Aus der Gründerzeit

 

 

Ist unser alter Pioniergeist noch lebendig? Zwischen Cocktailparties und Banketten stellt sich der israelischen Bevölkerung immer wieder diese Frage, über die man nicht leichtfertig hinweggehen soll. Es ist eben schwer, im Alter reich zu werden und dabei noch jung und arm zu bleiben.

 

Die Idee ging von Jakov aus. Wir saßen in seinem Atelier, Chaim, Uri und ich, und machten uns Sorgen über Israels Niedergang.

»Die kulturelle Lage in unserem Land ist katastrophal«, stellte Chaim fest. »Unsere Jugend ist verrückt nach dem Fernsehen, und ihr einziger Lesestoff sind amerikanische Magazine. Die hebräische Literatur stagniert.«

Wir anderen nickten trübe. Ohnmächtige Wut und eine wilde Sehnsucht, die Misere zu ändern, fochten in unserem Inneren einen erbitterten Kampf aus.

Uri sprang auf: »Worte, Worte, Worte«, brach es aus ihm hervor. »Wir müssen handeln. Wir sind jung, stark und schön. Wir glauben an eine bessere Zukunft. Retten wir die israelische Kultur!«

Über unsere weichen, flaumigen Wangen legte sich die zarte Röte der Unternehmungslust, unsere Augen blitzten, unsere schlanken Gestalten strafften sich:

»Wir müssen eine Art Cercle bilden«, schlug ich vor. »Wir müssen all die jungen, lebendigen, selbstlosen Kräfte sammeln, denen das geistige Ansehen unseres Landes noch etwas gilt.«

»So ist es!« rief Jakov begeistert. »Gründen wir einen Kreis der Freunde hebräischer Kultur. Er lebe hoch!«

Bis zum Morgendämmer saßen wir beisammen und besprachen unsern kühnen Plan. Wir beschlossen, ein Lokal zu mieten, das wir in uneigennütziger Weise behaglich einrichten würden, als eine intime Oase der Begegnung für alle, die jungen Herzens und schöpferischen Geistes sind. Dort wollten wir auch unsere literarischen Abende veranstalten, mit deren Reinertrag wir die jungen Talente zu fördern gedachten. Immer höher flogen unsere hochfliegenden Gedanken, und in dieser Höhe blieben sie auch.

Sofort am nächsten Tag machten wir uns auf die Suche nach einem geeigneten Heim für unser Vorhaben und fanden tatsächlich einen gut geeigneten Kellerraum. Aber der Eigentümer, ein aus Griechenland eingewanderter Gemüsehändler, wollte ihn nicht an uns vermieten. »Erstens: wer sind Sie?« fragte er. »Zweitens: was sind Sie? Drittens: was für ein Kreis ist das? Und viertens: wo sind die schriftlichen Unterlagen?«

Wir brachen in ein lautes, aber keineswegs verletzendes Gelächter aus. Schriftliche Unterlagen! Wozu brauchen wir schriftliche Unterlagen? Unser gemeinsames Ziel und unsere glühende Liebe zur hebräischen Kultur sind doch wohl mehr wert als ein albernes Stück Papier! Aber der Grieche bestand darauf, nur mit einem eingetragenen Verein zu unterhandeln, sonst würde er ja niemals wissen, bei wem er die rückständige Miete einkassieren sollte.

Wir mußten uns wohl oder übel entschließen, einen Rechtsanwalt aufzusuchen, dem wir die Erledigung dieser läppischen Formalitäten übertragen könnten.

Der Rechtsanwalt, ein gewisser Dr. Shay-Sonnenschein, empfing uns in seiner Kanzlei, die einen ausgezeichneten Eindruck auf uns machte, obwohl sie im früheren Lichtschacht des Hauses untergebracht war und keine Fenster besaß.

»Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte Dr.

Shay-Sonnenschein. »Wer sind Sie eigentlich und womit kann ich dienen?«

»Wir sind junge Menschen, Herr Doktor, und haben noch Ideale«, belehrte ihn Jakov. »Wir brennen darauf, unsere ganze Kraft in den Dienst der geistigen Regeneration Israels zu stellen, damit künftige Generationen die Früchte unseres Tuns und Trachtens genießen können.«

»Ich verstehe«, nickte der Anwalt. »Sie haben die Absicht, eine nicht auf Profit abzielende Gesellschaft mit beschränkter Haftung zu bilden.«

»Profit? Sagten Sie Profit?« fragte Chaim. »Wir denken nicht an Profit und werden auch keinen haben.«

»Das kann man im voraus nie wissen«, replizierte der Jurist. »Heute sind Sie noch jung und naiv, aber in zehn Jahren werden Sie über manche Dinge anders denken. Ich würde Ihnen empfehlen, eine sogenannte ›ottomanische Gesellschaft‹ zu gründen.«

Damit erklärten wir uns einverstanden, schon weil wir nicht wußten, was sich hinter dieser Bezeichnung verbarg. Als wir aufstanden, um uns zu verabschieden, hielt uns Dr. Shay-Sonnenschein zurück. Er wollte noch eine Reihe von Details geklärt wissen.

»Zum Beispiel muß in den Statuten genau festgelegt sein, unter welchen Umständen die Auflösung der Gesellschaft erfolgt«, sagte er.

Ein gelinder Zorn begann in uns hochzukeimen. Wovon sprach der Mann? Weshalb sollten wir an unsere Auflösung denken, da wir doch nichts andres im Sinn hatten als unsere Gründung? Und das gaben wir ihm auch deutlich zu verstehen.

»So einfach ist das alles nicht.« Der Vereinsexperte schüttelte den Kopf. »Heute vertragen Sie sich noch miteinander, aber wer weiß, wie das in zehn Jahren sein wird. Es ist jedenfalls besser, wenn man von Anfang an mit jeder Möglichkeit rechnet. Ich schlage vor, daß die Liquidation des Vereins nur durch einstimmigen Beschluß der Generalversammlung herbeigeführt werden kann.«

»Ganz wie Sie wünschen«, sagte ich sarkastisch.

»Gut. Und jetzt müssen wir uns noch darüber einigen, wie in einem solchen Fall das Eigentum des Vereins aufgeteilt wird.«

»Was für ein Eigentum?« Uri machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Warten Sie ab. In zehn Jahren sieht alles anders aus. Üblicherweise erhalten die Mitglieder der Generalversammlung zu gleichen Teilen den Grundbesitz und das bewegliche Eigentum der aufzulösenden Körperschaft. Im Streitigkeitsfall wird die Entscheidung von einem Schiedsgericht getroffen.«

»Streitigkeitsfall? Schiedsgericht? Was soll das?«

»Das werden Sie dann schon sehen. Es tut mir leid, aber ich muß Sie auf alle diese Dinge hinweisen. Das ist meine Pflicht als Anwalt. Heute sind Sie noch jung, aber so jung werden Sie nicht bleiben. Übrigens müssen wir auch stipulieren, wen Sie eigentlich als Mitglied aufnehmen wollen.«

»Jeden Menschen mit echter Schöpferkraft und wahrer Liebe zur hebräischen Kultur.«

»Das ist keine legale Definition. In solchen Fällen würde also das Präsidium die Entscheidung treffen.«

»Welches Präsidium?«

»Nach ottomanischem Gesetz, das bekanntlich noch nicht in allen Belangen aufgehoben oder revidiert wurde, muß jede Vereinigung ein dreiköpfiges Präsidium haben.«

»Zu dumm«, scherzte Uri. »Wir sind vier.«

»Dann ist einer überflüssig«, konstatierte trocken der Rechtsgelehrte.

Wir lachten einander lustig zu. Es war aber auch zu komisch.

»Na schön«, ließ Chaim sich vernehmen, »dann sagen wir, daß Ephraim dem Präsidium nicht angehören wird.«

Abermals brachen wir in stürmisches Gelächter aus, obwohl wir eigentlich wütend waren, daß wir unsere kostbare Zeit auf derlei kindische Bagatellen verschwenden mußten. Besonders wütend war ich. Wie kam Chaim dazu, mich aus dem Präsidium auszuschließen? Warum gerade mich? Das werde ich ihm so bald nicht vergessen.

»Die Frage des Präsidenten wäre also geklärt.« Dr. Shay-Sonnenschein waltete seines Amtes. »Jetzt müssen wir noch festlegen, unter welchen Umständen der Ausschluß eines Mitglieds erfolgen soll.«

»Das ist doch…«, unterbrach Jakov.

»Natürlich ist das heute noch nicht aktuell. Aber in zehn Jahren könnte es doch sehr leicht geschehen, daß Sie mit irgendeinem Ihrer Mitglieder nicht mehr auskommen, daß der Mann sich eines kriminellen Vergehens schuldig gemacht hat oder daß Sie ihn aus persönlichen Gründen draußen haben wollen.«

Ich merkte deutlich, daß mich alle ansahen. Mich und nur mich.

Dr. Shay-Sonnenschein kehrte zum Gegenstand zurück: »Ich halte es für ratsam, den Ausschluß eines Mitglieds vom einstimmigen Beschluß des Präsidiums abhängig zu machen.«

»Kommt nicht in Frage!« rief ich mit lauter Stimme. »Ich habe kein Vertrauen zum Präsidium. Über einen Ausschluß kann nur die Generalversammlung entscheiden.«

»Es wäre viel zu kompliziert, wegen eines einzigen Mitglieds eine Generalversammlung einzuberufen«, protestierte Jakov. »Auf diese Weise könnten wir praktisch niemanden loswerden.«

Ich wollte mich nicht so leicht mundtot machen lassen und stellte eine hypothetische Frage:

»Nehmen wir an, daß beispielsweise Jakov ausgeschlossen werden soll. Müßten wir ihm dann etwas zahlen, Herr Doktor?«

»Auch darüber hätte das Präsidium zu entscheiden.«

»Unmöglich!« Jetzt war es Uri, der Widerstand leistete. »Ich, wenn man zum Beispiel mich hinausekeln wollte, würde mich mit den Präsidialidioten gar nicht herstellen. Die Höhe meiner Entschädigung müßte statutarisch verankert sein.«

»Das läßt sich regeln«, entschied Dr. Shay-Sonnenschein. »In den Statuten ist Platz für alles. Vielleicht sollten wir zur Erleichterung des Steuerbetrugs die Formulierung gebrauchen, daß ein ausscheidendes Mitglied statt einer Abfindung das Gehalt für sechs Monate ausbezahlt erhält.«

»Welches Gehalt?«

»Das von Ihnen festgesetzte. Bedenken Sie, daß es sich um einen nicht auf Profit berechneten Verein handelt. Das heißt, daß Sie alle Gewinne unter sich aufteilen müssen.«

»Diese paar Pfund sind doch wirklich nicht der Rede wert.«

»Heute sind es nur ein paar Pfund, in zehn Jahren können es Hunderte oder Tausende sein. Sie müssen sich immer die Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten eines solchen Unternehmens vor Augen halten. Sie können in Ihren Räumlichkeiten eine Snack-Bar einrichten. Sie können die größeren Säle für Hochzeiten, Bar-Mizwah-Feiern und Gedenkabende vermieten. Sie können musikalische Tees veranstalten. Neuerdings sind Tanzfeste am Sabbatausgang sehr beliebt. Wenn Sie es geschickt anstellen, können Sie mit dem Hinweis, daß Sie nicht auf Gewinn arbeiten, eine Steuerbefreiung herausschinden. Der trotzdem erzielte Gewinn muß dann eben unter der Bezeichnung ›Gehalt‹ an die Mitglieder verteilt werden.«

»Aber nicht an alle«, verwahrte sich Uri. »Nur an die vier Gründungsmitglieder, die hier anwesend sind.«

Dieser Vorschlag wurde einstimmig angenommen. Dann kam Jakov auf eine noch schwebende Frage zurück:

»Was die Zulassung zur Mitgliedschaft betrifft, müssen wir vorsichtig sein. Ich bin für strenge Ballotage und hohe Mitgliedsbeiträge. Da sind wir sicher, daß wirklich nur Leute von Kultur und Niveau zu uns kommen.«

Dr. Shay-Sonnenschein servierte Kaffee und leerte die Aschenbecher aus.

Jakov war unverkennbar von mir abgerückt. Ich behielt den schäbigen Opportunisten scharf im Auge.

Chaim und Uri flüsterten miteinander und zeigten abwechselnd auf Jakov und mich. Ich schwor mir zu, den Verkehr mit diesen beiden hinterhältigen Gesellen so bald wie möglich abzubrechen.

»Wie, Herr Doktor, ist die Rechtslage«, fragte ich, »wenn sich herausstellt, daß einer von uns sich heimlich über die Vereinskasse hergemacht hat?«

»Es müßte, je nach statutarischer Vorschrift, entweder ein Schiedsgericht zusammentreten oder eine außerordentliche Vollversammlung einberufen werden.«

»Und wenn die betreffende Person sich als Spitzel in unsern Kreis eingeschlichen hat?« fragte Uri und warf mir einen haßerfüllten Blick zu. »Was macht man mit so einem Lumpen?«

»Man übergibt ihn der Polizei und wählt einen Ersatzmann.«

»Und wenn er Haschisch raucht und Amok läuft? Oder sich als gemeingefährlicher Irrer entpuppt?«

»Sie haben ganz recht, diese Fragen zu stellen. Das alles muß in den Statuten berücksichtigt werden. Das Präsidium muß auch berechtigt sein, alte oder kranke Mitglieder in ihrem eigenen Interesse ohne weitere Begründung auszuschließen.«

»Sehr richtig«, krächzte Jakov. »Wir brauchen keine Krüppel.«

Chaim, der an Magengeschwüren leidet, erbleichte und griff nach einer schweren bronzenen Löschblattwiege:

»Und was«, fragte er mit drohend gesenkter Stimme, »was geschieht, wenn einer von uns einen andern umbringt?«

»Dann hätte vor allem ein innerhalb des erweiterten Präsidiums zu konstituierender Rechnungsausschuß über die Höhe der Entschädigung zu beraten, die an die Witwe zu zahlen wäre. Aber auf solche Details brauchen wir heute noch nicht einzugehen, glaube ich.«

Dr. Shay-Sonnenschein schloß die Aktenmappe mit der Aufschrift »Kreis der Freunde der hebräischen Kultur« und erhob sich. »Ich schlage vor, daß wir in einer Woche wieder zusammenkommen, um über Investitionen, Dividenden und Einfuhrlizenzen zu beraten.«

Uri interessierte sich hauptsächlich für den Import schwedischer Pornofilme, ich legte größeres Gewicht auf englische Jagdmesser. Beim Verlassen des Hauses achtete ich darauf, nicht an der Spitze der Gruppe zu gehen. Es ist kein gutes Gefühl, diese Mafiosi im Rücken zu haben, wenn es dunkel wird.

»Also auf Wiedersehen nächste Woche«, murmelte Uri und war verschwunden.

Auch wir anderen gingen ohne Abschied auseinander.

Wir fühlten uns um zehn Jahre gealtert.