Kapitel 15

Ich wusch das Geschirr ab, das ich zum Kochen für Calvin benutzt hatte. In meinem kleinen Haus war es sehr ruhig. Falls Halleigh zu Hause war, verhielt sie sich still wie ein Mäuschen. Und um es gleich zuzugeben, ich wasche ganz gern ab. Das ist immer eine gute Gelegenheit, die Gedanken schweifen zu lassen, und ich habe schon oft recht gute Entscheidungen getroffen, während ich ganz banale Dinge tat. Jetzt dachte ich über letzte Nacht nach, tja, eigentlich nicht weiter erstaunlich. Ich versuchte, mich genau an Sweeties Worte zu erinnern. Irgendwas daran war mir falsch erschienen, nur hatte sich leider so gar kein geeigneter Zeitpunkt ergeben, um den Finger zu heben und nachzufragen. Irgendwie hatte es mit Sam zu tun.

Schließlich erinnerte ich mich, wie Sweetie zu Andy Bellefleur gesagt hatte, der Hund wäre vielleicht ein Gestaltwandler. Aber sie hatte nicht gewusst, dass es Sam war. Andererseits nicht weiter verwunderlich, denn Sam hatte ja die Gestalt eines Bluthundes angenommen und nicht wie sonst die eines Collies.

Nachdem ich also herausgefunden hatte, was mich beschäftigte, dachte ich, jetzt hätte ich meine Ruhe. Doch weit gefehlt. Da war noch irgendwas anderes - irgendwas, das Sweetie gesagt hatte. Angestrengt dachte ich nach, aber die Erinnerung wollte einfach nicht bis in mein Bewusstsein vordringen.

Und dann war ich selbst erstaunt, als ich plötzlich Andy Bellefleur zu Hause anrief. Seine Schwester Portia war genauso erstaunt wie ich, als sie abhob, und teilte mir ziemlich kühl mit, sie würde Andy holen gehen.

»Ja, Sookie?« Andy klang ganz normal.

»Andy, ich möchte dir eine Frage stellen.«

»Worum geht's?«

»Als Sam angeschossen wurde«, begann ich und hielt dann inne, um zu überlegen, was ich überhaupt sagen wollte.

»Okay«, sagte Andy. »Was war, als Sam angeschossen wurde?«

»Stimmt es, dass die Kugel nicht zu den anderen passt?«

»Wir haben nicht in allen Fällen eine Kugel gefunden.« Keine direkte Antwort, aber besser als gar nichts.

»Hmmm. Okay«, entgegnete ich, dankte ihm und legte auf, nicht ganz sicher, ob ich nun erfahren hatte, was ich hatte erfahren wollen. Ich musste einfach aufhören, darüber nachzudenken, und etwas anderes tun. Wenn da noch irgendein Problem verborgen lag, würde es sich wie von selbst an die Spitze all der Probleme schieben, die meine Gedanken ohnehin schon schwer genug belasteten.

Den Rest des Abends verbrachte ich friedlich für mich allein, ein inzwischen wirklich selten gewordenes Vergnügen. Da ich hier so wenig Haus- und Gartenarbeit zu erledigen hatte, würde ich in den nächsten Wochen eine Menge Freizeit haben. Ich las eine Stunde lang, löste ein Kreuzworträtsel und ging um elf ins Bett.

Erstaunlicherweise wurde ich in dieser Nacht einmal nicht geweckt. Keiner starb, kein Feuer brach aus und keiner musste mich wegen irgendeines Notfalls aufscheuchen.

Als ich am nächsten Morgen aufstand, fühlte ich mich so gut wie schon die ganze Woche nicht. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich bis zehn Uhr morgens durchgeschlafen hatte. Im Grunde war das ja nicht weiter erstaunlich. Meine Schulter war fast verheilt, und das Grübeln hatte ich erst einmal aufgegeben. Ich hatte kaum Geheimnisse, die ich für mich behalten wollte, und das erleichterte mich enorm. Ich war daran gewöhnt, anderer Leute Geheimnisse zu bewahren, aber nicht meine eigenen.

Das Telefon klingelte, als ich eben den letzten Schluck meines Frühstückskaffees trank. Ich legte das Taschenbuch mit der Schriftseite nach unten auf den Küchentisch und ging ans Telefon.

»Hallo«, sagte ich fröhlich.

»Heute ist es soweit«, begann Alcide ganz unvermittelt mit aufgeregter Stimme. »Du musst kommen.«

Dreißig Minuten hatte mein Friede gedauert. Ganze dreißig Minuten.

»Ich schätze mal, du meinst den Wettkampf um die Position des Leitwolfs.«

»Natürlich.«

»Und ich muss dahinkommen. Warum?«

»Du musst kommen, weil das ganze Rudel und alle Freunde des Rudels kommen müssen«, erwiderte Alcide in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Vor allem Christine findet, du solltest das unbedingt sehen.«

Ich hätte mich vielleicht zur Wehr gesetzt, wenn er das mit Christine nicht erwähnt hätte. Die Witwe eines der ehemaligen Leitwölfe hatte ich als intelligente Frau mit kühlem Kopf in Erinnerung.

»Okay«, meinte ich und bemühte mich, nicht zu mürrisch zu klingen. »Wo und wann?«

»Um zwölf Uhr mittags, komm zu dem leeren Gebäude in der Clairemont Street 2005, da wo die Druckerei David & Van Such drin war.«

Ich ließ mir noch eine Wegbeschreibung geben und legte auf. Beim Duschen fiel mir ein, dass es sich ja um eine Art sportlichen Wettkampf handelte, und so zog ich meinen alten Jeansrock und ein langärmliges rotes T-Shirt an. Dazu trug ich eine rote Strumpfhose (der Rock war verdammt kurz) und schwarze Pumps. Sie waren etwas abgewetzt, so dass ich hoffte, Christine würde keinen allzu genauen Blick darauf werfen. Ich legte meine silberne Halskette mit dem Kreuz um; die religiöse Bedeutung würde den Werwölfen nicht weiter auffallen, das Silber vielleicht schon.

Die geschlossene Druckerei David & Van Such war in einem sehr modernen Gebäude in einem ebenso modernen Industriepark untergebracht gewesen, der an diesem Samstag verlassen dalag. Alle Gebäude passten in der Bauweise zueinander: Es waren niedrige Häuser aus grauem Stein und dunklem Glas, umgeben von dichten Myrtenbüschen und Rasenflächen, die hübsch eingefasst waren. David & Van Such hatten sich eine Zierbrücke über einen Zierteich geleistet und eine rote Eingangstür. Im Frühling, wenn es erst wieder aufpoliert war, würde das Gebäude so schön sein, wie ein modernes Geschäftshaus in einem Industriepark nur sein konnte. Jetzt, im ausklingenden Winter, wehte in der kühlen Brise das tote, von Unkraut durchsetzte Gras hin und her, das während des letzten Sommers stark gewachsen war. Die austreibenden Myrtenbüsche mussten zurückgeschnitten werden, und der Teich wirkte durch den Müll, der hier und dort trostlos darin dümpelte, wie ein modriger Tümpel. Auf dem Parkplatz von David & Van Such standen ungefähr dreißig Wagen, darunter - Unheil verkündend - ein Krankenwagen.

Obwohl ich eine Jacke trug, erschien mir der Tag plötzlich viel kühler, während ich vom Parkplatz über die Zierbrücke zum Eingang ging. Ich bedauerte, meinen wärmeren Mantel zu Hause gelassen zu haben, aber für den kurzen Weg vom Auto ins Gebäude hinein hatte ich ihn für unnötig gehalten. Die Glasfront von David & Van Such, die nur von der roten Eingangstür durchbrochen wurde, spiegelte den klaren hellblauen Himmel und das tote Gras.

Es schien mir unangebracht, an der Eingangstür eines Geschäftshauses zu klopfen, also trat ich einfach ein. Zwei Leute waren vor mir, die bereits die leere Empfangshalle durchquert hatten. Sie verschwanden hinter einer einfachen grauen Doppeltür. Ich folgte ihnen und fragte mich, worauf ich mich hier bloß eingelassen hatte.

Wir traten in einen Bereich, in dem wohl mal die Produktion stattgefunden hatte. Die riesigen Druckmaschinen waren allerdings längst verschwunden. Oder vielleicht hatte in diesem gewölbten Raum auch eine Vielzahl von Schreibtischen gestanden mit Angestellten, die Aufträge entgegennahmen oder die Buchhaltung erledigten. Durch Glasöffnungen in der Decke fiel Licht herein. In der Mitte des großen Raumes stand dicht gedrängt eine kleinere Menge.

Tja, die Kleiderfrage hatte ich schon mal falsch gelöst. Die meisten Frauen trugen elegante Hosenanzüge, und hier und da entdeckte ich auch ein Kleid. Ich zuckte die Achseln. Woher hätte ich das wissen sollen?

Unter den Leuten waren einige, die ich auf der Beerdigung nicht gesehen hatte. Ich nickte der rothaarigen Werwölfin namens Amanda zu (ich kannte sie vom Hexenkrieg), und auch sie nickte. Als ich Claudine und Claude entdeckte, staunte ich nicht schlecht. Die Zwillinge sahen fabelhaft aus, wie immer. Claudine trug einen dunkelgrünen Pullover und schwarze Hosen und Claude einen schwarzen Pullover und dunkelgrüne Hosen. Ein wirkungsvoller Auftritt. Da die beiden Elfen die einzigen Anwesenden waren, die offensichtlich nicht zum Werwolfrudel gehörten, gesellte ich mich zu ihnen.

Claudine gab mir einen Kuss auf die Wange und Claude ebenso. Es fühlte sich beide Male haargenau gleich an.

»Was wird denn geschehen?« Ich hatte die Frage flüsternd gestellt, da die Leute um uns herum ungewöhnlich still waren. Ich sah, dass von der Decke Dinge herabhingen, aber bei dem schwachen Licht konnte ich sie nicht erkennen.

»Es wird verschiedene Prüfungen geben«, murmelte Claudine. »Du schreist doch nicht gleich bei jeder Gelegenheit los, oder?«

Bislang nicht, aber ich fragte mich bereits, ob ich heute wohl damit anfangen würde.

Am anderen Ende des Raumes öffnete sich eine Tür und Jackson Herveaux und Patrick Furnan traten ein. Sie waren nackt. Da ich noch nicht allzu viele Männer nackt gesehen hatte, hatte ich natürlich kaum Vergleichsmöglichkeiten; aber ich kann sagen, dass diese beiden Werwölfe meinem Ideal nun wirklich nicht entsprachen. Jackson, der durchtrainiert wirkte, war ein älterer Mann mit dürren Beinen, und Patrick (obwohl stark und muskulös) sah aus wie ein Fass auf Beinen.

Nachdem ich mich an ihre Nacktheit gewöhnt hatte, merkte ich, dass jeder der beiden von einem weiteren Werwolf begleitet wurde. Alcide folgte seinem Vater, und ein junger blonder Mann folgte Patrick, sie waren vollständig bekleidet.

»Wäre nett gewesen, wenn die beiden nackt wären, wie?«, wisperte Claudine und nickte zu den zwei jüngeren Männern hinüber. »Sie sind die Sekundanten.«

Wie in einem Duell. Ich überprüfte gleich, ob sie Pistolen oder Schwerter dabei hatten; doch ihre Hände waren leer.

Christine sah ich erst, als sie vor die Menge trat. Sie hob die Hände über den Kopf und klatschte einmal hinein. Vorher war schon kaum Geplauder zu hören gewesen, doch jetzt wurde es absolut still in dem riesigen Raum. Die zierliche Frau mit dem silbrig glänzenden Haar zog alle Aufmerksamkeit auf sich.

Sie schlug ein Buch auf, ehe sie begann. »Wir sind hier, um den nächsten Leitwolf zu ermitteln für das Shreveport-Rudel, auch Reißzahn-Rudel genannt. Um Anführer des Rudels zu werden, müssen diese Werwölfe drei Prüfungen bestehen.« Christine hielt inne und sah in das Buch hinein.

Drei war eine gute mystische Zahl. Genau die Zahl, die ich erwartet hätte.

Hoffentlich floss in keiner dieser drei Prüfungen Blut. Na, ich glaubte selbst nicht daran.

»Die erste ist die Prüfung der Geschicklichkeit.« Christine zeigte auf einen abgegrenzten Bereich hinter sich. In dem trüben Licht wirkte er wie ein gigantischer Spielplatz. »Dann die Prüfung der Ausdauer.« Sie deutete auf einen Bereich mit Bodenbelag zu ihrer Linken. »Und danach die Prüfung der Kampfkraft.« Sie wedelte mit der Hand in Richtung eines Gebildes hinter sich.

So viel zu der Frage, ob Blut fließen würde.

»Zum Schluss muss sich der Sieger mit einer Werwölfin paaren, um das Überleben des Rudels sicherzustellen.«

Dieser vierte Teil war sicher rein symbolisch gemeint. Schließlich hatte Patrick Furnan eine Ehefrau, die etwas abseits bei einer Gruppe eindeutig pro Patrick gestimmter Leute stand.

Und waren das nicht eher vier als nur drei Prüfungen? Falls die Sache mit der Paarung nicht als Siegestrophäe gedacht war.

Claude und Claudine ergriffen meine Hände und drückten sie gleichzeitig. »Das wird böse enden«, flüsterte ich, und beide nickten zustimmend.

Ganz hinten in der Menge standen zwei uniformierte Sanitäter, die auch irgendeine Art Gestaltwandler waren, wie mir ihre Gedankenmuster verrieten. Bei ihnen war eine Frau - oder besser ein Geschöpf -, die ich seit Monaten nicht gesehen hatte: Dr. Ludwig. Sie fing meinen Blick auf und verneigte sich. Da sie nur knapp einen Meter groß war, hatte sie nicht allzu viel vorzuneigen. Auch ich verneigte mich. Dr. Ludwig hatte eine große Nase, olivenfarbene Haut und dickes, welliges braunes Haar. Ich war froh, sie hier zu sehen. Keine Ahnung, was Dr. Ludwig eigentlich war (ein Mensch jedenfalls nicht), aber sie war auf jeden Fall eine gute Ärztin. Mein Rücken wäre auf Dauer von Narben verunstaltet geblieben - sofern ich es denn überlebt hätte -, wenn Dr. Ludwig mich nach einem Angriff von Mänaden nicht behandelt hätte. So war ich mit ein paar Tagen Krankheit und einer feinen weißen Zeichnung der Haut über meinen Schulterblättern davongekommen.

Die Kandidaten betraten den »Ring« - eigentlich eine große viereckige Arena, die von dicken Kordeln an Metallständern abgegrenzt wurde, wie sie oft in Hotels zu sehen sind. Ich hatte dabei zuerst an einen Spielplatz gedacht, doch als jetzt Lichter angingen, sah ich etwas, das eine Kreuzung aus Springparcours für Pferde und Turnhalle zu sein schien - oder eben ein Parcours zur Prüfung der Geschicklichkeit von Hunden, von großen Hunden.

Christine sagte: »Verwandelt euch.« Und dann trat sie in die Menge zurück. Beide Kandidaten ließen sich zu Boden fallen, und die Luft um sie herum begann zu schimmern und zu wirbeln. Die Verwandlung auf eigenen Wunsch vollziehen zu können, das war der ganze Stolz eines Gestaltwandlers. Die beiden Werwölfe vollendeten ihre Verwandlung nahezu zeitgleich. Jackson Herveaux war zu einem großen schwarzen Wolf geworden, wie sein Sohn. Patrick Furnan war fahlgrau und wirkte etwas gedrungener mit seinem breiten Brustkorb.

Als die Menge näher an die Kordeln herantrat, tauchte einer der größten Männer, die ich je gesehen hatte, aus den dunklen Schatten im Hintergrund auf und stieg in die Arena. Ich erkannte in ihm jenen Mann, den ich schon auf der Beerdigung von Colonel Flood gesehen hatte. Er maß mindestens zwei Meter, hatte seinen Oberkörper entblößt und war barfuß. Seine Muskeln waren höchst eindrucksvoll und seine Brust so haarlos wie sein Kopf. Er wirkte wie ein Dschinn aus >Tausendundeiner Nacht< und hätte mit Schärpe und Pluderhosen sicher eine gute Figur gemacht. Stattdessen trug er eine alte Jeans. Seine Augen waren kohlrabenschwarz. Natürlich war er irgendeine Art Gestaltwandler, aber ich hatte keine Ahnung, in was er sich verwandelte.

»Woah«, machte Claude.

»Oh Mann«, wisperte Claudine.

»Wow«, murmelte ich.

Der große Mann stellte sich zwischen die beiden Gegenspieler und führte sie an den Start des Parcours.

»Hat die Prüfung begonnen, darf kein Rudelmitglied mehr das Wort ergreifen«, sagte er und sah von Werwolf zu Werwolf. »Der erste Wettkämpfer ist Patrick, Werwolf dieses Rudels«, fuhr er fort. Seine Bassstimme klang so dramatisch wie ein Trommelwirbel aus weiter Ferne.

Jetzt hatte ich es begriffen. Er war der Wettkampfrichter.

»So hat das Los durch Werfen einer Münze entschieden. Patrick beginnt.«

Ehe ich noch denken konnte, wie witzig es doch war, dass diese feierliche Zeremonie hier mit dem Werfen einer Münze begann, war der fahlgraue Wolf schon so schnell gestartet, dass ich ihm kaum mit den Augen folgen konnte. Er jagte eine Rampe hinauf, sprang über drei Fässer, berührte am anderen Ende wie ein Blitz den Boden, rannte eine weitere Rampe hinauf, sprang durch einen von der Decke herabhängenden Reifen (der nach seinem Sprung heftig schaukelte), landete wieder auf dem Boden und kroch auf allen vieren durch einen durchsichtigen Tunnel, der sehr eng und an manchen Stellen kurvig war. So wie die, die in Tierhandlungen für Frettchen oder Wüstenrennmäuse verkauft wurden, nur viel größer. Als er wieder aus dem Tunnel herauskam, stand der hechelnde Wolf vor einem ebenen Feld mit Kunstrasen. Hier hielt er kurz inne und besann sich, ehe er eine Pfote vorsetzte. Schritt um Schritt tastete der Wolf sich vorwärts, um die etwa zwanzig Meter dieses besonderen Tests hinter sich zu bringen. Plötzlich schoss ein Stück Kunstrasen in die Höhe. Eine Falle war zugeschnappt und hatte nur knapp einen seiner Hinterläufe verfehlt. Bestürzt jaulte der Werwolf auf und verharrte starr. Wie qualvoll musste es sein, sich derart zu beherrschen, statt sofort auf das sichere Podest zu springen, das nur noch wenige Meter entfernt lag.

Ich zitterte, auch wenn dieser Wettkampf kaum etwas mit mir zu tun hatte. Die Anspannung unter den Werwölfen war mit Händen zu greifen. Sie schienen sich gar nicht mehr wie Menschen zu bewegen. Selbst die aufgetakelte Mrs Furnan hatte jetzt seltsam große runde Augen, die trotz all ihres Make-up nicht mehr wie die einer Frau wirkten.

Als der graue Wolf die letzte Übung, einen Sprung aus dem Stand über eine Länge von etwa zwei Autobreiten, bestanden hatte, brach unter Patricks Anhängern ein Triumphgeheul los. Der fahlgraue Werwolf stand wohlbehalten auf dem Podest. Der Wettkampfrichter las von der Stoppuhr in seiner Hand die Zeit ab.

»Der zweite Kandidat«, sagte der große Mann, »Jackson Herveaux, Werwolf dieses Rudels.« Die Gedanken eines der Umstehenden verrieten mir den Namen des Wettkampfrichters.

»Quinn«, flüsterte ich Claudine zu, die die Augen aufriss. Der Name schien für sie eine Bedeutung zu haben, die ich nicht im Entferntesten erahnte.

Nun begann für Jackson Herveaux dieselbe Prüfung seiner Geschicklichkeit, die Patrick bereits bestanden hatte. Er sprang mit viel mehr Anmut durch den aufgehängten Reifen, der sich kaum bewegte, als er hindurchschoss. Im Tunnel brauchte er meiner Meinung nach etwas länger, was er selbst wohl auch so sah, denn er lief zu eilig in das mit Fallen ausgelegte Feld - nicht sehr klug. Abrupt blieb er stehen, vielleicht hatte er dieselbe Schlussfolgerung gezogen. Er neigte den Kopf, um die Nase sorgfältiger einzusetzen, und bebte am ganzen Körper, als er seine Situation erkannte. Außerordentlich vorsichtig hob der Werwolf seine schwarzen Pfoten und setzte sie zentimeterweise vorwärts. Mit angehaltenem Atem beobachteten wir, wie er sich mit einer ganz anderen Methode vorarbeitete als sein Vorgänger. Patrick Furnan hatte große Schritte gemacht und längere Pausen eingelegt, in denen er ausgiebig schnüffelte. Jackson Herveaux bewegte sich stetig vorwärts, mit winzigen Schritten, die Nase immer am Boden und die eigenen Bewegungen exakt kontrolliert. Zum Glück kam auch Alcides Vater unverletzt durch den Parcours, ohne dass eine einzige Falle zuschnappte.

Der schwarze Wolf konzentrierte sich auf den letzten langen Sprung und stieß sich mit aller Kraft vom Boden ab. Seine Landung war alles andere als anmutig, da er mit den Hinterläufen an der Kante des Podests scharren musste, um Halt zu finden. Aber er schaffte es, und ein paar Gratulationsrufe ertönten auch für ihn in dem weiten Raum.

»Beide Kandidaten haben die Prüfung der Geschicklichkeit bestanden«, sagte Quinn und ließ den Blick über die Menge schweifen. Als er unser seltsames Trio entdeckte - zwei große schwarzhaarige Elfen und eine viel kleinere blonde Menschenfrau -, schien er für einen Augenblick zu stutzen; doch es war schwer zu beurteilen.

Christine versuchte, meine Aufmerksamkeit zu erlangen. Als ich sie bemerkt hatte, deutete sie mit einem knappen Kopfnicken in Richtung der Arena zur Prüfung der Ausdauer. Verwirrt, aber gehorsam bahnte ich mir einen Weg durch die Menge. Mir war gar nicht aufgefallen, dass die Zwillinge mir gefolgt waren, bis sie jeder an einer Seite von mir Aufstellung nahmen. Christine wollte, dass ich mir hier etwas ansah, etwas... Natürlich. Sie bat mich, mein besonderes Talent einzusetzen, denn sie vermutete hier ... Betrug. Als Alcide und sein blonder Widerpart ihre Plätze in der Arena einnahmen, fiel mir auf, dass sie beide Handschuhe trugen. Ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich voll und ganz auf diesen Wettkampf, was es mir unmöglich machte, noch irgendwas anderes aus ihren Gedanken herauszusieben. Blieben die beiden Werwölfe. Ich hatte noch nie versucht, die Gedanken verwandelter Geschöpfe zu lesen.

Einigermaßen ängstlich begann ich, mich für ihre Gedanken zu öffnen. Wie ihr euch vielleicht denken könnt, war diese Mixtur aus Gedankenmustern von Mensch und Hund eine echte Herausforderung. Beim ersten Versuch stellte ich bloß die gleiche starke Konzentration auf die Prüfung fest, doch dann bemerkte ich kleine Abweichungen.

Alcide hob einen fünfzig Zentimeter langen Silberstab hoch und mich fröstelte. Als der blonde Werwolf neben ihm die Geste wiederholte, zitterte ich am ganzen Leib vor Widerwillen. Die Handschuhe waren nicht zwingend notwendig, weil die Haut eines Werwolfs in seiner menschlichen Gestalt nicht von Silber verletzt wird. In ihrer Wolfsgestalt verursacht Silber ihnen allerdings schreckliche Schmerzen.

Furnans blonder Sekundant fuhr mit den behandschuhten Händen über den Silberstab, wie um ihn auf Fehler zu prüfen.

Keine Ahnung, warum Silber Vampire schwächte und schließlich verbrannte und warum es auch für Werwölfe tödliche Folgen haben konnte, während es bei Elfen überhaupt nicht wirkte - Elfen ertrugen dagegen keinen länger anhaltenden Hautkontakt mit Eisen. Ich wusste nur, dass diese Dinge der Wahrheit entsprachen, und ich wusste, dass die folgende Prüfung entsetzlich anzuschauen sein würde.

Egal, ich war ja schließlich hier, um sie zu ertragen. Irgendetwas würde passieren, das meine ganze Aufmerksamkeit verlangte. Ich konzentrierte mich noch einmal auf die kleinen Abweichungen, die ich in Patricks Gedanken wahrgenommen hatte - die in seiner Werwolfgestalt allerdings so primitiv waren, dass sie sich kaum als Gedanken qualifizierten.

Quinn stand zwischen den beiden Sekundanten, auf seinem blanken Schädel blitzte ein Lichtstrahl. Wieder hielt er die Stoppuhr in Händen.

»Die Kandidaten nehmen jetzt das Silber«, sagte er, und Alcide legte mit seinen behandschuhten Händen den Silberstab in das Maul seines Vaters. Der schwarze Wolf biss zu und setzte sich, so wie es auch der fahlgraue Wolf mit seinem Silberstab tat. Die beiden Sekundanten traten zurück. Jackson Herveaux heulte vor Schmerz laut auf, während Patrick Furnan kein Anzeichen der Anstrengung erkennen ließ außer ein schweres Hecheln. Als die zarte Haut seines Zahnfleischs und seiner Lippen zu qualmen und zu stinken begann, wurde Jacksons Wolfsgeheul lauter. Patricks Haut zeigte dieselben schmerzhaften Symptome, doch er blieb schweigsam.

»Sie sind ja so tapfer«, flüsterte Claude, der entsetzt, aber ungeheuer fasziniert die Qualen beobachtete, die die beiden Werwölfe erduldeten. Es wurde immer offensichtlicher, dass der ältere Werwolf diese Prüfung nicht bestehen würde. Seine sichtbaren Anzeichen von Schmerz wuchsen von Sekunde zu Sekunde, und auch wenn Alcide sich ganz auf seinen Vater konzentrierte, um ihn mit aller Kraft zu unterstützen, wäre es jeden Moment vorbei. Es sei denn...

»Er betrügt«, rief ich laut und deutlich und zeigte auf den grauen Wolf.

»Kein Rudelmitglied darf das Wort ergreifen.« Quinns tiefe Stimme klang nicht wütend, nur nüchtern sachlich.

»Ich bin kein Rudelmitglied.«

»Sie stellen den Wettkampf in Frage?« Jetzt sah Quinn mich an. Alle Rudelmitglieder um mich herum wichen zurück, bis ich allein mit den beiden Elfen dastand, die mich ziemlich erstaunt und erschrocken ansahen.

»Worauf Sie Gift nehmen können. Riechen Sie an den Handschuhen, die Patricks Sekundant getragen hat.«

Der blonde Sekundant wirkte, als hätte ihn aus heiterem Himmel der Blitz getroffen. Und er wirkte sehr schuldig.

»Lasst die Silberstäbe fallen«, befahl Quinn, und die Werwölfe gehorchten sofort, Jackson Herveaux mit einem Winseln. Alcide kniete sich neben seinen Vater und umfasste den älteren Wolf mit den Armen.

Quinn, der sich so geschmeidig bewegte, als wären seine Gelenke geölt, ging in die Hocke, um die Handschuhe aufzuheben, die Patricks Sekundant auf den Boden geworfen hatte. Libby Furnans Arm schnellte über die Kordelabtennung, um nach ihnen zu greifen, doch ein tiefes Knurren von Quinn ließ sie innehalten. Mir lief ein Schauder über den Rücken.

Quinn ergriff die Handschuhe und roch daran.

Er blickte mit einer solchen Verachtung auf Patrick Furnan herab, dass ich mich wunderte, wieso der Werwolf unter dieser Bürde nicht augenblicklich zusammenbrach.

Dann drehte Quinn sich zu der Menge um. »Die Frau hat Recht.« Quinns tiefe Stimme verlieh seinen Worten eine bleierne Schwere. »An den Handschuhen ist ein Medikament. Es hat Furnans Haut betäubt, als ihm der Silberstab ins Maul gelegt wurde, damit er länger durchhält. Ich erkläre ihn zum Verlierer dieser Prüfung. Das Rudel muss entscheiden, ob er sein Recht auf Fortführung des Wettkampfs verwirkt hat und ob sein Sekundant weiterhin Rudelmitglied bleiben soll.« Der blonde Werwolf krümmte sich, als erwarte er Schläge von irgendjemandem. Keine Ahnung, warum seine Strafe härter ausfallen sollte als Patricks. Fielen die Strafen womöglich umso härter aus, je niedriger der Rang des Mitglieds war? Nicht gerade fair; aber andererseits, ich war kein Werwolf.

»Das Rudel wird abstimmen«, rief Christine. Unsere Blicke trafen sich, und ich verstand, dass sie meine Anwesenheit beim Wettkampf wegen dieser Sache hier gewünscht hatte. »Wenn bitte alle anderen solange nach draußen in die Empfangshalle gehen.«

Quinn, Claude, Claudine und drei Gestaltwandler gingen mit mir hinaus. Dort war sehr viel mehr natürliches Licht, was angenehm war. Weniger angenehm war die Neugier, die sich um mich herum ausbreitete. Meine Schutzbarrieren waren immer noch unten, und ich spürte den Argwohn und die Spekulationen, die den Köpfen meiner Begleiter entströmten, die beiden Elfen selbstverständlich ausgenommen. Für Claude und Claudine war meine Fähigkeit eine seltene Gabe und sie sahen in mir eine vom Schicksal reich beschenkte Frau.

»Kommen Sie her«, polterte Quinn, und ich hätte ihm am liebsten gesagt, er könne sich seine Befehle dahin stecken, wo nie die Sonne scheint. Aber das wäre kindisch gewesen, und ich hatte nichts zu befürchten. (Zumindest redete ich mir das ein, ganz schnell siebenmal hintereinander.) Ich streckte mein Rückgrat, so sehr es mir möglich war, ging zu ihm hinüber und sah in sein Gesicht hinauf.

»Sie müssen mir das Kinn nicht so entgegenrecken«, sagte er gelassen. »Ich habe nicht vor, Sie zu bestrafen.«

»Davon gehe ich aus«, erwiderte ich schnippisch, worauf ich ziemlich stolz war. Was waren seine runden Augen dunkel, so samtig lilabraun wie die von sehr sanften Männern. Sie waren wunderschön! Ich lächelte aus reiner Freude ... und vor lauter Erleichterung.

Ganz unerwartet lächelte auch er mich an. Er hatte volle Lippen, sehr ebenmäßige weiße Zähne und einen kräftigen Hals.

»Wie oft müssen Sie sich eigentlich rasieren?«, fragte ich, fasziniert von seiner Sanftheit.

Er lachte aus vollem Halse.

»Haben Sie vor gar nichts Angst?«, fragte er.

»Vor so vielem«, entgegnete ich bedauernd.

Darüber dachte er einen Augenblick nach. »Besitzen Sie einen besonders stark ausgeprägten Geruchssinn?«

»Nein.«

»Kennen Sie den blonden jungen Mann?«

»Noch nie gesehen.«

»Woher wussten Sie es dann?«

»Sookie kann Gedanken lesen«, sagte Claude. Als ihn der Blick des großen Mannes in seiner ganzen Schwere traf, schien ihm die Einmischung plötzlich unendlich leid zu tun. »Meine Schwester ist ihr Schutzeng... äh ...elfe«, fügte Claude hastig hinzu.

»Das machen Sie aber gar nicht gut«, sagte Quinn zu Claudine.

»Lassen Sie Claudine in Ruhe«, fuhr ich entrüstet dazwischen. »Sie hat mir schon tausendmal das Leben gerettet.«

Quinn blickte entnervt drein. »Elfen«, murmelte er. »Die Werwölfe werden gar nicht begeistert sein von dem, was sie von Ihnen erfahren mussten«, erzählte er mir. »Wenigstens die Hälfte würde Sie lieber tot sehen. Wenn Ihre Sicherheit Claudines oberstes Anliegen wäre, hätte sie Ihnen den Mund zuhalten sollen.«

Claudine wirkte wie vernichtet.

»Hey«, sagte ich. »Schluss jetzt. Ich weiß ja, dass Sie da drin Freunde haben, aber lassen Sie das nicht an Claudine aus. Oder an mir«, fügte ich schnell hinzu, als sein Blick mich fixierte.

»Ich habe da drin keine Freunde. Und ich rasiere mich jeden Morgen«, entgegnete er.

»Okay, okay.« Ich nickte verlegen.

»Und wenn ich ausgehe, auch am Abend.«

»Hab's verstanden.«

»Wenn ich etwas Besonderes vorhabe.«

Was war in Quinns Augen wohl etwas Besonderes?

Die Tür ging auf, und so wurde eins der merkwürdigsten Gespräche, die ich je geführt hatte, unterbrochen.

»Sie können wieder hereinkommen«, sagte eine junge Werwölfin in sieben Zentimeter hohen Stöckelschuhen, die geradezu »Fick mich« zu schreien schienen. Sie trug ein weinrotes Etuikleid, und als wir ihr in den Raum folgten, ergänzte sie ihren Gang noch um einen Extrahüftschwung. Wen wollte sie damit verführen? Quinn oder Claude? Oder womöglich Claudine?

»Dies ist unser Beschluss«, sagte Christine zu Quinn. »Wir nehmen den Wettkampf dort wieder auf, wo er unterbrochen wurde. Unserer Abstimmung gemäß wird Patrick, weil er bei der zweiten Prüfung betrogen hat, zum Verlierer dieser Prüfung erklärt. Und ebenso zum Verlierer der ersten Prüfung. Aber er darf im Rennen bleiben. Wenn er noch gewinnen will, muss er die letzte Prüfung eindeutig gewinnen.« Ich war nicht ganz sicher, was »eindeutig« in diesem Zusammenhang bedeuten sollte. Aber aus Christines Miene schloss ich, dass es nichts Gutes verhieß. Zum ersten Mal erkannte ich, dass wer im Recht war nicht immer Recht bekam.

Alcide wirkte sehr verbittert, als ich sein Gesicht in der Menge entdeckte. Der Beschluss war eindeutig zum Vorteil des Gegners seines Vater ausgefallen. Mir war bislang gar nicht aufgefallen, dass das Furnan-Lager mehr Anhänger hatte als das Herveaux-Lager; und ich fragte mich, wann diese Verlagerung stattgefunden hatte. Bei der Beerdigung war mir das Kräfteverhältnis noch ganz ausgeglichen erschienen.

Weil ich mich bereits eingemischt hatte, nahm ich mir heraus, mich auch weiterhin einzumischen. Ich lief unter den Rudelmitgliedern herum und hörte mir ihre Gedanken an. Und auch wenn die wirren und verdrehten Gedankenmuster von Werwölfen und Gestaltwandlern schwer zu entziffern sind, schnappte ich doch hier und da einen Anhaltspunkt auf. Die Furnans hatten, wie ich erfuhr, ihren Plan in die Tat umgesetzt und Geschichten über Jackson Herveaux' Spielleidenschaft in Umlauf gebracht, stets mit dem Hinweis, wie unzuverlässig ihn das als Leitwolf machte.

Von Alcide wusste ich, dass die Geschichten über die Spielleidenschaft seines Vaters wahr waren. Obwohl ich die Furnans nicht gerade dafür bewunderte, dass sie diese Karte gespielt hatten, betrachtete ich diesen Schachzug doch auch nicht als Betrug.

Die beiden Gegenspieler waren noch in ihrer Wolfsgestalt. Wenn ich es richtig verstanden hatte, sollten sie nun also zum Kampf antreten. Ich stand neben Amanda. »Was ist denn in der letzten Prüfung anders als sonst?«, fragte ich. Die rothaarige Werwölfin flüsterte mir zu, dass der Kampf kein gewöhnlicher Kampf mehr war, bei dem derjenige, der nach fünf Minuten noch stand, zum Sieger erklärt wurde. Um jetzt den Kampf »eindeutig« zu gewinnen, musste der Verlierer tot sein oder schwer verletzt.

Das war noch schlimmer als alles, auf das ich gefasst gewesen war. Doch ich wusste, dass ich jetzt nicht mehr gehen konnte.Die Menge versammelte sich um eine gitterartige Drahtkuppel, die mich an >Mad Max 3: Jenseits der Donnerkuppel< erinnerte. Ihr wisst doch noch - »Zwei gehen rein, nur einer kommt lebend raus«. Ich schätze, das hier war die Werwolfvariante. Quinn öffnete die Tür der käfigartigen Kampfarena, und die zwei großen Wölfe schlichen hinein und ließen die Blicke von Seite zu Seite schweifen, wobei sie ihre Anhänger zählten. Oder wenigstens sah es so aus, als ob sie das taten.

Quinn drehte sich um und verneigte sich vor mir.

Ah. Oh. Ich runzelte die Stirn. Dieser dunkle, lilabraune Blick verfolgte doch eine Absicht. Der Mann führte etwas im Schilde. Widerwillig ging ich zu ihm.

»Lesen Sie noch einmal ihre Gedanken«, forderte er mich auf und legte mir eine seiner riesigen Hände auf die Schulter. Er drehte mich herum, so dass wir einander von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden - okay, ich starrte eher auf seine dunkelbraunen Brustwarzen. Verwirrt sah ich zu ihm hinauf.

»Hören Sie, blonde Schönheit, Sie müssen einfach nur da hineingehen und Ihre Aufgabe erledigen«, sagte er beschwichtigend.

Er meinte doch wohl nicht, während die Werwölfe in dem Käfig da frei herumliefen? Und was, wenn er einfach die Tür hinter mir zuwarf? Ich sah über die Schulter zu Claudine hinüber, die wie verrückt den Kopf schüttelte.

»Warum sollte ich das tun? Aus welchem Grund?«, fragte ich, denn eine komplette Idiotin war ich weiß Gott nicht.

»Versucht er noch einmal zu betrügen?«, fragte Quinn so leise, dass ihn sicher niemand außer mir verstand. »Plant Furnan irgendeinen Betrug, den ich nicht erkennen kann?«

»Garantieren Sie für meine Sicherheit?«

Er blickte mir in die Augen. »Ja«, sagte er, ohne zu zögern, und öffnete die Tür zum Käfig. Auch wenn er sich bücken musste, kam er hinter mir her.Die beiden Wölfe näherten sich mir zögerlich. Ein strenger Geruch ging von ihnen aus, wie von Hunden, nur moschusartiger und wilder. Nervös legte ich meine Hand auf Patrick Furnans Kopf. Ich konzentrierte mich so stark wie möglich auf seine Gedanken, konnte aber nichts wahrnehmen außer einer rasenden Wut auf mich, weil ich ihn um seinen Sieg bei der Prüfung der Ausdauer gebracht hatte. Und dann war da noch die heiß glühende Absicht, den bevorstehenden Kampf ohne Rücksicht auf Verluste zu gewinnen.

Ich seufzte, schüttelte den Kopf und nahm meine Hand weg. Aus Gründen der Fairness legte ich meine Hand auch auf Jacksons Rücken, der mir erschreckend nah war. Der Wolf vibrierte geradezu, ein leichtes Beben ging durch seinen Körper und ließ meine Hand erzittern. Sein ganzes Streben war darauf gerichtet, seinem Rivalen alle Gliedmaßen einzeln herauszureißen. Doch Jackson hatte auch Angst vor dem jüngeren Wolf.

»Alles okay«, sagte ich. Quinn wandte sich ab und öffnete die Tür. Er bückte sich, um hinauszugehen, und ich wollte ihm schon folgen, da schrie plötzlich die junge Frau in dem weinroten Etuikleid auf. Schneller, als ich es einem derart großen Mann zugetraut hatte, drehte er sich auf dem Fuß herum, ergriff mit einer Hand meinen Arm und zog mich mit aller Kraft blitzschnell heraus. Mit der anderen Hand knallte er die Tür zu, und ich hörte, wie etwas von innen dagegen donnerte.

Der Lärm hinter mir verriet, dass der Kampf bereits losgegangen war, während ich förmlich an Quinns riesenhaftem, sonnengebräuntem Körper klebte.

Das Ohr an Quinns Brust gepresst hörte ich sowohl das Dröhnen um uns herum wie auch ihn, als er fragte: »Sind Sie verletzt?«

Jetzt war es an mir, zu zittern und zu beben. Mein Bein fühlte sich feucht an, und ich sah, dass meine Strumpfhose zerrissen war und an meiner rechten Wade eine Wunde blutete. War ich an der Drahttür entlanggeschrammt, als Quinn sie so schnell schloss, oder war ich gebissen worden? Oh mein Gott, wenn ich gebissen worden war...

Alle anderen standen dicht an den Drahtkäfig gedrängt da und beobachteten die knurrenden, herumwirbelnden Wölfe. Ein feiner Sprühregen von Speichel und Blut umgab sie, der auch hier und da auf die Zuschauer niederging. Ich drehte mich herum und sah, wie Jackson, der sich Patricks Hinterlauf geschnappt hatte, von Patrick weggebissen wurde, als dieser sich so weit herumdrehte, dass er Jackson in die Schnauze beißen konnte. Ich erhaschte einen Blick auf Alcides Miene, die angespannt und gequält wirkte.

Das wollte ich mir nicht ansehen. Lieber starrte ich noch eine Weile den Körper dieses Fremden an, als zuzuschauen, wie die beiden Männer sich umbrachten.

»Ich blute«, sagte ich zu Quinn. »Ist aber nicht schlimm.«

Ein schmerzhaftes Aufjaulen im Käfig ließ erkennen, dass einer der Wölfe einen Treffer gelandet hatte. Ich erschauderte.

Der große Mann trug mich mehr oder weniger zur Wand hinüber. So war ich wenigstens weit genug vom Kampf entfernt. Er half mir, mich gegen die Wand gelehnt hinzusetzen.

Auch Quinn ließ sich auf den Boden nieder. Seine Bewegungen waren so anmutig für einen derart großen Mann, dass ich ihn fasziniert beobachtete. Er kniete sich neben mich, zog mir die Schuhe aus und dann meine Strümpfe, die zerrissen und voller Blut waren. Schweigend und zitternd sah ich zu, wie er sich danach auf den Bauch legte. Mit seinen riesigen Händen ergriff er mein Knie und meinen Knöchel, als wäre mein Bein ein zu lang geratener Hühnchenschlegel. Ohne ein Wort zu sagen, begann Quinn, das Blut von meiner Wade zu lecken. Ich hatte schon Angst, dass das bloß die Vorbereitung für einen Biss war, als Dr. Ludwig herüberkam, ihn beobachtete und nickte. »Das wird wieder«, sagte die winzige Ärztin, tätschelte meinen Kopf, als wäre ich ein verletzter Hund, und ging zu den Zuschauern zurück.

Auch wenn ich kein anderes Gefühl als enorme Anspannung für möglich gehalten hätte, entführte mich das, was da an meinem Bein vor sich ging, doch in vollkommen andere Gefilde. Unruhig rutschte ich hin und her und unterdrückte ein Keuchen. Sollte ich mein Bein Quinns Händen besser entziehen? Wie seine schimmernde Glatze da beim Ablecken so rhythmisch auf- und abtauchte, erinnerte mich das an etwas, das Welten entfernt war von dem Kampf auf Leben und Tod dort drüben an der anderen Seite des Raumes. Quinn wurde jetzt langsamer und langsamer, während er mit warmer und ein wenig rauer Zunge mein Bein säuberte. Obwohl seine Gedanken noch undurchdringlicher waren als die der meisten Gestaltwandler, die ich kannte, erahnte ich, dass er dieselben Empfindungen durchlebte wie ich.

Als er fertig war, legte er seinen Kopf auf meinen Oberschenkel. Er atmete schwer, und ich bemühte mich zu verbergen, dass ich ebenso schwer atmen musste. Seine Hände lösten ihren Griff, strichen dann allerdings höchst absichtsvoll über mein Bein. Er sah zu mir auf. Seine Augen hatten sich verändert. Sie waren jetzt golden, ganz und gar golden. Wow.

Ich schätze, er konnte in meinem Gesicht lesen, dass ich - um es mal harmlos auszudrücken - unserem kleinen Intermezzo höchst zwiegespalten gegenüberstand.

»Weder die richtige Zeit noch der richtige Ort für uns, Baby«, sagte er. »Gott, das war... wunderbar.«

Er streckte sich, aber das war kein Recken der Arme und Dehnen der Brust, so wie bei den Menschen. Es war eher eine wogende, fließende Bewegung vom unteren Ende seines Rückens bis zur Schulter hinauf - mit das Seltsamste, was ich je gesehen hatte, und ich hatte schon eine ganze Menge seltsamer Dinge gesehen.

»Weißt du, wer ich bin?«, fragte er.

Ich nickte. »Quinn?«, sagte ich und spürte, wie meine Wangen rot wurden.

»Und du heißt Sookie, wie ich gehört habe«, entgegnete er und setzte sich auf die Knie.

»Sookie Stackhouse.«

Er legte mir eine Hand unter das Kinn, damit ich zu ihm aufsah. Ich sah ihm so direkt in die Augen wie nur möglich. Er blinzelte nicht mal.

»Ich frage mich, was du da siehst«, sagte er schließlich und nahm die Hand wieder weg.

Ich warf einen Blick auf mein Bein. Die Verletzung, an der jetzt kein Blut mehr haftete, war fast zweifelsfrei eine Schramme von der Drahttür. »Kein Biss«, meinte ich und zögerte merklich bei dem letzten Wort. Die Anspannung wich urplötzlich von mir.

»Nein, keine Miss Werwolf in Zukunft«, stimmte er zu und stand in einer einzigen fließenden Bewegung auf. Er streckte mir die Hand entgegen. Ich ergriff sie, und in einem Sekundenbruchteil stellte er mich auf die Füße. Ein durchdringender Schrei im Käfig holte mich ins Hier und Jetzt zurück.

»Sag mir eins. Warum zum Teufel kann der Leitwolf nicht einfach gewählt werden?«

In Quinns runden Augen, deren Pupillen wieder ihre lilabraune Farbe angenommen hatten, ordentlich von Weiß umgeben, stand Amüsement.

»Das wäre nicht ganz nach dem Geschmack der Gestaltwandler, Baby. Wir sehen uns wieder«, versprach Quinn. Ohne ein weiteres Wort ging er zum Käfig hinüber, und mein Ausflug in fremde Gefilde war vorüber. Ich musste meine Aufmerksamkeit wieder auf die wirklich wichtigen Dinge richten, die in diesem Gebäude geschahen.

Claudine und Claude spähten schon ängstlich über ihre Schultern nach mir. Sie traten einen Schritt auseinander, und als ich in ihrer Mitte stand, legten sie beide den Arm um mich. Sie schienen sehr unglücklich zu sein, Claudine liefen sogar zwei Tränen über die Wange. Als ich die Situation im Käfig mitbekam, wusste ich warum.

Der hellere Wolf stand kurz vor dem Sieg. Das Fell des schwarzen Wolfs war klebrig von Blut. Noch stand er aufrecht, noch knurrte er, doch einer seiner Hinterläufe knickte von Zeit zu Zeit unter dem Gewicht seines Körpers ein. Zweimal gelang es ihm, sich wieder aufzurichten, doch als der Hinterlauf ihm zum dritten Mal wegbrach, war der jüngere Wolf auch schon über ihm, und die beiden drehten und wirbelten umeinander herum in einem einzigen furchtbaren Gewirr von Blut, Zähnen, zerfetztem Fleisch und Fell.

Die Schweigeregel war längst vergessen, und alle Werwölfe brüllten mittlerweile, um einen der beiden anzufeuern, oder stießen einfach nur Wolfsgeheul aus. Die Gewalt und der Lärm mischten sich zu einem chaotischen Gemenge. Schließlich entdeckte ich Alcide, der in sinnlosem Aufbegehren mit den Fäusten gegen das Drahtgitter schlug. Noch nie in meinem Leben hatte jemand mir so leid getan. Ich fragte mich, ob er wohl versuchen würde, in den Käfig einzudringen. Doch auch wenn Alcide die Regeln des Rudels nicht länger respektierte und er seinem Vater zu Hilfe eilen wollte, so war da immer noch Quinn, der die Tür blockierte. Natürlich, deswegen hatte das Rudel einen Fremden als Wettkampfrichter eingesetzt.

Ganz plötzlich war der Kampf vorüber. Der hellere Wolf hatte den dunkleren unterworfen. Er packte ihn an der Kehle, aber er biss nicht zu. Vielleicht hätte Jackson den Kampf noch einmal aufgenommen, wenn er nicht so schwer verletzt gewesen wäre, doch seine Kräfte waren erschöpft. Jaulend lag er da, unfähig, sich noch zu verteidigen. Schweigen breitete sich aus.

»Ich erkläre Patrick Furnan zum Sieger«, sagte Quinn in neutralem Ton.

Und dann tötete Patrick Furnan Jackson Herveaux mit einem einzigen Biss in die Kehle.