Fremd in St. Pauli

 

 

Aus dem Sündenbabel New York zurück ins sittenstrenge Hamburg, dessen wohlsituierte Einwohner von Jahr zu Jahr um eine Kleinigkeit früher schlafen gehen. Noch vor zwei Jahren wurde in den Hamburger Bürgerhäusern das Licht erst um 21.30 Uhr abgedreht. Heute tritt bereits um 19.45 Uhr vollständige Verdunkelung ein. Wenn das so weitergeht, wird man an der Waterkant über kurz oder lang am Nachmittag mit der Nachtruhe beginnen und nach einiger Zeit überhaupt nicht mehr aufstehen.

 

Der Fremde, der in Hamburg nach neun Uhr abends durch die Straßen geht, hat das dumpfe Gefühl, der einzige Überlebende in einer ausgestorbenen Stadt zu sein. Vielleicht stößt er an einer Ecke mit ein paar schwankenden Gestalten in Matrosenkleidung zusammen, aber das sind ja gleichfalls Fremdlinge. Irgendwelche Anzeichen eines organischen Lebens gibt es in dieser Zweimillionenstadt nach neun Uhr abends nicht. Ausgenommen…

Ausgenommen St. Pauli. Dort konzentriert sich alles, was sich in anderen Großstädten auf verschiedene Viertel oder Straßenzüge verteilt. Dort gibt es Menschen, Lärm und Musik bis in die frühen Morgenstunden.

St. Pauli ist eine interessante Mischung von Las Vegas und Sodom. Blühende Spielcasinos wechseln mit Striptease-Lokalen, deren sexuelle Aufklärungs-Akte selbst dem abgebrühtesten Eunuchen aus Singapur die Schamröte ins gelbe Gesicht treiben. Opiumhöhlen für Transvestiten, Transvestitenhöhlen für Opiumraucher und fachmännisch geleitete Massenorgien für gestrandete Seefahrer vervollständigen das Programm.

Die ehrsamen Hamburger Bürger wollen natürlich von St. Pauli nichts wissen und sprechen nie davon. Dem Fremden, der das dennoch tut, begegnen sie mit väterlicher Nachsicht und dem entschuldigenden Hinweis auf den leider nicht wegzuleugnenden Umstand, daß Hamburg eine Hafenstadt ist. Das hat nun einmal gewisse Entartungserscheinungen zur Folge, mit denen man sich wohl oder übel abfinden muß.

Nehmen wir etwa den Manager des Hotels, in dem ich abgestiegen war:

»Ich für meine Person«, sagte er, »würde für nichts in der Welt die Reeperbahn aufsuchen. Bei Ihnen, mein Herr, ist das natürlich etwas andres. Sie als ausländischer Journalist sind geradezu verpflichtet, alles kennenzulernen, was unsere Stadt zu bieten hat. Sie dürfen aber«, fügte er mahnend hinzu, »unter gar keinen Umständen allein nach St. Pauli gehen. Die Gangster und Unterwelttypen, von denen es dort nur so wimmelt, würden Sie in den erstbesten dunklen Hausflur zerren und Sie bis zum letzten Pfennig ausrauben.«

Ich dankte ihm mit bewegten Worten und fragte, ob und wo ich vielleicht jemanden finden könnte, der mich begleiten würde.

»Hm. Das ist ein schwieriges Problem. Es kommt natürlich nur ein erfahrener Weltmann als Begleitperson in Betracht. Einer, der sich wirklich auskennt. So wie ich.« Er überlegte einige Sekunden und wandte sich an seine Gattin. »Was meinst du, Liebling?«

»Ich meine, daß du den Herrn begleiten solltest«, lautete die prompte Antwort.

»Nein, Gertrude, nein!« Der Manager schüttelte sich vor Widerwillen. »Alles, nur das nicht!«

»Manchmal«, widersprach Gertrude, »muß man für seine Gäste auch ein Opfer bringen können.«

Nach einigem Hin und Her ließ der Manager sich erweichen, konsultierte sein Vormerkbuch, ob er irgendwo ein Stündchen oder zwei zur freien Verfügung hätte, und teilte mir mit: ja, er hätte.

»Wann?« fragte ich.

»Jetzt gleich.«

Und er trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Auf eine so rasend schnelle Entwicklung der Dinge war ich nicht gefaßt. Außerdem mußte ich erst die Hemmungen überwinden, die ich von meiner humanistischen Erziehung mitbekommen habe. Männliche Lesbier in Frauenkleidung, weibliche in gar keiner und opiumspielende Rouletteraucher sind nicht mein Fall. Ich ließ meinen Wohltäter wissen, daß ich mir die Sache noch überlegen würde.

»Wie Sie wünschen«, sagte er. »Also morgen? Oder übermorgen? Wann? Wann?«

In diesem Augenblick wurde ich glücklicherweise zum Telefon gerufen. Der Mann am andern Ende der Leitung gab sich als Israeli zu erkennen: er halte sich geschäftlich in Hamburg auf, und zwar schon seit längerer Zeit, so daß er füglich von sich behaupten dürfe, die Stadt zu kennen. »Sicherlich wollen auch Sie die Stadt kennenlernen«, fuhr er fort. »Hören Sie auf die Stimme der Erfahrung und gehen Sie nicht allein nach St. Pauli! Erst gestern habe ich mit meiner Frau darüber gesprochen. Sie ist ganz meiner Meinung. Wir dürfen nicht zulassen, daß ein Landsmann in die Klauen der Hamburger Unterwelt gerät. Nicht solange ich hier bin. Ich habe zwar entsetzlich viel zu tun und komme kaum zu Atem – aber wenn Sie darauf bestehen, daß ich Sie begleite…«

»Vielen Dank«, sagte ich, »irgendwie werde ich mich schon durchbringen.«

»Ausgeschlossen! Sie dürfen die unverschämten Weiber, die Ihnen dort auflauern werden, nicht unterschätzen. Die ziehen sich plötzlich nackt aus und schreien, daß Sie ihnen die Kleider vom Leib gerissen haben. Und schon sind ihre Zuhälter da, diese Gangster und Messerstecher – nein, ich kann Sie unmöglich allein lassen! Sind Sie heute abend frei?«

Wir kamen überein, in viertelstündigen Intervallen miteinander zu telefonieren. Der Hotelmanager blieb in der Nähe und legte mir immer wieder ans Herz, daß ich keinem Menschen außer ihm vertrauen sollte. Nach dem vierten Anruf kam ein Page aus der Hotelhalle herbeigeeilt: es wären Leute vom Rundfunk da, die ein originelles Interview mit mir machen wollten, nämlich nicht im Hotel, sondern während wir spazierengingen, irgendwo in der Stadt, gleichgültig wo, vielleicht in St. Pauli, wir könnten dort auch eines oder das andere dieser dreckigen Striptease-Lokale aufsuchen und bekämen eine lebendige Geräuschkulisse aufs Band.

Ich fand den Vorschlag ganz hübsch, wurde jedoch – diesmal nicht vom Manager, sondern vom Portier – eindringlich gewarnt, daß es diesen Gesellen vom Rundfunk doch nur darauf ankäme, unter irgendeinem Vorwand ein Bordell aufzusuchen, und dazu sollte ich mich nicht hergeben. Er, der Portier, beende seinen Dienst um elf Uhr nachts, und das sei genau die richtige Zeit für einen Besuch in St. Pauli.

»Sie müssen unbedingt eine vertrauenswürdige Begleitung haben« , sagte er. »Ich rufe nur noch rasch meine Frau an, um ihr beizubringen, daß ich von einem ausländischen Journalisten dringend als Führer angefordert bin und erst eine halbe Stunde später nach Hause komme…«

Das Blitztelegramm meines israelischen Landsmannes, das mir in diesem Augenblick überreicht wurde, hatte folgenden Wortlaut:

»bin notfalls bereit sie sofort aus ihrem hotel abzuholen stop komme in zehn minuten«.

Die stummen Blicke des Hotelmanagers beschworen mich, ihm treu zu bleiben.

Die Redaktion einer führenden Tageszeitung stellte mir den Besuch eines Interviewers und eines Fotoreporters in Aussicht: die beiden Herren würden mich durch einen interessanten Stadtteil Hamburgs führen, am besten durch St. Pauli, und würden in Wort und Bild festhalten, was ich dort erlebe. Auch der Chefredakteur würde mitkommen. Und der Leiter der Sportrubrik. Und der Herausgeber der Literaturbeilage mit seinem Stab. Zufällig sei auch der Druckereibesitzer gerade anwesend und freue sich, seinen Stiefsohn mitzubringen.

Die Situation wurde nach und nach bedrohlich. Ich wußte nicht, für wen ich mich entscheiden und auf wen ich verzichten sollte. Am Hoteleingang hatte sich bereits eine ansehnliche Menge von opferwilligen Begleitpersonen angesammelt.

Ich trat vor sie hin:

»Wie wär’s und Sie gingen ohne mich nach St. Pauli?« fragte ich.

»Unmöglich«, antwortete der Sprecher der Delegation. »Wir sind anständige Bürger und haben nicht das geringste Interesse an den Dingen, die angeblich in St. Pauli vorgehen. Wir möchten bloß vermeiden, daß ein prominenter Gast wie Sie einen falschen Eindruck von unserer Stadt bekommt.«

Aus der Limousine, die rechts vom Hoteleingang geparkt hatte, winkte mir mein unbekannter israelischer Freund und gab mir durch Zeichensprache zu verstehen, daß wir sofort losfahren könnten. Es half nichts – ich mußte eine Entscheidung treffen, sonst wäre halb Hamburg lahmgelegt.

»Also gut«, rief ich. »Donnerstag.«

Die Menge brach in Hochrufe aus und mein Entschluß verbreitete sich mit Windeseile durch die Stadt. Fernschreiber tickten, chiffrierte Meldungen wurden durchgegeben, und der Norddeutsche Rundfunk verlautbarte in seinen Abendnachrichten eine Reihe von Verkehrsbeschränkungen für den kommenden Donnerstag.

Der Konvoy, der sich zur vereinbarten Zeit auf den Weg machte, bestand aus etwa einem Dutzend Privatautos und einigen Autobussen mit mutigen Bürgern, die entschlossen waren, über mein Wohl zu wachen. Einigen von ihnen merkte man ganz deutlich an, daß sie St. Pauli zum ersten Mal sahen und keine Ahnung hatten, was sie tun sollten. Ich führte sie durch dunkle Straßen, unbekümmert um die ausschwärmenden Dirnen und Zuhälter, die mich jedoch in kein wie immer geartetes Haustor zerrten, weil ich so gut bewacht war. Der Hotelmanager an meiner Seite klatschte beim Anblick jeder weiblichen Gestalt vor Vergnügen in die Hände und hatte Freudentränen in den Augen. Meine übrigen Begleiter verloren sich allmählich je nach Neigung.

Als wir uns wieder bei unserer Wagenkolonne versammelten, zeigte sich, daß uns einige Teilnehmer abhanden gekommen waren, darunter ein Musikkritiker und sein Cousin, die in einem Striptease-Lokal für Transvestiten ein lohnendes Engagement gefunden hatten. Ich selbst wurde von einem Reisebüro unter Vertrag genommen und fungiere seither unter der Chiffre »Eine Nacht in St. Pauli« als Fremdenführer für Einheimische.