Kapitel Neun

Es war Brauch in Cambridge, dass die Teilnehmer der Wallfahrt nach ihrer Rückkehr ein Fest veranstalteten. Auf der Reise war man einander nähergekommen, hatte Geschäfte abgeschlossen, Ehen vermittelt, Frömmigkeit und Inbrunst erlebt, die Welt an sich war größer geworden, und es war für alle Beteiligten schön, nach dieser gemeinsamen Zeit noch einmal zusammenzukommen und die wohlbehaltene Heimkehr zu feiern.

In diesem Jahr kam der Priorin von St. Radegund die Rolle der Gastgeberin zu. Da St. Radegund jedoch noch ein armes, kleines Kloster war – was sich bald ändern würde, wenn es nach der Priorin Joan und dem Kleinen St. Peter ging –, war seinem Ritter und Lehnsmann Sir Joscelin die Ehre zuteil geworden, die Feierlichkeiten auszurichten. Nicht nur, dass er in Grantchester Manor wesentlich mehr Platz hatte, nein, er war auch erheblich reicher als die Priorin, eine Umkehrung der Verhältnisse, die bei Lehnsmännern der kleineren frommen Häuser gar nicht so ungewöhnlich war.

Und Sir Joscelin war für seine Feste berühmt. Es hieß, für die Feier, die er letztes Jahr zu Ehren von Abt Ramsay gegeben hatte, hätten dreißig Rinder, sechzig Schweine, hundertfünfzig Kapaune, dreihundert Lerchen (wegen der Zungen) und zwei Ritter ihr Leben gelassen, Letztere bei einem Kampfturnier, das zur Unterhaltung des Abtes stattgefunden hatte, aber gehörig aus dem Ruder gelaufen war.

Einladungen waren daher heiß begehrt. Wer bei der Pilgerfahrt nicht dabei war, aber viel damit zu tun hatte, Ehefrauen, die lieber zu Hause geblieben waren, Töchter, Söhne, Honoratioren, Kleriker, Nonnen, sie alle waren pikiert, wenn sie nicht dabei sein durften. Da aber die weitaus meisten durften, hatten diejenigen, die die feine Gesellschaft von Cambridge versorgten, alle Hände voll zu tun und kamen kaum dazu, Luft zu holen und den Namen der Priorin von St. Radegund und ihres treuen Ritters Sir Joscelin zu segnen.

Erst am Morgen des Tages selbst brachte ein Diener, entsprechend ausstaffiert mit Blashorn, eine Einladung für die drei Fremden in die Jesus Lane, wo Gyltha ihn zu seiner Verärgerung zur Hintertür hereinholte.

»Vorne ist es gerade schlecht, Matt, der Arzt hat Sprechstunde.«

»Ich muss aber das Horn blasen, Gyltha. Der Herr möchte, dass alle seine Gäste so eingeladen werden.«

Gyltha nahm ihn mit in die Küche auf einen Becher selbst gebrautes Bier, denn sie wollte wissen, was alles los war.

Adelia war in der Halle und stritt sich mit Dr. Mansurs letztem Patienten für den Tag herum. Sie nahm Wulf immer als Letzten dran.

»Wulf, dir fehlt nichts. Du hast weder die Druse noch Schüttelfrost noch Husten noch die Staupe noch Löffelbrand, was immer das auch sein mag, und ganz sicher laktierst du nicht.«

»Sagt der Doktor das?«

Adelia wandte sich müde an Mansur. »Sag was, Doktor.«

»Gib dem faulen Hund einen Tritt in den Hintern.«

»Der Doktor verschreibt dir regelmäßige Arbeit an der frischen Luft«, sagte Adelia.

»Bei meinem Rücken?«

»Mit deinem Rücken ist alles bestens.« Wulf war für sie ein Phänomen. In einer Feudalgesellschaft, wo bis auf die wachsende Schicht der Kaufleute jeder jemand anderem Arbeit schuldete, um existieren zu können, war Wulf dem Vasallentum entkommen, wahrscheinlich indem er seinem Herrn weggelaufen war und ganz bestimmt, indem er eine Wäscherin aus Cambridge geheiratet hatte, die bereit war, für sie beide zu schuften. Er war im wahrsten Sinne des Wortes arbeitsscheu. Arbeit machte ihn krank. Aber um nicht zur Zielscheibe des öffentlichen Spottes zu werden, musste er sich für krank erklären lassen, um nicht krank zu werden.

Adelia war so freundlich zu ihm wie zu all ihren Patienten – sie fragte sich, ob man sein Gehirn nach seinem Tod einlegen und ihr zusenden könnte, denn sie würde es gern auf irgendeinen fehlenden Bestandteil hin untersuchen –, aber sie war nicht gewillt, ihre Pflichten als Ärztin zu vernachlässigen, indem sie ein nicht vorhandenes körperliches Leiden diagnostizierte und Medizin dagegen verschrieb.

»Was ist mit Simulieren? Da leide ich doch noch dran, oder?«

»Ganz schlimm«, sagte sie und schob ihn zur Tür hinaus.

Es regnete noch immer, und es war entsprechend frostig draußen. Da Gyltha partout nichts davon hielt, zwischen Ende März und Anfang November den Kamin in der Halle anzufeuern, war das einzige warme Plätzchen im Anwesen des alten Benjamin die Küche hinter dem Haupthaus, die mit all ihren furchterregenden Gerätschaften eher wie eine Folterkammer anmutete, wenn die verführerischen Düfte nicht gewesen wären.

Heute barg sie einen neuen Gegenstand, einen Holzbottich, der aussah wie der Kessel einer Waschfrau. Adelias bestes Unterkleid aus safrangelber Seide, das sie in England noch gar nicht getragen hatte, hing an einem Haken darüber, damit der Dampf die Falten glättete. Sie hatte das Kleid nach wie vor oben im Schrank vermutet.

»Wofür ist der Bottich?«

»Baden. Du«, sagte Gyltha.

Adelia war nicht abgeneigt. Sie hatte zuletzt im Haus ihrer Zieheltern gebadet, in dem gekachelten und beheizten Becken, das die Römer rund fünfzehnhundert Jahre zuvor gebaut hatten. Der Eimer Wasser, den Matilda W jeden Morgen hinauf ins Sonnenzimmer trug, war da kein Ersatz. Doch die Szene vor ihr deutete auf ein besonderes Ereignis hin, und sie fragte: »Warum?«

»Du sollst mich auf dem Fest nich blamieren«, sagte Gyltha.

Sir Joscelins Einladung an Dr. Mansur und seine beiden Gehilfen, sagte Gyltha, die den Boten ausgefragt hatte, war auf Drängen von Prior Geoffrey erfolgt. Sie waren zwar keine richtigen Pilger, aber hatten den Pilgerzug immerhin auf dem Rückweg begleitet.

Für Gyltha war das eine Herausforderung. Ihre versteinerte Miene verriet, wie aufgeregt sie war. Da sie sich nun einmal mit den drei komischen Käuzen verbündet hatte, war es wichtig für ihre Selbstachtung und ihren Ruf, dass sie vor den kritischen Augen der vornehmen Gesellschaft eine gute Figur machten. Sie hatte zwar nur eine begrenzte Vorstellung davon, was so ein Anlass verlangte, aber die Mutter von Matilda B war Putzfrau in der Burg und hatte mit eigenen Augen die Vorbereitungen für das Ankleiden der Gemahlin des Sheriffs an Festtagen gesehen, wenn auch nicht das Ankleiden selbst.

Adelia hatte schon in ihrer Jugend dem Lernen zu viel Zeit gewidmet, um sich wie andere junge Frauen an irgendwelchen Festlichkeiten zu erfreuen. Auch später war sie einfach zu beschäftigt gewesen. Und da sie nicht heiraten wollte, hatten ihre Zieheltern sie auch nicht angehalten, sich in gesellschaftlichen Umgangsformen zu üben. Folglich war sie ungenügend ausgestattet, um an den Maskenbällen und ausgelassenen Festen in den Palästen von Salerno teilzunehmen, und wenn sie wirklich einmal nicht umhinkam, verbrachte sie die meiste Zeit versteckt hinter einer Säule, sowohl aus Ärger als auch aus Verlegenheit.

Kein Wunder, dass diese Einladung bei ihr alte Ängste weckte. Instinktiv suchte sie nach einem Vorwand für eine Absage. »Ich muss das erst mit Master Simon besprechen.«

Aber Simon war in der Burg bei den Juden, um herauszufinden, wessen Schuldenlast Grund für Chaims Ermordung gewesen sein könnte.

»Der wird sagen, ihr müsst alle hin«, erwiderte Gyltha.

Vermutlich ja. Da nahezu alle ihre Tatverdächtigen unter einem Dach versammelt sein würden und Wein nun einmal die Zunge löste, wäre es eine gute Gelegenheit zu erfahren, wer was über wen wusste.

»Trotzdem, schick Ulf zur Burg, er soll ihn fragen.«

In Wahrheit jedoch war Adelia, jetzt wo sie darüber nachdachte, gar nicht so abgeneigt, auf das Fest zu gehen. Ihr Aufenthalt war von Beginn an von Tod überschattet worden, nicht nur durch die ermordeten Kinder, auch durch einige ihrer Patienten. Das Kleine mit dem Husten war an Lungenentzündung gestorben, auch dem Schüttelfrost, dem Nierenstein und der jungen Mutter, die zu spät zu ihr gebracht worden war, hatte sie nicht helfen können.

Adelias Erfolge, die Amputation, das Fieber, der Leistenbruch, fielen angesichts dieser Fehlschläge, die sich Adelia als ihr Versagen auslegte, nicht ins Gewicht.

Es wäre eine schöne Abwechslung, sich zum reinen Vergnügen einmal mit Gesunden zu treffen. Wie immer könnte sie sich im Hintergrund halten, unbemerkt bleiben. Schließlich, so dachte sie, konnte es so ein Fest in Cambridge wohl kaum mit den kultivierten Feierlichkeiten in den königlichen und päpstlichen Palästen von Salerno aufnehmen. Sie brauchte sich durch eine ländliche Veranstaltung, denn nichts anderes würde es sein, weiß Gott nicht einschüchtern zu lassen.

Und sie wollte baden. Hätte sie gewusst, dass so etwas überhaupt möglich war, hätte sie schon früher den Wunsch geäußert. Sie hatte angenommen, dass so etwas wie die Vorbereitung eines Bades zu den vielen Dingen gehörte, von denen Gyltha nichts hielt.

Sie hatte ohnehin keine andere Wahl. Gyltha und die beiden Matildas waren fest entschlossen. Die Zeit drängte; ein Fest, das sechs oder sieben Stunden dauern konnte, fing um die Mittagszeit an.

Sie wurde entkleidet und in den Bottich getaucht. Anschließend kam Waschlauge und eine Handvoll kostbarer Gewürznelken ins Badewasser. Sie wurde mit einem Putzstein abgeschrubbt, bis die Haut feuerrot war, und ihr Haar wurde mit weiterer Lauge und einer Bürste bearbeitet, um anschließend mit Lavendelwasser ausgespült zu werden.

Dann zogen kräftige Hände sie aus dem Bottich, wickelten sie in eine Decke und steckten ihren Kopf in den Brotofen.

Ihr Haar war eine Enttäuschung. Von dem, was unter der Mütze oder Haube, die sie stets trug, hervorgelugt hatte, war mehr erwartet worden. Sie selbst schnitt es sich für gewöhnlich schulterlang ab.

»Die Farbe geht so«, sagte Gyltha missmutig.

»Aber es ist zu kurz«, wandte Matilda B ein. »Da brauchen wir Netztaschen.«

»Netz ist teuer.«

»Ich weiß ja noch nicht einmal, ob ich überhaupt hingehe«, rief Adelia aus dem Ofen.

»Und ob Ihr geht.«

Nun gut. Noch auf Knien vor dem Ofen sagte sie ihren Kammerzofen, wo sie ihre Börse aufbewahrte. An Geld mangelte es nicht. Simon hatte von Handelsbankiers in Lucca einen Kreditbrief erhalten, der ihn bevollmächtigte, von deren Vertretern in England Geld zu beziehen, was er für sich und Adelia getan hatte. Sie fügte hinzu: »Und wenn ihr schon zum Markt müsst, es wird Zeit, dass ihr neue Röcke bekommt. Kauft eine Elle vom besten Kamelott.« Es beschämte sie, dass sie von ihnen so schön herausgeputzt wurde, während sie selbst weiter ärmlich herumliefen.

»Leinen tut’s auch«, sagte eine frohe Gyltha knapp.

Adelias Kopf wurde aus dem Ofen gezogen, und nachdem man ihr Unterrock und Unterkleid übergestreift hatte, musste sie sich auf einen Schemel setzen, wo ihr das Haar so lange gebürstet wurde, bis es wie Weißgold schimmerte. Silbernetze waren gekauft und zu kleinen Taschen genäht worden, die man ihr nun über die Zöpfe um die Ohren steckte. Die Frauen arbeiteten noch daran, als Simon zurückkam.

Als er Adelia sah, blinzelte er. »Na, sieh mal einer an …«

Ulf war der Unterkiefer heruntergeklappt.

Verlegen knurrte Adelia: »So viel Getue, wo ich noch nicht einmal weiß, ob wir überhaupt hingehen sollten.«

»Natürlich geht Ihr hin. Lieber Doktor, wenn Ihr Cambridge Euren Anblick verwehrtet, würde sogar der Himmel weinen. Ich kenne nur eine Frau, die es mit Eurer Schönheit aufnehmen kann, und die ist in Neapel.«

Adelia lächelte ihn an. Er war ein scharfsinniger kleiner Mann und wusste genau, dass sie sich nur über ein Kompliment freuen würde, das frei von Koketterie war. Er achtete stets darauf, seine Frau zu erwähnen, die er vergötterte, nicht nur, um klarzustellen, dass er für Adelia tabu war, sondern auch umgekehrt. Alles andere hätte eine Beziehung gefährdet, die notgedrungen sehr eng war. So jedoch konnten sie Gefährten sein; er respektierte ihr berufliches Können, sie das seinige.

Und es war nett von ihm, dachte sie, dass er sie mit der Frau gleichstellte, die in seinen Augen noch immer die schlanke junge Schönheit mit der Elfenbeinhaut war, die er zwanzig Jahre zuvor in Neapel geehelicht hatte – obwohl sie, nachdem sie ihm neun Kinder geboren hatte, vermutlich nicht mehr ganz so schlank war wie damals.

Heute Morgen frohlockte er.

»Bald sind wir wieder zu Hause«, versprach er ihr. »Ich will noch nicht zu viel verraten, solange ich die erforderlichen Dokumente noch nicht gefunden habe, aber es gibt Abschriften von den verbrannten Schuldnerlisten. Ich wusste es. Chaim hatte sie bei seinen Bankiers hinterlegt, und da es unglaublich viele sind – der Mann hat anscheinend an ganz East Anglia Geld verliehen –, habe ich sie in die Burg gebracht, damit Sir Rowley mir bei der Durchsicht helfen kann.«

»Ist das klug?«, fragte Adelia.

»Ich glaube ja, ich glaube ja. Der Mann kennt sich gut mit Zahlen aus, und er brennt genau wie wir darauf herauszufinden, wer Chaim wie viel geschuldet hat und wer das so bedauerlich fand, dass er Chaim tot sehen wollte.«

»Hmm.«

Simon wollte Adelias Einwände nicht hören. Er glaubte zu wissen, was Sir Rowley Picot für ein Mann war, Kreuzritter hin oder her. Hastig warf er sich für das Fest in Grantchester in Schale und eilte zurück zur Burg.

Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte Adelia ihr graues Überkleid angezogen, um das leuchtende Safrangelb zu dämpfen, das dann nur am Dekolleté und an den Ärmeln zu sehen gewesen wäre. »Ich will nicht auffallen.«

Die Matildas jedoch stimmten für das einzige andere auffällige Stück in ihrer Kleidertruhe, ein Überkleid aus Brokat in den Farben eines herbstlichen Gobelins, und Gyltha pflichtete nach kurzem Zaudern bei. Es wurde vorsichtig über Adelias Frisur geschoben. Zu den spitzen Schuhen, die Margaret mit Silberfaden bestickt hatte, trug sie neue weiße Strümpfe.

Die drei Gutachterinnen traten zurück, um das Ergebnis zu bewerten.

Die Matildas nickten und klatschten in die Hände. Gyltha sagte: »Schätze, so kann sie sich sehen lassen«, was aus ihrem Mund schon fast an Übertreibung grenzte.

Als Adelia einen Blick auf ihr Spiegelbild in dem zwar blank polierten, aber unebenen Boden eines Fischkessels warf, sah sie etwas, was an einen verzerrten Apfelbaum erinnerte, aber bei den anderen augenscheinlich durchging.

»Fehlt nur noch ein Page, der auf dem Fest hinter der Frau Doktor steht«, sagte Matilda B. »Der Sheriff und die anderen nehmen immer Pagen mit, die hinter ihrem Stuhl stehen. Furz-fänger nennt Ma sie.«

»Page, hä?«

Ulf, der Adelia noch immer mit offenem Mund anstarrte, merkte, dass sich vier Augenpaare auf ihn richteten. Er nahm Reißaus.

Die anschließende Verfolgungsjagd endete mit einem fürchterlichen Kampf. Ulfs Schreie lockten Nachbarn aus ihren Häusern, die wieder ein Kind in Lebensgefahr wähnten. Adelia, die sich abseits hielt, um nicht vom aufgewühlten Badewasser nass gespritzt zu werden, tat vor Lachen alles weh.

Noch mehr Geld wurde ausgegeben, diesmal im Laden der alten Ma Mill, die aus ihren Lumpenbeständen einen alten, aber brauchbaren Wappenrock zutage förderte, der fast die richtige Größe hatte und sich mit Essig wieder hübsch herrichten ließ. Derart ausstaffiert und mit seinem flachsblonden Haar, das ein Gesicht wie eine glänzende, unzufriedene, eingelegte Zwiebel umrahmte, hielt auch Ulf der kritischen Begutachtung stand.

Mansur stellte sie beide in den Schatten. Ein vergoldetes Kopfband hielt seine Kaffiyeh fest, Seide umwallte lang und leicht ein frisches weißes Wollgewand. An seinem Gürtel funkelte ein edelsteinbesetzter Dolch.

»O Sohn des Mittags«, sagte Adelia und verbeugte sich. »Iih – Halaawa dei!«

Mansur neigte den Kopf, doch seine Augen waren auf Gyltha gerichtet, die mit abgewandtem Gesicht das Feuer schürte. »Wie ein bunter Hund.«

O-oh, dachte Adelia.



Es gab viel zu belächeln: das bemüht feine Benehmen, die Gäste, die nach dem Fußweg vom Fluss – fast alle aus der Stadt waren mit Stechkähnen gebracht worden – mit schlammbespritzten Schuhen und Umhängen eintrafen und Hauben, Schwerter und Handschuhe abgaben, die steife Verwendung von Titeln unter Leuten, die sich seit Jahren gut kannten, die Ringe an weiblichen Fingern, die durch die Herstellung von Käse in der eigenen Milchküche rau geworden waren.

Aber es gab auch viel zu bewundern. Es war nämlich weitaus angenehmer, an der Bogentür mit dem geschnitzten Wappen von Sir Joscelin persönlich begrüßt zu werden, als darauf zu warten, dass man von einem mit Elfenbeinstab bewaffneten, hochnäsigen Majordomus angekündigt wurde; an einem kühlen Tag ein wärmendes Glas Glühwein gereicht zu bekommen, und nicht eisgekühlten Wein; an Spießen im Hof brutzelndes Lamm-, Rind- und Schweinefleisch zu riechen statt mit dem Gastgeber, wie in Süditalien üblich, so tun zu müssen, als würden die Speisen wie von Zauberhand erscheinen.

Und überhaupt, mit dem finster dreinblickenden Ulf im Gefolge und mit Aufpasser, der nun wirklich nicht mit den Schoßhündchen zu vergleichen war, die sich einige Ladys von ihren Pagen nachtragen ließen, hatte Adelia keinen Grund zum Hochmut.

Mansur hatte in den Augen der Bürger von Cambridge offensichtlich an Ansehen gewonnen und erregte mit seiner Aufmachung und Größe einige Aufmerksamkeit. Sir Joscelin begrüßte ihn mit einer eleganten Verneigung und einem »As-Salamu-Aleikum«.

Auch die Frage seiner Bewaffnung wurde charmant gelöst. »Der Dolch ist keine Waffe«, klärte Sir Joscelin seinen Diener auf, der Mansur die Klinge vom Gürtel nehmen und zu den Schwertern der Gäste legen wollte. »Es ist vielmehr ein schmückendes Beiwerk für einen so hohen Herrn, wie wir alten Kreuzfahrer sehr wohl wissen.«

Er wandte sich Adelia zu, verbeugte sich und bat sie, dem guten Doktor seine Entschuldigung für die verspätete Einladung zu übersetzen. »Ich fürchtete, unsere ländlichen Belustigungen würden ihn langweilen, doch Prior Geoffrey belehrte mich eines Besseren.«

Auch wenn er sie stets höflich behandelt hatte, obgleich sie ihm wie eine fremdländische Dirne vorgekommen sein musste, schien Gyltha doch in Umlauf gebracht zu haben, dass die Gehilfin des Arztes eine tugendhafte Frau sei.

Die Begrüßung durch die Priorin fiel aus mangelndem Interesse eher nachlässig aus, und sie war offenbar befremdet, dass ihr Ritter sowohl Mansur als auch Adelia so respektvoll begegnete. »Hattet Ihr mit diesen Leuten zu tun, Sir Joscelin?«

»Der gute Doktor hat meinem Dachdecker den Fuß gerettet, Madam, und vermutlich das Leben.« Doch die blauen Augen waren amüsiert auf Adelia gerichtet, die fürchtete, dass Sir Joscelin wusste, wer die Amputation durchgeführt hatte.

»Mein liebes Kind, mein liebes Kind.« Prior Geoffrey packte ihren Arm und zog sie weg. »Wie wunderschön Ihr ausseht. Nec me meminisse pigebit Adeliae dum memor ipse, dum spiritus hos regit artus.«

Sie lächelte ihn an; er hatte ihr gefehlt. »Geht es Euch gut, Mylord?«

»Ich kann pinkeln wie ein Rennpferd, dank Euch.« Er beugte sich zu ihrem Ohr herab, damit sie ihn bei dem Lärm der Gespräche um sie herum verstehen konnte. »Und wie gehen die Nachforschungen voran?«

Sie hatten es versäumt, ihn auf dem Laufenden zu halten. Dass sie mit ihren Nachforschungen überhaupt so weit gekommen waren, verdankten sie diesem Mann, aber sie hatten einfach zu viel zu tun gehabt. »Wir sind einen guten Schritt weiter gekommen und hoffen, heute Abend einen Durchbruch zu erzielen«, sagte sie. »Reicht es, wenn wir Euch morgen mehr erzählen? Ich hätte nämlich eine Frage an Euch. Was wisst Ihr über …«

Doch da sah sie, wie der Steuereintreiber sie über die Köpfe der Menge hinweg anstarrte. Er bahnte sich einen Weg durch das Gedränge hindurch zu ihr. Er sah nicht mehr ganz so übergewichtig aus wie zuvor.

Er verbeugte sich. »Mistress Adelia.«

Sie nickte ihm zu. »Ist Master Simon bei Euch?«

»Er hat noch in der Burg zu tun.« Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Da ich den Sheriff und seine Gemahlin hierher begleiten musste, war ich gezwungen, ihn mit seinen Studien allein zu lassen. Ich soll Euch aber ausrichten, dass er später nachkommt. Darf ich sagen …«

Was immer er zu sagen wünschte, wurde durch einen Posaunenstoß unterbrochen. Das Essen begann.

Adelia hob die Hand und legte sie auf die von Prior Geoffrey, der sich mit ihr in die Prozession in die Halle einreihte, Mansur an seiner Seite. Dort angekommen, mussten sie sich trennen, er begab sich an den oberen Tisch, der quer auf dem Podium am hinteren Ende stand, sie und Mansur warteten darauf, niedrigere Plätze zugewiesen zu bekommen. Sie war neugierig, wo das wohl sein mochte. Die Frage der Sitzordnung war für Gastgeber und Gäste gleichermaßen bedeutsam.

Adelia hatte in Salerno erlebt, wie ihre Tante dem Zusammenbruch nahe war, wenn sie hochwohlgeborene Gäste so an einem Tisch platzieren musste, dass sich keiner tödlich beleidigt fühlte. Theoretisch waren die Regeln klar: Ein Fürst war gleichrangig mit einem Erzbischof, ein Bischof mit einem Grafen, ein ansässiger Baron kam vor einem Baron, der nur zu Gast war, und so weiter nach unten.

Aber angenommen, ein Gesandter, der auf derselben Stufe wie ein Baron, der zu Gast war, stand, war ein päpstlicher, wo saß er dann? Was, wenn der Erzbischof den Fürsten verärgert hatte, was häufig der Fall war? Oder umgekehrt? Was noch häufiger vorkam. Handgreiflichkeiten, Fehden konnten die Folge der unabsichtlichen Kränkung sein. Und schuld war immer der arme Gastgeber.

Die Frage hatte sogar Gyltha beschäftigt, um deren Ehre es ja schließlich stellvertretend ging und die ebenfalls ins Grantchester Manor gerufen worden war, um am Abend in der Küche interessante Dinge mit Aalen zu veranstalten. »Ich pass genau auf, und wenn Sir Joscelin einen von euch ans untere Ende der Tafel setzt, dann kriegt er sein Lebtag kein Fass Aale mehr von mir.«

Als sie eintrat, sah Adelia, wie Gyltha nervös hinter einer Tür hervorspähte.

Sie spürte die allgemeine Anspannung, sah Augen von links nach rechts huschen, während Sir Joscelins Zeremonienmeister die Gäste zu ihren Plätzen geleitete. Diejenigen, die in der Hackordnung weiter unten standen, vor allem Parvenüs, deren Ambitionen ihre Herkunft übertrafen, waren ebenso empfindlich wie die von edler Geburt, vielleicht sogar noch empfindlicher.

Ulf hatte sich bereits kundig gemacht. »Er sitzt hier oben, und du da unten«, sagte er, wobei er den Daumen zwischen Adelia und Mansur hin und her bewegte. Er verfiel in die langsame, vorsichtige Kleinkindsprache, die er stets benutzte, wenn er mit Mansur sprach. »Du. Schön hinsetzen. Hier.«

Sir Joscelin war großzügig, dachte Adelia, erleichtert um Gylthas willen – und auch um ihrer selbst willen. Mansur war überempfindlich, wenn es um seine Würde ging, und schmückendes Beiwerk oder nicht, er hatte einen Dolch am Gürtel. Er hatte zwar keinen Platz oben am Tisch erhalten, wo Gastgeber und Gastgeberin, Prior, Sheriff saßen, was auch nicht zu erwarten gewesen war, aber ganz in der Nähe, an einem der langen aufgebockten Tische, die in der großen Halle aufgestellt waren. Die hübsche, junge Nonne, die Adelia erlaubt hatte, sich die Gebeine des Kleinen St. Peter genauer anzusehen, saß links von ihm. Weniger glücklich war, dass Roger aus Acton den Platz ihm gegenüber hatte.

Die Platzierung des Steuereintreibers hatte bestimmt erhebliches Kopfzerbrechen bereitet, dachte sie. So unbeliebt er ob seines Metiers auch war, er war nichtsdestotrotz der Mann des Königs und im Augenblick die rechte Hand des Sheriffs. Sir Joscelin war, was Sir Rowley betraf, auf Nummer sicher gegangen. Picot saß neben der Frau des Sheriffs und brachte sie gerade zum Lachen.

Da sie bloß als Gehilfin des Doktors galt und noch dazu aus einem fremden Land kam, fand Adelia ihren Platz an einem anderen aufgebockten Tisch mitten in der Halle am unteren Ende, wenn auch immer noch mit deutlichem Abstand zu den Leibeigenen, die man zuließ, um Christi Gebot von der Speisung der Armen zu erfüllen. Die noch Ärmeren scharten sich im Hof um ein Kohlebecken und warteten auf die Speisereste.

Rechts von ihr ließ sich der Jäger Hugh nieder, das Gesicht so teilnahmslos wie immer, obwohl er sich einigermaßen höflich vor ihr verbeugte. Ein ihr unbekannter älterer kleiner Mann tat es ihm gleich und nahm dann links von ihr Platz.

Sie war bestürzt, als sie sah, dass Bruder Gilbert ihr direkt gegenübersaß. Ihm erging es ebenso.

Tranchierbretter wurden herumgereicht, und Eltern gaben ihren Sprösslingen verstohlen einen Klaps auf die Hände, wenn sie ungeduldig ein Stück Brot abbrechen wollten, denn noch war die Tafel nicht eröffnet. Zuvor musste Sir Joscelin seiner Lehnsherrin, Priorin Joan, feierlich Treue schwören, was er auf einem Knie und mit der Überreichung der Pacht tat, sechs milchweiße Tauben in einem goldenen Käfig.

Prior Geoffrey musste das Tischgebet sprechen. Weinbecher mussten gefüllt werden, um einen Trinkspruch auf Thomas von Canterbury und seinen neuen ruhmreichen Mitmärtyrer auszubringen, den Kleinen Peter aus Trumpington, der ja der eigentliche Anlass des Festes war. Ein merkwürdiger Brauch, dachte Adelia, als sie aufstand, um auf die Gesundheit der Toten zu trinken.

Ein schriller Schrei durchschnitt das respektvolle Gemurmel. »Der Ungläubige beleidigt unsere Heiligen.« Roger aus Acton deutete mit triumphierender Empörung auf Mansur. »Er trinkt mit Wasser auf sie.«

Adelia schloss die Augen. Gott, bitte mach, dass er das Schwein nicht ersticht.

Aber Mansur blieb ruhig und nahm einen Schluck von seinem Wasser. Sir Joscelin meldete sich zu Wort und sprach für alle deutlich hörbar einen Tadel aus: »Sein Glaube verbietet es diesem Herrn, Alkohol zu trinken, Master Roger. Und wenn Ihr keinen vertragt, schlage ich vor, Ihr folgt seinem Beispiel.« Gut gemacht. Acton sank auf seine Bank zurück. Adelias Gastgeber stieg in ihrem Ansehen.

Aber lass dich nicht verzaubern, ermahnte sie sich selbst. Memento mori. Wörtlich, gedenke des Todes. Er könnte der Mörder sein; er ist Kreuzfahrer. Genau wie der Steuereintreiber.

Und das war ein weiterer Mann oben am Tisch. Sir Gervase beobachtete sie, seit sie die Halle betreten hatte.

Bist du es?

Adelia war inzwischen davon überzeugt, dass der Mörder der Kinder an einem Kreuzzug teilgenommen hatte. Nicht nur weil das Bonbon sich als arabische Jujube entpuppt hatte, sondern auch weil die Pause zwischen der Abschlachtung der Schafe und der Ermordung der Kinder genau in den Zeitraum fiel, als Cambridge auf den Aufruf aus Outremer hin einige Männer entsandt hatte.

Der Haken war bloß, dass in der Zeit so viele fort gewesen waren …

»Wer im Jahr des großen Sturms die Stadt verlassen hat?«, hatte Gyltha wiederholt, als sie gefragt wurde. »Nun ja, zum Beispiel Ma Mills Tochter, weil sie sich von dem Hausierer hatte schwängern lassen …«

»Männer, Gyltha, Männer.«

»Oh, da ist eine ganze Reihe junger Männer losgezogen. Schließlich hatte der Abt von Ely dazu aufgerufen, das Kreuz zu nehmen. Bestimmt Hunderte, die sich mit Lord Fitzgilbert auf den Weg zu den Heiligen Stätten gemacht haben.«

Es war ein schlechtes Jahr gewesen, erinnerte sich Gyltha. Der große Sturm hatte das Getreide vernichtet, Überschwemmungen hatten Menschen und Gebäude weggespült, die Sümpfe wurden überflutet, selbst die Cam trat verheerend über die Ufer. Gottes Zorn war auf die sündigen Menschen von Cambridgeshire niedergekommen. Nur ein Kreuzzug gegen Seine Feinde konnte Ihn wieder versöhnlich stimmen.

Lord Fitzgilbert, der sich in Syrien Land aneignen wollte, weil seine Besitzungen überschwemmt worden waren, hatte die Fahne Christi auf dem Marktplatz von Cambridge aufgestellt. Junge Männer, deren Lebensgrundlage durch den Sturm zerstört worden war, schlossen sich ihm an, ebenso die Ehrgeizigen, die Abenteuerlustigen, abgewiesene Freier und Ehemänner mit zankhaften Frauen. Gerichte stellten Verbrecher vor die Wahl, ins Gefängnis zu gehen oder das Kreuz zu nehmen. Priester sprachen Männer in der Beichte von Sünden frei – falls sie sich dem Kreuzzug anschlossen.

Schließlich zog ein kleines Heer von dannen.

Lord Fitzgilbert kehrte im Sarg zurück und lag jetzt in seiner eigenen Kapelle unter einem Marmorbildnis von sich, die gepanzerten Beine gekreuzt, zum Zeichen, dass er Kreuzritter war. Einige Heimkehrer starben an den Krankheiten, die sie sich unterwegs eingefangen hatten, und wurden weniger aufwändig bestattet, mit Grabsteinen, die ein schlichtes eingemeißeltes Schwert zierte. Andere waren lediglich ein Name auf einer Gefallenenliste, die die Überlebenden mit nach Hause brachten. Wieder andere hatten ein reicheres, trockeneres Leben in Syrien gefunden und waren dort geblieben.

Manche nahmen nach ihrer Rückkehr ihr früheres Leben wieder auf, so dass Adelia und Simon laut Gyltha einige Leute genauer im Auge behalten sollten: zwei Ladenbesitzer, etliche Bauern, einen Schmied und auch den Apotheker, der Doktor Mansur mit Arzneien belieferte, ganz zu schweigen von Bruder Gilbert und dem schweigsamen Kanoniker, der Prior Geoffrey auf der Pilgerfahrt begleitet hatte.

»Bruder Gilbert war bei dem Kreuzzug dabei?«

»Allerdings. Und es bringt nichts, nur die zu verdächtigen, die als reiche Männer zurückgekommen sind, wie Sir Joscelin und Sir Gervase«, hatte Gyltha unnachgiebig gesagt. »Jede Menge Leute leihen sich Geld bei Juden, kleine Beträge vielleicht, aber groß genug, um die Zinsen nicht zahlen zu können. Außerdem ist gar nicht sicher, dass der Kerl, der den Pöbel dazu aufgewiegelt hat, den Juden aufzuknüpfen, auch der Unhold ist, der die Kinder umgebracht hat. Es gibt reichlich Leute, die einen Juden nur allzu gerne baumeln sehen und sich Christen schimpfen.«

Die Größenordnung des Problems hatte Adelia eingeschüchtert, doch angesichts der unbestreitbaren Logik der Haushälterin konnte sie nur das Gesicht verziehen.

Als sie sich jetzt umschaute, war ihr daher klar, dass sie Sir Joscelins unübersehbarem Reichtum keine finstere Bedeutung beimessen durfte. Er konnte ihn in Syrien erworben haben, musste ihn nicht unbedingt Chaim dem Juden verdanken. Zweifellos hatte sein Wohlstand ein angelsächsisches Lehnsgut in ein einigermaßen ansehnliches Herrenhaus verwandelt. Die große Halle, in der sie speisten, hatte ein mit Schnitzereien neu verziertes Dach, schöner als die meisten, die sie bislang in England gesehen hatte. Auf der Galerie spielten Musikanten Laute, Drehleier und Flöte. Das persönliche Eisenbesteck, das ein Gast für gewöhnlich zu einem Mahl mitbrachte, war überflüssig geworden, da neben jedem Teller bereits ein Messer und ein Löffel lagen. Saucieren, Fingerschalen, die auf den Tisch bereit-standen, waren aus edlem Silber, die Servietten aus Damast.

Adelia äußerte ihre Bewunderung gegenüber ihren Tischnachbarn. Hugh der Jäger nickte bloß. Der kleine Nachbar zu ihrer Linken sagte: »Aber Ihr hättet sehen sollen, wie’s hier früher ausgesehen hat, eine wunderbar wurmstichige, halb verfallene Scheune war das einmal, als Sir Tibault noch lebte, Joscelins Vater. Unangenehmer alter Knabe war das, Gott hab ihn selig, hat sich am Ende totgesoffen. Stimmt’s, Hugh?«

Hugh brummte. »Sein Sohn ist anders.«

»Das kann mal wohl sagen. Ein Unterschied wie Tag und Nacht. Hat hier wieder Leben reingebracht, der gute Joscelin. Hat sein Gold gut genutzt.«

»Gold?«, fragte Adelia.

Ihr Interesse machte den kleinen Mann noch redseliger. »Hat er mir jedenfalls erzählt. ›In Outremer ist Gold, Master Herbert‹, hat er zu mir gesagt, ›in Hülle und Fülle, Master Herbert.‹ Und ich bin schließlich sein Schuhmacher, ein Mann schwindelt seinen Schuhmacher nich an.«

»Ist Sir Gervase auch mit Gold zurückgekommen?«

»Mit einem ganzen Batzen, heißt es jedenfalls, nur, der ist mit seinem Geld nich so freigiebig.«

»Sind die beiden gemeinsam an Gold gekommen?«

»Da bin ich überfragt. Wahrscheinlich ja. So unzertrennlich, wie die beiden sind. Wie David und Jonathan, so sind die.«

Adelia blickte zu dem hohen Tisch, wo David und Jonathan saßen, gut aussehend, selbstbewusst; ungezwungen plauderten sie über den Kopf der Priorin hinweg miteinander.

Und wenn es zwei Mörder waren, die gemeinsam ihre Taten begingen … Der Gedanke war ihr noch nicht gekommen, dabei war er gar nicht so abwegig. »Sind sie verheiratet?«

»Nur Gervase, mit einem bedauernswerten, geifernden Weib, das nur zu Hause hockt.« Der Schuhmacher freute sich, sein Wissen über bedeutende Männer zum Besten geben zu können. »Sir Joscelin macht der Tochter des Barons von Peterborough den Hof. Die würden ein gutes Paar abgeben.«

Ein lauter Hornstoß ließ jedes Gespräch verstummen. Die Gäste setzten sich auf. Das Essen wurde hereingetragen.

Am hohen Tisch drückte Rowley Picot sein Knie an das der Frau des Sheriffs, um sie bei Laune zu halten. Er zwinkerte auch der jungen Nonne zu, die an dem aufgebockten Tisch weiter unten saß, damit sie errötete, merkte aber, dass seine Blicke immer häufiger zu der kleinen Madam Doktor wanderten, die hinten bei den einfachen Leuten saß. Hübsch zurechtgemacht, das musste er ihr lassen. Sahnige, samtene Haut, die in dem safrangelben Oberteil verschwand, lud zur Berührung ein. Ließ seine Fingerspitzen zucken. Und nicht nur die. Das schimmernde Haar ließ vermuten, dass sie am ganzen Körper blond war …

Verfluchtes Weib – Sir Rowley riss sich aus seinen schlüpfrigen Gedanken –, sie fand einfach zu viel heraus, sie und ihr Master Simon, und beide verließen sich auf den Schutz ihres verdammt stattlichen Arabers, der ausgerechnet ein Eunuch war.



Du liebe Güte, dachte Adelia, es gibt noch mehr.

Zum zweiten Mal hatte ein schmetterndes Horn einen Gang angekündigt, der angeführt vom Zeremonienmeister aus der Küche hereingebracht wurde. Noch mehr und noch größere Servierplatten, so voll beladen, dass zwei Männer zum Tragen erforderlich waren, wurden mit Jubelrufen von den fröhlichen Gästen begrüßt. Die immer fröhlicher wurden.

Das Schlachtfeld, das vom ersten Gang übrig geblieben war, wurde beseitigt. Essensreste landeten in einem Schubkarren und wurden nach draußen geschafft, wo zerlumpte Männer, Frauen und Kinder hungrig über sie herfielen.

»Et maintenant, Mylords, Mesdames …« Wieder der Chefkoch: »Wildbret-e à la krüste de gewürz. Spanfer-kelle mite Farce. Pfauen, gebra-ten et gar-niert mite ihre plumes. Kra-nische. ’irschrü-cken. Kanin-schen in Sauce de Rotwein. Pastete trüffelle. Golden-Poule. Sack de presse mit pikante Sauce d’essische. Pudding à la Creme de vanille. Quitten in Teigmantelle.«

Normannisches Französisch für normannisches Essen.

»Das ist Franzosensprache«, erklärte Master Herbert, der Schuhmacher, Adelia freundlich. »Sir Joscelin hat den Koch aus Frankreich mitgebracht.«

Und ich wünschte, er würde wieder dorthin zurückgehen. Es reicht, es reicht.

Sie fühlte sich komisch.

Zu Anfang hatte sie Wein abgelehnt und um heißes Wasser gebeten, eine Bitte, die den Diener mit der Weinkaraffe verblüfft hatte und nicht erfüllt worden war. Dann hatte Master Herbert sie davon überzeugt, dass der Met, der als Alternative zu Wein und Ale angeboten wurde, ein harmloses Getränk aus Honig sei, und da sie durstig war, hatte sie mehrere Becher geleert.

Aber sie war noch immer durstig. Sie winkte Ulf hektisch zu, er solle ihr etwas Wasser aus Mansurs Krug bringen. Er sah sie nicht.

Dafür winkte Simon aus Neapel zurück. Er war gerade eingetroffen und entschuldigte sich mit einer tiefen Verbeugung bei Priorin Joan und Sir Joscelin für seine Verspätung.

Er hat irgendwas herausgefunden, dachte Adelia und setzte sich auf. Sie sah es ihm an der Körperhaltung an, dass seine Nachforschungen bei den Juden gefruchtet hatten. Sie beobachtete, wie er aufgeregt mit dem Steuereintreiber am Ende des hohen Tisches sprach, bevor er aus ihrem Blickfeld verschwand, um etwas weiter oben an der Tafel Platz zu nehmen, auf derselben Seite wie sie.

Pfauen, die seit einer Woche tot waren und noch immer ihre Schwanzfedern zeigten, füllten die Tafel, knusprige Ferkel saugten traurig an dem Apfel in ihrem Maul. Das Auge einer gerösteten Rohrdommel, die ungeröstet im Schilf des Marschlandes, wo sie hingehörte, besser ausgesehen hätte, starrte Adelia vorwurfsvoll an.

Sie entschuldigte sich stumm bei ihr. Es tut mir leid. Es tut mir leid, dass sie dir Trüffel in den Hintern gestopft haben.

Wieder sah sie, wie Gyltha den Kopf zur Küchentür hinausreckte. Adelia setzte sich wieder kerzengerade hin. Ich mache dir alle Ehre, wirklich.

Wildbret in einer Gewürzkruste erschien auf einem sauberen Tranchierbrett. Dazu wurde eine süße Sauce gereicht. Rote Johannisbeere vermutlich. »Ich möchte Salat«, sagte sie vergeblich.

Die Pacht für die Priorin war aus dem Käfig entfleucht und hatte sich zu den Spatzen im Gebälk gesellt, von wo aus sie die Tische unten bekleckerte.

Bruder Gilbert, der die Nonnen rechts und links mit Missachtung strafte und nur Augen für Adelia hatte, beugte sich über den Tisch. »Ihr solltet Euch schämen, Euer Haar zu zeigen, Mistress.«

Sie funkelte ihn an. »Wieso?«

»Ihr tätet besser daran, Eure Locken unter einem Schleier zu verbergen, Trauerkleidung zu tragen, Euer Äußeres zu vernachlässigen. O Tochter Evas, hülle dich in Bußkleidung, damit gesühnt werde, was Eva verschuldet hat, nämlich der schmähliche Sündenfall des Menschen …«

»War nicht ihre Schuld«, sagte die Nonne zu seiner Linken. »Der Sündenfall des Menschen war nicht ihre Schuld. Und meine auch nicht.«

Sie war eine magere Frau mittleren Alters, die ausgiebig dem Wein zugesprochen hatte, genau wie Bruder Gilbert. Adelia gefiel ihr flottes Mundwerk.

Der Mönch wandte sich ihr zu. »Schweigt, Frau. Wollt Ihr dem großen heiligen Tertullian widersprechen? Ihr, aus Eurem Haus des lockeren Lebenswandels?«

»Und ob«, sagte die Nonne frohlockend, »wir haben einen besseren Heiligen als ihr. Wir haben den Kleinen St. Peter. Ihr habt gerade mal den großen Zeh von St. Etheldreda.«

»Wir haben ein Stück vom Wahren Kreuz«, rief Bruder Gilbert.

»Wer nicht?«, sagte die Nonne auf der anderen Seite von ihm. Bruder Gilbert stieg von seinem hohen Ross herab in das Blut und den Staub des Schlachtfeldes. »Der Kleine St. Peter wird euch einen Dreck nützen, wenn der Erzdiakon euer Kloster überprüft, du Schlampe. Und das wird er. Oh, ich weiß, was in St. Radegund vor sich geht – Liederlichkeit, das heilige Offizium vernachlässigt, Männer in euren Zellen, Jagdgesellschaften, Fahrten flussaufwärts, wohl kaum, um eure Einsiedler zu verpflegen. Oh, ich weiß Bescheid.«

»Aber wir bringen ihnen wirklich Vorräte«, sagte die Nonne rechts von Bruder Gilbert, die so drall war wie ihre Schwester in Gott dünn. »Und wenn ich anschließend meine Tante besuche, was schadet das?«

Ulfs Stimme ertönte erneut in Adelias Kopf. Schwester Speckgesicht bringt den Einsiedlern Essen, sieh dir bloß den Hintern an. Sie blickte die Nonne aus zusammengekniffenen Augen an. »Ich habe Euch gesehen«, sagte sie heiter, »ich habe gesehen, wie Ihr mit einem Stechkahn den Fluss hinaufgefahren seid.«

»Ich wette, Ihr habt nicht gesehen, wie sie zurückgekommen ist«, zischte Bruder Gilbert wütend. »Sie bleiben die ganze Nacht weg. Sie geben sich der Zügellosigkeit und Lust hin. In einem anständigen Haus würden sie dafür so lange ausgepeitscht, bis ihnen der Hintern blutet, aber wo ist ihre Priorin? Auf der Jagd.«

Ein Mann, der hasst, dachte Adelia, ein hasserfüllter Mann. Und ein Kreuzfahrer. Sie beugte sich über den Tisch. »Mögt Ihr Jujuben, Bruder Gilbert?«

»Was? Wie? Nein, ich kann Bonbons nicht ausstehen.« Er wandte den Blick von ihr ab, um seine Anklage gegen St. Radegund fortzusetzen.

Eine leise, traurige Stimme sagte rechts von Adelia: »Unsere Mary mochte Bonbons.« Zu ihrem Entsetzen liefen dem Jäger Hugh Tränen über die hohlen Wangen und fielen ihm ins Essen.

»Nicht weinen«, sagte sie. »Nicht weinen.«

Der Schuhmacher links von ihr flüsterte: »Sie war seine Nichte. Die kleine Mary wurde ermordet. Das Kind seiner Schwester.«

»Es tut mir leid.« Adelia berührte die Hand des Mannes. »Es tut mir so leid.«

Trübe, unendlich traurige blaue Augen blickten sie an. »Ich krieg ihn. Ich reiß ihm die Leber raus.«

»Wir beide werden ihn kriegen«, sagte sie und empfand Gilberts Tirade in diesem Augenblick als unglaublich störend. Sie streckte einen Arm über den Tisch und stieß dem Mönch einen Finger gegen die Brust. »Nicht der heilige Tertullian.«

»Was?«

»Tertullian. Den Ihr über Eva zitiert habt. Der war kein Heiliger. Habt Ihr gedacht, er ist ein Heiliger? Ist er nicht. Er hat der Kirche den Rücken gekehrt. Er war …«, sie suchte nach einem passenden Ausdruck, »… heterodox. Genau, das war er. Hat sich den Montanisten angeschlossen. Folglich … wurde er nie heiliggesprochen.«

Die Nonnen freuten sich. »Das habt Ihr nicht gewusst, was?«, sagte die Dünne.

Bruder Gilberts Erwiderung ging in einem erneuten Trompetenstoß unter, der einen weiteren Gang ankündigte.

»Weiße Käse und weiße Fleisch mit Man-deln, kandierte Quitten, Brach-’ühn in ’o-nisch, Taubenpastete, Terrine de legumes, Petitsperneux …«

»Was ist Pettipernö?«, fragte der Jäger, noch immer weinend.

»Kleine verlorene Eier«, erwiderte Adelia und begann haltlos zu schluchzen.

Der Teil ihres Gehirns, der den Kampf gegen den Met noch nicht ganz verloren hatte, hob sie auf die Beine und trug sie zu einer Anrichte, auf der ein Krug Wasser stand. Sie nahm ihn und strebte zur Tür, gefolgt vom Aufpasser.

Der Steuereintreiber sah ihr nach.

Im Garten waren bereits mehrere Gäste. Männer standen an Baumstämmen, Frauen suchten nach einem stillen Örtchen, wo sie sich hinhocken konnten. Die schamhafteren bildeten eine unruhige Warteschlange vor den verhüllten, mit gesäßgroßen Löchern versehenen Bänken, die Sir Joscelin über dem Bach hatte aufstellen lassen, der in die Cam führte.

Immer wieder gierig aus dem Krug trinkend, schlenderte Adelia davon, vorbei an Ställen und dem beruhigenden Geruch von Pferden, vorbei an dunklen Käfigen, wo Raubvögel unter Hauben davon träumten, sich hoch oben am Himmel auf ihre Beute zu stürzen. Der Mond war zu sehen. Gras, ein Obstgarten …

Der Steuereintreiber fand sie schlafend unter einem Apfelbaum. Als er die Hand nach ihr ausstreckte, hob eine kleine, dunkle, übel riechende Gestalt neben ihr den Kopf, und eine andere, wesentlich größere mit einem Dolch am Gürtel trat aus dem Schatten.

Sir Rowley zeigte beiden seine leeren Hände. »Ich würde ihr doch nichts tun.«

Adelia öffnete die Augen. Sie setzte sich auf, befühlte sich die Stirn. »Tertullian war kein Heiliger, Picot«, sagte sie.

»Das habe ich mich schon immer gefragt.« Er hockte sich neben sie. Sie hatte seinen Namen benutzt, als wären sie alte Freunde – er war bestürzt, wie sehr ihn das freute. »Was habt Ihr getrunken?«

Sie konzentrierte sich. »Es war gelb.«

»Met. Man braucht eine angelsächsische Konstitution, um Met zu überleben.« Er zog sie hoch. »Kommt, das müsst Ihr abtanzen.«

»Ich tanze nicht. Sollen wir zu Bruder Gilbert gehen und ihm einen Tritt in den Hintern verpassen?«

»Klingt verlockend, aber ich glaube, wir tanzen lieber.«

In der Halle waren die Tische weggeräumt worden. Die sanften Musikanten auf der Galerie hatten sich in drei schwitzende, stämmige Männer auf dem Podium verwandelt, ein Tamburinspieler und zwei Fiedler, von denen einer die Schritte mit solcher Lautstärke ansagte, dass er das Kreischen, Lachen und Stampfen der wirbelnden Paare im Tanzsaal übertönte, zu dem die Halle gemacht worden war.

Der Steuereintreiber zog Adelia hinein ins Getümmel.

Was sich hier abspielte, war nicht das gesittete, Fingerspitzen haltende, Zehen streckende, schwierige Tanzen der vornehmen Gesellschaft von Salerno. Von Eleganz konnte keine Rede sein. Diese Leute aus Cambridge hatten keine Zeit für Tanzunterricht, sie tanzten einfach. Unermüdlich, unaufhörlich, mit Schweiß und Ausdauer, mit Eifer, getrieben von wilden uralten Göttern. Ein Stolpern hier und da, eine falsche Bewegung, na und? Zurück in den Kampf, tanzen, tanzen. »Aufstampfen.« Linker Fuß nach links, den rechten ranziehen. »Rücken an Rücken.« Den Rock raffen. Lächeln. »Rechte Schulter an rechte Schulter.« »Kreis nach links, hopp.« »Geradeaus, hopp.« »Platzwechsel.« »Die Flechte, Ladys und Gentlemen, die Flechte, ihr Kanaillen.« »Und wieder von vorn.«

Die Fackeln in den Halterungen flackerten wie Opferfeuer. Zerstampfte Binsen auf dem Boden verströmten grünen Duft in den Raum. Keine Zeit zum Verschnaufen, »wir tanzen eine Pferdebranle«, zurück, im Kreis, durch die Mitte, unter dem Bogen durch, und noch einmal.

Der Met in ihrem Körper verdampfte und wurde durch den Rausch des reibungslosen Zusammenspiels von Bewegungen ersetzt. Glänzende Gesichter tauchten auf und verschwanden wieder, verschwitzte Hände ergriffen Adelias Hände, wirbelten sie herum: Sir Gervase, ein Unbekannter, Master Herbert, Sheriff, Prior, Steuereintreiber, wieder Sir Gervase, der sie so wild im Kreis drehte, dass sie fürchtete, er könne loslassen und sie gegen die Wand schleudern. Durch die Mitte, unter dem Bogen durch, Galopp, Flechte.

Bilder blitzten auf und waren gleich wieder fort. Simon signalisierte ihr, er würde gehen, doch sein Lächeln – sie wurde in diesem Augenblick gerade von Sir Rowley schwungvoll herumgedreht – sagte ihr, sie solle bleiben und sich amüsieren. Eine große Priorin und ein kleiner Ulf hielten sich an den überkreuzten Händen und wirbelten herum wie ein Karussell. Sir Joscelin sprach ernst mit der kleinen Nonne, als sie bei einem Platzwechsel Rücken an Rücken aneinander vorbeikamen. Mansur, umgeben von einem Kreis Bewunderer, vollführte mit unbewegter Miene zu Maqam-Musik einen Tanz über gekreuzten Schwertern. Roger aus Acton versuchte, gegen den Schwung eine Drehung nach rechts durchzusetzen: »Die nach links gehen, sind des Teufels und Gott dem Herrn verhasst.« Und wurde beinahe niedergetrampelt.

Du liebe Güte, der Koch und die Frau des Sheriffs. Keine Zeit zum Staunen. Rechte Schulter an rechte Schulter. Tanzen, tanzen. Ihre Arme und die von Rowley bilden einen Bogen, Gyltha und Prior Geoffrey tauchen darunter hindurch. Die dürre Nonne mit dem Apotheker. Jetzt Hugh der Jäger und Matilda B. Die vom unteren Ende der Tafel und die vom oberen im Bann eines demokratischen, tanzenden Gottes. O Gott, das ist pure Freude mit Flügeln. Fang sie, fang sie.

Adelia tanzte ihre Schuhe durch und merkte es erst, als ihr die Fußsohlen von der Reibung brannten.

Im Schwung drehte sie sich aus dem Gewimmel heraus. Es war Zeit zu gehen. Einige Gäste verabschiedeten sich, doch die meisten standen an den Anrichten, auf denen ein letzter Gang serviert wurde.

Sie humpelte zur Tür. Mansur schloss sich ihr an. »Habe ich richtig gesehen und Master Simon ist schon gegangen?«, fragte sie ihn.

Er machte sich auf die Suche nach ihm, und als er aus Richtung Küche zurückkam, hatte er einen schlafenden Ulf auf dem Arm.

»Die Frau sagt, er ist schon vorgegangen.« Mansur benutzte nie Gylthas Namen. Sie war immer einfach »die Frau«.

»Bleiben sie und die Matildas noch hier?«

»Sie helfen beim Aufräumen. Wir nehmen den Jungen mit.«

Prior Geoffrey und seine Mönche waren anscheinend längst gegangen. So auch die Nonnen außer Priorin Joan, die an einer Anrichte stand, in einer Hand ein Stück Wildpastete, in der anderen einen Humpen. Sie war so angeheitert, dass sie Mansur zulächelte und mit der Pastete einen Segen wedelte, als Adelia sich mit einem Knicks bedankte.

Sir Joscelin kam ihnen aus dem Hof entgegen, wo Gestalten im Feuerschein an Knochen nagten.

»Ihr habt uns geehrt, Mylord«, sagte Adelia zu ihm. »Ich soll Euch im Namen von Doktor Mansur unserer Dankbarkeit versichern.«

»Nehmt Ihr den Weg über den Fluss? Ich kann mein Boot kommen …«

Nein, nein, sie waren mit dem Stechkahn des alten Benjamin da, aber vielen Dank.

Trotz der Fackel, die an einem Pfosten am Ufer brannte, war es fast zu dunkel, um den Kahn des alten Benjamin unter den vielen anderen zu erkennen, doch da sie alle, bis auf den von Sheriff Baldwin, gleichförmig schlicht waren, nahmen sie einfach den ersten in der Reihe.

Der immer noch schlafende Ulf wurde Adelia, die im Bug Platz nahm, auf den Schoß gelegt, und der Aufpasser stand unglücklich am Heck. Mansur nahm die Stakstange …

Der Kahn schaukelte bedenklich, als Sir Rowley Picot an Bord sprang.

»Zur Burg, Bootsführer.« Er setzte sich auf eine Ruderbank. »Nun, ist das nicht schön?«

Ein leichter Nebel stieg vom Wasser auf, und ein zunehmender Mond schien schwach, verschwand jedoch manchmal, wenn weit überhängende Bäume an den Ufern den Fluss in einen Tunnel verwandelten. Eine gespenstisch weiße Masse entpuppte sich als Schwan, der mit wilden Flügelschlägen protestierte, weil er ihnen Platz machen musste.

Mansur sang wie immer beim Staken leise vor sich hin, eine atonale Erinnerung an Wasser und Schilf in einem anderen Land.

Sir Rowley beglückwünschte Adelia zu ihrem erfahrenen Bootsführer.

»Er ist ein Marsch-Araber«, sagte sie, »er fühlt sich im Sumpfland zu Hause.«

»Tatsächlich? Hätte ich nicht gedacht bei einem Eunuchen.«

Sogleich wurde sie trotzig. »Was habt Ihr denn gedacht? Dicke Männer, die sich im Harem herumlümmeln?«

Er war verblüfft. »Ja, genau. Die Einzigen, die ich je gesehen habe, waren so.«

»Als Ihr auf dem Kreuzzug wart?«, fragte sie, noch immer in Angriffsstimmung.

»Als ich auf dem Kreuzzug war«, gestand er.

»Dann ist Eure Erfahrung mit Eunuchen begrenzt, Sir Rowley. Ich gehe davon aus, dass Mansur irgendwann Gyltha heiratet.« Ach, verflixt, sie hatte noch immer eine lose Zunge vom Met. Hatte sie ihren teuren Araber verraten? Und Gyltha?

Aber sie würde Mansur nicht von diesem … diesem Kerl, diesem möglichen Mörder, der nicht einmal würdig war, ihm die Stiefel zu lecken, verunglimpfen lassen.

Rowley beugte sich vor. »Im Ernst? Ich dachte, bei seiner, äh, Verfassung wäre eine Heirat ausgeschlossen.«

Verflixt und zugenäht und verdammt, jetzt hatte sie sich auch noch in die Lage manövriert, die Möglichkeiten von Kastrierten erklären zu müssen. Aber wie sollte sie es ausdrücken? »Nur Kinder sind bei einer solchen Verbindung ausgeschlossen. Da Gyltha ohnehin zu alt ist, um Kinder zu bekommen, wird das für die beiden nicht ins Gewicht fallen.«

»Verstehe. Und wie steht es mit den, ähm, übrigen Gunstbezeugungen in der Ehe?«

»Eine Erektion ist möglich«, sagte sie schneidend. Zum Teufel mit den Euphemismen. Wieso sollte sie vor den körperlichen Tatsachen zurückscheuen? Wenn er etwas nicht hören wollte, hätte er nicht fragen sollen.

Sie hatte ihn schockiert, das merkte sie ihm an. Aber sie war noch nicht fertig mit ihm. »Glaubt Ihr, Mansur hat sich das ausgesucht? Er wurde als Kind von Sklavenhändlern verschleppt und wegen seiner Stimme an byzantinische Mönche verkauft, die ihn kastrieren ließen, damit er seine hohe Stimmlage behielt. Das ist bei denen so üblich. Er war acht Jahre alt, und er musste für die Mönche singen, christliche Mönche, seine Folterer.«

»Darf ich fragen, wie er zu Euch gekommen ist?«

»Er ist weggelaufen. Mein Ziehvater hat ihn in Alexandria auf der Straße aufgelesen und mit nach Salerno gebracht. Mein Vater kümmert sich aus Überzeugung um die Verlorenen und Verlassenen.«

Hör auf, hör auf, ermahnte sie sich. Wieso offenbarst du dich ihm so? Er ist ein Nichts, vielleicht schlimmer als ein Nichts. Dass du dich vorhin so wunderbar mit ihm amüsiert hast, bedeutet gar nichts.

Ein Teichhuhn rief und raschelte im Schilf. Irgendetwas, eine Wasserratte, glitt in den Fluss und schwamm davon, erzeugte kleine Wellen, die im Mondlicht schimmerten. Der Kahn fuhr wieder in einen Tunnel hinein.

Sir Rowleys Stimme hallte darin. »Adelia.«

Sie schloss die Augen. »Ja?«

»Ihr habt in dieser Sache getan, was Ihr konntet. Wenn wir am Haus des alten Benjamin sind, komme ich mit rein und spreche mit Master Simon. Er muss einsehen, dass es Zeit für Euch ist, nach Salerno zurückzukehren.«

»Ich verstehe nicht«, sagte sie. »Der Mörder ist noch nicht gefunden.«

»Wir umzingeln allmählich sein Versteck. Wenn wir ihn aufscheuchen, könnte er gefährlich werden, ehe wir ihn unschädlich machen. Ich will nicht, dass er einen der Treiber anfällt.«

Die Wut, die Sir Rowley Picot stets in ihr entfachte, entlud sich, heiß und vehement. »Einen der Treiber? Ich verfüge über eine ausgezeichnete Ausbildung, und ich wurde vom König von Sizilien für diese Aufgabe ausgewählt, nicht von Simon und schon gar nicht von Euch.«

»Madam, ich bin lediglich um Eure Sicherheit besorgt.«

Es war zu spät. Einem Mann an ihrer Stelle hätte er nicht geraten, nach Hause zu fahren. Er hatte sie in ihrer Berufsehre gekränkt.

Adelia fiel ins Arabische, die einzige Sprache, in der sie hemmungslos fluchen konnte, weil Margaret sie nie gelernt hatte. Sie benutzte Ausdrücke, die sie aufgeschnappt hatte, wenn Mansur sich mit dem marokkanischen Koch ihrer Zieheltern stritt, denn nur so konnte sie den Zorn ablassen, den dieser Steuereintreiber in ihr schürte. Sie unterstellte ihm eine unnatürliche Vorliebe für kranke Esel, Hundeeigenschaften, Flöhe, wetterte über seine Verdauung und seine Essgewohnheiten und sagte ihm, wo er sich seine Sorge um sie hinstecken könne. Ob Picot verstand, was sie von sich gab, oder nicht, war unerheblich. Er konnte es sich mehr oder weniger denken.

Mansur stakte grinsend das Boot aus dem Tunnel.

Der Rest der Fahrt verlief schweigend.

Als sie das Haus des alten Benjamin erreichten, wollte Adelia nicht, dass Picot mit hineinkam. »Soll ich ihn zur Burg bringen?«, wollte Mansur wissen.

»Von mir aus bring ihn, wohin er will«, sagte sie.

Als der Flussaufseher am nächsten Morgen kam, um Gyltha davon zu unterrichten, dass Simons Leichnam gerade in die Burg gebracht wurde, dachte Adelia, dass sie laut geflucht hatte, als ihr Kahn an seinem Körper vorbeigefahren war, der mit dem Gesicht nach unten im Schilf bei Trumpington getrieben hatte.