Kapitel 7

Sam war an diesem Abend im Merlotte's und thronte wie ein König an einem der Ecktische, das Bein auf einem weich gepolsterten Stuhl hochgelegt. Mit dem einen Auge beobachtete er Charles, mit dem anderen die Reaktionen seiner Gäste auf einen Vampir-Barkeeper.

Leute kamen vorbei, ließen sich auf den ihm gegenüberstehenden Stuhl fallen, sprachen einige Minuten mit ihm und machten dann den Stuhl wieder frei. Ich wusste, dass Sam Schmerzen hatte. Die sorgenvollen Gedanken leidender Menschen konnte ich immer erkennen. Doch er freute sich, andere Leute zu sehen, wieder in der Bar zu sein, und war mit Charles' Arbeit zufrieden.

All das konnte ich mit Sicherheit sagen. Dennoch, sobald es um die Frage ging, wer auf ihn geschossen hatte, hatte auch ich nicht die leiseste Ahnung. Irgendjemand schoss auf zweigestaltige Geschöpfe, jemand, der bereits einige getötet und mehrere andere schwer verletzt hatte. Es war zwingend erforderlich, dass die Identität dieser Person aufgedeckt wurde. Die Polizei verdächtigte Jason nicht, aber seine eigenen Gefährten taten es. Wenn Calvin Norris' Leute beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, würden sie sehr schnell Gelegenheit finden, Jason zu beseitigen. Sie wussten nicht, dass es noch weitere Opfer außerhalb von Bon Temps gab.

Ich testete die Gedanken um mich herum und versuchte, die Leute in einem unachtsamen Augenblick zu erwischen. Ich versuchte sogar, mir zu überlegen, wer den vielversprechendsten Kandidaten für die Rolle des Mörders abgeben könnte, damit ich nicht unnötig Zeit verlor, indem ich mir (zum Beispiel) Liz Baldwins Sorgen über ihre älteste Enkeltochter anhörte.

Ich nahm an, dass der Schütze höchstwahrscheinlich ein Mann war. Zwar kannte ich viele Frauen, die auf die Jagd gingen oder Zugang zu Gewehren hatten. Aber waren Heckenschützen nicht immer männlich? Es verwirrte die Polizei, wie dieser Heckenschütze seine Zielpersonen auswählte, weil sie das wahre Wesen der Opfer nicht kannte. Und die zweigestaltigen Geschöpfe behinderten sich selbst bei ihrer Suche, weil sie lediglich in der unmittelbaren Umgebung nach Verdächtigen Ausschau hielten.

»Sookie«, sagte Sam, als ich nahe an ihm vorbeiging. »Knie dich hier einen Augenblick hin.«

Ich sank direkt neben seinem Stuhl auf ein Knie, damit er leise sprechen konnte.

»Sookie, ich bitte dich nur sehr ungern ein weiteres Mal darum. Aber die Abstellkammer im Vorratslager ist auf Dauer nichts für Charles.« Die Abstellkammer, in der Putzsachen aufbewahrt wurden, war natürlich nicht absolut lichtundurchlässig, aber es fiel kein Tageslicht hinein, was doch ausreichen sollte. Schließlich hatte die Abstellkammer keine Fenster, und das Vorratslager auch nicht.

Ich brauchte einen Moment, um mich von meinen Überlegungen loszureißen. »Du willst mir doch nicht erzählen, dass er dort nicht schlafen kann«, sagte ich ungläubig. Vampire konnten während des Tages unter allen erdenklichen äußeren Gegebenheiten schlafen. »Und du hast die Tür doch auch bestimmt von innen mit einem Riegel gesichert.«

»Ja, aber er muss sich da auf den Fußboden legen, und er sagt, der stinkt wie ein alter Wischmopp.«

»Tja, wir bewahren ja auch tatsächlich die Putzsachen dort auf.«

»Was ich sagen will: Wäre es denn so schlimm, wenn Charles bei dir zu Hause schlafen würde?« »Warum willst du unbedingt, dass ich ihn bei mir zu Hause unterbringe? Es muss da noch einen anderen Grund geben als allein die Bequemlichkeit eines komischen Vampirs bei Tageslicht, der dann sowieso mausetot ist.«

»Sind wir nicht schon sehr lange gute Freunde, Sookie?«

Das stank doch geradezu zum Himmel.

»Ja«, gab ich zu und stellte mich wieder hin, so dass er zu mir aufsehen musste. »Und?«

»Aus der Gerüchteküche habe ich gehört, dass die Leute aus Hotshot einen Werwolf-Bodyguard angeheuert haben, der Calvins Krankenhauszimmer bewacht.«

»Ja, das finde ich auch ziemlich seltsam«, bestätigte ich seine unausgesprochene Sorge. »Dann hast du wohl auch gehört, was sie vermuten?«

Sam nickte. Seine hellblauen Augen suchten meinen Blick. »Das musst du sehr ernst nehmen, Sookie.«

»Wie kommst du darauf, dass ich das nicht tue?«

»Du willst Charles nicht aufnehmen.«

»Ich verstehe nicht so ganz, was meine Weigerung, ihn bei mir schlafen zu lassen, mit den Sorgen um Jason zu tun hat.«

»Ich denke, er könnte dir helfen, Jason zu beschützen, wenn's drauf ankommt. Ich bin wegen meines Beins außer Gefecht gesetzt, sonst würde ich ... Ich bin überzeugt, dass nicht Jason auf mich geschossen hat.«

Ein Knoten der Anspannung löste sich in meinem Inneren, als Sam das sagte. Mir war vorher gar nicht bewusst, dass ich darüber beunruhigt gewesen war, was Sam wohl denken mochte, aber ich war es.

Und ich wurde weich. »Na, in Ordnung«, sagte ich leicht unwillig. »Er kann bei mir schlafen.« Etwas missmutig stapfte ich davon, immer noch nicht ganz sicher, warum ich eigentlich zugestimmt hatte.

Sam winkte Charles zu sich heran und sprach kurz mit ihm. Später am Abend lieh sich Charles meine Autoschlüssel aus, um seine Tasche im Kofferraum zu verstauen. Nach ein paar Minuten kam er wieder in die Bar und machte mir ein Zeichen, dass er meinen Schlüssel in meine Tasche zurückgelegt hatte. Ich nickte, vielleicht etwas knapp. Ich war nicht gerade glücklich, aber wenn ich schon einen Hausgast haben musste, dann doch besser einen höflichen.

An diesem Abend kamen auch Mickey und Tara ins Merlotte's. Wie das Mal zuvor ließ die dunkle Ausstrahlung des Vampirs die Gäste der Bar aufgeregter und lauter miteinander sprechen. Taras Blicke folgten mir in einer Art trauriger Passivität. Ich hoffte, sie allein zu erwischen, aber sie verließ nicht ein einziges Mal den Tisch. Ein weiterer Grund zur Sorge, wie ich fand. Wenn sie mit Franklin Mott in die Bar gekommen war, hatte sie sich immer etwas Zeit genommen, mich umarmt und nach der Familie und der Arbeit gefragt.

Ich erhaschte einen flüchtigen Blick auf die Elfe Claudine, die auf der anderen Seite des Raumes stand, und obwohl ich mich eigentlich zu ihr vorarbeiten und mit ihr sprechen wollte, war ich doch viel zu sehr mit Taras Situation beschäftigt. Wie gewöhnlich war Claudine umgeben von Bewunderern.

Ich war so besorgt, dass ich schließlich an Taras Tisch ging und diesen Vampir bei den Fangzähnen packte. Der schlangengleiche Mickey starrte unseren auffälligen Barkeeper an und würdigte mich keines Blickes, während ich mich näherte. Tara wirkte sowohl hoffnungsvoll als auch verängstigt, und ich stellte mich neben sie und legte ihr die Hand auf die Schulter, um ein genaueres Bild ihrer Gedanken zu erhalten. Tara hatte selbst so viel aus sich gemacht, dass ihre einzige Schwäche mich nur selten beunruhigte: Sie suchte sich die falschen Männer aus. Ich erinnerte mich noch an die Zeit, als sie sich mit Eggs Benedict traf, der letzten Herbst offenbar bei einem Brand umgekommen war. Eggs war ein starker Trinker und eine schwache Persönlichkeit gewesen. Franklin Mott hatte Tara wenigstens respektvoll behandelt und sie mit Geschenken überschüttet, auch wenn sie sich nach jedem dieser Geschenke im Grunde sagen musste: »Ich bin eine Geliebte« statt »Ich bin eine in Ehren gehaltene Freundin«. Aber wie konnte es dazu kommen, dass sie mit Mickey ausging - Mickey, dessen Name sogar Eric zögern ließ?

Ich hatte das Gefühl, ein Buch zu lesen, nur um dann zu entdecken, dass in der Mitte ein paar Seiten herausgerissen waren.

»Tara«, sagte ich leise und sie blickte zu mir auf. Ihre großen braunen Augen wirkten leer und tot: keine Angst, keine Scham.

Von außen betrachtet sah Tara fast normal aus. Sie war sehr gepflegt und gut zurecht gemacht, und ihre Kleidung war modisch und sexy. Doch im Inneren litt sie Qualen. Was war mit meiner Freundin los? Warum war mir bislang nicht aufgefallen, dass irgendetwas sie von innen zerfraß?

Ich fragte mich, was ich jetzt tun sollte. Tara und ich schauten uns nur an, und obwohl sie wusste, was ich in ihrem Inneren sehen konnte, reagierte sie nicht. »Wach auf«, sagte ich und wusste nicht mal, woher diese Worte kamen. »Wach auf, Tara!«

Eine weiße Hand griff nach meinem Arm und löste gewaltsam meine Hand von Taras Schulter. »Ich bezahl dich nicht dafür, dass du hier meine Freundin angrapschst«, sagte Mickey. Er hatte die kältesten Augen, die ich je gesehen hatte - schlammfarben wie die eines Reptils. »Ich bezahl dich dafür, dass du uns Drinks bringst.«

»Tara ist meine Freundin«, entgegnete ich. Er quetschte immer noch meinen Arm, und wenn ein Vampir euch den Arm quetscht, wisst ihr, was echte Quetschungen sind. »Du tust ihr irgendwas an. Oder du erlaubst jemand anderem, ihr etwas anzutun.«

»Das geht dich gar nichts an.«

»Das geht mich wohl etwas an.« Ich wusste, dass mir vor Schmerz Tränen in den Augen standen, und einen Moment lang spürte ich schiere Feigheit. Während ich in sein Gesicht sah, erkannte ich, dass er mich töten und aus der Bar verschwinden konnte, ehe irgendeiner dazu kam, ihn aufzuhalten. Und er konnte Tara mit sich nehmen, wie ein Schoßhündchen oder ein Stück Vieh. Bevor die Angst überhand nahm, sagte ich: »Lass mich los.« Ich sprach jedes Wort klar und deutlich aus, obwohl ich natürlich wusste, dass er eine Stecknadel im Sturm fallen hören würde.

»Du zitterst ja wie ein räudiger Hund«, sagte er verächtlich.

»Lass mich los«, wiederholte ich.

»Oder du tust - was?«

»Du kannst nicht immer wach bleiben. Wenn ich's nicht tue, tut's jemand anders.«

Das schien Mickey zu denken zu geben. Doch ich glaube nicht, dass es an meiner Drohung lag, auch wenn ich sie von den Haarwurzeln bis an die Zehenspitzen aufrichtig gemeint hatte.

Er sah Tara an, und sie begann zu sprechen, als hätte er an einem Faden gezogen. »Sookie, mach doch nicht so einen Wind um nichts. Ich bin jetzt mit Mickey zusammen. Blamier mich nicht vor ihm.«

Ich legte erneut die Hand auf ihre Schulter und riskierte es, meinen Blick von Mickey abzuwenden und zu ihr hinunterzusehen. Sie wollte ganz eindeutig, dass ich verschwand; und das meinte sie absolut ernst. Ihre Gedanken über ihre Gründe waren jedoch seltsam undurchdringlich.

»Okay, Tara. Möchtest du noch einen Drink?«, fragte ich ganz langsam. Ich bahnte mir einen Weg durch ihren Kopf und stieß auf eine glitschige und fast undurchlässige Wand von Eis.

»Nein, danke«, erwiderte Tara höflich. »Mickey und ich müssen jetzt gehen.«

Das überraschte Mickey ziemlich, so viel war sicher. Ich fühlte mich schon wieder etwas besser. Tara konnte die Verantwortung für sich selbst übernehmen, wenigstens teilweise.

»Ich bringe dir bald dein Kostüm zurück, es ist schon in der Reinigung.«

»Das hat keine Eile.«

»Okay. Wir sehen uns.«

Mickey hielt meine Freundin fest am Arm gepackt, als sie zwischen den versammelten Gästen hindurch dem Ausgang zustrebten.

Ich nahm die leeren Gläser vom Tisch, wischte ihn ab und ging an die Bar zurück. Charles Twining und Sam waren in höchster Alarmbereitschaft. Sie hatten den kleinen Vorfall beobachtet. Ich zuckte die Achseln, und sie entspannten sich.

Nachdem wir die Bar an diesem Abend geschlossen hatten, wartete der neue Barkeeper und Rausschmeißer an der Hintertür auf mich, bis ich mir den Mantel angezogen und die Schlüssel aus der Tasche geholt hatte.

Ich schloss die Wagentüren auf, und er kletterte hinein.

»Danke, dass ich nun doch bei dir zu Hause schlafen darf«, sagte Charles.

Ich bemühte mich um eine höfliche Antwort. Es war sinnlos, unfreundlich zu sein.

»Meinst du, Eric könnte etwas dagegen haben?«, fragte er, als wir die schmale Landstraße entlangfuhren.

»Das geht ihn nichts an«, erwiderte ich knapp. Es ärgerte mich, dass er sich automatisch wegen Eric Gedanken machte.

»Kommt er dich nicht so häufig besuchen?«, hakte Charles mit ungewöhnlicher Hartnäckigkeit nach.

Ich gab ihm erst eine Antwort, als ich den Wagen hinter dem Haus geparkt hatte. »Hör mal, ich weiß nicht, was dir zu Ohren gekommen ist, aber er ist nicht... wir sind nicht... na, das eben.« Charles sah mir ins Gesicht und war klug genug, den Mund zu halten, während ich die Hintertür aufschloss.

»Fühl dich wie zu Hause«, sagte ich, nachdem ich ihn über die Schwelle gebeten hatte. Vampire brauchen immer die Erlaubnis, ein Haus zu betreten. »Später zeige ich dir dann deinen Schlafplatz.« Während sich der Barkeeper in meinem bescheidenen Haus umsah, in dem meine Familie schon seit so vielen Jahren lebte, hängte ich meinen Mantel auf und legte meine Tasche ins Schlafzimmer. Ich machte mir ein Sandwich und fragte Charles, ob er etwas Blut wolle. Ich habe immer Blutgruppe 0 im Kühlschrank, und er schien ganz froh, sich hinsetzen und etwas trinken zu können nach seiner Erkundung des Hauses. Charles Twining war friedfertig im Umgang, vor allem für einen Vampir. Er war weder lüstern, noch schien er irgendwas von mir zu wollen.

Ich zeigte ihm die Bodenluke im eingebauten Schrank des Gästezimmers und wie sie anzuheben war. Ich erklärte ihm die Fernbedienung des Fernsehers, wies auf meine kleine Sammlung Kinofilme hin und auch auf die Bücher in den Regalen im Gästezimmer und im Wohnzimmer.

»Fällt dir noch etwas anderes ein, das du eventuell brauchen könntest?«, fragte ich. Meine Großmutter hatte mich gut erzogen, auch wenn sie sich wohl nie hätte vorstellen können, dass ich mal die Gastgeberin von Vampiren sein würde.

»Nein danke, Sookie«, entgegnete Charles höflich und tippte mit seinen langen weißen Fingern gegen seine Augenklappe - eine sonderbare Gewohnheit, die mir kalte Schauer über den Rücken jagte.

»Tja, dann musst du mich jetzt wohl entschuldigen, ich geh schlafen.« Ich war müde, und es erschöpfte mich, mit einem fast Fremden Gespräche zu führen.

»Natürlich. Gute Nacht, Sookie. Wenn ich durch den Wald streifen möchte...«

»Tu, was dir gefällt«, sagte ich unverzüglich. Für die Hintertür besaß ich einen Ersatzschlüssel, und ich holte ihn aus der Schublade in der Küche, in der ich all meine Schlüssel aufbewahrte. In dieser Schublade wurde schon seit achtzig Jahren - seit die Küche an das Haus angebaut worden war - allerlei Krimskrams aufbewahrt. Es waren mindestens hundert Schlüssel darin. Einige davon, die schon beim Anbau der Küche alt gewesen waren, sahen ausgesprochen seltsam aus.

Die aus meiner Generation hatte ich alle gekennzeichnet, und der Schlüssel der Hintertür war an einem rosa Schlüsselanhänger befestigt, den ich von meinem »State Farm«-Versicherungsvertreter bekommen hatte. »Wenn du nach Hause kommst, schieb bitte den Riegel vor.«

Er nickte und nahm den Schlüssel an sich.

Es war gewöhnlich falsch, zu viel Sympathie für einen Vampir zu entwickeln, aber ich konnte nichts dafür: Irgendetwas Trauriges hatte Charles an sich. Er wirkte einsam auf mich, und es ist immer etwas Mitleiderregendes an Einsamkeit. Die Erfahrung hatte ich selbst gemacht. Ich würde zwar immer abstreiten, rührselig zu sein, aber wenn ich einen anderen Einsamen sah, trieb es mir fast die Tränen in die Augen.

Ich wusch mir das Gesicht und zog einen roten Nylonpyjama an. Schon fast im Halbschlaf putzte ich mir die Zähne und kroch schließlich in das hohe alte Bett, in dem meine Großmutter geschlafen hatte, bis sie starb. Meine Urgroßmutter hatte die Steppdecke selbst gemacht, die ich jetzt über mich zog, und meine Großtante Julia hatte die Ränder bestickt. Auch wenn ich vielleicht ganz allein auf der Welt dastand - abgesehen von meinem Bruder Jason -, so ging ich doch umgeben von meiner Familie zu Bett.

Am tiefsten schlafe ich so gegen drei Uhr früh, und irgendwann in dieser Phase erwachte ich durch den Griff einer Hand an meiner Schulter.

Schockartig war ich hellwach wie ein Mensch, der in einen kalten Swimmingpool geworfen wird. Um gegen den Schock anzukämpfen, der mich fast lähmte, schwang ich meine Faust. Eine eiskalte Hand fing sie ab.

»Nein, nein, nein, schhhh«, drang ein durchdringendes Wispern aus der Dunkelheit. Ein englischer Akzent. Charles. »Irgendwer schleicht da draußen um dein Haus, Sookie.«

Mein Atem ging stoßweise, wie bei einem Akkordeon. Vielleicht würde ich gleich einen Herzinfarkt erleiden. Ich legte eine Hand auf mein Herz, als könnte ich es aufhalten, auch wenn es entschlossen schien, aus meiner Brust zu springen.

»Bleib liegen!«, sagte er direkt in mein Ohr, und dann spürte ich, wie er sich neben mein Bett kauerte. Ich legte mich wieder zurück und schloss die Augen. Das Kopfteil des Bettes stand zwischen den beiden Fenstern des Zimmers. Wer immer da draußen um mein Haus herumschlich, hatte keine wirklich gute Sicht auf mein Gesicht. Ich versuchte, so ruhig und entspannt wie möglich dazuliegen und nachzudenken, aber dazu hatte ich einfach viel zu viel Angst. Wenn der Streuner ein Vampir war, dann konnte er (oder sie) nicht hereinkommen - es sei denn, es war Eric. Hatte ich nicht Erics Erlaubnis, das Haus zu betreten, widerrufen? Ich konnte mich nicht erinnern. »Das sind die Dinge, die ich unbedingt wissen sollte«, murmelte ich vor mich hin.

»Er ist verschwunden«, sagte Charles mit so leise gehauchter Stimme, dass sie klang wie ihr eigener Geist.

»Wer oder was war das?«, fragte ich und hoffte, dass meine Stimme ähnlich tonlos war.

»Es ist zu dunkel draußen, um etwas zu erkennen.« Wenn nicht mal ein Vampir etwas sehen konnte, musste es wirklich stockdunkel sein. »Ich gehe hinaus und schaue nach.«

»Nein«, sagte ich eindringlich, aber es war schon zu spät.

Jesus Christus, Hirte von Judäa! Was, wenn der Streuner da draußen Mickey war? Er würde Charles töten - da war ich mir sicher.

»Sookie!« Das Letzte, was ich erwartet hatte - obwohl ich, offen gestanden, schon weit jenseits davon war, noch irgendwas bewusst zu erwarten -, war, dass Charles nach mir rufen würde. »Komm nach draußen, bitte!«

Ich schlüpfte mit den Füßen in meine roten Flauschpantoffeln, rannte in die Diele und zur Hintertür. Denn von dort war die Stimme gekommen, meinte ich.

»Ich mache die Außenbeleuchtung an«, rief ich. Wollte nicht jeder mal von plötzlich aufflammendem elektrischen Licht geblendet werden? »Ist es auch wirklich sicher da draußen?«

»Ja«, sagten zwei Stimmen beinahe gleichzeitig.

Mit geschlossenen Augen kippte ich den Schalter. Nach einer Sekunde öffnete ich sie und ging durch die Tür auf die hintere Veranda, in rotem Pyjama und Pantoffeln. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, denn obwohl es nicht kalt war heute Nacht, fröstelte ich doch.

Ich ließ die Szene auf mich wirken. »Okay«, sagte ich langsam. Charles stand in dem kiesbestreuten Bereich, wo ich meinen Wagen parkte, und hatte seinen Arm fest um den Hals meines Nachbarn Bill Compton geschlungen. Bill ist Vampir, schon seit dem Ende des Bürgerkriegs. Wir haben eine gemeinsame Geschichte. Na ja, in der langen Geschichte von Bills Leben ist es wohl eher nur ein Kieselstein, in der Geschichte meines Lebens dagegen ein Felsbrocken.

»Sookie«, presste Bill zwischen den Zähnen hervor. »Ich will diesem Fremden kein Leid zufügen. Sag ihm, er soll mich loslassen.«

Mit etwas mehr Tempo als eben noch dachte ich darüber nach. »Charles, du kannst ihn loslassen«, entschied ich, und im Handumdrehen stand der Barkeeper neben mir.

»Kennst du diesen Mann?« Seine Stimme klang hart.

»Sie kennt mich, sogar ganz privat«, fuhr Bill in genauso kaltem Ton dazwischen.

Oh, klasse.

»Tja, höflich ist etwas anderes.« Wahrscheinlich lag auch in meiner Stimme ein kalter harter Ton. »Ich renne nicht herum und erzähle jedem Details unserer Beziehung. Und dasselbe erwarte ich eigentlich auch von einem Gentleman.«

Zu meiner Genugtuung starrte Charles Bill an und zog auf sehr souveräne, aber irritierende Art eine Augenbraue hoch.

»Und jetzt teilst du also mit dem da dein Bett?« Bill zeigte mit dem Kopf in Richtung des kleineren Vampirs.

Wenn er den Mund gehalten hätte, dann hätte ich mich wohl zusammennehmen können. Ich verliere nicht oft die Beherrschung, aber wenn es so weit ist, dann geht sie ganz und gar verloren. »Geht dich das irgendwas an?«, fragte ich und betonte jedes Wort überdeutlich. »Ob ich mit hundert Männern schlafe oder mit hundert Schafen, das geht dich rein gar nichts an! Warum schleichst du mitten in der Nacht um mein Haus? Du hast mich fast zu Tode erschreckt.«

Bill wirkte nicht im Entferntesten reumütig. »Tut mir leid, dass du aufgewacht bist und dich erschreckt hast«, sagte er unaufrichtig. »Ich habe mich hier zu deiner Sicherheit umgesehen.«

»Du bist durch den Wald gestreift und hast einen anderen Vampir gerochen«, entgegnete ich. Er hatte immer einen besonders ausgeprägten Geruchssinn gehabt. »Also bist du vorbeigekommen, um zu sehen, wer es ist.«

»Ich wollte sichergehen, dass du nicht angegriffen worden bist«, erwiderte Bill. »Und außerdem habe ich auch noch menschlichen Geruch wahrgenommen. Hattest du heute Besuch von Menschen?«

Ich glaubte Bill keine Sekunde lang, dass er bloß um meine Sicherheit besorgt gewesen war, wollte aber auch nicht glauben, dass Eifersucht ihn vor mein Fenster getrieben hatte oder irgendeine lüsterne Neugier. Ich atmete eine Minute lang einfach nur ein und aus, beruhigte mich und dachte nach.

»Charles greift mich nicht an.« Ich war stolz darauf, wie gleichmütig meine Stimme schon wieder klang.

Bill lächelte höhnisch. »Charles«, wiederholte er voll Verachtung.

»Charles Twining«, sagte mein Gast und verbeugte sich - wenn das leichte Neigen seines braungelockten Kopfs denn eine Verbeugung genannt werden darf.

»Wo hast du den denn her?« Jetzt sprach auch Bill wieder in ruhigerem Ton.

»Eigentlich arbeitet er für Eric, genau wie du.«

»Eric hat dir einen Bodyguard zur Verfügung gestellt? Du brauchst einen Bodyguard?«

»Hör zu, Blödmann«, sagte ich gepresst, »mein Leben geht weiter, auch wenn du auf Reisen bist. Und das Leben in der Stadt auch. Hier in der Gegend wird auf Leute geschossen, unter anderem auf Sam. Wir brauchten einen Ersatzbarkeeper, und Charles hat angeboten, uns auszuhelfen.« Das entsprach vielleicht nicht ganz genau der Wahrheit, aber darauf kam's mir im Moment nicht an. Mir kam's darauf an, dass dieser Punkt an mich ging.

Immerhin war Bill angemessen bestürzt.

»Sam. Wer noch?«

Ich zitterte inzwischen, denn es war wirklich kein Wetter für Nylonpyjamas. Doch ich wollte Bill nicht im Haus haben. »Calvin Norris und Heather Kinman.«

»Sind sie tot?«

»Heather ja. Calvin wurde schwer verletzt.«

»Hat die Polizei schon jemanden dingfest gemacht?«

»Nein.«

»Weißt du, wer es gewesen ist?«

»Nein.«

»Du machst dir Sorgen um deinen Bruder.«

»Ja.«

»Er hat bei Vollmond seine Gestalt gewandelt.«

»Ja.«

Bill sah mich mit einem Gesichtsausdruck an, der wohl als Mitleid gedeutet werden konnte. »Das tut mir leid, Sookie«, sagte er und meinte es aufrichtig.

»Das brauchst du mir nicht zu sagen«, fuhr ich ihn an. »Sag's lieber Jason - er ist es, dem ein Fell wächst.«

Bills Miene wurde kalt und abweisend. »Dann entschuldige die Einmischung«, entgegnete er. »Ich gehe jetzt.« Und damit verschwand er im Wald.

Keine Ahnung, wie Charles auf diesen Zwischenfall reagiert hat, denn ich drehte mich um und stolzierte zurück ins Haus, wobei ich die Außenbeleuchtung ausschaltete. Ich warf mich wieder ins Bett, schimpfte vor Wut leise vor mich hin und zog mir die Decke über den Kopf, damit der Vampir gleich kapierte, dass ich über den Vorfall nicht reden wollte. Er bewegte sich so lautlos, dass ich nicht wirklich wusste, wo im Haus er sich aufhielt.

Ich lag noch mindestens eine Dreiviertelstunde wach, ehe ich endlich wieder einschlief.

Dann rüttelte mich jemand an der Schulter. Ich roch ein schweres Parfüm, und ich roch noch etwas, etwas Entsetzliches. Aber ich war auch schrecklich verschlafen.

»Sookie, dein Haus brennt«, sagte eine Stimme.

»Kann nicht sein«, sagte ich, »ich hatte keine Kerze an.«

»Du musst hier raus«, verlangte die Stimme. Ein schrilles Geräusch erinnerte mich an die Feuerwehrübungen in der Grundschule.

»Okay«, sagte ich. Mein Kopf war vom Schlaf ganz benommen, aber auch (wie ich sah, als ich die Augen öffnete) von Rauch. Das schrille Geräusch im Hintergrund war mein Rauchmelder, wie mir langsam klar wurde. Dicke graue Schwaden zogen wie böse Geister durch mein in Gelb und Weiß gehaltenes Schlafzimmer. Ich bewegte mich wohl nicht schnell genug, also zog Claudine mich kurzerhand aus dem Bett und trug mich durch die Vordertür aus dem Haus. Ich war noch nie von einer Frau getragen worden, wobei Claudine natürlich auch keine gewöhnliche Frau war. Auf dem kühlen Rasen vor dem Haus stellte sie mich auf die Füße. Das Gefühl von Kälte ließ mich unversehens hellwach werden. Das war gar kein Albtraum.

»Mein Haus brennt?« Ich konnte es immer noch nicht fassen.

»Der Vampir sagt, es war der Mensch da drüben«, meinte Claudine und zeigte auf die linke Seite des Hauses. Doch einen Moment lang betrachtete ich wie gebannt den schrecklichen Anblick der Flammen und den roten Feuerschein, der die Nacht erleuchtete. Die hintere Veranda und Teile der Küche brannten lichterloh.

Ich zwang mich, einen Blick auf die in sich zusammengesunkene Gestalt auf dem Boden zu werfen, gleich neben der knospenden Forsythie. Charles kniete neben ihr.

»Habt ihr die Feuerwehr gerufen?«, fragte ich die beiden Supranaturalen, als ich ums Haus ging, um mir die daliegende Gestalt anzusehen. Im Feuerschein spähte ich in das schlaffe Gesicht des toten Mannes. Er war ein Weißer, glatt rasiert und vielleicht Mitte dreißig. Obwohl das Licht ausreichte, erkannte ich ihn nicht.

»Oh, nein. Daran habe ich gar nicht gedacht.« Charles sah von dem Toten auf. Er kam aus einer Zeit, in der es noch keine Feuerwehr gegeben hatte.

»Und ich habe mein Handy nicht dabei.« Claudine war hoffnungslos der modernen Welt verfallen.

»Dann muss ich hineingehen und es tun, falls die Telefone noch funktionieren«, sagte ich und drehte mich auf dem Absatz um. Charles erhob sich zu seiner unscheinbaren Größe und sah mich an.

»Du wirst da nicht wieder hineingehen.« Das war eindeutig ein Befehl von Claudine. »Junger Mann, Sie sind flink genug, um das tun zu können.«

»Feuer kann für Vampire ganz schnell fatale Folgen haben«, wandte Charles ein.

Das stimmte. Wenn sie Feuer fingen, brannten sie wie eine Fackel. Eigensinnig hätte ich fast darauf bestanden, ich wollte meinen Mantel, meine Schuhe und meine Tasche haben.

»Ruf von Bills Haus an«, sagte ich, zeigte ihm die Richtung, und rasant wie ein Präriehase war er entschwunden. In dem Moment, als er außer Sichtweite war, und ehe Claudine mich aufhalten konnte, rannte ich durch die Vordertür und in mein Schlafzimmer. Der Rauch war noch viel dichter geworden, und ich konnte ein paar Meter die Diele hinunter die Flammen in der Küche erkennen. Als ich die Flammen sah, wusste ich, dass es ein Fehler gewesen war, noch mal ins Haus zu gehen, und es kostete mich einige Kraft, nicht in Panik zu geraten. Meine Tasche war genau dort, wo ich sie hingetan hatte, und mein Mantel lag über den Stuhl geworfen da. Nur meine Schuhe konnte ich nicht finden, aber ich konnte auch nicht länger bleiben. Also wühlte ich in einer Kommodenschublade nach einem Paar Socken, weil da mit Sicherheit welche waren, und rannte dann hustend und um Luft ringend aus dem Schlafzimmer. Instinktiv bog ich kurzerhand nach links ab, schloss die Tür zur Küche, wirbelte herum und rannte Richtung Vordertür. Ich stürzte über einen Stuhl im Wohnzimmer.

»Das war ganz schön dumm«, sagte die Elfe Claudine, und ich schrie auf. Sie umfasste mich an der Taille und lief noch einmal mit mir aus dem Haus; ich hing wie ein Teppich unter ihrem Arm.

All das Schreien und Husten ließ meine Atmung ein, zwei Minuten lang stocken, während Claudine mich weiter vom Haus forttrug. Schließlich setzte sie mich auf dem Rasen ab und zog mir die Socken an. Dann half sie mir aufzustehen und den Mantel anzuziehen. Dankbar knöpfte ich ihn zu.

Das war schon das zweite Mal, dass Claudine unvermittelt aus dem Nichts auftauchte, gerade als ich in ernsthafte Schwierigkeiten zu geraten drohte. Beim ersten Mal war ich nach einem sehr langen Tag am Steuer eingeschlafen.

»Du machst es mir wirklich entsetzlich schwer«, sagte sie und klang immer noch fröhlich, wenn vielleicht auch nicht mehr ganz so liebenswürdig.

Irgendetwas am Haus veränderte sich, und ich erkannte, dass das Nachtlicht in der Diele ausgegangen war. Entweder war der Strom ausgefallen, oder die Feuerwehr hatte von der Stadt aus die Stromversorgung gekappt.

»Tut mir leid«, erwiderte ich, denn ich hatte das Gefühl, ihr das schuldig zu sein. Trotzdem hatte ich keine Ahnung, welche Laus Claudine über die Leber gelaufen war. Schließlich war es mein Haus, das brannte. Ich wollte an die Rückseite des Hauses eilen, um das Feuer besser sehen zu können, doch Claudine hielt mich am Arm fest.

»Nicht dichter ran«, sagte sie, und ich konnte mich aus ihrem Griff nicht lösen. »Hör mal, die Löschwagen kommen.«

Jetzt hörte ich die Feuerwehrautos auch, und ich war allen, die mir zu Hilfe kamen, unglaublich dankbar. Ich wusste, dass in der ganzen Umgebung die Pager gepiept hatten und die Freiwilligen aus ihren Betten gesprungen und direkt zur Feuerleitstelle geeilt waren.

Catfish Hunter, der Boss meines Bruders, kam in seinem eigenen Wagen. Er sprang heraus und rannte auf mich zu. »Ist da noch wer drin?«, fragte er in dringlichem Ton. Das Feuerwehrauto von Bon Temps kam gleich nach ihm an und verwüstete meine kiesbestreute Auffahrt vollends.

»Nein«, sagte ich.

»Ist irgendwo ein Gasbehälter?«

»Ja.« »Wo?«

»Hinten.«

»Wo ist dein Wagen, Sookie?«

»Auch hinten«, sagte ich, und meine Stimme begann zu zittern.

»Gasbehälter hinten!«, brüllte Catfish über seine Schulter.

Jemand schrie ihm eine Antwort zu; lauter Leute rannten umher und schienen genau zu wissen, was sie taten. Ich erkannte Hoyt Fortenberry und Ralph Tooten, außerdem vier oder fünf andere Männer und einige Frauen.

Nach einem kurzen Wortwechsel mit Hoyt und Ralph rief Catfish eine kleine Frau zu sich, die in ihrer Ausrüstung fast zu versinken schien. Er zeigte auf die leblose Gestalt im Gras, und sie nahm ihren Helm ab und kniete sich neben sie. Nachdem sie den Mann eine Zeit lang betrachtet und befühlt hatte, schüttelte sie den Kopf. Ich erkannte in ihr kaum Dr. Robert Merediths Arzthelferin, Jane Irgendwas.

»Wer ist der Tote?«, fragte Catfish. Die Leiche schien ihn nicht weiter traurig zu stimmen.

»Keine Ahnung«, antwortete ich und war schockiert darüber, wie meine eigene Stimme klang - bebend und wispernd. Claudine legte einen Arm um mich.

Ein Polizeiwagen kam an, parkte neben dem Feuerwehrauto, und Bud Dearborn stieg auf der Fahrerseite aus. Andy Bellefleur war sein Beifahrer.

»Oh«, machte Claudine.

»Tja«, sagte ich.

Und dann stand Charles wieder neben mir, und Bill war ihm knapp auf den Fersen. Die Vampire registrierten die hektischen, aber zielgerichteten Aktivitäten. Und sie bemerkten Claudine.

Die kleine Frau, die sich wieder erhoben hatte und ihren Helm aufsetzte, rief: »Sheriff, tun Sie mir den Gefallen und rufen Sie einen Leichenwagen, der den hier abtransportiert.«

Bud Dearborn warf Andy einen kurzen Blick zu, der sich umdrehte und in sein Funkgerät sprach.

»Ein toter Schönling reicht dir wohl nicht, Sookie?«, fragte Bud Dearborn mich.

Bill gab ein wütendes Knurren von sich. Die Feuerwehrmänner schlugen das Fenster neben dem Esstisch meiner Ururgroßmutter ein, und ein Schwall von Hitze und Funken ergoss sich in die Nacht. Das Löschfahrzeug machte einen Höllenlärm, und das Wellblechdach über der Küche und der hinteren Veranda krachte in sich zusammen.

Mein Zuhause ging soeben in Flammen und Rauch auf.