auf ausgestreckten Händen trug, das Feuersteinmesser, das Messer.

Will er, dass das geschieht? Gott schütze uns, gütiger Gott, schütze uns alle.

Die Richter, die ganze Versammlung, die blinzelnde Walburga, sie drängten zur Küche. Priorin Joan wäre zurückgeblieben, doch König Henry packte sie am Ellbogen und zog sie mit.

Als Rowley an ihr vorbeikam, sagte Adelia: »Ulf darf das nicht sehen.«

»Ich habe ihn mit Gyltha nach Hause geschickt.« Dann war auch er weg, und Adelia stand in einem leeren Refektorium.

War das geplant? Es ging hier um mehr als nur darum, Veronicas Schuld zu beweisen: Henry hatte es auf die Kirche abgesehen, die ihn wegen Becket verdammt hatte.

Auch das war schrecklich. Ein durchtriebener König hatte eine Falle gestellt, und zwar nicht nur für die Kreatur, die nun vielleicht hineintappen würde, je nachdem, wie durchtrieben sie selbst war, sondern um seinem größeren Feind die eigene Schwäche vor Augen zu führen. Und ganz gleich, wie schändlich die Kreatur war, die darin gefangen werden sollte, eine Falle war und blieb eine Falle.

Bei dem ständigen Kommen und Gehen war die Tür zum Kloster offen geblieben. Der Morgen dämmerte, und die Mönche sangen, wie schon die ganze Zeit. Während Adelia dem Klang lauschte, der Ordnung und Anmut wiederherstellte, spürte sie, wie die Nachtluft auf ihren Wangen Tränen kühlte, die sie gar nicht bemerkt hatte.

In der Küche ertönte die Stimme des Königs. »Legt es auf den Hackklotz. Wohlan, Schwester. Zeigt uns, was er getan hat.« Sie schoben Veronica das Messer in die Hand …

Benutze es nicht, das ist nicht nötig … erzähl es ihnen einfach.

Die Stimme der Nonne klang klar durch die offene Klappe. »So finde ich Erlösung?«

»Die Wahrheit ist Erlösung.« Henry, unerbittlich. »Zeigt es uns.«

Stille.

Wieder die Stimme der Nonne. »Er mochte es nicht, wenn sie die Augen schlossen, wisst Ihr.« Das erste Quieken des Ferkels. »Und dann …«

Adelia hielt sich die Ohren zu, aber ihre Hände konnten ein weiteres Quieken nicht aussperren, dann noch eins, diesmal schriller, noch eins … und die Frauenstimme, die sich darüber erhob. »So, und dann so. Und dann …«

Sie ist verrückt. Falls sie zuvor Verschlagenheit zeigte, dann war es die Verschlagenheit einer Irren. Und selbst die hat sie jetzt verlassen. Großer Gott, was geschieht in diesem Kopf?

Lachen? Nein, es war ein Kichern, ein irrer Laut, der das Leben aus dem Leben schlürfte, das genommen wurde. Veronicas menschliche Stimme wurde unmenschlich, erhob sich über die Todesschreie des Ferkels, bis sie ein tierisches Brüllen war, ein Geräusch, das zu großen, grasfleckigen Zähnen und langen Ohren gehörte. Es fuhr hinaus in die Alltäglichkeit des Morgens, um sie zu zertrümmern.

Ein Eselsschrei.



Die Soldaten schleppten sie zurück ins Refektorium und stießen sie zu Boden, wo sich zwischen den Binsen eine Lache aus Ferkelblut bildete, mit dem ihr Habit durchtränkt war. Die Richter machten einen weiten Bogen um sie herum, und der Bischof von Norwich strich geistesabwesend über seine bespritzte Robe. Mansur und Rowley blickten mit starrer Miene. Rabbi Gotsce war bis zu den Lippen weiß. Priorin Joan sank auf die Bank und vergrub das Gesicht in den Armen. Hugh lehnte sich gegen den Türpfosten und starrte ins Leere.

Adelia eilte zu Schwester Walburga, die getaumelt und hingestürzt war. Sie kniete sich neben sie und legte eine Hand fest auf ihren Mund. »Ganz langsam. Langsam atmen. Kurze Atemzüge, flach atmen.«

Sie hörte Henry sagen: »Nun, Mylords? Mir scheint, sie hat dem Teufel tatkräftig zur Seite gestanden.«

Abgesehen von Walburgas panischem Hecheln war kein Laut zu hören.

Nach einer Weile sprach einer der Bischöfe: »Sie wird selbstverständlich vor ein Kirchengericht gestellt.«

»Sie wird also das Vorrecht des Klerus genießen, wollt Ihr sagen«, entgegnete der König.

»Sie gehört noch immer zu uns, Mylord.«

»Und was werdet Ihr mit ihr machen? Die Kirche kann niemanden aufhängen, sie kann kein Blut vergießen. Euer Gericht kann sie lediglich exkommunizieren und in die nichtkirchliche Welt hinausjagen. Was passiert, wenn das nächste Mal ein Mörder nach ihr pfeift?«

»Plantagenet, seht Euch vor.« Der Archidiakon meldete sich zu Wort. »Wollt Ihr Euch wieder mit dem heiligen Thomas anlegen? Soll er erneut durch die Hände Eurer Ritter sterben? Wollt Ihr seine eigenen Worte anzweifeln? ›Die Geistlichkeit hat Christus allein als König und unter dem Herrscher des Himmels; sie muss nach ihren eigenen Gesetzen beurteilt werden.‹ Glocke, Buch und Kerze üben den größten Zwang überhaupt aus. Diese elende Frau wird ihre Seele verlieren.«

Das war die Stimme, die durch eine Kathedrale gehallt hatte, auf deren Stufen das Blut eines Erzbischofs klebte. Nun hallte sie durch ein Refektorium in der Provinz, in dessen Steinritzen das Blut eines Ferkels sickerte.

»Sie hat ihre Seele längst verloren. Soll England noch mehr Kinder verlieren?« Das war die andere Stimme, diejenige, die mit weltlicher Vernunft gegen Becket argumentiert hatte. Sie war noch immer vernünftig.

Und dann auf einmal nicht mehr. Henry fasste einen der Soldaten bei den Schultern und schüttelte ihn. Er schüttelte den Rabbi und dann Hugh. »Begreift Ihr jetzt? Begreift Ihr jetzt? Das war der Streit zwischen Becket und mir. Eure Kirchengerichte mögen urteilen, habe ich gesagt, aber überlasst mir die Bestrafung der Schuldigen.« Männer wurden wie Ratten durch den Raum geschleudert. »Ich habe verloren. Ich habe verloren, versteht Ihr? Mörder und Vergewaltiger laufen in meinem Land frei herum, weil ich verloren habe.«

Hubert Walter versuchte, ihn an einem Arm festzuhalten, wurde aber mitgeschleift, während er ihn anflehte: »Mylord, Mylord … denkt dran, ich bitte Euch, denkt dran.«

Henry schüttelte ihn ab und starrte auf ihn hinunter. »Ich werde es nicht dulden, Hubert.« Er fuhr sich mit der Hand über den Mund, um den Speichel abzuwischen. »Habt Ihr gehört, Mylords? Ich werde es nicht dulden.«

Er war jetzt ruhiger, wandte sich den bebenden Richtern zu. »Sitzt über diese Kreatur zu Gericht, verdammt sie, raubt ihr die Seele, aber ich werde nicht dulden, dass ihr Atem mein Reich besudelt. Schickt sie nach Thüringen zurück, ans Ende der Welt, egal wohin, aber ich werde nicht noch mehr Kinder verlieren und, bei meinem Seelenheil, falls sie in zwei Tagen noch immer die Luft der Plantagenets atmet, werde ich der Welt verkünden, dass die Kirche sie hat laufen lassen. Und Ihr, Madam …«

Jetzt war Priorin Joan an der Reihe. Der König zog ihren Kopf vom Tisch hoch, so dass ihr Nonnenschleier verrutschte und darunter strohiges, graues Haar zum Vorschein kam. »Und Ihr … Wenn Ihr Eure Schwesternschaft auch nur halb so gut abgerichtet hättet wie Eure Hunde … Sie verschwindet, habt Ihr mich verstanden? Sie verschwindet, oder ich reiße Euer Kloster Stein für Stein nieder, mit Euch mittendrin. Und jetzt verlasst diesen Ort und nehmt das stinkende Ungeziefer da mit.«



Es war ein jäher Aufbruch. Prior Geoffrey stand in der Tür und wirkte alt und gebrechlich. Der Regen hatte aufgehört, doch in der kühlen, feuchten Morgenluft stieg Bodennebel auf, und die kapuzentragenden, in Umhänge gehüllten Gestalten, die sich auf ihre Pferde schwangen oder in Sänften stiegen, waren kaum voneinander zu unterscheiden. Aber alles war still, bis auf das Klappern der Hufe auf den Pflastersteinen, dem Schnauben aus Pferdenüstern, dem Gesang einer Drossel und dem Krähen eines Hahnes aus dem Hühnerstall. Niemand sprach. Schlafwandler allesamt. Seelen in einer Zwischenwelt.

Einzig der Aufbruch des Königs war geräuschvoll gewesen, ein Sturm von Saurüden und Reitern, die zum Tor und hinaus ins offene Land galoppierten.

Adelia meinte, zwei verschleierte Gestalten zu sehen, die von Soldaten weggeführt wurden. Die huttragende, gebeugte Figur, die sich einsam Richtung Burg schleppte, war möglicherweise der Rabbi. Bei ihr war nur Mansur, Gott segne ihn.

Sie ging zu Walburga, an die niemand mehr gedacht hatte, und legte den Arm um sie. Dann warteten sie auf Rowley Picot. Und warteten.

Entweder er kam nicht oder er war schon fort. Aha …

»Anscheinend müssen wir zu Fuß gehen«, sagte Adelia. »Seid Ihr dazu imstande?« Sie machte sich Sorgen um Walburga. Nachdem die junge Frau in der Küche gesehen hatte, was sie nie hätte sehen sollen, war ihr Puls beängstigend hoch gewesen. Die Nonne nickte.

Gemeinsam trotteten sie durch den Nebel, Mansur an ihrer Seite. Zweimal drehte Adelia sich nach Aufpasser um. Zweimal kam die Erinnerung zurück. Als sie sich zum dritten Mal umwandte … »O nein, großer Gott, nein.«

Hinter ihnen ging Rakshasa, die Füße im Nebel unsichtbar … Mansur zog seinen Dolch, steckte ihn aber dann wieder zurück. »Es ist der andere. Bleibt hier.«

Adelia war noch immer atemlos vor Schreck, während sie zusah, wie Mansur zu Sir Gervase ging, dessen Gestalt so sehr der eines Toten ähnelte, dass er jetzt irgendwie kleiner und seltsam verschüchtert wirkte. Er und der Araber schlenderten ein Stück weiter und waren bald nicht mehr zu sehen. Nur ihre halblauten Stimmen waren zu hören.

Mansur kam allein zurück. Zu dritt setzten sie ihren Weg fort. »Wir schicken ihm einen Topf Schlangenwurz«, sagte Mansur. »Warum?« Und dann, weil alles Normale fast verloren gegangen wäre, musste Adelia grinsen. »Er ist … Mansur, hat er den Tripper?«

»Andere Ärzte konnten ihm nicht helfen. Der arme Kerl versucht schon seit einigen Tagen, mich zu konsultieren. Er sagt, er hat das Haus des Juden beobachtet und auf meine Rückkehr gewartet.«

»Ich habe ihn gesehen. Er hat mich zu Tode erschreckt. Der soll seinen Schlangenwurz kriegen, und ich tue ordentlich Pfeffer rein, das wird ihn lehren, an Flussufern rumzulauern. Der und sein Tripper.«

»Du wirst dich verhalten wie eine Ärztin«, wies Mansur sie zurecht. »Er ist ein leidender Mann, der Angst davor hat, was seine Frau sagen wird, Allah sei ihm gnädig.«

»Dann hätte er ihr treu bleiben sollen«, sagte Adelia. »Nun, wenn es wirklich Gonorrhö ist, verschwindet es nach einer Weile.« Sie grinste noch immer. »Aber verrat’s ihm nicht.«

Es war schon heller, als sie sich der Stadt näherten und die Große Brücke sehen konnten. Eine Schafherde trabte darüber, auf dem Weg zum Schlachthaus. Ein paar Studenten stolperten nach einer durchzechten Nacht nach Hause.

Walburga schnaubte und sagte plötzlich fassungslos: »Aber sie war die Beste unter uns, die Frommste. Ich hab sie bewundert, weil sie so gut war.«

»Sie hat eine Geisteskrankheit«, sagte Adelia. »So etwas ist unbegreiflich.«

»Woher kommt so was?«

»Ich weiß es nicht.« Vielleicht war die Krankheit schon immer da gewesen. Unterdrückt. Mit drei Jahren war Veronica zu Keuschheit und Gehorsam verdammt worden. Eine zufällige Begegnung mit einem Mann, der sie überwältigte – Rowley hatte von Rakshasas Anziehungskraft auf Frauen gesprochen.

»Der Himmel weiß warum; er behandelt sie nicht gut.«

Hatte die ekstatische Vereinigung der beiden den Irrsinn der Nonne freigesetzt? Vielleicht, vielleicht.

»Ich weiß es nicht«, wiederholte Adelia. »Atmet ganz flach. Und schön langsam.«

Ein Reiter trabte heran, als sie den Anfang der Brücke erreichten. Sir Rowley Picot blickte auf Adelia herab. »Bekomme ich eine Erklärung, Mistress?«

»Ich habe es Prior Geoffrey erklärt. Dein Antrag macht mich dankbar und stolz …« Ach, das war nicht gut. »Rowley, ich würde dich ja heiraten, und sonst keinen, nie, niemals. Aber …«

»Habe ich dich gestern nicht schön gevögelt?«

Er wählte bewusst ein derbes Wort, und Adelia spürte, wie die Nonne an ihrer Seite zusammenzuckte. »Das hast du«, sagte sie.

»Ich habe dich befreit. Ich habe dich vor diesem Unhold gerettet.«

»Auch das hast du.«

Aber nur das Zusammenspiel der Fähigkeiten, die Simon aus Neapel und sie besaßen, hatte zu der Entdeckung auf dem Wandlebury Hill geführt, auch wenn es ein schwerer Fehler von ihr gewesen war, allein dorthin zu gehen.

Dieselben Fähigkeiten hatten Ulf gerettet und die Juden befreit. Auch wenn das außer dem König niemand anerkannt hatte, ihre Nachforschungen waren eine raffinierte Mischung aus Logik und kühler Überlegung und … ja, zugegeben, Instinkt gewesen, aber dieser Instinkt gründete auf Wissen. Wahrhaft seltene Fähigkeiten in diesen leichtgläubigen Zeiten, zu selten, um einfach unterzugehen, so wie die von Simon untergegangen waren, zu kostbar, um begraben zu werden, so wie ihre in einer Ehe begraben werden würden.

Über all das hatte Adelia nachgedacht, und auch wenn es ihr das Herz brach, das Ergebnis war unvermeidlich. Auch wenn sie die Liebe entdeckt hatte, die übrige Welt hatte sich nicht verändert. Nach wie vor würden Leichname ihre Geschichten erzählen. Und sie hatte die Pflicht, ihnen zuzuhören.

»Ich kann nicht heiraten«, sagte sie, »ich bin eine Ärztin der Toten.«

»Dann viel Spaß mit ihnen.«

Er gab seinem Pferd die Sporen und trieb es über die Brücke, ließ sie bekümmert und seltsam aufgebracht zurück. Er hätte sie und Walburga wenigstens nach Hause bringen können.

»He«, rief sie ihm nach. »Ich nehme an, du schickst Rakshasas Kopf in den Osten zu Hakim.«

Seine Antwort trieb zu ihr zurück. »Worauf du einen lassen kannst.«

Er konnte sie noch immer zum Lachen bringen, auch wenn sie weinte. »Gut«, sagte sie.

An diesem Tag geschah allerlei in Cambridge.

Die Richter der Assise hielten Gericht über Geldfälscherei, Straßenraufereien, einen erstickten Säugling, Bigamie, Landstreitigkeiten, gepanschtes Ale, zu kleine Brotlaibe, angefochtene Testamente, Landstreicherei, Bettelei, Streitereien zwischen Schiffseignern, Handgreiflichkeiten zwischen Nachbarn, Brandstiftung, durchgebrannte Erbinnen, unzüchtige Lehrlinge und sprachen ihr Urteil.

Gegen Mittag wurden die Verhandlungen unterbrochen. Trommeln dröhnten und Posaunen riefen die Menschen im Burghof zusammen. Ein Herold trat auf die Plattform vor den Richtern und verlas eine Schriftrolle mit so lauter Stimme, dass sie bis hinunter zur Stadt schallte:

»Es soll bekannt werden, dass vor Gott und zur Zufriedenheit der hier anwesenden Richter der Ritter namens Joscelin von Grantchester des gemeinen Mordes an Peter aus Trumpington, an Harold aus dem Kirchspiel St. Mary, an Mary, der Tochter von Bonning dem Vogelfänger, und an Ulric aus dem Kirchspiel St. John überführt wurde und dass vorgenannter Joscelin von Grantchester bei seiner Ergreifung zu Tode kam, indem er, wie es seinen Untaten gebührt, von Hunden zerrissen wurde. Überdies soll bekannt werden, dass die Juden von Cambridge von diesen Morden und allem Verdacht derselben freigesprochen wurden, so dass sie ungehindert zu ihren rechtmäßigen Häusern und Geschäften zurückkehren dürfen. So verkündet im Namen von Henry, König von England durch Gottes Gnaden.«

Eine Nonne wurde nicht erwähnt. In dieser Angelegenheit hüllte sich die Kirche in Schweigen. Aber ganz Cambridge war voller Gerüchte, und im Verlauf des Nachmittags riss Agnes, die Frau der Aalhändlers und Mutter von Harold, ihre kleine Bienenkorbhütte ab, in der sie seit dem Tod ihres Sohnes vor den Burgtoren gewacht hatte, schleppte das ganze Zubehör den Hügel hinunter und baute sie vor den Toren des Klosters St. Radegund wieder auf.

All das geschah vor aller Augen und Ohren.

Andere Dinge dagegen geschahen heimlich und im Dunkeln, obwohl niemand je erfuhr, wer dahintersteckte. Gewiss, Männer mit hohen Ämtern in der heiligen Kirche trafen sich hinter geschlossenen Türen, wo einer von ihnen mit flehender Stimme sagte: »Wer wird uns von diesem schändlichen Weib befreien?«, genau wie Henry II einmal laut darum geschrien hatte, von dem störenden Becket befreit zu werden.

Was dann hinter jenen geschlossenen Türen geschah, ist weniger gewiss, denn es wurden keine Anweisungen erteilt, wenngleich es möglicherweise leise Andeutungen gab, so leise, dass niemand je würde sagen können, wer sie gemacht hatte. Vielleicht wurden Wünsche in so byzantinisch geschraubter Form geäußert, dass sie nur von denjenigen enträtselt werden konnten, die den Schlüssel dazu besaßen. All das, vielleicht, damit den Männern – und sie waren keine Kleriker –, die im Schutz der Nacht vom Burgberg hinunter zu St. Radegund ritten, nicht nachgesagt werden konnte, dass sie das, was sie taten, auf irgendjemandes Befehl taten.

Oder dass sie es überhaupt taten.

Möglicherweise wusste Agnes Bescheid, aber ihre Lippen blieben versiegelt.

Diese Dinge, die offensichtlichen und die geheimen, vollzogen sich ohne Adelias Wissen. Auf Gylthas Anordnung hin schlief sie einmal rund um die Uhr. Als sie erwachte, erstreckte sich die Warteschlange von Patienten, die Dr. Mansurs Hilfe suchten, die ganze Jesus Lane hinunter. Sie behandelte die ernstlich Erkrankten und unterbrach dann die Arbeit, um mit Gyltha zu reden.

»Ich müsste zum Kloster und nach Walburga schauen. Schon längst.«

»Du bist selbst noch nicht ganz auskuriert.«

»Gyltha, ich will da nicht hin.«

»Dann geh nich.«

»Ich muss aber; noch so eine Attacke verkraftet ihr Herz vielleicht nicht.«

»Die Klostertore sind geschlossen, und keiner macht auf. Heißt es. Und diese, diese …« Gyltha konnte sich noch immer nicht dazu überwinden, ihren Namen auszusprechen. »Sie ist weg. Sagen die Leute.«

»Weg? So schnell?« Wenn der König etwas befiehlt, gibt es kein Zaudern, dachte sie. Le Roy le veult. »Wo hat man sie hingeschickt?«

Gyltha zuckte die Achseln. »Einfach weg. Sagen die Leute.« Adelia spürte, wie sich Erleichterung bis zu ihren Rippen ausbreitete und sie schon fast wieder heilte. Der Plantagenet hatte die Luft seines Königreichs gesäubert, so dass sie wieder darin atmen konnte.

Obwohl er dadurch, so dachte sie, gleichzeitig die Luft eines anderen Landes verschmutzt. Was wird dort mit ihr geschehen?

Adelia versuchte, das Bild zu verdrängen, wie die Nonne sich wand, so wie sie sich auf dem Boden des Refektoriums gewunden hatte, doch diesmal in Dreck und Dunkelheit und Ketten – und es gelang ihr nicht. Und sie konnte auch ihre Sorge nicht verdrängen. Sie war Ärztin, und echte Ärzte fällten keine Urteile, sie stellten Diagnosen. Sie hatte die Wunden und Krankheiten von Männern und Frauen behandelt, die sie menschlich anwiderten, aber nicht beruflich. Das Wesen eines Menschen konnte abstoßend sein, nicht jedoch sein leidender bedürftiger Körper.

Die Nonne war wahnsinnig; zum Schutz ihrer Mitmenschen musste sie für den Rest ihres Lebens in Verwahrung bleiben. Aber … »Der Herr erbarme sich ihrer und sei ihr gnädig«, sagte Adelia.

Gyltha sah sie an, als hätte auch sie den Verstand verloren. »Sie hat bekommen, was sie verdient«, stellte sie gleichmütig fest. »Sagen die Leute.«

Ulf, o Wunder, lernte für die Schule. Er war stiller und ernster als früher. Gyltha hatte ihr erzählt, dass er den Wunsch geäußert habe, das Recht zu studieren. Sehr erfreulich und bewundernswert, aber trotzdem vermisste Adelia den alten Ulf. »Die Klostertore sollen verschlossen sein«, erklärte sie ihm, »aber ich muss hinein, um nach Walburga zu sehen. Sie ist krank.«

»Was? Schwester Speckgesicht?« Ulf war schlagartig wieder der Alte. »Komm mit, mich können die nich aussperren.«

Sie konnte sich darauf verlassen, dass Gyltha und Mansur die restlichen Patienten behandelten. Adelia ging zu ihrer Arzneikiste. Frauenschuh half ausgezeichnet bei Hysterie, Panik und Angst. Und Rosenöl beruhigte.

Sie machte sich mit Ulf auf den Weg.



Oben auf der Brustwehr der Burg erkannte ein Steuereintreiber, der sich eine wohlverdiente Erholungspause von den Anstrengungen der Assise gönnte, die beiden zarten Gestalten, die unten die Große Brücke überquerten – die etwas größere mit der unansehnlichen Kopfbedeckung hätte er auch unter Tausenden erkannt.

Die Zeit war günstig, solange sie unterwegs war. Er ließ sich sein Pferd bringen.

Warum Sir Rowley Picot nicht anders konnte, als sich bei Gyltha, Aalhändlerin und Haushälterin, Ratschläge für sein gebrochenes Herz zu holen, war ihm selbst ein Rätsel. Vielleicht, weil Gyltha in Cambridge die engste Freundin seiner großen Liebe war. Vielleicht, weil sie mitgeholfen hatte, ihn zurück ins Leben zu pflegen, weil sie ein Urgestein gesunden Menschenverstandes war, vielleicht wegen der pikanten Verstöße gegen die Wohlanständigkeit in ihrer Vergangenheit … er tat es einfach, sei’s drum.

Unglücklich kaute er auf einer von Gylthas Pasteten.

»Sie will mich nicht heiraten, Gyltha.«

»Klar will sie nich. Wär auch Verschwendung. Sie ist …« Gyltha suchte nach einem Vergleich mit irgendeinem Fabelwesen, kam aber nur auf »Einhorn«, daher begnügte sie sich mit:

»Sie ist was Besonderes.«

»Ich bin auch was Besonderes.«

Gyltha streckte die Hand aus und tätschelte Sir Rowley den Kopf. »Du bist ein feiner Junge und wirst es weit bringen, aber sie ist …« Wieder wollte sich kein Vergleich anbieten. »Unser Herr hat die Form zerschlagen, nachdem Er sie gemacht hat. Wir brauchen sie, wir alle, nicht bloß du.«

»Und ich werde sie verdammt noch mal nicht bekommen, was?«

»Vielleicht nicht als Ehefrau, aber es führen schließlich viele Wege nach Rom.« Gyltha hatte schon vor einiger Zeit erkannt, dass dieses spezielle Rom zwar etwas Besonderes sein mochte, aber trotzdem hin und wieder einmal erobert werden sollte und gewiss auch wollte. Eine Frau konnte ihre Unabhängigkeit bewahren, genau wie sie selbst es getan hatte, und sich trotzdem Erinnerungen verschaffen, die sie in Winternächten warm hielten.

»Großer Gott, Frau, was schlägst du da vor …? Meine Absichten bezüglich Mistress Adelia sind … waren … ehrbar.«

Gyltha seufzte. Sie war noch nie der Auffassung gewesen, dass ein Mann und eine Frau im Frühling Ehrbarkeit brauchten. »Das ist nett. Bringt dich aber nich weiter, oder?«

Er beugte sich vor. »Also gut. Wie?« Und die Sehnsucht in seinem Gesicht hätte auch ein härteres Herz als das von Gyltha zum Schmelzen gebracht.

»Meine Güte, wie kann ein kluger Mann wie du nur so blöd sein? Sie ist Ärztin, hab ich Recht?«

»Ja, Gyltha.« Er versuchte, geduldig zu sein. »Und genau deshalb, möchte ich anmerken, will sie mich nicht.«

»Und was machen Ärzte so?«

»Sie kümmern sich um ihre Patienten.«

»Genau, und ich könnte mir vorstellen, dass eine bestimmte Ärztin zu einem bestimmten Patienten zärtlicher wäre, vorausgesetzt, dass es diesem Patienten schlecht geht und vorausgesetzt, dass sie ihn mag.«

»Gyltha«, sagte Sir Rowley aufrichtig. »Wenn ich mich nicht plötzlich so verdammt krank fühlen würde, würde ich dich fragen, ob du mich heiraten willst.«



Als sie die Brücke überquert und die Weiden am Ufer hinter sich gelassen hatten, sahen sie die Menschenmenge vor dem Klostertor. »Ach je«, sagte Adelia, »es hat sich rumgesprochen.« Agnes und ihre kleine Hütte waren da, das konnte nur Mord und Totschlag bedeuten.

Wie nicht anders zu erwarten, dachte sie. Der Zorn der Stadt hatte ein anderes Ziel gefunden, und der Mob rottete sich jetzt gegen die Nonnen zusammen, so wie zuvor gegen die Juden. Aber es war kein Mob. Die Menge war recht genug, hauptsächlich Handwerker und Markthändler, und es war auch Zorn spürbar, aber er war unterdrückt und durchmischt mit … ja mit was? Erregung? Sie konnte es nicht benennen.

Warum waren diese Menschen nicht aufgebrachter, so wie sie es gegen die Juden gewesen waren? Vielleicht schämten sie sich. Es hatte sich herausgestellt, dass die Mörder keiner verachteten Minderheit angehörten, sondern zwei von ihnen waren, einer geachtet, die andere eine vertraute, freundliche Gestalt, der sie fast täglich zugewinkt hatten. Zugegeben, die Nonne war fortgeschafft worden, sie konnten sie nicht mehr lynchen, aber sie machten bestimmt Priorin Joan wegen ihrer Nachlässigkeit Vorwürfe, dass sie einer Verrückten so lange schreckliche Freiheiten gelassen hatte.

Ulf sprach mit Coker dem Dachdecker, dem Adelia den Fuß gerettet hatte. Die beiden unterhielten sich in dem Dialekt der Gegend, den Adelia noch immer nicht verstehen konnte. Der junge Dachdecker, der sie sonst immer freundlich grüßte, wich ihrem Blick aus.

Und als Ulf zurückkam, wollte auch er sie nicht ansehen. »Geh da nich rein«, sagte er.

»Ich muss. Walburga ist meine Patientin.«

»Wie du willst, ich komm jedenfalls nich mit.« Das Gesicht des Jungen war schmal geworden, wie immer, wenn ihn irgendetwas aus der Fassung brachte.

»Das verstehe ich.« Sie hätte ihn erst gar nicht mitnehmen sollen. Für ihn war das Kloster die Heimat einer Hexe.

Die kleine Pforte in dem wuchtigen Holztor öffnete sich, und zwei staubige Arbeiter kamen heraus. Adelia sah ihre Chance, sagte rasch: »Verzeihung«, und schob sich hindurch, ehe sie die Pforte wieder schließen konnten. Sie zog sie hinter sich zu.

Die seltsame Atmosphäre war sofort spürbar und war ebenso auffällig wie die Stille. Irgendwer, vermutlich die Arbeiter, hatte die Kirchentür, die einst die wartenden Pilger eingelassen hatte, damit sie am Reliquiar des Kleinen St. Peter aus Trumpington beten konnten, mit Brettern vernagelt.

Wie eigenartig, dachte Adelia, dass der vermeintliche Heiligenstatus des Jungen jetzt dahin war, weil nicht Juden ihn geopfert hatten, sondern Christen.

Eigenartig war auch, dass die unkrautbewachsene Verwahrlosung, die von einer achtlosen Priorin zugelassen worden war, jetzt auf einmal den Eindruck von Verfall machte.

Während Adelia den Weg zum Hauptgebäude hinunterging, ertappte sie sich bei dem Gedanken, die Vögel hätten aufgehört zu singen. Das war zwar nicht der Fall, aber – Adelia fröstelte – der Klang hatte sich verändert. So kam es ihr zumindest vor. Der Stall und die Falkenkäfige der Priorin waren leer. Türen zu leeren Pferdeboxen standen offen.

Im Klostergebäude herrschte Stille. Als Adelia den Kreuzgang erreichte, musste sie sich regelrecht zwingen weiterzugehen. Das für die Jahreszeit ungewohnte Grau des Tages, die Säulen rund um das offene Grasstück waren eine Erinnerung an die Nacht, als sie einen gehörnten und bösartigen Schatten in ihrer Mitte gesehen hatte, wie heraufbeschworen von dem obszönen Begehren der Nonne.

Um Himmels willen, er ist tot, und sie ist fort. Hier ist nichts. Doch, da war etwas. Eine verschleierte Gestalt betete auf der Südseite des Kreuzgangs, so reglos wie die Steine, auf denen sie kniete.

»Priorin?«

Sie bewegte sich nicht. Adelia ging zu ihr und berührte ihren Arm. »Priorin.« Sie half ihr auf.

Die Frau war über Nacht gealtert, ihr großes, flaches Gesicht tief zerfurcht und zur Fratze verzerrt. Langsam wandte sie den Kopf. »Was?«

»Ich bin gekommen, um …« Adelia hob die Stimme, es war als spräche sie mit einer Schwerhörigen. »Ich habe Arznei für Schwester Walburga dabei.« Sie musste es wiederholen. Sie glaubte nicht, dass Priorin Joan wusste, wer sie war.

»Walburga?«

»Sie war erkrankt.«

»Ach ja?« Die Priorin wandte den Blick ab. »Sie ist fort. Sie sind alle fort.«

Die Kirche hatte also ein Machtwort gesprochen.

»Das tut mir leid«, sagte Adelia. Und das stimmte; es hatte etwas Schreckliches an sich, ein menschliches Wesen so zerstört zu sehen. Und auch das sterbende Kloster hatte etwas Schreckliches an sich, als würde es in sich zusammensinken. Sie hatte den Eindruck, dass sich das Gebäude zur Seite neigte. Auch der Geruch war verändert, die ganze Form.

Und ein kaum wahrnehmbares Geräusch, wie das Summen eines Insektes, das in einem Glas gefangen ist, nur höher.

»Wo ist Walburga hin?«

»Was?«

»Schwester Walburga. Wo ist sie?«

»Oh.« Der Versuch nachzudenken. »Zu ihrer Tante, glaube ich.« Dann war für sie hier nichts mehr zu tun. Sie konnte weg von diesem Ort. Aber Adelia zögerte. »Kann ich Euch irgendwie helfen, Priorin?«

»Was? Geht weg. Lasst mich allein.«

»Ihr seid krank, lasst mich Euch helfen. Ist sonst noch jemand hier? Um Gottes willen, was ist das für ein Geräusch?« So schwach es auch war, es reizte die Nerven wie ein Dauerton im Ohr. »Hört Ihr das nicht? Eine Art Vibrieren?«

»Es ist ein Geist«, sagte die Fratze. »Es ist meine Strafe, es zu hören, bis es aufhört. Und nun geht. Lasst mich hier, damit ich den Schreien der Toten lauschen kann. Selbst Ihr könnt einem Geist nicht helfen.«

Adelia wich zurück. »Ich werde jemanden herschicken«, sagte sie, und zum ersten Mal in ihrem Leben lief sie vor den Kranken davon.

Prior Geoffrey. Er würde etwas tun können, die Priorin hier wegholen, obwohl die Geister, die Joan heimsuchten, sie überallhin verfolgen würden.

Sie verfolgten auch Adelia, als sie davonlief, und in ihrer Hast, schnell wegzukommen, stürzte sie beinahe durch die Pforte nach draußen.

Als sie sich aufrichtete, sah sie sich Auge in Auge mit der Mutter von Harold und konnte den Blick nicht abwenden. Die Frau starrte sie an, als ob sie beide ein ungemein mächtiges Geheimnis miteinander teilten.

Schwach sagte Adelia: »Sie ist fort, Agnes. Sie haben sie weggeschickt. Alle sind weg, da ist nur noch die Priorin …«

Es war nicht genug. Ein Sohn war gestorben. Agnes’ schreckliche Augen sagten ihr, dass da noch mehr war; sie wusste es, sie wussten es beide.

Und dann wusste Adelia es wirklich. Alle Einzelteile fügten sich zu einem einzigen Begreifen zusammen. Der Geruch – so fehl am Platze, dass sie den säuerlichen Geruch von frischem Mörtel zunächst nicht erkannt hatte. Gott, Gott, bitte. Sie hatte es gesehen, aus den Augenwinkeln ein störendes Ungleichgewicht bemerkt, nämlich die Asymmetrie der Türlöcher zu den Zellen der Nonnen.

Es hätten zehn über zehn sein müssen und es waren zehn über neun – eine nackte Mauer, wo unten die zehnte Öffnung gewesen war.

Die Stille und das Vibrieren … wie das Summen eines Insektes, das in einem Glas gefangen ist, »… die Schreie der Toten«.

Blicklos stolperte Adelia durch die Menge und erbrach sich.

Irgendwer zupfte an ihrem Ärmel, sagte etwas. »Der König …« Der Prior. Er konnte dem Einhalt gebieten. Sie musste Prior Geoffrey finden.

Das Zupfen wurde eindringlicher. »Der König befiehlt Euch zu sich, Mistress.«

Im Namen Christi, wie konnten sie das im Namen Christi tun?

»Der König, Mistress …« Irgendein livrierter Bursche.

»Zur Hölle mit dem König«, sagte sie. »Ich muss zum Prior.« Sie wurde um die Taille gefasst und mit Schwung auf ein Pferd gesetzt. Es trabte an, und der königliche Bote lief mit den Zügeln in der Hand nebenher. »Könige sollte man lieber nicht zur Hölle schicken, Mistress«, sagte er liebenswürdig, »meistens waren sie schon dort.«

Es ging über die Brücke, den Hügel hinauf, durch das Burgtor und quer über den Innenhof. Sie wurde vom Pferd gehoben. Im Familiengarten des Sheriffs, in dem Simon aus Neapel beerdigt lag, saß Henry II, der in der Hölle gewesen und zurückgekehrt war, mit gekreuzten Beinen auf derselben Rasenbank, auf der sie mit Rowley Picot gesessen und ihm zugehört hatte, während er ihr von seinem Kreuzzug erzählte. Er nähte mit Nadel und Zwirn einen Jagdhandschuh und diktierte dabei Hubert Walter irgendetwas in die Feder. Der kniete neben ihm, ein tragbares Schreibpult um den Hals gehängt.

»Ha, Mistress …«

Adelia warf sich ihm zu Füßen. König oder Prior, Hauptsache, ihr wurde geholfen. »Sie haben sie eingemauert, Mylord. Ich flehe Euch an, lasst das nicht zu.«

»Wer ist eingemauert worden? Was soll ich nicht zulassen?«

»Die Nonne. Veronica. Bitte, Mylord, bitte. Sie haben sie bei lebendigem Leib eingemauert.«

Henry blickte auf seine Stiefel, auf die sich Tränen ergossen. »Mir haben sie erzählt, sie hätten sie nach Norwegen geschickt. Kam mir gleich seltsam vor. Wusstet Ihr davon, Hubert?«

»Nein, Mylord.«

»Ihr müsst sie herausholen, das ist obszön, eine Untat. Ach, mein Gott, mein Gott, damit kann ich nicht leben. Sie ist verrückt. Nur die Verrücktheit ist böse.« In ihrer Verzweiflung trommelte Adelia mit den Händen auf den Boden.

Hubert Walter nahm zuerst sein kleines Pult vom Hals und hob dann Adelia in eine sitzende Position auf die Bank, wobei er beruhigend auf sie einsprach wie auf ein Pferd. »Ganz ruhig, Mistress. Gut so. So ist’s brav, ganz ruhig.«

Er reichte ihr ein tintenfleckiges Taschentuch. Adelia rang um Fassung, putzte sich kräftig die Nase. »Mylord … Mylord. Die haben ihre Zelle im Kloster zugemauert … mit ihr drin. Ich habe sie schreien gehört. Auch wenn sie Schreckliches getan hat, das dürft Ihr nicht … das dürft Ihr einfach nicht zulassen. Es ist ein Verbrechen gegen den Himmel.«

»Kommt mir auch ein wenig hart vor, das muss ich zugeben«, sagte Henry. »So sind sie, die Kirchenleute; ich hätte sie bloß aufgehängt.«

»Dann macht dem ein Ende«, schrie Adelia ihn an. »Wenn sie kein Wasser hat … ohne Wasser kann der menschliche Körper noch immer drei bis vier Tage überleben, dieses Leiden.«

Henry war interessiert. »Das wusste ich gar nicht. Habt Ihr das gewusst, Hubert?« Er nahm Adelia das Taschentuch aus der Faust und wischte ihr damit das Gesicht ab, jetzt ganz ernst. »Ihr begreift hoffentlich, dass ich da nichts machen kann.«

»Nein, ganz und gar nicht. Der König ist der König.«

»Und die Kirche ist die Kirche. Habt Ihr gestern Abend nicht zugehört? Dann hört mir jetzt zu, Mistress.« Als sie das Gesicht abwandte, schlug er ihr auf die Hand und hielt sie dann fest. »Hört mir zu.« Er hob ihre Hand mit seiner, so dass beide auf die Stadt deuteten. »Da unten treibt ein tollwütiger Lump sein Unwesen, den sie Roger aus Acton nennen. Vor ein paar Tagen hat der Schuft den Mob dazu aufgestachelt, diese Burg anzugreifen, diese königliche Burg, meine Burg, wobei Ihr Freund und mein Freund Rowley Picot verwundet wurde. Und ich kann nichts tun. Warum? Weil der Schuft eine Tonsur auf dem Kopf trägt und ein Paternoster runterleiern kann, was ihn zu einem Geistlichen der Kirche macht und ihm das Vorrecht des Klerus sichert. Kann ich ihn bestrafen, Hubert?«

»Ihr habt ihn in den Arsch getreten, Mylord.«

»Ich hab ihn in den Arsch getreten, und selbst dafür nimmt mich die Kirche ins Gebet.«

Adelias Arm hüpfte auf und ab, während der König damit seine Argumente unterstrich. »Nachdem diese verdammten Richter meinen Zorn als Anweisung verstanden hatten und einfach losgeritten waren, um Becket umzubringen, musste ich mich von sämtlichen Mitgliedern des Domkapitels in Canterbury geißeln lassen. Ich musste mich demütigen, musste meinen nackten Rücken ihren Peitschen darbieten, um den Papst davon abzuhalten, das Interdikt über ganz England zu verhängen. Jedem verdammten Mönch – und glaubt mir, diese Dreckskerle können richtig hinlangen.« Er seufzte und ließ Adelias Hand fallen. »Eines Tages wird dieses Land die päpstliche Herrschaft abschütteln, so gebe Gott. Aber jetzt noch nicht. Und nicht durch mich.«

Adelia hörte ihm nicht mehr zu, begriff vielleicht die Bedeutung, nahm aber die Worte nicht mehr auf. Jetzt erhob sie sich und ging den Gartenpfad hinunter zu der Stelle, wo Simon aus Neapel lag.

Hubert Walter, entsetzt über eine derartige Majestätsbeleidigung, wollte ihr nach, wurde aber zurückgehalten. Er sagte: »Ihr gebt Euch große Mühe mit dieser unverschämten und widerspenstigen Frau, Mylord.«

»Ich verstehe es, die Nützlichen zu nutzen, Hubert. Wunder wie sie fallen mir nicht alle Tage in den Schoß.«

Der Mai hielt doch noch Einzug, und die Sonne war hervorgekommen, um einen regenfrischen Garten zu be leben. Lady Baldwins Gänsefingerkraut hatte Wurzeln ge schlagen, und zwischen den Schlüsselblumen summten eifrige Bienen.

Ein Rotkehlchen auf dem Grab hüpfte davon, als sie näher kam, aber nicht weit. Adelia bückte sich und wischte den Kot des Vogels mit Hubert Walters Taschentuch ab.

Wir sind unter Barbaren, Simon.

Das Holzbrett war durch eine schöne Marmorplatte ersetzt worden, in die sein Name gemeißelt war; darunter standen die Buchstaben für: Möge seine Seele gebündelt sein im Bund des Lebens.

Freundliche Barbaren, sagte Simon jetzt zu ihr. Die gegen ihre eigene Barbarei ankämpfen. Denk an Gyltha, Prior Geoffrey, Rowley, diesen seltsamen König …

Dennoch, entgegnete Adelia, ich ertrage das nicht.

Sie wandte sich um und ging, jetzt wieder ruhiger, über den Pfad zurück. Henry widmete sich wieder der Reparatur seines Handschuhs, und als Adelia ihn erreichte, blickte er auf. »Und?«

Mit einer Verbeugung sagte sie: »Ich danke Euch für Eure Nachsicht, Mylord, aber ich kann nicht länger hierbleiben. Ich muss zurück nach Salerno.«

Er biss den Faden mit seinen starken kleinen Zähnen ab.

»Nein.«

»Wie bitte?«

»Ich sagte nein.« Der Handschuh wurde übergestreift, und Henry wackelte mit den Fingern, bewunderte seine Nähkünste. »Donnerwetter, was bin ich geschickt. Hab ich wohl von der Gerberstochter geerbt. Wusstet Ihr, dass ich einen Gerber unter meinen Ahnen habe, Mistress?« Er lächelte zu ihr hoch. »Ich sagte nein, Ihr könnt nicht abreisen. Ich habe Bedarf für Euer besonderes Talent. In meinem Königreich gibt es viele Tote, die sich wünschen, man würde ihnen zuhören, bei Gott, sehr viele, und ich will erfahren, was sie sagen.«

Sie starrte ihn an. »Ihr könnt mich nicht hierbehalten.«

»Hubert?«

»Ich denke, Ihr werdet feststellen, dass er es kann, Mistress«, sagte Hubert Walter entschuldigend. »Le Roy le veult. Just in diesem Moment setze ich auf Mylords Anweisung hin ein Schreiben an den König von Sizilien auf, in dem wir darum bitten, Euch noch ein Weilchen länger ausborgen zu dürfen.« »Ich bin kein Gegenstand«, rief Adelia, »Ihr könnt mich nicht ausborgen, ich bin ein Mensch.«

»Und ich bin ein König«, sagte der König. »Ich bin vielleicht nicht in der Lage, die Kirche zu kontrollieren, aber, bei meinem Seelenheil, ich kontrolliere jeden verdammten Hafen in diesem Land. Wenn ich sage, Ihr bleibt, dann bleibt Ihr.«

Als er sie mit selbst in seinem gespielten Zorn freundlich gelangweilter Miene ansah, wurde ihr klar, dass seine Liebenswürdigkeit und charmante Offenheit lediglich Werkzeuge waren, die ihm halfen, ein Königreich zu regieren, und dass sie selbst für ihn nicht mehr bedeutete als ein Instrument, das ihm vielleicht irgendwann gute Dienste leisten würde.

»Dann bin ich also auch eingemauert«, sagte sie.

Er hob die Augenbrauen. »Könnte man so sagen, wenngleich ich hoffe, dass Ihr Euren Bewegungsraum um einiges größer und angenehmer finden werdet als … nun ja, reden wir nicht darüber.«

Keiner will darüber reden, dachte sie. Das Insekt wird in seiner Flasche summen, bis es verstummt. Und ich werde mit diesem Geräusch bis ans Ende meiner Tage leben müssen.

»Ich würde sie rauslassen, wenn ich könnte, das wisst Ihr«, sagte Henry.

»Ja. Das weiß ich.«

»Wie dem auch sei, Mistress, Ihr schuldet mir Eure Dienste.« Wie lange werde ich summen müssen, ehe du mich rauslässt?, fragte sie sich. Die Tatsache, dass diese besondere Flasche mir ans Herz gewachsen ist, tut dabei nichts zur Sache.

Obwohl dem doch so war.

Allmählich gewann sie die Fassung zurück und konnte wieder klar denken. Sie nahm sich Zeit dafür. Und der König ließ ihr Zeit – ein Zeichen, so dachte sie, wie hoch er ihren Wert einschätzte.

Also gut, dann schlage Kapital daraus. Sie sagte: »Ich weigere mich, in einem derart rückständigen Land zu bleiben, das seinen Juden nur einen Friedhof in London bietet.«

Er war verblüfft. »Große Güte, gibt es sonst keinen?«

»Ihr müsstet wissen, dass es keinen anderen gibt.«

»Das wusste ich wirklich nicht«, sagte er. »Wir Könige haben immer ziemlich viel um die Ohren.« Er schnippte mit den Fingern. »Schreibt auf, Hubert: Juden sollen Friedhöfe bekommen.« Und an Adelia gewandt: »Na bitte. Schon erledigt. Le Roy le veult.«

»Danke.« Sie kam wieder zur Sache. »Nur interessehalber, Mylord, wieso schulde ich Euch meine Dienste?«

»Weil Ihr mir einen Bischof weggenommen habt, Mistress. Ich hatte gehofft, Sir Rowley würde sich in der Kirche für meine Sache stark machen, aber er hat abgelehnt, weil er heiraten möchte. Wie ich höre, seid Ihr Gegenstand seiner ehelichen Ambitionen.«

»Wie ich schon sagte, ich bin kein Gegenstand«, sagte sie müde. »Und auch ich habe abgelehnt. Ich bin Ärztin, kein Eheweib.« »Tatsächlich?« Henrys Gesicht hellte sich auf, nahm dann jedoch eine Trauermiene an. »Na, nun wird ihn leider keiner von uns beiden bekommen. Der Ärmste liegt im Sterben.«

»Was?«

»Hubert?«

»Das wurde uns zugetragen, Mistress«, sagte Hubert Walter. »Die Wunde, die ihm bei dem Angriff auf die Burg beigebracht wurde, ist wieder aufgegangen, und ein Arzt aus der Stadt berichtet, dass …«

Er bemerkte, dass er ins Leere sprach. Schon wieder Majestätsbeleidigung. Adelia war fort.

Der König sah das Gartentor zufallen. »Trotzdem, sie ist eine Frau, die zu ihrem Wort steht, und sie wird ihn nicht heiraten, zum Glück für mich.« Er stand auf. »Hubert, ich glaube, wir können Sir Rowley Picot doch noch zum Bischof von St. Albans machen.«

»Das wird ihn erfreuen, Mylord.«

»Ich denke, er freut sich gleich über etwas ganz anderes, der Glückspilz.«



Drei Tage nach diesen Ereignissen hörte das Insekt auf zu summen. Agnes, die Mutter von Harold, baute ihre Bienenkorbhütte zum letzten Mal ab und ging nach Hause zu ihrem Mann.

Adelia hörte die plötzliche Stille nicht. Erst einige Zeit später. Denn als es geschah, war sie mit dem zukünftigen Bischof von St. Albans im Bett.