Hitze

 

 

Die ungemein glückliche geographische Lage unseres Landes bewirkt eine enge Zusammenarbeit zwischen der Feuchtigkeit des Meeres und der sengenden Hitze der Wüste. Diese beiden Faktoren treffen einander jeden Donnerstag vor dem Haus des Autors.

 

»Weib«, sagte ich, »vor zehn Minuten ist mir der Kugelschreiber hinuntergefallen.« Die beste Ehefrau von allen lag auf der Couch und blinzelte mühsam unter ihren von Eiswürfeln überlagerten Augenbrauen hervor.

»Heb ihn auf«, murmelte sie. »Den Kugelschreiber.«

»Unmöglich. Zu heiß.«

Ich weiß nicht, auf welchem Breitengrad unsere Wohnung liegt. Es kann nicht sehr weit vom Äquator sein. Im Schlafzimmer haben wir 42 Grad gemessen, an der Nordwand unserer schattigen Küche 48 Grad. Um Mitternacht.

Seit den frühen Morgenstunden liege ich da, bäuchlings, die Gliedmaßen von mir gestreckt, wie ein verendendes Tier. Nur daß verendende Tiere kein weißes Schreibpapier vor sich haben, auf das sie etwas schreiben und mit ihrem Namen zeichnen sollen. Ich, leider, soll. Aber wie soll ich? Um den Kugelschreiber aufzuheben, müßte ich mich hinunterbeugen, in einem Winkel von 45° (45 Grad!), und dann würde der auf meinem Hinterkopf ruhende Eisbeutel zu Boden fallen, und das wäre das Ende.

Vorsichtig bewegte ich mein linkes Bein, in einem lendenlahmen Versuch, des Kugelschreibers mit meinen Zehen habhaft zu werden. Umsonst.

Meine Verzweiflung wuchs. Das war heute schon der fünfte Tag, an dem ich das weiße Schreibpapier vor mir anstarrte, und ich hatte noch nichts zustande gebracht als den einen Satz: »Um Himmels willen, diese Hitze!«

Tatsächlich, eine solche Hitze hat es nie zuvor gegeben. Nie. An einem bestimmten Tag des Jahres 1936 war es fast so heiß wie heute, aber nicht so feucht. Andererseits wurde im Jahre 1947 eine fast ebenso große Feuchtigkeit verzeichnet, aber dafür war die Hitze wesentlich geringer. Nur ein einziges Mal, 1955, war es genauso heiß und genauso feucht. Allerdings in Afrika.

Afrika. Was für ein sonderbares Wort. Meine Zunge versuchte es nachzuformen, erwies sich aber als zu schwer für diese Arbeit. Afrika. Was soll das? Afrika.

»Weib, was ist Afrika?«

»Afrika«, flüsterte sie. »Arfika…«

Jawohl, sie hat »Arfika« gesagt, es war ganz deutlich. Vielleicht ist es sogar richtig. Arfika. Warum nicht? Mir kann’s gleichgültig sein. Mir ist alles gleichgültig. Schon seit Tagen. Schon seit Beginn dieser noch nicht dagewesenen Hitzewelle sitze oder liege ich, genauer: bleibe ich sitzen oder liegen, wo ich gerade hinsinke, und habe keinen andern Wunsch, als mich nicht zu bewegen. Wenn ich in dieser ganzen Zeit öfter als dreimal gezwinkert habe, war’s viel. In meinem Kopf regt sich das absolute Nichts, sofern ein absolutes Nichts sich regen kann. Ich meinerseits kann das nicht. Aber ich wollte doch etwas sagen. Richtig: Diese Hitze. Um Himmels willen, diese Hitze…

Das Telefon läutet. Ein wahres Wunder, daß das Ding noch funktioniert. Mühsam strecke ich meine Hand aus und ergreife den Hörer.

»Hallo«, sagt eine heisere Stimme, die ich als die Stimme unseres Wohnungsnachbarn Felix Seelig erkenne. »Ich bin auf dem Dizengoff-Boulevard. Es ist entsetzlich. Kann ich mit meiner Frau sprechen?«

»Sicherlich. Du brauchst nur deine eigene Nummer zu wählen.«

»Daran habe ich gar nicht gedacht. Danke –«

Ich höre noch das dumpfe Geräusch eines fallenden Körpers, dann ist es still. Um so besser. Das lange Gespräch hat mich ermüdet.

Mit einer Handbewegung deute ich meiner Ehegattin an, daß Felix Seelig allem Anschein nach tot sei. »Erna verständigen«, haucht sie. Im Sommer neigen wir mehr zu kurzen Sätzen. Und zur Lektüre von Krimis. Da überläuft uns doch wenigstens ab und zu ein kalter Schauer.

Was wollten wir? Ach ja. Wir wollten die Witwe Seelig benachrichtigen, daß ihr Mann bei der Verteidigung des Dizengoff-Boulevards gegen die Hitze gefallen war.

Die Witwe Seelig wohnt zwei Wände weit entfernt. Wie soll man sie erreichen?

Mit einer übermenschlichen Anstrengung erhebe ich mich und ziehe meinen gepeinigten Körper hinter mir her, bis ich die Tür unserer Wohnung erreicht habe. Durch diese Tür verlasse ich unsere Wohnung. Die Tür fällt hinter mir ins Schloß.

Erschöpft lehne ich mich ans Treppengeländer, um mit heraushängender Zunge ein wenig Luft zu schnappen, falls es eine solche gibt. Aber es gibt keine.

Es gibt nur Hitze. Großer Gott, was für eine Hitze. Sie dörrt einem das Hirn aus, falls man ein solches hat. Aber man hat keines. Man weiß nicht einmal, warum man hier am Treppengeländer lehnt.

Wirklich: Was suche ich hier? Warum habe ich meine Wohnung verlassen? Ich möchte in meine Wohnung zurück.

Geht nicht. Die Tür ist zu. Was nun. Ein Mann steht vor seiner eigenen Wohnung, in der sich seine eigene Frau befindet, und kann nicht hinein. Was tut man da?

Es ist heiß. Es wird immer heißer.

Ich werde die Stiegen hinuntergehen und jemanden bitten, meine Frau zu verständigen, daß ich draußen stehe. Ich könnte ihr auch telegrafieren. Ja, das ist die Lösung: ein Telegramm.

Aber wie komme ich aufs Postamt? Und natürlich ist niemand in der Nähe, den man fragen könnte.

Ein Autobus erscheint. Ich steige ein. Hinter mir die Hitze.

»Was?« fragt mit fieberglänzenden Augen der Fahrer.

In der Tasche meines Pyjamas entdecke ich eine Pfundnote und drücke sie ihm wortlos in die Hand. Dann wende ich mich an den mir Zunächststehenden:

»Entschuldigen Sie – wohin fährt dieser Bus?«

Der Mann kehrt mir langsam sein Gesicht zu, und ich werde den Ausdruck dieses Gesichts nie vergessen:

»Wohin fährt was?«

»Der Bus.«

»Welcher Bus?«

Damit stolpert er zur Ausgangstür und hinaus in den Schatten. Das war sehr vernünftig. Auch ich stieg aus.

»Heda, Sie!« hörte ich hinter mir die Stimme des Fahrers. »Sie bekommen noch auf Ihre zehn Pfund heraus!«

Ich drehte mich nicht einmal um. Widerwärtiger Pedant.

An der Straßenecke befiel mich unwiderstehliche Gier nach Eiscreme. Eine große Portion, gemischt, Vanille, Schokolade und Erdbeer. Und diese ganze Portion möchte ich mir auf einmal unters Hemd schütten, rückwärts durch den Kragen. Worauf warte ich noch?

Richtig. Die Wohnungstür ist ins Schloß gefallen.

Von fern her dämmert ein ungeheuerlicher Gedanke auf mich zu: Ich hätte an der Wohnungstür läuten können. Die beste Ehefrau von allen hätte sich dann möglicherweise gesagt, daß jemand hereinmöchte, und hätte geöffnet. Warum ist mir das nicht früher eingefallen?

Weil ich aufs Postamt gehen wollte, deshalb.

»Haben Sie zufällig hier in der Gegend ein Postamt gesehen?« frage ich einen Polizisten, der sich unter der Markise einer Küchen- und Heizwarenhandlung versteckt hält.

Der Polizist nestelt ein Büchlein aus seiner schweißverklebten Brusttasche und blättert lange hin und her, ehe er mir Auskunft gibt:

»Das Überschreiten der Straßen ist nur innerhalb der weißen Markierungen gestattet. Gehen Sie nach Hause.«

Seine roten Augen brennen wie langsam verlöschende Kohlen, und seine Stimme klingt sonderbar dumpf und gurgelnd. Ich habe in der letzten Zeit wiederholt feststellen müssen, daß auch ich gelegentlich solche Grunzlaute von mir gebe, besonders wenn ich zu Hause bin und besonders wenn ich nicht zu Hause bin. Es könnte an der Hitze liegen.

Aber das ändert nichts daran, daß ich jetzt nach Hause gehen muß. Anordnung des Polizisten. Der Staatsgewalt darf man sich nicht widersetzen. Schon gar nicht bei dieser Hitze. Und es wird immer noch heißer. Rasch nach Hause.

Wo wohne ich? Wo? Das ist das wahre Problem, das jetzt gelöst werden muß..

Wir werden es lösen. Nur keine Aufregung. Nur nicht nervös werden. Ruhe. Die Gedankenarbeit nimmt ihre Tätigkeit auf, und alles wird wundersam klar.

Ich wohne in einem dreistöckigen Haus, dessen Fenster nach außen gehen. Muß irgendwo hier in der Nähe sein. Eines von diesen Häusern, die alle gleich aussehen. Haustor, Stockwerke, Fernsehantenne auf dem Dach. Besondere Kennzeichen: Der Inhaber dieses Reisepasses hat bei der letzten Hitzewelle Verbrennungen dritten Grades über dem zweiten Stock erlitten. Wo wohne ich? Wo?!

Ruhig nachdenken. Nur die Ruhe kann es machen. Und die sonnendurchglühte Telefonzelle dort an der Ecke. Ganz einfach. Ein klein wenig gedankliche Konzentration genügt. Im Telefonbuch nachschauen. Hoffentlich ist die Seite mit meinem Namen noch nicht versengt.

Mit welchem Namen? Wie heiße ich? Vor ein paar Minuten habe ich es noch gewußt. Der Name liegt mir auf der Zunge. Aber ich habe ihn vergessen. Ich weiß nur noch, daß er mit einem S beginnt. S wie Sonne.

Es wird immer heißer. Und es fällt mir immer schwerer, meinen Körper aufrecht zu halten, in der für Menschen vorgeschriebenen Vertikale. Zum erstenmal im Leben sehe ich den Sharav, unser unvergleichliches heimisches Hitze-Erzeugnis, plastisch vor mir: ein purpurfarbenes Gebilde aus kleinen und großen Kreisen, die ineinander und gegeneinander rotieren, dazwischen dann und wann Diagonalen, Zickzacklinien und ein doppelter Whisky mit Eiswürfeln.

Aus der Richtung vom Dizengoff-Boulevard nähert sich eine Gestalt, die ich mit großer Mühe als menschliche Gestalt erkenne und mit noch größerer als Felix Seelig. Er lebt also noch, der arme Hund. Auf allen Vieren kommt er herangekrochen, ein dünnes Bächlein Schweiß zeichnet seine Spur. Jetzt hat er mich erreicht. Er glotzt mich aus hervorquellenden Augen an, er fletscht die Zähne, er knurrt:

»Grrr.«

»Grrr«, knurre ich zurück und bin auch schon an seiner Seite, auf allen Vieren. Wir brauchen unsere Rücken nur ganz kurz aneinanderzureiben, um volles Einverständnis darüber zu schaffen, daß wir jetzt gemeinsam weitertrotten werden, grunzend den Sümpfen zu.

»Rhinozeros! Rhinozeros!« klingt’s durch verschlossene Fensterläden hinter uns her. Was tut’s. Jeder sein eigener Ionesco. Rhinozeros hin, Rhinozeros her… Rhcrrr… crrr… grrr… es ist heiß… es wird immer heißer… es war noch nie so heiß…