Hair

 

 

Simson war der erste und letzte Hippie unter den Kindern Israels. Auch er endete, wie man weiß, bei einem gründlichen Haarschnitt. Im folgenden wird der Nachweis versucht, warum im Land unserer Väter kein Platz für lange Haare ist.

 

Der Friseurladen, in dem ich Stammkunde bin, zählt vielleicht nicht zu den luxuriösesten im Küstengebiet des Mittelmeeres, aber er hat alles, was man für einen erfolgreichen Haarschnitt braucht: drei Sessel, drei Waschbecken und ein kleines Glöckchen, welches klingelt, wenn man die Türe öffnet. Als ich dieses Glöckchen das erste Mal zum Klingeln brachte, empfing mich ein ältlicher Haarkünstler mit 98-prozentiger Glatze, deutete auf einen der drei leeren Sessel und sagte:

»Bitte sehr.«

Ich gab mich in seine Hände, nicht ohne ihm mitzuteilen, daß ich keinen richtigen Haarschnitt wünschte, sondern lediglich »Façon«, da ich mein Haar lang und seidig zu tragen liebe. Das nahm er mit verständnisvollem Nicken zur Kenntnis.

Fünfzehn Minuten später sah ich aus wie ein Rekrut am Beginn der Ausbildung. Die Füße des kahlen Figaro versanken bis zu den Knöcheln in meinen massakrierten Locken, und sein Gesicht strahlte vor Befriedigung über die geleistete Arbeit. Er ließ mich wissen, daß er nicht der Chef sei, strich das Trinkgeld ein und öffnete mir die Türe. Ich hegte keinen wirklichen Groll gegen ihn. Es war klar, daß er unter einem unwiderstehlichen psychologischen Zwang gehandelt hatte. Er hieß, auch das war klar, Grienspan.

Ungefähr zwei Monate später, als ich mein menschliches

Aussehen halbwegs zurückgewonnen hatte, kam ich wieder. Grienspan war mit einem anderen Kunden beschäftigt, aber sein neben ihm stehender Kollege, ein dürrer Mann mit dicken Brillengläsern, deutete auf einen leeren Sessel und sagte:

»Bitte sehr.«

Ich war entschlossen, mich auf keine Experimente einzulassen und dem kahlköpfigen Grienspan treu zu bleiben. Da ich mit seinen Komplexen bereits vertraut war, konnte ich sie diesmal vielleicht neutralisieren.

»Vielen Dank«, beschied ich den Dürren, indem ich mich niederließ. »Ich warte auf Ihren Freund.«

Daraufhin stopfte mir der Dürre einen Frisierumhang in den Kragen und griff zur Schere.

Ich wiederholte, daß ich auf seinen Freund warten wollte.

»Jawohl«, nickte er und grinste sein freundlichstes Grinsen. »Jawohl, okay.«

»Er ist erst vorige Woche eingewandert«, erläuterte Grienspan. »Er spricht noch nicht hebräisch.«

Mein Widerstand war im Augenblick gebrochen. Hier ging es darum, einem neuen Bürger des Landes die Wege zu ebnen, hier ging es um Schmelztiegel und Heimatgefühl, und ich wäre der letzte, der einen strebsamen Handwerker darunter leiden lassen wollte, daß er noch mit Sprachschwierigkeiten zu kämpfen hatte. Ich überließ mich also dem Einwanderer und versuchte ihm unter Aufbietung meiner gesamtrumänischen Sprachkenntnisse klarzumachen, daß ich mein Haar, weil es sehr schön ist, lieber lang trage als kurz. Hier, so bedeutete ich ihm mit unmißverständlichen Gebärden, sollte er nur eine Kleinigkeit wegschnipseln, hier eine noch kleinere, und hier überhaupt nichts. Dabei sprach ich so langsam, wie jemand, der nicht rumänisch kann, rumänisch spricht.

Der Immigrant hörte mir aufmerksam zu, denn er kam aus Polen. Infolge dieses geographischen Irrtums verwandelte er mich in einen stoppelhaarigen Matrosen, verpaßte er mir eine völlig überflüssige Shampoo-Massage und entleerte eine halbe Flasche Kölnischwasser auf mich. Von einem Normalfriseur hätte ich mir so etwas nie gefallen lassen. Aber Taddeusz, wie gesagt, war erst seit einer Woche im Lande und hätte jede Mißfallensäußerung von meiner Seite mit Recht als feindseliges, unjüdisches Verhalten empfunden.

Die dritte Runde, abermals einige Wochen später, startete verheißungsvoll. Als ich eintrat, war der Neueinwanderer damit beschäftigt, die Barthaare eines anonymen Patriarchen zu stutzen, während Grienspan, der verläßliche Glatzkopf, vollkommen frei danebenstand. Schon hatte ich mich in seinen Sessel gesetzt, als Grienspan sich unvermittelt seines weißen Kittels entledigte und »Schluß für heute« sagte. Er wurde, wie ich im Spiegel sah, durch einen mir bisher unbekannten Dritten ersetzt, einen jungen Orientalen, der auf den Namen Schabbataj hörte.

»Was ist gefällig?« fragte er in gutturalem Hebräisch. »Ein Haarschnitt, der Herr?«

Ich befand mich in einer zwiespältigen Lage. Eigentlich hätte ich den Einwanderer Taddeusz vorgezogen, der sich ja schon als schweigsamer Handwerker bewährt hatte, und Schweigsamkeit ist eine von mir sehr geschätzte Eigenschaft. Andererseits hätte mein Beharren auf seine Dienste sehr leicht als Vorurteil gegen die orientalische Bevölkerungsgruppe unseres Landes wirken können, und nichts lag mir ferner. Grienspan, den ich in der Hoffnung auf einen Vermittlungsvorschlag flehend ansah, vertiefte sich in die Lektüre der Abendzeitung. Ich war allein auf mich gestellt.

»Ich trage mein Haar eher lang«, informierte ich Schabbataj. »Tun Sie Ihr Bestes.«

»In Ordnung, Boss, ich verstehe, Ihr Wunsch ist mir Befehl«, sprudelte Schabbataj, und sein Redefluß versiegte auch während der Behandlung nicht. Doch siehe da: nachdem ich über seinen Lebenslauf und über die wichtigsten Phasen der Geschichte Marokkos unterrichtet war, hatte er mehr Haar auf meinem Haupt gelassen als irgendeiner seiner Vorgänger in den letzten Jahren. Es war, alles in allem, eine angenehme Überraschung.

Anfang April kam ich wieder und fand mich einer Situation ausgesetzt, die ich sofort als höchst gefährlich durchschaute: Grienspan war intensiv mit der Lockenpracht eines jugendlichen Avantgardisten beschäftigt, und ebenso intensiv lagen Taddeusz und Schabbataj auf Auslug nach einem Opfer. Tatsächlich deuteten sie beide gleichzeitig auf ihre leeren Sessel und ließen im Duett ihr »Bitte sehr« hören.

Mit einem derart gordischen Knoten hatte ich es noch nie im Leben zu tun gehabt. Vom humanistischen Standpunkt aus gab es hier überhaupt keine Lösung. Wen immer ich wählte – dem andern bliebe nichts übrig als der Selbstmord.

Nun, einer von beiden mußte es sein, oder eigentlich werden.

Es wurde Schabbataj.

Kaum saß ich in seinem Sessel, als ich meine Wahl auch schon bitter bereute. Taddeusz krümmte sich wie unter der Einwirkung eines elektrischen Schocks, obwohl er vermutlich gar nicht wußte, was das war. Mit kleinen, schlurfenden Schritten zog er sich in den Hintergrund des Gewölbes zurück, von wo alsbald ein leises Schluchzen erklang. Ich tat, als hörte ich nichts. Aber vor meinen geschlossenen Augen erstand die Vision von der Heimkehr des Taddeusz, und es umringten ihn seine Kinder und fragten:

»Papo, dlazsego plączesz?«

Und aber es antwortete ihnen Taddeusz:

»Er hat den andern gewählt…«

Im übrigen schien auch Schabbataj unter der von mir so brutal herbeigeführten Entscheidung zu leiden. Er schnitt mein Haar, wie Taddeusz es geschnitten hätte: stoppelkurz.

Diesen tragischen Zwischenfall galt es möglichst bald wieder gutzumachen. Möglichst bald war allerdings sehr lange, weil ich warten mußte, bis mein Haar nachgewachsen war, damit ich Taddeusz für die ausgestandene Unbill entschädigen könnte.

Als ich den Zeitpunkt endlich gekommen sah, machte ich mich auf den Weg. Mein Schlachtplan war wohlberechnet. Ich ging so lange vor dem Laden auf und ab, bis ich sicher sein konnte, daß Taddeusz als einziger frei war. In diesem Augenblick stürzte ich hinein und direkt auf den Sessel des Einwanderers zu – aber ein bärtiger Gnom, den ich von außen unmöglich hatte sehen können, kam mir zuvor und schnappte mir den Polen weg.

Schabbataj schärfte sein Rasiermesser an dem hierfür bestimmten Lederriemen mit grausamer Langsamkeit und behielt mich dabei ständig im Auge. Nicht so Taddeusz, der meinen Blicken auswich, als fürchtete er eine neuerliche Erniedrigung. Grienspan tat, als ginge ihn das alles nichts an.

So saß ich auf der Wartebank, mit angehaltenem Atem und angespanntem Nervensystem. Wer würde als erster fertig sein, Schabbataj oder Taddeusz? Sollte Schabbataj mich gewinnen, so wäre es das Ende meines eingewanderten Bruders aus Polen, daran gab es keinen Zweifel. Angeblich lebte im Katharinen-Kloster auf dem Berge Sinai ein Mönch, der früher einmal ein erfolgreicher Friseur auf der Dizengoff-Straße gewesen war…

Um Haaresbreite – und das ist in diesem Fall wörtlich zu verstehen – kam Marokko zuerst ans Ziel. Dem Gnom in Taddeusz’ Sessel fehlte noch die Beseitigung einiger Flaumhaare zum Ende der Prozedur, als Schabbataj seine Kundschaft abzubürsten begann. Dann wandte er sich zu mir und deutete auf den leeren Sessel:

»Bitte sehr.«

Ich nahm alle meine Kraft zusammen:

»Danke«, sagte ich. »Ich warte auf Ihren Kollegen.«

Auf dem Antlitz des ehemaligen Polen erschien ein leuchtendes, glückseliges Lächeln. Schabbataj taumelte und mußte sich an seinem Sessel festhalten.

»Aber warum…« flüsterte er mit ersterbender Stimme. »Ich bin doch fertig… was habe ich Ihnen getan… warum…«

In diesem Augenblick entließ Taddeusz seinen Gnom, staubte ihn ab und geleitete ihn hinaus. Wir waren allein.

Noch nie zuvor hatte ich so klar erkannt, daß der Mensch ein Spielball in der Hand des Schicksals ist. Es erschien mir durchaus vorstellbar, daß dies alles mit Mord und Totschlag enden könnte, ohne irgend jemandes Verschulden, ganz wie in der griechischen Tragödie. Unerträgliche Spannung lag im Raum. Die Lippen des Neueinwanderers bewegten sich in lautlosen Konvulsionen. Auch seine Nase bebte. Täte ich jetzt nur den kleinsten Schritt zu Schabbataj hin – kein Zweifel: Taddeusz würde zusammenbrechen.

Schabbataj hielt seine brennenden orientalischen Augen regungslos auf mich gerichtet. Das Rasiermesser zitterte in seiner Hand.

Grienspan hatte uns den Rücken gekehrt und zählte den Inhalt der Kassa, aber seine Gleichgültigkeit war nur gespielt: plötzlich wandte er sich um und streifte mich mit einem waidwunden Blick, ehe er die Tätigkeit des scheinbaren Geldzählens wieder aufnahm. Er liebte mich und wollte es bloß nicht allzu deutlich zeigen.

»Bitte«, sagte ich mit heiserer Stimme, »entscheiden Sie selbst. Ich kann nicht…«

Niemand rührte sich. Drei Augenpaare starrten mich an, und jedes von ihnen schien zu sagen:

»Nimm mich… mich mußt du nehmen…«

Vielleicht ließ sich ein Kompromiß finden, vielleicht könnten die drei mir abwechselnd die Haare schneiden, oder wir spielen Russisches Roulette, einer gewinnt und die beiden anderen erschießen sich… wenn nur diese gräßliche, grauenhafte Stille nicht länger anhält…

Zwanzig Minuten mochten vergangen sein, oder auch eine halbe Stunde. Taddeusz weinte.

»Also«, flüsterte ich. »Könnt ihr euch nicht entscheiden?«

»Uns ist es gleichgültig, Herr«, stieß Schabbataj hervor. »Sie haben zu wählen…«

Und die drei Augenpaare starrten mich weiter an.

Ich trat vor den Spiegel und fuhr mit der Hand durch mein schlohweißes Haar. In dieser halben Stunde war ich um Jahre gealtert. Und eine Lösung war noch immer nicht abzusehen.

Ohne ein Wort zu äußern, verließ ich den Laden. Ich habe ihn seither nie wieder aufgesucht. Ich lasse mein Haar wachsen, lang, länger, im Hippie-Stil.

Wäre es möglich, daß dieser Stil in einem Friseurladen mit drei Friseuren geboren wurde?