Kapitel Acht

Ich musste mich vergewissern«, sagte Adelia. »Es hätte ja sein können, dass der Junge von jemand anderem getötet worden ist als von unserem Mörder oder dass er durch einen Unfall gestorben ist – die Verletzungen hätten ihm auch beigebracht werden können, als er schon tot war.«

»Ja, so was tun sie gern«, sagte Simon. »Kinder, die durch einen Unfall ums Leben kommen, tauchen ganz unvermutet im Garten des nächstbesten Juden auf.«

»Ich musste sichergehen, dass er wie die anderen gestorben war. Ich brauchte den Nachweis.« Adelia fühlte sich ebenso erschöpft wie Simon, auch wenn sie das, was Chaim und Yehuda mit der Leiche des Jungen gemacht hatten, nicht mit dem gleichen Ekel betrachtete wie er. Sie empfand Mitleid mit ihnen. »Wir wissen jetzt mit Sicherheit, dass die Juden ihn nicht umgebracht haben.«

»Und wer wird das glauben?« Simon war sichtlich bedrückt.

Sie saßen beim Abendessen. Die letzten Sonnenstrahlen, die durch die lächerlichen Fenster fielen, wärmten den Raum und überzogen Simons Zinnkrug mit Gold. Um den Wein zu sparen, hatte er auf englisches Bier zurückgegriffen. Mansur trank den Gerstensaft, den Gyltha für ihn angerührt hatte.

Jetzt fragte Mansur: »Wieso schneidet der Hund ihnen die Augenlider ab?«

»Ich weiß es nicht.« Adelia wollte nicht über mögliche Gründe nachdenken.

»Wollt Ihr wissen, was ich glaube?«, fragte Simon.

Sie wollte nicht. In Salerno wurden ihr mitunter Tote gebracht, die unter verdächtigen Umständen ums Leben gekommen waren. Sie untersuchte sie. Sie teilte ihrem Ziehvater die Ergebnisse der Untersuchung mit, die er dann an die Behörden weitergab. Die Leichen wurden weggebracht. Manchmal, stets zu einem späteren Zeitpunkt, erfuhr sie, was mit dem Täter oder der Täterin geschehen war – ob er oder sie gefunden worden war. Jetzt war sie zum ersten Mal unmittelbar an der Jagd nach einem Mörder beteiligt, und es bereitete ihr kein Vergnügen.

»Ich glaube, sie sterben ihm zu schnell«, sagte Simon. »Ich glaube, er möchte ihre Aufmerksamkeit auch noch, wenn sie tot sind.«

Adelia wandte den Kopf ab und beobachtete, wie winzige Mücken in einem Streifen Sonnenlicht tanzten.

»Ich weiß, welche Teile ich ihm abschneide, wenn wir ihn gefasst haben, Inschallah«, sagte Mansur.

»Ich werde dir dabei helfen«, sagte Simon.

Zwei so unterschiedliche Männer. Der Araber, hoch aufgerichtet auf seinem Stuhl, das Gesicht, umrahmt vom weißen Stoff seiner Kopfbedeckung, so dunkel, dass es kaum zu erkennen war; der Jude, dessen Wangenlinie in der Sonne leuchtete, vorgebeugt, während seine Finger den Bierkrug drehten. Beide im Einklang.

Wieso hielten Männer das für das Schlimmste überhaupt? Vielleicht war es das ja für sie. Aber es war banal, als würde man ein bösartiges Tier kastrieren. Der Schaden, den diese Kreatur angerichtet hatte, war zu gewaltig für menschliche Vergeltung, der von ihr verursachte Schmerz hatte zu weit um sich gegriffen. Adelia dachte an Agnes, die Mutter von Harold, die vor der Burg Wache hielt. Sie dachte an die Eltern, die sich um die kleinen Särge in der Kirche St. Augustine versammelt hatten. An die beiden betenden Männer in Chaims Keller, die ihrem inneren Wesen Gewalt antaten, indem sie sich von einer schrecklichen Last befreiten. Sie dachte an Dina und den Schatten, der sich für immer auf sie gelegt hatte.

So erklärte sich der Wunsch nach ewiger Verdammnis, dachte sie, denn für so eine Tat gab es keine Wiedergutmachung, auch nicht für die Lebenden, die zurückblieben. Nicht in diesem Leben.

»Seid Ihr mit mir einer Meinung, Doktor?«

»Was?«

»Meine Theorie, was die Verstümmelungen betrifft.«

»Das ist nicht meine Aufgabe. Ich bin nicht hier, um zu verstehen, warum ein Mörder tut, was er tut, ich muss lediglich beweisen, dass er es getan hat.«

Sie starrten sie an.

»Ich entschuldige mich«, sagte sie etwas leiser, »aber ich werde mich nicht in seinen Kopf versetzen.«

Simon sagte: »Genau das müssen wir vielleicht, ehe das alles hier vorbei ist, Doktor. So denken, wie er denkt.«

»Dann tut Ihr das«, sagte sie. »Ihr seid doch der Scharfsinnige unter uns.«

Er stieß einen traurigen Seufzer aus. Sie waren an diesem Abend alle gedrückter Stimmung. »Fassen wir zusammen, was wir bisher über ihn wissen. Mansur?«

»Vor dem kleinen heiligen Jungen gab es hier keine Morde. Vielleicht ist er erst vor einem Jahr hierhergekommen.«

»Aha, dann glaubst du also, er hat vorher schon gemordet, irgendwo anders?«

»Ein Schakal ist und bleibt ein Schakal.«

»Stimmt«, sagte Simon. »Er könnte aber auch ein neuer Rekrut in den Armeen des Beelzebub sein und gerade erst angefangen haben, seine Gelüste zu stillen.«

Adelia runzelte die Stirn. Dass der Mörder ein sehr junger Mann sein könnte, widersprach dem Bild, das sie sich von ihm machte.

Simon hob den Kopf. »Ihr seht das anders, Doktor?«

Sie seufzte, ließ sich widerwillig auf das Gespräch ein. »Spekulieren wir?«

»Mehr können wir kaum tun.«

Zögerlich, denn all ihre Überlegungen beruhten auf kaum mehr als einem undeutlichen Schatten im Nebel, sagte sie: »Die Angriffe geschehen in Raserei, was für Jugend spricht, aber sie sind geplant, was für Reife und Erfahrung spricht. Er lockt sie an einen besonderen und einsamen Ort wie den Hügel. Ich glaube, dass dem so ist, weil niemand hört, wie die Kinder gequält werden. Möglicherweise lässt er sich Zeit, nicht im Fall des Kleinen Peter – da ist er hastiger vorgegangen –, aber bei den Kindern danach.«

Sie stockte, weil die Theorie furchtbar war und nur auf wenigen Anhaltspunkten gründete. »Es ist möglich, dass er sie nach ihrer Entführung noch eine Zeit lang leben lässt. Das würde für eine perverse Art der Geduld und eine Vorliebe für ausgedehnte Qualen sprechen. Bei seinem letzten Opfer hätte ich in Anbetracht des Tages, an dem der Junge entführt wurde, mit einer weiter fortgeschrittenen Verwesung gerechnet.«

Sie funkelte die beiden Männer an. »Aber das könnte so viele Gründe haben, dass es als Theorie nun wirklich keinerlei Gewicht hat.«

»Ach.« Simon stieß seinen Becher weg, als könnte er dessen Anblick nicht länger ertragen. »Wir sind keinen Schritt weiter. Wir werden wohl doch nicht umhinkommen, uns näher mit den neunundvierzig Leuten zu beschäftigen, ob sie nun schwarzes Kammgarn tragen oder nicht. Und ich werde meiner Frau schreiben müssen, dass ich noch nicht nach Hause komme.«

»Da ist noch was«, sagte Adelia. »Der Gedanke ist mir heute gekommen, als ich mit Mistress Dina gesprochen habe. Die arme Frau glaubt, hinter all den Morden stecke die Absicht, ihrem Volk die Schuld in die Schuhe zu schieben …«

»Das sehe ich nicht so«, sagte Simon. »Ja, er versucht mit seinen Davidsternen die Juden in Verdacht zu bringen, aber das ist nicht der Grund, warum er mordet.«

»Das glaube ich auch. Das Hauptmotiv für die Morde hat nichts mit Glaubensfragen zu tun. Dafür ist zu viel sexuelle Brutalität im Spiel.«

Sie hielt inne. Obwohl sie geschworen hatte, sich nicht in den Kopf des Mörders zu versetzen, spürte sie, wie sie in dessen Sog geriet. »Dennoch ist er nicht abgeneigt, einen Nutzen daraus zu schlagen. Wieso hätte er sonst den Leichnam des Kleinen Peter auf Chaims Wiese werfen sollen?«

Simons Augenbrauen schnellten in die Höhe. Die Antwort war doch wohl offensichtlich. »Chaim war Jude, der ewige Sündenbock.«

»Es hat ja auch verdammt gut geklappt«, sagte Mansur. »Kein Verdacht gegen den wahren Mörder. Und …«, er fuhr sich mit einem Finger über die Gurgel, »… auf Nimmerwiedersehen Juden.«

»Genau«, sagte Adelia. »Auf Nimmerwiedersehen Juden. Ich stimme ja zu, dass der Mann die Juden belasten will, so ganz nebenbei, wo er sowieso schon mordet. Aber wieso sucht er sich ausgerechnet Chaim aus? Wieso legt er den Leichnam nicht in den Garten von irgendeinem anderen Juden? Jedes Haus war an dem Abend verlassen und dunkel, weil alle Juden auf Dinas Hochzeit waren. Wenn er mit einem Boot gekommen ist – was zu vermuten ist –, hätte sich das Haus hier, vom alten Benjamin, eher angeboten, weil es nahe am Fluss liegt. Der Mörder hätte den toten Jungen hier ablegen können. Stattdessen ging er das unnötige Risiko ein, den Leichnam auf Chaims Wiese zu werfen, die hell erleuchtet war.«

Simon beugte sich noch weiter vor, bis er mit der Nase fast eine der Kerzen auf dem Tisch berührte. »Fahrt fort.«

Adelia zuckte die Achseln. »Ich schaue mir nur das Endergebnis an. Die Juden werden beschuldigt, der Zorn des Pöbels wird geschürt, Chaim, der größte Geldverleiher in Cambridge, wird aufgehängt. Der Turm geht in Flammen auf, mit allen Unterlagen darüber, wer den Wucherern Geld schuldet, darunter auch die von Chaim.«

»Er hat Chaim Geld geschuldet? Unser Mörder hat nicht nur seine krankhaften Triebe befriedigt, sondern sich noch dazu seiner Schulden entledigt?« Simon dachte darüber nach. »Aber konnte er denn damit rechnen, dass der Pöbel den Turm in Brand stecken würde? Oder sich auf Chaim stürzen und ihn aufhängen würde?«

»Er mischt sich unter die Menschenmenge«, sagte Mansur, und seine knabenhafte Stimme nahm einen kreischenden Ton an: »Tötet die Juden. Tötet Chaim. Schluss mit der schmutzigen Wucherei. Auf zur Burg, Leute. Nehmt Fackeln mit.«

Von dem schrillen Klang aufgeschreckt, reckte Ulf den Kopf über das Geländer der Galerie, eine weiße und zerzauste Pusteblume in der zunehmenden Dunkelheit. Adelia drohte ihm mit dem Finger. »Ab ins Bett mit dir.«

»Warum quasselt ihr dieses fremdländische Zeug?«

»Damit du nicht lauschen kannst. Geh ins Bett.«

Mehr von Ulf tauchte über dem Geländer auf. »Dann glaubt ihr, es waren doch nich die Juden, die Peter und die anderen abgemurkst haben?«

»Nein«, erwiderte Adelia, und weil schließlich Ulf es gewesen war, der das Abflussloch entdeckt und ihr gezeigt hatte, fügte sie hinzu: »Peter war tot, als sie ihn auf der Wiese gefunden haben. Sie haben Angst bekommen und ihn durch das Loch geschoben, um nicht in Verdacht zu geraten.«

»Mächtig schlau von denen, was?« Der Junge stieß ein angewidertes Knurren aus. »Wer hat ihn denn dann abgemurkst?«

»Das wissen wir nicht. Jemand, der Chaim in Verdacht bringen wollte, vielleicht jemand, der ihm Geld schuldete. Und jetzt ab ins Bett.«

Simon hob eine Hand, um den Jungen aufzuhalten. »Wir wissen nicht, wer, mein Sohn, das versuchen wir herauszufinden.« Zu Adelia sagte er im Dialekt von Salerno: »Der Junge ist intelligent. Er war uns schon einmal nützlich. Vielleicht kann er für uns Kundschafter spielen.«

»Nein.« Sie war über ihre eigene Heftigkeit überrascht.

»Ich kann helfen.« Ulf kam eilig die Stufen heruntergetappt. »Ich bin ein guter Spürhund. Ich kenn die Stadt in- und auswendig.«

Gyltha kam herein, um die Kerzen anzuzünden. »Ulf, ab ins Bett, sonst verfütter ich dich an die Katzen.«

»Sag’s ihnen, Gran«, sagte Ulf beschwörend. »Sag ihnen, was ich für ein prima Spürhund bin. Und ich krieg Sachen mit, nich, Gran? Ich hör Sachen, die sonst keiner hört, weil keiner merkt, dass ich da bin, ich kann überallhin … Ich habe ein Recht zu helfen, Gran, Harold und Peter waren meine Freunde.«

Gylthas und Adelias Blicke trafen sich, und das kurze Entsetzen, das Adelia in den Augen der anderen Frau sah, verriet ihr, dass Gyltha wusste, was sie wusste: Der Mörder würde wieder töten.

Ein Schakal ist und bleibt ein Schakal.

Simon sagte: »Ulf könnte uns morgen zeigen, wo die drei Kinder gefunden wurden.«

»Das ist unten am Wandlebury«, wandte Gyltha ein. »Ich will nich, dass der Junge da hingeht.«

»Mansur ist doch bei uns. Der Mörder ist nicht auf dem Berg, Gyltha, er ist in der Stadt. Die Kinder wurden in der Stadt entführt.«

Gyltha blickte Adelia an, die nickte. Ulf wäre bei ihnen sicherer, als wenn er in Cambridge allein einer Spur folgte.

Gyltha überlegte. »Was ist mit den Kranken?«

»Die Praxis bleibt morgen geschlossen«, sagte Simon entschieden.

Genauso entschieden sagte Adelia: »Auf dem Weg zum Hügel wird der Arzt bei den schlimmsten Fällen von gestern einen Hausbesuch machen. Ich möchte nach dem Kind mit dem Husten sehen. Und der Mann mit den amputierten Zehen braucht einen frischen Verband.«

Simon seufzte: »Wir hätten uns als Astrologen tarnen sollen. Oder Anwälte. Irgendwas Nutzloses. Ich fürchte, der Geist des Hippokrates hat uns ein schweres Joch aufgebürdet.«

»Allerdings.« In Adelias begrenztem Pantheon kam Hippokrates an erster Stelle.

Ulf wurde überredet, sich ins Untergeschoss zu begeben, wo er und die Mägde schliefen, Gyltha zog sich in die Küche zurück, und die drei anderen setzten ihre Erörterung fort.

Simon trommelte mit den Fingern auf dem Tisch und dachte nach. Schließlich hörte er auf. »Mansur, mein guter, kluger Freund, ich glaube, du hast Recht, unser Mörder war vor einem Jahr in der aufgebrachten Menschenmenge und hat den Tod von Chaim verlangt. Doktor, seht Ihr das auch so?«

»Durchaus möglich«, sagte Adelia vorsichtig. »Mistress Dina ist jedenfalls überzeugt, dass der Zorn der Leute vorsätzlich geschürt wurde.«

Tötet die Juden, dachte sie, die Lieblingsforderung von Roger aus Acton. Wie passend, sollte sich diese Kreatur in ihren Taten als ebenso furchtbar erweisen wie als Person.

Das sprach sie aus, doch dann kamen ihr Zweifel. Der Mörder der Kinder besaß zweifellos Überzeugungskraft. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass die ängstliche Mary sich von Acton hätte verlocken lassen, ganz gleich wie viele Bonbons er ihr auch anbot.

Dem Mann fehlte es an der notwendigen Tücke. Er war ein hässlicher, Phrasen dreschender Hanswurst. Und angesichts seiner Verachtung für Juden war es unwahrscheinlich, dass er sich von einem Geld geliehen hatte.

»Nicht unbedingt«, sagte Simon. »Ich habe etliche Männer das Kontor meines Vaters verlassen sehen, die Taschen prall mit seinem Gold gefüllt, obwohl sie Wucherei verwerflich fanden. Dennoch, der Bursche trägt Kammgarn, und wir müssen sehen, ob er an den fraglichen Tagen in Cambridge war.«

Seine Laune hatte sich gebessert. Es würde doch nicht so lange dauern, bis er zu seiner Familie zurückkonnte. »Au loup!« Als er ihre verwirrten Gesichter sah, sagte er strahlend: »Wir sind ihm auf der Fährte, meine Freunde. Wir sind Nimrode. Herrgott, wenn ich gewusst hätte, wie spannend die Jagd ist, hätte ich weniger studiert und mehr gejagt. Halali! Ist das nicht der Aufruf zur Jagd?«

Adelia sagte freundlich: »Ich glaube, die Engländer rufen Horrido.«

»Ach ja? Wie rasch Sprache doch verdirbt. Nun denn. Unsere Beute ist jedenfalls in Sicht. Morgen gehe ich noch einmal zur Burg und setze dieses vorzügliche Organ ein«, er tippte sich an die Nase, die wie bei einer neugierigen Spitzmaus zuckte, »um auszuschnüffeln, welcher Mann hier in der Stadt Geldschulden bei Chaim hatte, die er nicht begleichen wollte.«

»Nicht morgen«, sagte Adelia. »Morgen wollten wir doch zum Wandlebury Ring.« Für die Suche dort wären sie alle drei erforderlich. Und Ulf.

»Dann eben übermorgen.« Simons Hochstimmung war unerschütterlich. Er hob seinen Becher erst in Adelias Richtung, dann in die Richtung Mansurs. »Wir sind ihm dicht auf den Fersen, meine Freunde. Ein Mann reiferen Alters, vor drei Nächten auf dem Wandlebury Ring, an diesem und jenem Tag in Cambridge, ein Mann, der bei Chaim hoch in der Kreide steht und die Menge aufwiegelt, die das Blut des Geldverleihers sehen will. Mit Zugang zu schwarzem Kammgarn.« Er trank einen gierigen Schluck und wischte sich den Mund ab. »Wir kennen schon fast seine Schuhgröße.«

»Es könnte aber auch ein ganz anderer sein«, sagte Adelia.

Auf diese Liste hätte sie noch ein trügerisch freundliches Auftreten gesetzt, denn wenn die Kinder ebenso wie Peter freiwillig mit ihrem Mörder mitgegangen waren, dann hatten sie sich durch Charme, sogar Humor überreden lassen.

Sie dachte an den beleibten Steuereintreiber.

Gyltha hielt nichts davon, dass ihre Arbeitgeber so lange aufblieben, und sie kam herein, um den Tisch abzuräumen, während sie noch daran saßen.

»Ach ja«, sagte sie zu Adelia, »das Bonbon, das du gefunden hast, sollten wir uns noch mal ansehen. Matilda Bs Onkel ist in der Küche, der ist im Süßwarenhandel. Vielleicht kann der ja was damit anfangen.«

So etwas wäre in Salerno unmöglich, dachte Adelia, während sie nach oben stapfte. Im Haus ihrer Eltern sorgte ihre Tante dafür, dass die Bediensteten nicht nur wussten, wo ihr Platz war, sondern ihn auch einhielten – und mit Respekt antworteten, wenn sie angesprochen wurden.

Andererseits, dachte sie, was ist besser? Achtung? Oder Zusammenarbeit?

Sie holte das Bonbon, das in Marys Haaren geklebt hatte und legte es mitsamt dem Stück Leinen auf den Tisch. Simon wich davor zurück. Matilda Bs Onkel betastete es mit einem teigigen Finger und schüttelte den Kopf.

»Seid Ihr sicher?« Adelia hielt eine Kerze schräg, damit mehr Licht darauffiel.

»Das ist eine Jujube«, sagte Mansur.

»Mit Zucker, vermutlich«, sagte der Onkel. »Zu teuer für mein Geschäft, wir süßen mit Honig.«

»Was hast du gesagt?«, fragte Adelia Mansur.

»Das ist eine Jujube. Die hat meine Mutter immer gemacht, möge Allah Wohlgefallen an ihr finden.«

»Eine Jujube«, sagte Adelia. »Natürlich. Die gibt’s auch im arabischen Viertel in Salerno. O Gott …« Sie sank auf einen Stuhl. »Was ist?« Simon war aufgesprungen. »Was?«

»Er hat nicht Jujus gesagt, er meinte Jujuben.« Sie presste die Augen fest zusammen, konnte kaum das Bild ertragen, das sich völlig neu gestaltete, das Bild, auf dem ein kleiner Junge sich noch einmal umwandte, ehe er in die Dunkelheit der Bäume verschwand.

Als sie die Augen wieder öffnete, hatte Gyltha Matilda B und ihren Onkel bereits hinausbugsiert und war wieder zurückgekommen. Verständnislose Gesichter starrten sie an.

Adelia sagte: »Das hat der Kleine St. Peter gemeint. Ulf hat es uns erzählt. Er hat gesagt, Peter habe seinem Freund Will über den Fluss zugerufen, er würde sich mit jemandem wegen der Jujus treffen. Aber das hat er gar nicht. Er hat Jujuben gesagt. Will kannte das Wort nicht und hat Jujus verstanden.«

Niemand sagte etwas. Gyltha hatte sich einen Stuhl genommen und saß jetzt bei ihnen, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, die Hände an der Stirn.

Simon brach das Schweigen: »Ihr habt natürlich Recht.«

Gyltha blickte auf. »Damit hat er sie gelockt, natürlich. Aber ich hab von dem Zeug auch noch nie was gehört.«

»Könnte sein, dass ein arabischer Händler sie mitbringt«, sagte Simon. »Es sind Bonbons aus dem Osten. Wir suchen nach jemandem mit arabischen Verbindungen.«

»Vielleicht ein Kreuzritter, der gerne nascht«, sagte Mansur. »Kreuzfahrer haben sie mit nach Salerno gebracht, vielleicht hat sie auch einer mit hierher gebracht.«

»Das ist richtig«, sagte Simon, wieder ganz aufgeregt. »Das ist richtig. Unser Mörder war im Heiligen Land.«

Erneut dachte Adelia nicht an Sir Gervase oder Sir Joscelin, sondern an den Steuereintreiber, einen weiteren Kreuzritter.



Schafe sind wie Pferde, sie würden nie absichtlich auf jemanden treten, der am Boden liegt. Der Schäfer, den man den alten Walt nannte, hatte seine Herde zum Grasen auf den Wandlebury Hill gebracht, wie jeden Tag, und plötzlich sah er, wie sich in dem Meer aus Wolle eine Lücke auftat, als hätte ein unsichtbarer Prophet es geteilt. Als er die Stelle erreichte, wo die Tiere anscheinend einem Hindernis ausgewichen waren, hatte sich das Meer bereits wieder geschlossen.

Aber sein Hund hatte angefangen zu heulen.

Der Anblick der toten Kinder, alle drei mit einem merkwürdigen geflochtenen Zeichen auf der Brust, hatte den Verlauf eines Lebens zerrissen, in dem der einzige Feind schlechtes Wetter war oder auf vier Beinen kam und verjagt werden konnte.

Jetzt war der alte Walt dabei, es zu flicken. Er hatte die trockenen, zerfurchten Hände über dem Hirtenstab gefaltet, einen Sack über den gebeugten Kopf und die Schultern gelegt, und starrte mit tief liegenden Knopfaugen auf das Gras, wo die Kinder gelegen hatten, während er vor sich hin murmelte.

Ulf, der in der Nähe saß, sagte, der alte Mann bete zur Lieben Frau. »Damit sie die Stelle heil macht oder so.«

Adelia hatte sich in einigen Schritten Entfernung ein Sitzplätzchen im Gras gesucht, mit dem Aufpasser an ihrer Seite. Sie hatte versucht, dem Schäfer Fragen zu stellen, doch er hatte sie nicht gesehen, obwohl sein Blick über sie hinweggeglitten war. Sie hatte gesehen, dass er sie nicht sah, als wäre eine fremdländische Frau so weit außerhalb seiner Erfahrungswelt, dass sie für ihn unsichtbar war.

Somit blieb es Ulf überlassen, der wie der alte Walt aus den Sümpfen stammte und fest zu der Landschaft gehörte.

Und was für eine seltsame Landschaft. Zu ihrer Linken fiel das Gelände ab zum flachen Marschland und dem Meer aus Erlen und Weiden, das seine Geheimnisse bewahrte. Rechts von ihr, in der Ferne, lag die von Wald umgebene nackte Hügelspitze, auf dem sie, Simon, Mansur und Ulf drei Stunden lang die sonderbaren Vertiefungen im Boden in Augenschein genommen, unter Büsche gespäht und nach einem Versteck gesucht hatten, wo Morde geschehen waren – doch ohne Erfolg.

Leichter Nieselregen kam und ging, wenn Wolken die Sonne verdeckten und sie dann erneut scheinen ließen.

Das Wissen, dass irgendwo ganz in der Nähe ein Golgatha war, hatte die Geräusche der Natur verändert. Der Gesang von Grasmücken, Blätter, die im Regen bebten, der Wind, der einen alten Apfelbaum knarren ließ, das Schnaufen von Simon, dem Städter, wenn er strauchelte, der knirschende Laut, wenn die Schafe Gras ausrupften, über all das hatte sich für Adelia eine bedrückende Stille gelegt, in der noch immer ungehörte Schreie nachhallten.

Sie war froh gewesen, als sie weit weg den Schäfer sah, den Schäfer der Priorei – denn die Schafe gehörten zu St. Augustine –, und hatte den Vorwand genutzt, mit Ulf zu ihm zu gehen, während die beiden Männer weitersuchten.

Zum zehnten Mal ging sie die Gründe durch, die sie alle hierher geführt hatten. Die Kinder waren in einer Gegend mit kreidehaltigem Boden gestorben; daran bestand kein Zweifel.

Sie waren auf Schwemmsandboden gefunden worden – da unten auf einer schlammigen Schafweide, die an den Hügel grenzte. Und noch dazu waren sie genau an dem Morgen gefunden worden, nachdem Fremde den Hügel betreten hatten.

Also waren die Leichen in der Nacht aus ihren Gräbern in kreidehaltigem Boden weggeschafft worden. Und der nächste Ort mit kreidehaltigem Boden, der einzige, von dem sie in der Zeit hatten weggebracht werden können, war der Wandlebury Ring.

Sie blickte in die Richtung, blinzelte die Regentropfen des letzten Schauers weg und sah, dass Simon und Mansur verschwunden waren.

Wahrscheinlich suchten sie auf den tiefer liegenden, dunklen Pfaden unter überhängenden Bäumen, den Gräben, von denen der Hügel einmal umringt gewesen war.

Was waren das für Leute, die einst die Gräben zur Befestigung angelegt hatten, und zum Schutz wovor? Sie fragte sich auf einmal, ob das Blut der Kinder das einzige war, das dort vergossen worden war. Konnte ein Ort in sich böse sein und finstere Seelen anlocken wie die des Mörders?

Oder war Vesuvia Adelia Rachel Ortese Aguilar so abergläubisch wie ein alter Mann, der über einem Stück Gras Gebete murmelte?

»Spricht er nun mit uns oder nicht?«, zischte sie Ulf zu. »Er weiß doch bestimmt, ob es da oben irgendwo eine Höhle gibt. Irgendwas.«

»Der geht nich mehr auf den Berg«, zischte Ulf zurück. »Er sagt, der Leibhaftige tanzt nachts da oben. Die Mulden sind seine Fußabdrücke.«

»Er lässt aber seine Schafe da rauf.«

»Ist um diese Jahreszeit das meilenweit beste Weideland. Sein Hund ist bei ihnen. Der bellt, wenn sich eins verirrt.«

Ein schlauer Hund. Er hatte nur kurz die Lefzen gehoben und Aufpasser war vom Hügel gefegt, um in sicherer Entfernung auf sie zu warten.

Sie fragte sich, zu welcher Lieben Frau der Schäfer wohl betete. Zu Maria, der Mutter Jesu? Oder zu einer sehr viel älteren Mutter?

Die Kirche hatte es nicht geschafft, alle Götter der Erde zu verbannen. Für diesen alten Mann waren die Vertiefungen oben auf dem Hügel wahrscheinlich die Hufabdrücke eines Schreckens, der Tausende von Jahren älter war als der Satan der Christenheit.

Vor ihrem geistigen Auge erschien das Bild einer riesigen gehörnten Bestie, die auf den Kindern herumtrampelte. Dann wurde sie richtig böse auf sich selbst – was war nur los mit ihr?

Außerdem wurde sie immer nasser und fror. »Frag ihn, ob er den Leibhaftigen wirklich da oben gesehen hat.«

Ulf stellte die Frage mit leiser Singsangstimme, so dass sie kein Wort verstand. Der alte Mann erwiderte im gleichen Tonfall.

»Er geht da nich mehr hin, sagt er. Und das würd ich auch nich. Aber er hat nachts da oben Feuer gesehen …«

»Was für Feuer?«

»Lichter. Teufelsfeuer, meint Walt. Um das er drum rum tanzt.«

»Was genau für ein Feuer? Wann? Wo?«

Doch die raschen Fragen hatten den Frieden gestört, den der Schäfer gerade mit dem Geist des Ortes schloss. Ulf gebot ihr mit einem Finger zu schweigen, und Adelia überließ sich wieder ihren Gedanken an das Spirituelle, das Gute und das Böse. Heute auf dem Hügel war sie froh gewesen, dass sie unter ihrem Gewand wie immer das kleine Holzkruzifix trug, das Margaret ihr geschenkt hatte, obwohl sie es eigentlich nur für Margaret trug.

Nicht dass sie irgendetwas gegen den Glauben des Neuen Testamentes hatte. Für sich allein genommen war es gewiss eine Religion der Sanftheit und des Mitgefühls. Ja, als sie neben ihrer sterbenden Amme auf den Knien lag, hatte sie Margarets Jesus angefleht, die gute Frau zu retten. Er hatte es nicht getan, aber Adelia verzieh es ihm. Margarets liebevolles altes Herz war schon zu müde gewesen, um weiter zu schlagen – und so war das Ende wenigstens friedlich gewesen.

Nein, was Adelia störte, war, dass die Kirche Gott als engstirnigen, dummen, geldgierigen, rückschrittlichen, vorsintflutlichen Tyrannen darstellte, der einerseits eine ungeheuer mannigfaltige Welt erschaffen, andererseits aber die Erforschung ihrer Vielschichtigkeit verboten hatte und Sein Volk somit zu hilfloser Ignoranz verdammte.

Und die Lügen. Als sie mit sieben Jahren im Konvent San Giorgio Lesen und Schreiben lernte, hatte Adelia alles geglaubt, was die Nonnen und die Bibel ihr erzählten – bis Mutter Ambrosia das mit den Rippen erwähnte …

Der Schäfer war mit Beten fertig und sprach jetzt mit Ulf. »Was sagt er?«

»Er sagt was über die toten Kinder, was der Teufel mit ihnen gemacht hat.«

Ihr fiel auf, dass der alte Walt mit Ulf wie mit seinesgleichen sprach. Vielleicht, so dachte Adelia, fiel der Altersunterschied zwischen ihnen ja nicht ins Gewicht, weil Ulf des Lesens mächtig war, was ihn für den Schäfer auf eine andere Stufe hob.

»Was sagt er jetzt?«

»Er sagt, so was hätte er nich mehr gesehen gehabt, seit der Leibhaftige das letzte Mal hier war und das Gleiche mit ein paar Schafen gemacht hat.«

»Ach so.« Ein Wolf oder so.

»Er sagt, er hatte gehofft, den Burschen nie wieder zu sehen, aber er ist doch wiedergekommen.«

Was der Leibhaftige mit den Schafen gemacht hat. Eindringlich fragte Adelia: »Was hat er gemacht?« Und dann fragte sie: »Was für Schafe? Wann?«

Ulf stellte die Frage und erhielt die Antwort: »Im Jahr von dem großen Sturm war das.«

»Verflixt noch mal. Ach, egal. Wo hat er die Kadaver hingeschafft?«



Zuerst nahmen Adelia und Ulf Äste als Spaten, doch der Kreideboden war zu krümelig, um sich in größeren Brocken herausheben zu lassen, weshalb sie schließlich mit den Händen weitergraben mussten. »Wonach suchen wir eigentlich?«, hatte Ulf gefragt, durchaus zu Recht.

»Nach Knochen, Junge, Knochen. Irgendwer, kein Fuchs, kein Wolf, kein Hund … irgendwer hat die Schafe angegriffen, das hat er gesagt.«

»Der Leibhaftige, hat er gesagt.«

»Es gibt keinen Leibhaftigen. Die Wunden waren ähnlich, hat er das nicht gesagt?«

Ulfs Gesicht wurde stumpf, ein Zeichen – sie kannte ihn inzwischen schon ganz gut –, dass es ihn sehr mitgenommen hatte, was der Schäfer ihm über die Wunden erzählt hatte.

Und vielleicht hätte er es auch besser gar nicht hören sollen, dachte sie, aber dafür war es jetzt zu spät. »Grab weiter. In welchem Jahr war der große Sturm?«

»In dem Jahr, als der Glockenturm von St. Ethel runtergefallen ist.«

Adelia seufzte. In Ulfs Welt vergingen die Jahreszeiten ungezählt, Geburtstage blieben unbeachtet, nur ungewöhnliche Ereignisse markierten das Vergehen der Zeit. »Wie lange ist das her?« Sie fügte als Hilfe hinzu: »Wie viele Weihnachten?«

»Das war nich an Weihnachten, es war so um Ostern.« Doch der Ausdruck in Adelias kreideverschmiertem Gesicht ließ ihn nachdenken. »Sechs, sieben Weihnachten.«

»Grab weiter.«

Es war also sechs, sieben Jahre her.

Damals hatte es auf dem Wandlebury Ring einen Schafstall gegeben. Der alte Walt sagte, er habe die Herde nachts darin eingesperrt. Aber nicht mehr seit dem Morgen, an dem er gesehen hatte, dass die Stalltür aufgerissen worden war und im Gras drum herum niedergemetzelte Tiere lagen.

Als Prior Geoffrey davon erfuhr, hatte er die Überzeugung des Schäfers, dass es sich um Teufelswerk handelte, nicht so recht geteilt. Wohl eher ein Wolf, hatte Prior Geoffrey gesagt, und Jäger losgeschickt.

Aber Walt wusste, dass es kein Wolf gewesen war. Wölfe taten so etwas nicht, nicht das. Er hatte am Fuß des Hügels, in einiger Entfernung vom Weideland, eine Grube ausgehoben und die toten Tiere nacheinander hinuntergetragen, um sie dort »ehrfurchtsvoll zu bestatten«, wie er Ulf erklärte.

Wie gequält musste eine Menschenseele sein, um wie verrückt mit dem Messer auf ein Schaf einzustechen?

Nur eine Seele. Bitte, Gott, nur eine.

»Da ist was.« Ulf war auf einen länglichen Schädelknochen gestoßen.

»Gut gemacht.« Auch auf ihrer Seite des Lochs, das sie inzwischen gegraben hatten, stießen Adelias Finger auf Knochen. »Wir müssen die hinteren Viertel finden.«

Der alte Walt hatte es ihnen leicht gemacht. In der Absicht, den Geistern seiner Schafe Frieden zu schenken, hatte er die Kadaver säuberlich aufgereiht, wie tote Soldaten auf einem Schlachtfeld.

Adelia zog eines der Skelette heraus, setzte sich hin, legte das Schwanzende über ihre Knie und wischte die Kreide ab. Sie musste das Ende eines weiteren Regenschauers abwarten, bis das Licht hell genug war und sie ihren Fund inspizieren konnte. Schließlich war es so weit.

Leise sagte sie: »Ulf, hol Master Simon und Mansur.«

Die Knochen waren sauber, und es klebte keine Wolle mehr daran, denn die Tiere lagen schon lange Zeit hier. An den Stellen, wo bei einem Schwein – dem einzigen Tierskelett, mit dem sie sich auskannte – das Becken und das Schambein wären, entdeckte sie furchtbare Beschädigungen. Der alte Walt hatte Recht gehabt. Das waren keine Gebissabdrücke. Das waren Stichwunden.

Als der Junge weg war, nahm sie ihre Tasche, löste das Zugband, holte die kleine Schiefertafel heraus, die sie immer bei sich trug, und begann zu zeichnen.

Die Furchen in diesen Knochen waren die gleichen wie die, die den Kindern beigebracht worden waren, vielleicht nicht mit demselben Messer, aber einem ganz ähnlichen, grob facettiert, wie bei einem flachen Stück Holz, das angespitzt wurde.

Was war das bloß für eine Höllenwaffe? Bestimmt kein Holz. Keine Stahlklinge, nicht unbedingt Eisen, dafür waren die Furchen zu uneben. Aber auf jeden Fall scharf, furchtbar scharf – die Wirbelsäule des Tieres war durchtrennt worden.

Hatte der Mörder seine grässliche sexuelle Wut zuerst an diesen Tieren ausgelassen? An wehrlosen Geschöpfen? Er nahm stets die Wehrlosen.

Aber wieso die Unterbrechung von sechs, sieben Jahren, bis er im letzten Jahr erneut zuschlug? Derartige zwanghafte Triebe ließen sich doch bestimmt nicht so lange unterdrücken. Vermutlich war das auch nicht der Fall gewesen; weitere Tiere waren anderswo getötet worden, und man hatte einen Wolf dafür verantwortlich gemacht. Wann hatten Tiere ihm nicht mehr genügt? Wann war er zu Kindern übergegangen? War der Kleine St. Peter sein erstes Opfer?

Er hat die Gegend verlassen, dachte sie. Ein Schakal ist und bleibt ein Schakal. Es hat andere Tote an anderen Orten gegeben, aber auf dem Hügel da oben mordet er nach wie vor am liebsten. Tanzt er auch dort? Er war weg, und jetzt ist er zurückgekommen.

Adelia drehte ihre Tafel zum Schutz vor dem wieder einsetzenden Regen um und legte den Knochen beiseite. Dann streckte sie sich auf dem Bauch aus, streckte die Hand in die Grube und suchte nach weiteren Knochen.

Irgendwer wünschte ihr einen guten Morgen.

Er ist zurückgekommen.

Einen Augenblick lang rührte sie sich nicht, dann rollte sie sich halb auf den Rücken, unbeholfen und wehrlos, die Hände auf den Knochen in der Grube hinter ihr, um zu verhindern, dass sie mit dem Oberkörper darauffiel.

»Sprecht Ihr wieder mit Knochen?«, fragte der Steuereintreiber interessiert. »Was sagen die hier? Bäh?«

Adelia bemerkte, dass ihr Rock hochgerutscht war und eine beträchtliche Menge nacktes Bein zeigte, doch so, wie sie dalag, war sie außerstande, ihn herunterzuziehen.

Sir Rowley beugte sich zu ihr hinunter, schob die Hände unter ihre Achseln und hob sie auf die Beine wie eine Puppe. »Ein weiblicher Lazarus aus dem Grabe«, sagte er, »inklusive Grabesstaub.«

Er fing an, sie abzuklopfen, und eine Wolke säuerlich riechende Kreide stieg auf.

Sie stieß seine Hand weg, jetzt ohne Furcht, aber wütend, sehr wütend. »Was macht Ihr hier?«

»Spazieren gehen, für meine Gesundheit, Doktor. Müsste doch in Eurem Sinne sein.«

Er strotzte vor Gesundheit und guter Laune. Er war das Auffälligste in dieser grauen Landschaft, rote Wangen und roter Umhang. Er sah aus wie ein gigantisches Rotkehlchen. Er nahm seine Mütze für eine schwungvolle Verbeugung ab und hob mit derselben Bewegung zugleich ihre Tafel auf. Mit sichtlicher Ungeübtheit klappte er sie auf und warf einen Blick auf die Zeichnungen.

Schlagartig wurde er ernst. Er bückte sich und starrte auf das Skelett. Langsam richtete er sich wieder auf. »Wann ist das passiert?«

»Vor sechs oder sieben Jahren«, sagte sie.

Sie dachte: Warst du das? Lauert Wahnsinn hinter deinen unbekümmerten blauen Augen?

»Dann hat er also mit Schafen angefangen«, sagte er.

»Ja.« Ein rascher Verstand? Oder Verschlagenheit, weil er wusste, dass sie sich das schon gedacht hatte?

Seine Mundpartie verhärtete sich. Jetzt stand ein anderer, wesentlich weniger gut gelaunter Mann vor ihr. Er schien dünner geworden zu sein.

Der Regen wurde stärker. Keine Spur von Simon oder Mansur.

Plötzlich packte er sie am Arm und zog sie mit sich. Aufpasser, der mit keinem Laut vor dem Mann gewarnt hatte, sprang fröhlich hinterdrein. Adelia wusste, dass sie eigentlich Angst haben müsste, doch sie empfand lediglich Empörung.

Sie blieben unter einer schützenden Buche stehen, wo Picot sie schüttelte. »Warum seid Ihr mir jedes Mal voraus? Wer seid Ihr, Frau?«

Sie war Vesuvia Adelia Rachel Ortese Aguilar, und sie wurde grob behandelt. »Ich bin eine Ärztin aus Salerno. Zeigt mir gefälligst Respekt.«

Er blickte auf seine massigen Hände, die ihre Arme umklammert hielten, und ließ sie los. »Bitte verzeiht, Doktor.« Er bemühte sich um ein Lächeln. »Das reicht wohl nicht, oder?« Er nahm seinen Umhang ab, breitete ihn sorgsam unter dem Baum aus und bat sie, sich zu setzen. Sie kam der Bitte dankbar nach, weil ihre Beine noch immer zitterten.

Er setzte sich neben sie und begann, sich zu erklären. »Nun, Ihr müsst wissen, dass ich ein besonderes Interesse daran habe, den Mörder aufzuspüren, doch jedes Mal, wenn ich einem Faden folge, der mich in die Tiefe seines Labyrinths führt, finde ich nicht den Minotaurus, sondern Ariadne.«

Und Ariadne findet dich, dachte sie. Sie sagte: »Darf ich fragen, was für ein Faden Euch heute hierher geführt hat?«

Aufpasser hob ein Bein an dem Baumstamm und ließ sich dann auf einer Ecke des Umhangs nieder.

»Ach so«, sagte Sir Rowley, »das ist leicht erklärt. Ihr hattet mich doch neulich in der Einsiedlerhütte dafür eingespannt, alles aufzuschreiben, was Ihr bei der Untersuchung der armen Knochen festgestellt habt, unter anderem, dass sie aus kreidehaltiger Erde auf Schwemmsandboden gebracht worden waren. Ich habe kurz überlegt und konnte mir sogar ausrechnen, wann sie dorthin geschafft wurden.« Er blickte sie an. »Ich vermute, Eure Männer suchen gerade den Hügel ab?«

Sie nickte.

»Sie werden nichts finden. Ich weiß das, weil ich in den letzten zwei Tagen da oben jeden Stein umgedreht habe, und glaubt mir, Doktor, es ist dort alles andere als angenehm, wenn die Nacht hereinbricht.«

Er schlug mit der Faust auf das Stück Umhang zwischen ihnen, so dass Adelia erschrak und Aufpasser den Kopf hob. »Aber er ist da oben irgendwo, verdammt. Der Hinweis zum Minotaurus führt dorthin. Diese armen Kleinen haben uns das verraten.« Er blickte seine Hand an, als hätte er sie nie zuvor gesehen, öffnete die Faust. »Also habe ich mich beim Lord Sheriff empfohlen und bin hergeritten, um mich noch einmal umzuschauen. Und was finde ich? Madam Doktor, die wieder irgendwelchen Knochen lauscht. So, jetzt wisst Ihr alles.«

Er war wieder ganz vergnügt.

Es hatte heftiger geregnet, während er sprach, doch jetzt kam die Sonne wieder heraus. Er ist wie das Wetter, dachte Adelia. Und ich weiß noch nicht alles.

Sie sagte: »Mögt Ihr Jujuben?«

»Bin ganz wild darauf, Madam. Wieso? Wollt Ihr mir eine anbieten?«

»Nein.«

»Oh.« Er kniff die Augen zusammen und blickte sie an wie jemanden, dessen Verstand nicht weiter verwirrt werden sollte, dann sagte er langsam und freundlich: »Vielleicht erzählt Ihr mir, wer Euch und Eure Begleiter hergeschickt hat, um diese Untersuchung durchzuführen?«

»Der König von Sizilien«, erwiderte sie.

Er nickte bedächtig. »Der König von Sizilien.«

Sie musste lachen. Sie hätte auch sagen können, die Königin von Saba oder König Gernegroß; er konnte die Wahrheit nicht erkennen, weil er nicht daran gewöhnt war. Er hält mich für verrückt.

Während sie lachte, schickte die Sonne ihr Licht durch das junge Buchenlaub, und es fiel auf sie wie ein Schauer frisch geprägter Kupferpennys.

Seine Miene veränderte sich so, dass ihr das Lachen verging, und sie wandte den Blick ab.

»Fahrt nach Hause«, sagte er. »Fahrt zurück nach Salerno.« Jetzt sah sie Ulf mit Simon und Mansur aus Richtung der Schafgrube auf sie zukommen.

Der Steuereintreiber war wieder die Vernunft in Person. Guten Tag, guten Tag, meine Herren. Er hatte der guten Ärztin bei der Untersuchung der armen Kinder assistiert … Er vermutete, genau wie sie, dass der Hügel der Schauplatz der … Er hatte das Gelände abgesucht, aber nichts gefunden … Vielleicht sollten sie sich, alle vier, darüber austauschen, was sie wussten, um den Unhold seiner gerechten Strafe zuzuführen …

Adelia trat zu Ulf, der etwas abseits stand und sich seine Mütze gegen das Bein schlug, um die Regentropfen abzuschütteln. Er deutete mit einer Handbewegung auf den Steuereintreiber. »Den kann ich nich leiden.«

»Ich auch nicht«, sagte Adelia, »aber der Aufpasser offenbar.« Geistesabwesend – und sie dachte, dass er das später bestimmt bereuen würde – streichelte Sir Rowley dem Hund den Kopf, der sich an sein Knie schmiegte.

Ulf knurrte angewidert. Dann sagte er: »Du denkst, die Schafe wurden von demselben Kerl abgemurkst, der auch Harold und die anderen umgebracht hat?«

»Ja«, sagte sie. »Es wurde eine ähnliche Waffe benutzt.«

Ulf dachte darüber nach. »Wo der wohl in der Zwischenzeit getötet hat?«

Es war eine intelligente Frage. Adelia hatte sie sich selbst sogleich gestellt. Der Steuereintreiber hätte die Frage ebenfalls stellen müssen. Und hatte es nicht getan.

Weil er die Antwort kennt, dachte sie.



Auf der Fahrt im Karren zurück in die Stadt, wie gute Arzneiverkäufer, die Kräuter sammeln waren, brachte Simon aus Neapel seine Zufriedenheit darüber zum Ausdruck, dass sie sich mit Sir Roland Picot, genannt Rowley, zusammengetan hatten. »Ein flinker Kopf, trotz seiner Leibesfülle, erstaunlich flink. Er fand es überaus interessant, welche Bedeutung wir der Tatsache beimessen, dass der Leichnam des Kleinen St. Peter auf Chaims Wiese gefunden wurde, und da er Zugang zu den Büchern des County hat, will er mir dabei helfen herauszufinden, welche Männer bei Chaim Schulden hatten. Außerdem werden er und Mansur nachfragen, welche arabischen Handelsschiffe Jujuben liefern.«

»Zum Donnerwetter«, sagte Adelia, »habt Ihr ihm denn alles erzählt?«

»So gut wie.« Er schmunzelte über ihren Zorn. »Mein lieber Doktor, wenn er der Mörder ist, dann weiß er bereits alles.«

»Wenn er der Mörder ist, dann weiß er, dass wir ihm auf der Spur sind. Er weiß genug, um uns loswerden zu wollen. Er hat mir gesagt, ich soll zurück nach Salerno fahren.«

»Ja, richtig. Er ist besorgt um Euch. ›Das ist viel zu gefährlich für eine Frau‹, hat er zu mir gesagt. ›Wollt Ihr etwa, dass sie im Bett ermordet wird?‹«

Simon zwinkerte ihr zu. Er war guter Dinge. »Wieso werden wir eigentlich immer im Bett ermordet, frage ich mich. Wir werden nie beim Frühstück ermordet. Oder in der Badewanne.«

»Ach, hört auf. Ich traue dem Mann nicht.«

»Ich schon, und ich habe allerhand Erfahrung mit Männern.« »Er verwirrt mich.«

Simon zwinkerte Mansur zu. »Und allerhand Erfahrung mit Frauen. Ich glaube, er gefällt ihr.«

Wütend sagte Adelia: »Hat er Euch erzählt, dass er Kreuzritter war?«

»Nein.« Er blickte sie an, jetzt ernst. »Nein, das hat er mir nicht erzählt.«

»War er aber.«