Die vier apokalyptischen Fahrer

 

 

Während der zwei Jahrtausende des Exils und der Verfolgung haben die Juden sich in einen intellektuellen Elfenbeinturm eingeschlossen und ihre körperliche Ertüchtigung arg vernachlässigt. Unser wiedererstandenes Heimatland hat uns endlich wieder einen simplen, kräftigen, erdnahen Menschentyp geschenkt. Und dieses Geschenk müssen wir teuer bezahlen.

 

Wann schläft der Mensch am besten? Nach den neuesten wissenschaftlichen Forschungen bis 5.25 Uhr am Morgen. Um 5.25 Uhr am Morgen fährt der Durchschnittsbürger aus dem besten Schlafe hoch. Der höllische Lärm, der über ihn hereinbricht, weist eine vielfältige Zusammensetzung auf und läßt sich am ehesten mit dem Klangbild mehrerer Tonbänder vergleichen, die zur selben Zeit verkehrt abgespielt werden. Es klingt nach Fliegeralarm, nach einer stampfenden Büffelherde, nach einem Sturmangriff mit schweren Panzern und nach dem Dschungelschrei eines wildgewordenen Tarzans.

Um 5.25 Uhr am Morgen.

Die Reaktion der Menschen, die von dieser Naturkatastrophe betroffen werden, ist unterschiedlich. Manche vergraben sich in ihre Kissen und beginnen zu beten. Andere – zumeist diejenigen, die vor Schreck aus dem Bett gefallen sind – sausen ziellos zwischen Schlafzimmer und Badezimmer hin und her. Schreiber dieses wirft sich bei den ersten Donnerschlägen wortlos auf seine neben ihm schlummernde Gattin und würgt sie so lange, bis es ihr gelingt, die Nachttischlampe anzuknipsen und ihm vorsichtig beizubringen, daß ihn niemand ermorden will. »Wie um des Himmels willen ist es möglich«, fragte mein Nachbar Felix Seelig, als er sich einmal um 5.25 Uhr am Morgen aus dem Fenster beugte, »daß vier Männer einen so ungeheuerlichen Krach erzeugen?«

Wir beobachteten die Vier von oben. Es handelte sich um den Fahrer des städtischen Müllabfuhrwagens, um seinen Mitfahrer, der meistens auf dem Trittbrett steht, und um die beiden Kerle, die sich der wartenden Koloniakübel bemächtigen und sie mit Getöse ausleeren. Auf den ersten Blick sehen diese Vier wie einfache Sendboten des Gesundheitsamtes aus, aber hinter ihrem unauffälligen Äußeren verbergen sich vier Weltmeister der Höllenlärm-Technik. Zum Beispiel benützt der Fahrer grundsätzlich nur den ersten Gang, um seinen Motor auf höchste Diesellautstärke zu bringen, während die beiden Zubringer jeden einzelnen Koloniakübel polternd über das Pflaster schleifen und dabei so laut und lästerlich fluchen, als stünde der Ausbruch von Tätlichkeiten unmittelbar bevor.

In Wahrheit haben sie keinerlei Streit miteinander. Hört man mit den Restbeständen von Membranen, über die man noch verfügt, etwas genauer hin, so kann man feststellen, daß sie sich auf ihre Weise über ganz alltägliche Dinge unterhalten. Diese ihre Weise besteht darin, daß die Unterhaltung grundsätzlich immer dann beginnt, wenn der eine von ihnen mit dem schon entleerten Koloniakübel im Hausflur angelangt ist und der andre in 20–30 Meter Entfernung seinen noch gefüllten Kübel auf die Kippe niederkrachen läßt.

»Hey!« brüllt der eine. »Hey! Was hast du gestern abend gemacht, gestern abend?«

Darauf antwortet jedoch nicht der andre, sondern der Fahrer steckt den Kopf aus seinem Gehäuse hervor, legt die Hände an den Mund und brüllt:

»Hey! Wir sind zu Hause geblieben! Zu Hause! Und du?« Jetzt erst ist es so weit, daß der ursprünglich Angesprochene oder besser Angebrüllte zurückbrüllt:

»Hey! Wir waren im Kino! Im Kino waren wir! Bei diesem Wildwestfilm! Großartig! Alle haben sehr gut gespielt haben alle!«

Auch wenn die Dialogpartner dicht nebeneinander stehen, ändert sich nichts an der Lautstärke ihres Geplauders:

»Hey! Kommen dir diese verdammten Kübel heute nicht verdammt schwer vor?«

»Verdammt schwer heute! Wo es noch dazu so verdammt heiß ist! Verdammt!«

Frau Kalaniot, der das Schicksal ein Schlafzimmer direkt oberhalb des Haustors zugewiesen hat und die infolgedessen ständig am Rande eines Nervenzusammenbruchs wandelt, riß in ihrer Verzweiflung einmal das Fenster auf und rief hinunter:

»Bitte Ruhe! Ich flehe Sie an: Ruhe! Müssen Sie denn jede Nacht solchen Lärm machen?«

»Nacht? Wieso Nacht?« Der Angeflehte wieherte fröhlich. »Es ist ja schon halb sechs vorbei ist es schon!«

»Wenn Sie mit diesem Lärm nicht aufhören, hole ich die Polizei!« Das war Benzion Ziegler, der sein Fenster gleichfalls aufgerissen hatte. Die vier apokalyptischen Fahrer krümmten sich vor Lachen:

»Polizei! Hohoho! Hol doch einen Polizisten hol ihn doch! Wenn du in der Nacht einen findest! Hohoho…«

Ja, so sind sie, unsere stämmigen, breitschultrigen, von keiner Hemmung belasteten Naturburschen, die neue Generation, die neue Rasse, der neue Mensch. Man hat den Eindruck, daß keine Macht der Welt mit ihnen fertigwerden könnte.

Dieser Eindruck wird durch die Tatsachen erhärtet.

Auf dem letzten Protestmeeting unseres Häuserblocks betraute man mich mit der ehrenvollen Aufgabe, vom Städtischen Gesundheitsamt die Einstellung der allnächtlichen Erdbebenkatastrophen zu verlangen. Ich rief den Abteilungsvorstand an und begann meine wohlvorbereitete Anklagerede.

Noch ehe ich beim ersten meiner bildkräftigen Vergleiche angelangt war, unterbrach er mich:

»Mir brauchen Sie nichts zu erzählen. Ich bekomme das jeden Morgen zu hören. Sie werden verrückt, sagen Sie? Ich werde verrückt…«

Der Sommer kam, und mit ihm kamen die Nächte, in denen man wenn überhaupt – nur bei offenem Fenster schlafen kann. Wir schickten eine von allen schreibfähigen Anrainern unterzeichnete Petition an die Behörde, blieben jedoch ohne Antwort. Die Aufräumefrau, die dreimal wöchentlich zu den Zieglers kommt und eine Wohnungsnachbarin des Trittbrett-Tarzans ist, empfahl uns, nichts zu unternehmen, weil die Vier davon Wind bekommen und dann noch größeren Lärm machen würden. Auch der Rechtsanwalt, den wir heranzogen, wußte uns nichts Besseres zu raten, als daß wir das Wochenende in Jerusalem verbringen sollten, weil dort die Müllabfuhr häufig durch Streiks lahmgelegt ist.

Wir versuchten es mit Wattebäuschen, die wir uns in die Ohren stopften und die anfänglich einen gewissen Sordino-Effekt bewirkten. Aber schon das erste »Hey!« schnitt durch sie hindurch wie ein scharfes Messer durch weiche Butter.

Auf unserer letzten Protestversammlung hielt der angesehene Mediziner Dr. Wasserlauf einen visionären Vortrag:

»Die chronische Schlaflosigkeit und die traumatischen Schocks, unter denen wir zu leiden haben, werden früher oder später die Funktionsfähigkeit unserer Gehirnganglien beeinträchtigen. Ich bin überzeugt, daß bei unseren Kindern und in noch höherem Maß bei unseren Enkeln bestimmte Degenerationserscheinungen nicht aufzuhalten sind und daß die Müllabfuhr letzten Endes eine bedrohliche Senkung des allgemeinen intellektuellen Niveaus zur Folge haben wird…«

Vor unserem geistigen Auge erschienen Scharen von Enkelkindem, sahen uns stumm und vorwurfsvoll an und verschwanden mit kuriosen Bocksprüngen im nahen Wald.

Es mußte etwas geschehen.

Wäre es nicht am besten, mit den Leuten zu reden? Das entspräche nicht nur unseren demokratischen Grundsätzen, sondern vor allem der menschlichen Würde, die ja auch dem Müllabfuhr-Personal als unveräußerliches Recht eingepflanzt ist. Ganz im geheimen empfanden wir tiefe Bewunderung für jene vier Aufrechten, die schon im frühen Morgendämmer ihre schwere Arbeit verrichteten, während wir nichtsnutzige Schmarotzer in unseren weichen, weißen Betten wohlig bis 5.25 Uhr schnarchten… Es wurde beschlossen, die Sache psychologisch anzugehen. Wir mußten zu den Herzen der Vier einen Weg finden. Geld spielt keine Rolle.

An einem der nächsten Tage enthielt der Text der allmorgendlichen Lärmsendung eine Variante:

»Hey!« dröhnte es vom Trittbrett zu den Kübeln. »Langsam wird’s kalt! Kalt wird’s langsam!«

»Hey!« donnerte es zur Antwort. »Kauf dir einen Pullover! Kauf dir einen!«

»Pullover? Sagst du Pullover hast du gesagt? Hey! Wo soll ich einen Pullover hernehmen, wo?«

Wir handelten unverzüglich. Wir handelten im Interesse unserer Nachkommen, im Interesse der Zukunft späterer Generationen, im Interesse des Friedens im Nahen Osten. Aus den Geldern des eigens für diese Zwecke angelegten »Reinigungs-Fonds« kaufte Frau Kalaniot einen knallroten Pullover (Übergröße), und Felix Seelig begab sich an der Spitze einer Delegation zum Wohnhaus des Trittbrett-Tarzans, der seine Rührung kaum verheimlichen konnte. Er zeigte volles Verständnis für den von Felix Seelig vorsichtig formulierten Hinweis, daß warme Kleider bekanntlich zur Schaffung einer ruhigeren Atmosphäre beitrügen, dankte der Delegation in stockenden, ungefügen Worten und versprach, auch seine Mitarbeiter entsprechend zu informieren.

Am nächsten Morgen um 5.25 Uhr wurde Frau Kalaniot durch ein Gebrüll von noch nicht dagewesener Unmenschlichkeit aus ihrem Bett geschleudert:

»Hey! Die haben mir diesen Pullover gekauft haben sie! Diesen roten Pullover!«

»Sind nette Leute«, brüllte es zurück. »Nette Leute sind sie! Wirklich nett!«

Hierauf erfolgte eine Explosion, die alle bisherigen übertraf: in seiner Freude über den roten Pullover schleuderte der Trittbrett-Tarzan einen eben entleerten Kübel in so kunstvoller Schleife zurück, daß zwei andere Kübel mitgerissen wurden und insgesamt drei Granateneinschläge zur gleichen Zeit stattfanden.

Seither höre ich schlecht auf dem linken Ohr. Dafür schlafe ich sehr gut auf der rechten Seite. Eine exzellente und im Grund ganz einfache Lösung. Ich muß mich wundern, daß ich nicht schon früher an sie gedacht habe.