Ich rufe noch einmal an

 

 

Die hebräische Telefonistin ist in der Regel ein stämmiges Sabra-Mädchen mit Basiliskenblick und drei Armen. Sie trägt dunkle Pullover, hustet am Morgen und haßt mich. Gegen Mittag spitzt sich die Situation so heftig zu, daß es beinahe zu Verbalinjurien kommt. Vermittlungsversuche enden mit einem Fiasko, als hätten die Vereinten Nationen interveniert. Mit knapper Not einigen sich beide Seiten auf Feuereinstellung und eine Waffenstillstandslinie.

 

Die Kampfhandlungenbeginnen, sobald ich eine Nummer wähle. Auf der andern Seite der Barrikade, am Schaltbrett eines Apartmenthauses, hebt die Telefonistin den Hörer ab und sagt:

»…«

Sie sagt, anders ausgedrückt, nichts. Sie hebt nur ab. Sie erzeugt Stille, hörbare, laute, trommelfellzerreißende Stille. Bestenfalls vernimmt man irgendwo im Hintergrund ganz leise die Stimme des Transportunternehmers Silbermann, der einen seiner Geschäftspartner beschwört, um Himmels willen auf die neue Adresse zu achten, nicht so wie letzte Woche, als eine dringend erwartete Lieferung…

An dieser Stelle fahre ich dazwischen und rufe:

»Hallo! Hallo!«

Die Telefonistin empfängt meine Stimme, tut jedoch nichts dergleichen, sondern deponiert sie in der Tiefkühlanlage, voll Hoffnung, daß ich aus einem Münzfernsprecher spräche, also nicht willens wäre, ganz einfach abzuhängen und solcherart die Fernsprechmünzen zu opfern. Im Eigenheim ist das natürlich anders. Da kann man sich frei bewegen, kann die hebräische Stille sich selbst überlassen, kann in die Küche gehen, ein Sandwich zurechtmachen, eine Flasche Bier öffnen und zum Telefon zurückkehren, gerüstet für eine lange Belagerung.

»Hallo«, sage ich nach neuerlichem Abheben des Hörers, und wiederhole, mein Sandwich kauend: »Hallo.«

Jetzt kann es geschehen, daß eine Antwort kommt. Der elementare Haß der Telefonistin hat ja im Grunde nichts Persönliches an sich. Es ist ein ganz allgemeiner, ein kollektiver Haß. Er richtet sich gegen die gesamte Umwelt, die mit allen erdenklichen Tücken und Listen versucht, bis zum Schaltbrett vorzustoßen.

Einen persönlichen Anstrich bekommt die Sache erst, wenn die Telefonistin sich meldet:

»72 95 56, guten Morgen.«

Namen oder Adressen werden prinzipiell nicht genannt. Sie gehören zu jenen Geheimnissen, die nur einem erwählten Kreis von Intimen offenstehen. Wer diesem Kreis nicht angehört, wird mit der Nummer abgespeist.

Immerhin – die Verbindung ist hergestellt.

»Hallo«, sage ich nochmals. »Kann ich mit Herrn Zerkowitz sprechen?«

»Mit wem?!«

Sicherheitshalber werfe ich einen raschen Blick auf den Zettel, wo ich die Nummer notiert habe: ja, es stimmt, 72 95 56.

»Mit Herrn Zerkowitz.«

»Augenblick.«

Das dumpfe Knacken herausgezogener und hineingesteckter Stöpsel wird hörbar und verstummt alsbald. Wieder kehrt majestätische Stille ein.

Gibt es überhaupt einen Herrn Zerkowitz? Und wenn ja, hat er überhaupt ein Telefon? Und wenn er eins hat, ist es diese Nummer?

Nichts. Kein Laut. So muß den Astronauten hinter der dunklen Seite des Mondes zumute gewesen sein. Vollkommen abgeschnitten von aller Welt.

Ab und zu rufe ich ein hoffnungsloses »Hallo« in den Hörer, ab und zu beklopfe ich ihn und versuche ihm Leben einzublasen. Nichts.

Nach ungefähr fünfzehn Minuten finde ich mich damit ab, daß dies die Antwort ist: nichts. Denn keine Antwort ist bekanntlich auch eine Antwort. Und die habe ich jetzt bekommen. Ich lege auf.

Da ich aber unbedingt mit Zerkowitz sprechen muß, um die Telefonnummer seines Schwagers zu erfahren, hebe ich nach einer Weile den Hörer wieder ab und wähle die Nummer 72 95 56. Diesmal, Wunder über Wunder, höre ich sofort die Stimme der Telefonistin:

»Naftali soll das Paket spätestens um vier Uhr abholen«, sagt sie. »Ich denke nicht daran, mich damit abzuschleppen, jetzt mußt du mich entschuldigen, hallo, 72 95 56, guten Morgen.«

Nur mit Mühe gelingt es mir, die Spinnweben von meinem Gedächtnis zu entfernen. Ich kann mich nicht erinnern, das Telefonfräulein jemals um den Transport eines Pakets gebeten zu haben. Das ist Naftalis Sache. Er soll es um vier Uhr abholen oder meinetwegen um halb fünf, mich geht das nichts an. Ich beherrsche mich und sage abermals:

»Hallo, ich warte auf Herrn Zerkowitz.«

»Auf wen?!«

»Zer-ko-witz.«

»Und wer wünscht mit ihm zu sprechen?«

Jetzt will sie es plötzlich wissen. Beim ersten Anruf bin ich ihr noch durchs Netz geschlüpft, jetzt aber muß irgend etwas in meiner Stimme ihr immer waches Mißtrauen erregt haben. Ich überlege, womit ich sie beeindrucken könnte. Vielleicht: ›Hier spricht die Elektrizitätszentrale, Dr. Schönfeld, Herr Zerkowitz wird sich erinnern, ich bin einer seiner ältesten Jugendfreunde…‹ Und ich sage: »Hier Amnon.«

Amnon kommt immer durch. Ich habe keine Erklärung dafür, aber es ist so. Man kann sich ja auch andere Dinge nicht erklären. Zum Beispiel: wie es möglich ist, daß dann und wann trotz allem eine Telefonverbindung zustande kommt.

Diesmal kommt keine zustande. Alles, was ich höre, sind wieder die Stöpsel und anschließend die absolute Stille.

»Hallo«, rufe ich. »Hallo.«

Weit, weit entfernt, vielleicht auf einem andern Kontinent, zwitschert eine Frauenstimme auf Jiddisch. Ihr hat die Allgewaltige am Schaltbrett eine Chance gegeben. Mir nicht. Ich bin schlechter dran als Naftali. Ich bin verloren. Die Telefonistin hat mich hinter den Mond verbannt. Wären wir doch nur ein einziges Mal persönlich zusammengekommen, nach den Bürostunden, Hulda und ich – wir hätten uns sicherlich sehr gut miteinander verständigt, wir hätten eine gemeinsame Sprache gefunden, wohl auch gemeinsame Interessen, sie sieht ja ganz nett aus, wenn auch ein bißchen mager, wir würden uns gut miteinander vertragen, Heirat nicht ausgeschlossen, nur die Zeit kann es lehren… Aber wie die Dinge jetzt liegen, haben wir weder Gegenwart noch Zukunft. Sie ist eine Telefonistin und ich bin ein Telefonierer, sonst nichts. Einer von vielen. Es ist das reinste Katz- und Mausspiel. Nicht, als wollte ich ihr das übelnehmen, warum denn auch, im Gegenteil, ich hege für Hulda die größte Hochachtung, ihre Macht imponiert mir, nur schade, daß es zwischen uns keine Verständigungsmöglichkeiten gibt. Da kann man nichts andres tun, als den Hörer wieder auflegen, ein paar gotteslästerliche Flüche ausstoßen, den Hörer wieder abheben und die vierte, entscheidende Runde starten.

»Fräulein«, sage ich mit spitzer Stimme, als Hulda nach einiger Zeit sich meldet. »Fräulein, warum lassen Sie mich eine halbe Stunde lang vergebens warten?«

»Wer spricht?«

»Amnon. Vor ungefähr einer Stunde habe ich Sie zum erstenmal gebeten, mich mit Herrn Zerkowitz zu verbinden.«

»Er ist nicht hier.«

»Warum sagen Sie mir das nicht?«

»Ich sage es Ihnen ja.«

»Warum haben Sie es mir nicht früher gesagt?«

»Weil er früher noch hier war.«

»Und jetzt ist er weg?«

»Ja.«

»Wann kommt er zurück?«

»Weiß ich nicht.«

»Wo ist er?«

»Weiß ich nicht.«

»Kann ich eine Nachricht für ihn zurücklassen?«

»Es wäre besser, wenn Sie später noch einmal anrufen.«

Das war zuviel für mich.

»Was?« brüllte ich. »Was sagen Sie da?! Es wäre ›besser‹?! Mit Ihnen am Telefon etwas zu tun haben, ist das überhaupt Schlimmste auf Erden. Es würde mit meinem Selbstmord enden. Wenn ich Sie nicht vorher umbringe. Hören Sie?!«

Aber es war wieder die vollkommene Stille, die mir aus dem Hörer entgegenschlug. Na schön. Dann werde ich eben später noch einmal anrufen.