Der Broadway ist off

 

 

Nirgends ist New York so sehr New York wie auf und um den Broadway. Auf dieser nur wenige Quadratkilometer großen Fläche machen mehr Produzenten Bankrott als irgendwo sonst auf der Welt. Darwin muß den Broadway gemeint haben, als er vom »Kampf ums Dasein« sprach. Er hat allerdings nicht geahnt, wie grausam dieser Kampf werden kann.

 

Das Wichtigste für eine Off-Broadway-Theaterproduktion ist das Theater selbst. Diese verhältnismäßig kleinen Kunststätten stehen niemals leer. Sie werden ständig von produktionsgierigen Unternehmern belagert und, kaum daß sich die geringste Chance bietet, geschnappt, ohne daß der betreffende Produzent im voraus wüßte, ob das zu seinem Selbstmord führen wird oder zu einem rauschenden Erfolg. Mit Zwischenstadien hält man sich in New York nicht auf. Entweder kratzt man Wolken oder man macht gleich am Premierenabend Pleite.

Meine eigene Situation war unter den damals gegebenen Umständen verhältnismäßig aussichtsreich. Der Produzent meines Stücks, wir nennen ihn der Einfachheit halber Joe, trug in seiner Tasche einen Mietvertrag mit der Verwaltung einer Methodistenkirche, ein signiertes, offizielles, fast schon historisches Dokument, das uns für eine unbegrenzte Dauer von drei Monaten den Gebrauch des im Kirchengebäude befindlichen Theatersaals sicherte. Es war eine reizende kleine Bühne, die Atmosphäre war intim und puritanisch zugleich, und die Proben waren im üblichen, verrückten Gang. Es war also alles in bester Ordnung.

Und dann schlug die Steuerbehörde zu.

An jenem schicksalsträchtigen Abend traf bei unseren

Methodisten ein amtliches Zirkular ein, demzufolge die Kirche (wie alle gleichartigen Institute auch) von jetzt an die bisherige Steuerfreiheit nur dann genießen würde, wenn sie »in keiner Weise mit einer auf Profit berechneten Organisation« zu tun hätte.

Die Kirchenverwaltung wurde von Panik befallen. Nicht wegen der Steuer, die sie vielleicht zu entrichten hätte, sondern bei dem bloßen Gedanken, daß jeder beliebige Steuerbeamte fortan in den Büchern herumschnüffeln könnte. Das durfte nicht sein. Das nicht.

Am nächsten Tag berief der Methodisten-Erzbischof, der gerade an der Reihe war, den Produzenten Joe zu sich und teilte ihm mit, daß unsere Abmachungen null und nichtig seien, und zwar infolge »höherer Gewalt« (in Amerika »Act of God« genannt), siehe § 106 des Vertrags. Joe taumelte, fiel auf die Knie und beschwor den Erzbischof, ihn nicht zu ruinieren. Als er damit nichts erreichte, brachte er in seiner Verzweiflung ein Argument vor, das er für besonders raffiniert hielt: die Show, so sagte er, würde ohnehin keinen Profit machen, sondern durchfallen und zusperren wie die meisten ihrer Art. Um den Kirchenfürsten zu überzeugen, daß es sich wirklich so verhielte, lud er ihn – allerdings erfolglos – zu den Proben ein. Zugleich übergab er die Angelegenheit einem Rechtsanwalt, der nach sorgfältiger Prüfung des umfangreichen Vertragswerkes erklärte, daß er nichts machen könne, da eine Klage gegen Gott wenig Chancen hätte. Daraufhin verdächtigte Joe die Methodistenkirche des Antisemitismus, zog diesen Verdacht jedoch alsbald zurück und erklärte sich bereit, Methodist zu werden. Aber auch das half nichts.

Wir mußten also ein anderes Theater finden.

Wie macht man das? Ganz einfach: man geht die Liste der bevorstehenden Premieren durch und versucht zu erraten, welche von ihnen mit größter Wahrscheinlichkeit durchfallen wird. Es gibt sogenannte »Fiasko-Experten«, die gegen entsprechendes Honorar nach Durchfällen Ausschau halten (den abgerichteten Polizeihunden vergleichbar, denen es obliegt, Haschisch-Verstecke aufzuspüren).

Die Wahl unseres Expertenteams fiel auf das Corona-Theater, eines der bekannteren Off-Broadway-Häuser.

»Gehen wir’s uns anschauen«, sagte Joe.

Wir drangen durch eine Hintertür in das kleine Gebäude ein, unsere Hüte tief ins Gesicht gezogen und unsere Füße in schalldämpfenden Gummischuhen. Ich kam mir vor wie ein Berufsgeier, der über einem werdenden Kadaver schwebt, um im richtigen Augenblick auf ihn hinabzustoßen. Aber so ist das Leben.

Auf der kleinen Bühne ging gerade eine der letzten Proben zu einem offenbar ganz netten Musical vonstatten. Sehnige Tänzer beiderlei Geschlechts erzeugten ein rhythmisches Durcheinander, der Bühnenbildner legte die letzte Hand ans Bühnenbild, die Musiker stimmten ihre Instrumente, der Regisseur brüllte sich heiser und der Choreograph versuchte ihn zu überschreien. Wir standen in einer dunklen Ecke und beobachteten die Vorgänge.

Nach einer Weile holte der oberste Leichenfledderer tief Atem, schüttelte den Kopf und sagte:

»Nein, die kommen über die Premiere nicht hinaus. Ein sicherer Durchfall.«

Joe und ich wollten vor Freude laut aufjauchzen, unterließen das aber, um kein Aufsehen zu erregen.

Wie sich zeigte, hatten wir es bereits erregt. Aus dem halbdunklen Zuschauerraum kam ein Mann auf uns zu und fragte, wer zum Teufel wir wären und was zum Teufel wir hier suchten.

Statt irgendwelche Ausreden zu stottern, die unser nicht würdig gewesen wären, enteilten wir schnellen Schritts, rannten um das Theatergebäude herum und durch einen anderen Eingang in den zweiten Stock hinauf, wo sich das Privatbüro des Hauseigentümers befand.

Er schien bereits auf uns gewartet zu haben.

»Wann wollen Sie Ihre Show herausbringen?« fragte er zur Begrüßung.

»Was ist die jetzige Lage?« lautete Joes Gegenfrage.

»Am Mittwoch haben die don unten Premiere. Wenn Sie wollen, können Sie Donnerstag mit den Proben anfangen.«

»Bestimmt?«

»Totsicher. Wir können sofort Vertrag machen.«

»Entschuldigen Sie«, unterbrach ich, »warum müssen wir bis Donnerstag warten? Die Premiere wird ungefähr um halb elf zu Ende sein, so daß wir noch am Mittwoch abend um elf anfangen können.«

»Halten Sie den Mund«, zischte mir einer der Experten zu. »Man muß die doch wenigstens die Kritiken lesen lassen.«

Mittlerweile hatte Joe mit dem Hausbesitzer durch Handschlag einen Vorvertrag abgeschlossen und durch eine Anzahlung bekräftigt. Von der Bühne hörten wir hoffnungsvolle Musik und die optimistischen Stimmen der Sänger…

Ein paar spannungsgeladene Tage folgten. Schon zur Hauptprobe schickten wir einen Spion in den Zuschauerraum. Er berichtete, daß die Show nicht gut sei, aber auch nicht katastrophal schlecht. Joe erbleichte.

»Herr im Himmel«, stöhnte er, »wenn das ein Erfolg wird, sind wir verloren.«

Ich schlug vor, den Star der Show zu vergiften oder bei der Premiere unsere Leute hinter die wichtigsten Kritiker zu placieren, um sie durch Ausrufe des Ekels zu beeinflussen. Meine Vorschläge wurden abgelehnt. Nur die Kritiken in der Presse und im Fernsehen konnten uns helfen.

Am Mittwochabend versammelten wir uns in unbeschreiblicher Nervosität vor dem Bildschirm. Endlich war es so weit. Kanal II meldete sich als erster mit einer lauwarmen, aber nicht wirklich mörderischen Kritik. Auf einem andern Kanal wußte irgendein Idiot sogar von »amüsanten Stellen« zu berichten. Sollte am Ende…? Man kann sich heutzutage auf nichts mehr verlassen.

Gegen Mitternacht brachte uns einer der Experten die noch druckfeuchte Morgenausgabe der ›Post‹. Wieder kein echter Verriß. Wenn das so weitergeht, können wir unsere Show nicht herausbringen.

Joe ertrug es nicht länger. Er ging selbst hinunter, um die ›New York Times‹ abzufangen.

Wir warteten mit zum Bersten angespannten Nerven. Wo bleibt er so lange. Die Morgenausgabe der ›Times‹ müßte doch schon längst draußen und Joe schon längst hier sein.

Die Türe fliegt auf. Joe, ein Lächeln überirdischer Glückseligkeit im Antlitz, schwenkt die ›Times‹:

»Wir sind gerettet! Ein mörderischer Verriß! Halleluja!«

Seit Donnerstag probieren wir im Corona-Theater. Es hat eine wunderbar intime Atmosphäre, nicht zu vergleichen mit der puritanischen Kühle der Methodistenkirche. Auch die Akustik ist hervorragend. Dementsprechend schreiten unsere Proben in bester Stimmung voran. Es wimmelt von neuen Regieeinfällen. Unsere Hoffnung auf einen durchschlagenden Erfolg steigert sich von Tag zu Tag.

Das einzige, was uns ein wenig stört, ist eine geheimnisvolle Gruppe dunkel gekleideter Männer, die mit tief ins Gesicht gezogenen Hüten in einer Ecke stehen und miteinander flüstern. Einer unserer Bühnenarbeiter will gesehen haben, daß sie in den zweiten Stock hinaufgegangen sind, wo sich das Privatbüro des Hauseigentümers befindet.

Was mögen sie dort zu suchen haben? Oder gar zu besprechen? Was?