Allein gegen die ganze arabische Welt

 

 

Politik und Geographie haben etwas gemeinsam: wer sich auf den Weg macht, weiß nie, wo er ankommen wird. Christoph Columbus, zum Beispiel, wollte Indien erreichen und landete in Amerika. Der Columbus des Vorderen Orients ist Jassir Arafat, Häuptling der »Al Fatach«. Sein Kompaß scheint unterwegs in Unordnung geraten zu sein.

 

Meine Damen und Herren, wir befinden uns im Hauptquartier der »Al Fatach«, irgendwo im Mittelländischen Raum. Das unterirdische Gewölbe, das in einem der großen Apartmenthäuser des Stadtzentrums eingerichtet wurde, ist dicht gefüllt mit den Angehörigen bewaffneter Kommandos. Ihr Führer, Jassir Arafat, studiert gerade eine Generalkarte von Amman, während ihm einer seiner Leibwächter mit einer Schere den Bart stutzt. Die revolutionären Stoppeln des Guerillaführers müssen ständig eine bestimmte Länge aufweisen, und das erfordert sorgfältigste Behandlung. Auch jetzt trägt Arafat die für ihn so typische dunkle Brille, die er nur abnimmt, wenn er etwas sehen will. Er hat die Situation sicher in der Hand. Die Befehle, die er mit scharfer Stimme erteilt, werden sofort ausgeführt. Wie man weiß, sind die von ihm geführten Terroristen nach dem Debakel des Sechstagekrieges zu einem Faktor geworden, mit dem die Weltpresse rechnen muß. Pausenlos attackieren die Freischärler den Feind und ebenso pausenlos laufen ihre Siegesmeldungen ein:

»DER KÖNIGSPALAST WURDE MIT HANDGRANATEN ANGEGRIFFEN.«

»UNSERE STREITKRÄFTE HABEN DEN KOCH DER AMERIKANISCHEN BOTSCHAFT GEFANGENGENOMMEN.«

»EIN VERKEHRSPOLIZIST IN BEIRUT WURDE DURCH UNSERE BAZOOKA-FEUER LIQUIDIERT.«

»EINEM JEEP DER REGIERUNGSTREUEN LEGION WURDEN DIE REIFEN AUFGESCHNITTEN.«

»DIE IRAKISCHE ARTILLERIE WURDE NACH EINEM AUSTAUSCH SCHWERER FLÜCHE ZUM SCHWEIGEN GEBRACHT.«

Die mehr als dreihundert westlichen Journalisten hier im Keller starren gebannt auf den Guerillaführer. Er ist tatsächlich eine legendäre Figur. Noch vor wenigen Jahren war er ein kleiner, unbekannter Schnittwarenhändler – heute ist er der rettende Engel der Palästinenser, vor dem die libanesischen Dorfbewohner ebenso zittern wie die herrschende Clique in Jordanien.

»Es gibt keinen Frieden«, lautet einer der Glaubenssätze Jassirs. »Es gibt kein Zurückweichen und keine Verhandlungen.«

Draußen auf dem Paradeplatz vor dem Hauptquartier üben sich Jassirs Männer in Bajonettangriffen. Dazu verwenden sie ausgestopfte Puppen mit Kronen auf dem Kopf. Ihr wildes Kampfgeschrei läßt die Fensterscheiben erklirren. Diese erprobten Freiheitskämpfer kennen jeden Pfad und jeden Hügel im feindlichen Gebiet. In dunklen Nächten, am liebsten bei Neumond, schlüpfen sie gespenstergleich durch die Barrikaden der pakistanischen Einheiten und legen die Beduinen um, die dort Wache stehen. Die Al-Fatach-Leute haben sich die Taktik des Vietkong zu eigen gemacht; bald erobern sie in heftigem Nahkampf ein Flüchtlingslager, bald lassen sie eine Meldestelle der Regierungstruppen in Flammen aufgehen. Nicht einmal in Kairo fühlen sich die arabischen Machthaber sicher. Der lange Arm von Al Fatach reicht überall hin.

»Wir sind gläubige Moslems«, erklärt Jassir. »Es ist unsere Pflicht, mit der Macht des Schwertes den Islam zu verbreiten. Demnächst beginnen wir einen Heiligen Krieg gegen den christlichen Feind in Beirut.«

Er erhebt sich und tritt an die große Wandkarte, um den Auslandskorrespondenten mit Hilfe kleiner Steckfähnchen die strategische Lage zu erklären. Die Freiheitskämpfer haben das gesamte Territorium des Nahen Ostens infiltriert, die Berge so gut wie die Wüste, die Städte so gut wie die Dörfer. Nur ein einziges Gebiet ist ihnen verschlossen. Es erstreckt sich von den Golan-Höhen zum Suezkanal und weist kein einziges Steckfähnchen auf. Von dieser einen Ausnahme abgesehen, sind die Freiheitskämpfer überall zu finden, lodert überall die heilige Flamme der Befreiung.

»Wir werden« – so schwört Jassir Arafat – »die Waffen nicht niederlegen, ehe alle unsere Stützpunkte zu einer einzigen, gewaltigen Front zusammengeschmolzen sind…«

»Und was ist mit Israel?« fragt ein taktloser Journalist.

Jassir nimmt die dunkle Brille ab: »Wie bitte?«

»Israel.«

»Ja? Was soll damit sein?«

Einer seiner Adjutanten neigt sich zu Jassirs Ohr und flüstert ihm zu, daß es in der Nähe einen Staat dieses Namens gibt, der vor langer Zeit irgendeinmal mit irgendwelchen Plänen der Befreiungsarmee in Zusammenhang gebracht wurde.

Nachdenklich reibt Jassir seine Bartstoppeln. Er versucht sich zu erinnern.

Offenbar ist ihm dieses kleine Detail in der Hitze seiner vielen Gefechte aus dem Gedächtnis entschwunden.

»Schließlich und endlich«, äußert er nach einer kleinen Pause, »kann ich ja nicht allein gegen die ganze Welt kämpfen.«

Damit überläßt er sich aufs neue der Schere seines Leibwächters, weil seine Bartstoppeln inzwischen wieder gewachsen sind.

Von draußen hört man eine motorisierte Kolonne heranrumpeln. Sie kehrt von einem verwegenen nächtlichen Angriff auf das Gefängnisgebäude zurück. Die Befreiung der Palästinenser schreitet fort. Wenn nötig, wird Jassir das Führer-Hauptquartier an das Westufer des Jordan verlegen, um von dieser sicheren Basis aus den Kampf gegen das arabische Gesindel fortzusetzen.