Kapitel 5

Es regnete in Strömen, als wir auf den Parkplatz des Krankenhauses in Grainger fuhren. Es war genauso klein wie das in Clarice, in das die meisten Leute aus dem Landkreis eingeliefert wurden. Doch das Krankenhaus in Grainger war neuer und besser ausgestattet mit modernen Diagnosegeräten.

Ich hatte mich umgezogen und trug jetzt Jeans und Pullover, aber auf mein gefüttertes Regencape hatte ich nicht verzichten wollen. Als Jason und ich auf die gläsernen Schiebetüren zueilten, klopfte ich mir innerlich auf die Schulter, weil ich Stiefel trug. Sehr weise angesichts dieses Wetters, das sich am Abend als ebenso schrecklich erwies wie am Morgen.

Das Krankenhaus war voller aufgebrachter Gestaltwandler. Ich fühlte ihren Zorn, sobald ich drin war. Zwei der Werpanther aus Hotshot waren in der Lobby; ich glaube, sie spielten so eine Art Wächter. Jason ging zu ihnen hinüber und ergriff fest ihre Hände. Vielleicht ein geheimes Begrüßungsritual oder so was, keine Ahnung. Wenigstens rieben sie nicht ihre Beine aneinander. Sie schienen nicht halb so froh darüber, Jason zu sehen wie umgekehrt, und ich bemerkte, dass Jason mit einem leichten Stirnrunzeln einen Schritt zurücktrat. Die beiden blickten mich aufmerksam an. Der Mann war mittelgroß und untersetzt und hatte dichtes hellbraunes Haar. Die Neugier stand ihm in den Augen.

»Sook, das ist Dixon Mayhew«, sagte Jason. »Und das ist Dixie Mayhew, seine Zwillingsschwester.« Dixie trug ihr Haar, das dieselbe Farbe hatte wie das ihres Bruders, fast ebenso kurz wie er, aber sie hatte dunkle, fast schwarze Augen. Eineiige Zwillinge waren sie sicher nicht.

»Alles ruhig hier?«, fragte ich vorsichtig.

»Keine Probleme bislang«, sagte Dixie leise. Dixons Blick ruhte fest auf Jason. »Wie geht es Ihrem Boss?«

»Er trägt einen Gips, aber er wird wieder gesund.«

»Calvin ist schwer verletzt.« Dixie beäugte mich einen Augenblick. »Er liegt oben, in Zimmer 214.«

Da wir ihre Billigung erhalten hatten, gingen Jason und ich zur Treppe. Die Zwillinge beobachteten uns auf unserem ganzen Weg. Wir kamen an einer überaus rosig und gesund aussehenden Krankenschwester vorbei, die am Empfang Dienst tat. Trotzdem machte ich mir jetzt schon Sorgen um sie: weißes Haar, dicke Brillengläser und ein liebenswürdiges Gesicht mit enorm vielen Falten. Ich konnte nur hoffen, dass während ihres Dienstes nichts passieren würde, was ihre Sicht der Welt aus den Fugen geraten ließe.

Es war ganz leicht, Calvins Zimmer zu finden. Ein Muskelpaket lehnte neben der Tür an der Wand, ein tonnenförmiger Mann, den ich noch nie gesehen hatte. Ein Werwolf. Werwölfe gaben gute Bodyguards ab nach allgemeiner Auffassung der zweigestaltigen Geschöpfe, denn sie waren rücksichtslos und zäh. Meiner Erfahrung nach ist das bloß das Image des bösen Buben, das die Werwölfe nun mal haben. Aber es stimmt schon, in der Regel sind sie die härtesten Wesen unter den Zweigestaltigen. Unter Ärzten finden sich - zum Beispiel nicht allzu viele Werwölfe, dafür aber in allen Berufen der Bauindustrie. In Jobs, die mit Motorrädern zu tun haben, sind Werwölfe auch stark vertreten. Einige dieser Gangs tun in Vollmondnächten mehr als nur Bier trinken.

Die Anwesenheit eines Werwolfs beunruhigte mich. Ich war überrascht, dass die Werpanther aus Hotshot einen Fremden eingeschaltet hatten.

»Das ist Dawson«, murmelte Jason. »Ihm gehört die kleine Reparaturwerkstatt für Motoren zwischen Hotshot und Grainger.«

Dawson war in Alarmbereitschaft, als wir den Flur entlangkamen. »Jason Stackhouse«, sagte er, als er meinen Bruder nach einer Minute erkannte. Dawson trug ein Jeanshemd und Jeans, seine Armmuskeln drohten den festen Stoff zu sprengen. Seine schwarzen Lederstiefel waren von Kämpfen ganz verkratzt.

»Wir wollten mal sehen, wie's Calvin geht«, sagte Jason. »Das hier ist meine Schwester Sookie.«

»Ma'am«, knurrte Dawson. Langsam starrte er mich von oben bis unten an, und zwar ohne jede Anzüglichkeit. Ich war froh, dass ich meine Tasche im abgeschlossenen Pick-up gelassen hatte. Die hätte er auch durchforstet, da war ich mir sicher. »Würden Sie mal diesen Mantel ausziehen und sich herumdrehen?«

Ich fühlte mich nicht persönlich angegriffen, Dawson machte nur seinen Job. Und ich wollte auch nicht, dass Calvin noch ein weiteres Mal verletzt wurde. Ich zog mein Regencape aus, gab es Jason und drehte mich herum. Eine Krankenschwester, die irgendetwas in eine Tabelle eintrug, beobachtete diese Prozedur mit unverhohlener Neugier. Ich hielt Jasons Jackett, als er dran war. Dann war Dawson zufrieden mit uns und klopfte an die Tür. Obwohl ich nichts gehört hatte, musste wohl jemand geantwortet haben, denn er öffnete die Tür und sagte: »Die Geschwister Stackhouse.«

Aus dem Zimmer drang bloß ein Flüstern. Dawson nickte.

»Miss Stackhouse, Sie können hineingehen«, sagt er. Jason machte Anstalten, mir zu folgen, aber ein kräftiger Arm hielt ihn auf. »Nur Ihre Schwester.«

Jason und ich begannen im selben Augenblick zu protestieren, doch dann zuckte Jason die Achseln. »Geh schon, Sookie«, sagte er. Dawson hätte ganz offensichtlich nicht nachgegeben, und es war sinnlos, einen Verletzten wegen so einer Sache in Aufregung zu versetzen. Ich drückte die schwere Tür weit auf.

Calvin war allein, obwohl noch ein Bett im Zimmer stand. Der Anführer der Werpanther sah furchtbar mitgenommen aus. Er war blass und abgezehrt. Sein Haare waren ungewaschen, seine Wangen über dem gestutzten Bart aber rasiert. Er trug ein Krankenhaushemd und war an jede Menge Apparate angeschlossen.

»Es tut mir so leid für Sie«, platzte ich heraus. Ich war entsetzt. Auch wenn die Botschaften, die ich aus vielen Gehirnen aufgefangen hatte, mir das schon angedeutet hatten - erst jetzt wurde mir wirklich klar, dass die Verletzung Calvin nur deshalb nicht augenblicklich getötet hatte, weil er ein zweigestaltiges Geschöpf war. Wer auch immer auf ihn geschossen hatte, hatte seinen Tod gewollt.

Calvin drehte seinen Kopf zu mir, langsam und mit einiger Anstrengung. »Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht«, sagte er trocken und mit dünner Stimme. »Morgen stöpseln sie mich von einigen dieser Dinger da ab.«

»Wo wurden Sie getroffen?«

Calvin bewegte die Hand zu einer Stelle oberhalb der linken Brust. Seine goldgrünen Augen suchten meinen Blick. Ich ging näher an ihn heran und legte eine Hand auf seine. »Es tut mir so leid für Sie«, wiederholte ich. Seine Hand drehte sich unter meiner, bis seine Finger meine Hand umfassen konnten.

»Es gab noch weitere«, hauchte er mit Flüsterstimme.

»Ja.«

»Ihr Boss.«

Ich nickte.

»Das arme Mädchen.«

Wieder nickte ich.

»Wer immer das auch tut, muss aufgehalten werden.«

»Ja.«

»Es muss jemand sein, der Gestaltwandler hasst. Die Polizei wird nie herauskriegen, wer das tut. Wir können ihnen ja nicht sagen, wonach sie suchen sollen.«

Tja, wohl nicht zuletzt eine Folge davon, dass die Gestaltwandler unbedingt die eigene Wesensart geheim halten wollten. »Das macht es schwieriger für sie, die Person zu finden«, stimmte ich zu. »Aber vielleicht gelingt es ihnen doch.«

»Einige meiner Leute fragen sich, ob der Schütze wohl selbst ein Gestaltwandler ist.« Calvins Finger schlossen sich fester um meine Hand. »Jemand, der eigentlich gar kein Gestaltwandler werden wollte. Jemand, der es durch Bisse wurde.«

Es dauerte eine Sekunde, ehe ich schaltete. Ich bin so ein Dummkopf.

»Oh, nein, Calvin, nein, nein.« Die Wörter stolperten fast übereinander in meiner Hast. »Oh Calvin, erlauben Sie ihnen nicht, Jagd auf Jason zu machen. Bitte, er ist alles, was ich habe.« Tränen rannen mir die Wangen herunter, als hätte jemand einen Wasserhahn in meinem Kopf installiert. »Er hat mir erzählt, wie gut es ihm gefällt, einer der Ihren zu sein, auch wenn er nicht genauso ist wie einer, der Werpanther von Geburt an ist. Es ist alles so neu für ihn, er braucht erst einmal Zeit, um herauszufinden, wer sonst noch zweigestaltig ist. Ich weiß nicht mal, ob er sich im Klaren ist, dass Heather und Sam...«

»Keiner wird Jagd auf ihn machen, bevor wir die Wahrheit kennen«, sagte Calvin. »Auch wenn ich hier in diesem Bett liege, bin ich doch immer noch der Anführer.« Aber ich wusste, dass er sich gegen die anderen hatte durchsetzen müssen (ich vernahm es direkt aus Calvins Gehirn), und auch, dass einige der Werpanther Jason am liebsten gleich zur Strecke bringen würden. Das konnte Calvin nicht verhindern. Er würde danach sicher zornig sein, doch wenn Jason erst tot war, würde das an der Sache selbst auch nichts mehr ändern. Calvins Finger lockerten sich, und er hob mühsam die Hand, um mir die Tränen von den Wangen zu wischen.

»Sie sind eine liebenswerte Frau«, sagte er. »Wenn Sie mich doch nur lieben könnten.«

»Ja, wenn ich das nur könnte.« So viele meiner Probleme wären gelöst, wenn ich in Calvin Norris verliebt wäre. Ich würde nach Hotshot ziehen und ein Mitglied dieser kleinen verschwiegenen Gemeinde da draußen werden. Zwei, drei Nächte jeden Monat müsste ich unbedingt im Haus verbringen, dann wäre ich sicher. Und nicht nur Calvin würde mich bis aufs Blut verteidigen, sondern auch die anderen Mitglieder des Hotshot-Clans.

Aber schon bei dem Gedanken daran schauderte mich. Die vom Wind gepeitschten offenen Felder, die mächtige und uralte Wegkreuzung, um die herum sich die kleinen Häuser drängten ... diese ständige Isolation vom Rest der Welt hätte ich nicht ertragen. Meine Großmutter hätte mich gedrängt, Calvins Angebot anzunehmen. Er war ein zuverlässiger Mann und Vorarbeiter bei Norcross, einer Firma, die ihre Mitarbeiter sozial gut absicherte. Ihr findet das vielleicht lächerlich, aber wartet nur, bis ihr all eure Versicherungen selbst bezahlen müsst - dann könnt ihr lachen.

Plötzlich kam mir der Gedanke (der mir eigentlich sofort hätte kommen sollen), dass Calvin in der günstigen Situation war, mich zu einer Einwilligung zwingen zu können - Jasons Leben gegen eine Beziehung mit mir -, und sie nicht zu seinem Vorteil ausgenutzt hatte.

Ich beugte mich über ihn und drückte Calvin einen Kuss auf die Wange. »Ich werde für Ihre Genesung beten. Danke, dass Sie Jason eine Chance geben.« Vielleicht war Calvins Edelmut nur dem Umstand geschuldet, dass er nicht in der Verfassung war, die Situation auszunutzen - doch es blieb trotzdem Edelmut, den ich beachtlich fand und den ich zu schätzen wusste. »Sie sind ein guter Mann«, sagte ich und berührte sein Gesicht. Das Haar seines gepflegten Bartes war ganz weich.

Sein Blick war ruhig, als er mich verabschiedete. »Passen Sie auf Ihren Bruder auf, Sookie. Oh, und sagen Sie Dawson, dass ich heute Abend keinen Besuch mehr möchte.«

»Auf mein Wort wird er wohl nichts geben«, erwiderte ich.

Calvin brachte ein Lächeln zustande. »Dann wäre er vermutlich auch kein guter Bodyguard.«

Ich überbrachte dem Werwolf die Nachricht. Und tatsächlich, als Jason und ich zurück zur Treppe gingen, verschwand Dawson in Calvins Zimmer, um bei ihm nachzufragen.

Ein paar Minuten überlegte ich hin und her und entschied dann, dass es besser wäre, wenn Jason von den Vorwürfen gegen ihn wüsste. Auf der Heimfahrt im Pick-up erzählte ich meinem Bruder von meiner Unterhaltung mit Calvin.

Er war entsetzt, dass seine neuen Kumpel in der Welt der Werpanther ihm derartige Taten zutrauten. »Wenn ich bereits vor meiner ersten Verwandlung an so etwas gedacht hätte, wäre es vielleicht eine Versuchung gewesen«, sagte Jason, als wir durch den Regen zurück nach Bon Temps fuhren. »Ich war echt wütend, nicht nur wütend, fuchsteufelswild. Doch jetzt, seit ich mich das erste Mal verwandelt habe, sehe ich das anders.« Er redete weiter und weiter, während sich in meinem Kopf die Gedanken bei dem Versuch im Kreise drehten, einen Ausweg aus diesem Schlamassel zu finden.

Diese Sache mit dem Heckenschützen musste bis zum nächsten Vollmond gelöst sein. Wenn nicht, würden die anderen Jason nach ihrer Verwandlung in Stücke reißen. Vielleicht könnte er in der Panthergestalt einfach durch den Wald rund um sein eigenes Haus streifen oder auch im Wald um mein Haus auf die Jagd gehen - aber auch außerhalb von Hotshot wäre er nicht sicher. Sie würden ihn suchen kommen. Und gegen alle auf einmal konnte ich ihn nicht schützen.

Beim nächsten Vollmond musste der Heckenschütze im Gefängnis sitzen.

Erst als ich meine paar Teller an diesem Abend abwusch, fiel mir ein, wie seltsam es doch war, dass Jason von der Werpanther-Gemeinde vorgeworfen wurde, ein Mörder zu sein, während ich diejenige war, die bereits eine Gestaltwandlerin erschossen hatte. Mir war das Treffen mit den Privatdetektiven am nächsten Morgen hier bei mir zu Hause durch den Kopf gegangen. Und ich hatte mich dabei ertappt, dass ich rein gewohnheitsmäßig die Küche nach Anzeichen von Debbie Pelts Tod absuchte. Aus Fernsehsendungen auf Sendern wie >Discovery Channel< wusste ich, dass eine restlose Beseitigung aller Blut- und Gewebespuren praktisch unmöglich war, doch ich hatte meine Küche immer und immer wieder geschrubbt und gewienert. Ich war mir sicher, dass kein flüchtiger Blick - eigentlich auch keine gründliche Inspektion mit bloßem Auge - irgendetwas Anstößiges in diesem Zimmer finden würde.

Ich hatte das Einzige getan, das ich noch tun konnte, ehe ich selbst ermordet worden wäre. Oder hatte Jesus solche Situationen gemeint, als er dazu aufforderte, auch die andere Wange hinzuhalten? Ich hoffe nicht, denn jeder meiner Instinkte hatte mich angetrieben, mich selbst zu verteidigen, und das Mittel der Wahl war ein Gewehr gewesen.

Ich hätte natürlich sofort die Polizei verständigen müssen. Aber zu dem Zeitpunkt war Erics Wunde bereits wieder verheilt, jene, die Debbie ihm mit der Kugel verpasst hatte, mit der sie eigentlich mich hatte erschießen wollen. Außer meiner Aussage und der eines Vampirs gab es keine weiteren Beweise dafür, dass Debbie zuerst geschossen hatte, und ihre Leiche wäre ein starkes Argument für unsere Schuld gewesen. Mein erster Impuls war gewesen, Debbies Anwesenheit in meinem Haus zu vertuschen. Und Eric hatte mir keinen anderen Rat gegeben, was die Dinge vielleicht auch geändert hätte.

Nein, ich wollte die Schuld an meiner aussichtslosen Lage nicht Eric geben. Er war zu jener Zeit nicht mal Herr seiner eigenen Lage gewesen. Es war ganz allein mein Fehler, dass ich mich nicht hingesetzt und die Dinge gründlich durchdacht hatte. An Debbies Hand hätten sich Schmauchspuren der Pistole gefunden. Sie hatte sie ja abgefeuert. Auf dem Fußboden wären Reste getrockneten Bluts von Eric nachzuweisen gewesen. Debbie war durch die Vordertür in mein Haus eingebrochen, und die Tür hatte deutliche Spuren aufgewiesen. Ihr Auto war auf der anderen Straßenseite versteckt gewesen, und dort hätten sich nur Fingerabdrücke von ihr gefunden.

Ich war in Panik geraten und hatte es vermasselt.

Also musste ich nun damit leben.

Aber es tat mir sehr leid für die Familie wegen der Ungewissheit, unter der sie litt. Ich schuldete ihr Aufklärung - die ich ihr nicht geben konnte.

Ich wrang das Spültuch aus und legte es ordentlich über die Trennwand der Spülbecken, dann trocknete ich mir die Hände ab und faltete das Geschirrhandtuch zusammen. Okay, jetzt hatte ich mir meine Schuld noch mal klar vor Augen geführt. Ich fühlte mich schon viel besser! Nein. Wütend über mich selbst stampfte ich ins Wohnzimmer hinüber und schaltete den Fernseher ein: ein weiterer Fehler. Sie brachten einen Bericht über Heathers Beerdigung. Heute Nachmittag war extra ein Nachrichtenteam aus Shreveport angerückt, um der bescheidenen Trauerfeier beizuwohnen. Was wäre das für eine Sensation, wenn die Medien jetzt erfahren würden, dass der Heckenschütze seine Opfer sehr genau aussuchte. Der Nachrichtensprecher, ein ernster Afroamerikaner, sagte, dass die Polizei von Renard in Kleinstädten in Tennessee und Mississippi auf weitere Fälle scheinbar wahllos abgegebener Schüsse gestoßen sei. Ich war entsetzt. Ein Serienmörder hier bei uns?

Das Telefon klingelte. »Hallo«, sagte ich und erwartete nichts Gutes.

»Sookie, hi, ich bin's, Alcide.«

Ich musste unwillkürlich lächeln. Alcide Herveaux, der in der Baufirma seines Vaters in Shreveport arbeitete, war einer meiner liebsten Freunde. Er war ein Werwolf, sowohl sexy als auch arbeitsam, und ich mochte ihn sehr gern. Und er war Debbie Pelts Verlobter gewesen. Aber Alcide hatte sich von ihr losgesagt, bevor sie verschwand, und zwar in einem Ritus, der sie für ihn unsichtbar machte - natürlich nur im übertragenen Sinn, aber mit drastischen Folgen für Debbie.

»Sookie, ich bin im Merlotte's. Ich dachte, du würdest heute Abend vielleicht arbeiten, und bin mal hier vorbeigefahren. Darf ich zu dir nach Hause kommen? Ich muss dir was erzählen.«

»Du weißt doch, dass du dich in Bon Temps in Gefahr begibst.«

»Nein, wieso?«

»Wegen des Heckenschützen.« Im Hintergrund hörte ich die Geräusche der Bar. Arlenes Lachen war unverkennbar. Ich hätte darauf wetten mögen, dass der neue Barkeeper sie und alle anderen becircte.

»Warum sollte ich mir deswegen Sorgen machen?« Alcide hatte sich über die Neuigkeiten nicht allzu viele Gedanken gemacht, stellte ich fest.

»Vielleicht wegen der Leute, auf die geschossen wurde? Sie waren alle zweigestaltige Geschöpfe«, erwiderte ich. »Und in den Nachrichten haben sie gerade gesagt, dass es Richtung Süden noch viel mehr Fälle gab. Wahllos abgefeuerte Schüsse in Kleinstädten. Kugeln, die zu der passen, die sie aus Heather Kinman herausgeholt haben. Ich könnte schwören, dass all die anderen Opfer ebenfalls Gestaltwandler waren.«

Alcide schwieg. Dann sagte er nachdenklich: »Das habe ich gar nicht gewusst.« Seine tiefe raue Stimme klang sogar noch besonnener als sonst.

»Oh, und hast du mit den Privatdetektiven gesprochen?«

»Was? Wovon redest du?«

»Wenn sie uns zusammen sehen, wird das in den Augen von Debbies Familie sehr verdächtig wirken.«

»Debbies Familie lässt Privatdetektive nach ihr suchen?«

»Genau das meine ich.«

»Hör zu, ich komme bei dir zu Hause vorbei.« Er legte auf.

Ich wusste nicht, warum um Himmels willen die Privatdetektive mein Haus überwachen sollten oder von wo aus sie das tun wollten, aber wenn sie Debbies ehemaligen Verlobten meine Auffahrt entlanggondeln sahen, wäre es einfach, sich ein total falsches Bild zu machen. Sie würden denken, Alcide hätte Debbie meinetwegen aus dem Weg geräumt, und nichts entspräche weniger der Wahrheit. Ich hoffte bloß, dass Jack Leeds und Lily Bard Leeds schon tief und fest schliefen und nicht irgendwo da draußen im Wald mit dem Fernglas auf der Lauer lagen.

Alcide umarmte mich. Das tat er immer. Und wieder einmal war ich ganz hingerissen von seiner schieren Größe, seiner Männlichkeit und dem vertrauten Geruch. Obwohl in meinem Kopf alle Alarmglocken schrillten, umarmte ich ihn ebenfalls.

Wir setzten uns aufs Sofa, einander zugewandt, so dass wir einander ins Gesicht sehen konnten. Alcide trug Arbeitskleidung, die bei diesem Wetter aus einem Flanellhemd mit T-Shirt darunter, dicken Jeans und warmen Socken in Arbeitsstiefeln bestand. In seinem kaum zu bändigenden schwarzen Haar zeichnete sich der Rand seines Schutzhelms ab, und die ersten Bartstoppeln lugten bereits wieder hervor.

»Erzähl mir von den Privatdetektiven«, sagte er, und ich beschrieb ihm das Paar und berichtete, was die beiden gesagt hatten.

»Debbies Familie hat mir nichts davon erzählt.« Alcide dachte eine Minute darüber nach. Ich konnte seinen Gedanken folgen. »Das dürfte wohl bedeuten, dass sie sich sicher sind, ich hätte ihre Tochter verschwinden lassen.«

»Vielleicht auch nicht. Vielleicht glauben sie einfach nur, dass du ihr sehr nachtrauerst, und sie wollten dich nicht damit belasten.«

»Nachtrauern.« Alcide grübelte auch darüber eine Minute. »Nein. Ich habe all meine ...« Er hielt inne, auf der Suche nach Worten. »All meine Energie, die ich für sie übrig hatte, war aufgebraucht«, sagte er schließlich. »Ich war so blind. Ich glaube fast, sie hat irgendeine Art Magie auf mich angewandt. Ihre Mutter kann Flüche aussenden und ist zur Hälfte Gestaltwandlerin. Ihr Dad ist ein reinrassiger Gestaltwandler.«

»Hältst du das für möglich? Magie?« Ich stellte nicht die Existenz von Magie in Frage, sondern dass Debbie sie angewandt hatte.

»Warum sonst hätte ich so lange mit ihr zusammenbleiben sollen? Seit sie verschwunden ist, fühle ich mich, als hätte mir jemand eine Brille mit dunklen Gläsern abgenommen. Ich habe ihr bereitwillig alles Mögliche einfach so verziehen, zum Beispiel dass sie dich in den Kofferraum gestoßen hat.«

Debbie hatte die Gelegenheit ergriffen, mich in einen Kofferraum zu sperren, in dem mein Vampirfreund Bill lag, den es schon seit Tagen nach Blut dürstete. Und dann war sie davongegangen und hatte mich mit Bill allein gelassen, der jeden Moment erwachen musste.

Ich sah auf meine Füße hinab und schob die Erinnerung an die Verzweiflung und den Schmerz von mir.

»Sie hat zugelassen, dass du vergewaltigt wurdest«, sagte Alcide scharf.

Dass er es so geradeheraus aussprach, schockierte mich. »Hey, Bill wusste nicht, dass ich es war. Er hatte schon seit Tagen nichts zu essen gehabt, und diese beiden Triebe liegen so nah beieinander. Ich meine, er hat nach einer Weile damit aufgehört, weißt du? Er hat aufgehört, als er erkannte, dass ich es war.« Ich selbst konnte es so nicht ausdrücken, ich konnte das Wort nicht sagen. Ohne jeden Zweifel wusste ich, dass sich Bill eher die eigene Hand abgenagt hätte, als mir das anzutun, wenn er bei Sinnen gewesen wäre. Zu der Zeit war er der einzige Sexpartner gewesen, den ich überhaupt je gehabt hatte. Die Gefühle, die dieses Ereignis bei mir ausgelöst hatte, waren so verworren, dass ich es kaum ertrug, darüber nachzudenken. Wenn ich früher an Vergewaltigung gedacht hatte, weil andere Mädchen mir erzählten, was ihnen widerfahren war, oder weil ich es in ihren Gedanken las, hatte ich noch nichts von diesen vieldeutigen Gefühlen geahnt, die jene kurze, schreckliche Zeit in dem Kofferraum in mir auslöste.

»Er hat etwas getan, das du nicht wolltest«, sagte Alcide schlicht.

»Er war nicht er selbst.«

»Aber er hat es getan.«

»Ja, das hat er, und ich hatte furchtbare Angst.« Meine Stimme begann zu zittern. »Aber er ist zur Besinnung gekommen, und er hat aufgehört, und ich war okay, und es hat ihm unendlich leid getan. Er hat mich seitdem nie mehr angerührt, nie mehr gefragt, ob wir miteinander schlafen wollen, nie mehr...« Meine Stimme erstarb. Ich blickte auf meine Hände hinab. »Ja, daran war Debbie schuld.« Irgendwie fühlte ich mich besser, als ich das laut ausgesprochen hatte. »Sie wusste, was passieren würde, oder es war ihr zumindest egal.«

»Und selbst danach«, sagte Alcide und kam auf sein eigentliches Thema zurück, »kam sie weiter zu mir, und ich versuchte, ihr Verhalten zu rechtfertigen. Ich kann einfach nicht fassen, wie ich so etwas tun konnte. Ich muss unter dem Einfluss irgendeiner Art von Magie gestanden haben.«

Ich legte es nicht darauf an, dass Alcide sich noch schuldiger fühlte. Ich hatte meine eigene lastende Schuld zu tragen. »Hey, es ist doch vorüber.«

»Das klingt, als wenn du dir da sehr sicher wärst.«

Ich sah Alcide direkt in die Augen, die schmal und grün waren. »Glaubst du, es besteht die leiseste Chance, dass Debbie noch am Leben ist?«

»Ihre Familie ...« Alcide hielt inne. »Nein, das glaube ich nicht.«

Ich wurde Debbie Pelt einfach nicht los, ob sie nun tot oder lebendig war.

»Warum wolltest du mich eigentlich so dringend sprechen?«, fragte ich. »Am Telefon hast du gesagt, dass du mir was erzählen musst.«

»Colonel Flood ist gestern ums Leben gekommen.«

»Oh, das tut mir wirklich leid! Was ist passiert?«

»Er ist mit dem Auto zum Einkaufen gefahren, als ein anderer Fahrer ihm in die Seite hineinfuhr.«

»Wie schrecklich. War noch jemand bei ihm im Auto?«

»Nein, er war allein. Seine Kinder kommen natürlich zur Beerdigung nach Shreveport. Und ich wollte dich fragen, ob du mit mir auf die Beerdigung gehst.«

»Aber sicher. Findet sie nicht nur im Familienkreis statt?«

»Nein. Er kannte so viele der Leute, die auf dem Luftwaffenstützpunkt stationiert sind, war Leiter der Wachtruppe in seiner Nachbarschaft und Kassenwart seiner Kirche, und er war natürlich unser Leitwolf.«

»Ein ausgefülltes Leben«, sagte ich. »Voller Verantwortung.«

»Die Beerdigung ist morgen um eins. Wann musst du denn arbeiten?«

»Wenn ich mit jemandem die Schicht tauschen kann, muss ich um halb fünf wieder zu Hause sein, um mich umzuziehen und zur Arbeit zu gehen.«

»Das sollte kein Problem sein.«

»Wer wird denn jetzt Leitwolf?«

»Keine Ahnung«, sagte Alcide, doch seine Stimme klang nicht so neutral, wie ich erwartet hatte.

»Willst du den Posten übernehmen?«

»Nein.« Er erschien mir etwas zögerlich, und ich spürte den Konflikt, der sich in seinen Gedanken abspielte. »Aber mein Vater.«

Er war noch nicht am Ende angekommen. Ich wartete.

»Beerdigungen von Werwölfen sind ziemlich feierlich«, fuhr er fort, und ich merkte, dass er mir etwas zu sagen versuchte. Ich war mir nur nicht im Klaren darüber, was es war.

»Spuck's aus.« Geradeheraus ist immer das Beste, wenn's nach mir geht.

»Für einen solchen Anlass kannst du dich gar nicht zu festlich kleiden«, erklärte er. »Ich weiß, all die anderen Gestaltwandler denken bei Werwölfen immer bloß an Leder und Ketten, aber das ist nicht wahr. Zu Beerdigungen machen wir uns richtig schick.« Eigentlich wollte er mir noch ausführlichere Modetipps geben, doch er hielt sich zurück. Ich konnte förmlich sehen, wie seine Gedanken sich hinter den Augen drängten, weil sie herauswollten.

»Jede Frau weiß gern, wie sie sich angemessen kleidet. Danke. Ich werde keine Hosen anziehen.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass du das kannst, aber ich bin immer wieder überrascht.« Ich konnte hören, wie beunruhigt er war. »Ich hole dich um halb zwölf ab.«

»Mal sehen, ob ich die Schicht tauschen kann.«

Ich rief Holly an, und sie hatte nichts dagegen, mit mir zu tauschen.

»Ich kann auch einfach mit dem Auto hinfahren und dich dort treffen.«

»Nein«, entgegnete er. »Ich hole dich ab und bringe dich auch wieder nach Hause.«

Okay, wenn er es sich unbedingt antun wollte, mich abzuholen. Ich konnte damit leben. Würde den Meilenstand meines Autos schonen, überlegte ich. Mein alter Chevy war sowieso nicht mehr allzu zuverlässig.

»In Ordnung. Ich werde fertig sein.«

»Ich gehe jetzt mal besser«, sagte Alcide, und Stille breitete sich aus. Ich wusste, dass Alcide daran dachte, mich zu küssen. Er beugte sich herüber und gab mir einen ganz sachten Kuss auf den Mund. Dann sah er mich lange an.

»Also, ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen, und du solltest nach Shreveport zurückfahren. Ich werde morgen um halb zwölf fertig sein.«

Als Alcide abgefahren war, griff ich nach dem Roman von Carolyn Haines, den ich aus der Bücherei ausgeliehen hatte, und versuchte, meine Sorgen zu vergessen. Doch diesmal wollte es mit dem Lesen einfach nicht klappen. Ich nahm ein heißes Bad und rasierte meine Beine, bis sie absolut glatt waren. Ich lackierte mir Fuß- und Fingernägel dunkelrot, und dann zupfte ich noch meine Augenbrauen. Schließlich fühlte ich mich tatsächlich entspannter, und als ich ins Bett kroch, hatte ich meinen Frieden durch allerlei Kosmetik gefunden. Der Schlaf überfiel mich so augenblicklich, dass ich nicht mal mehr meine Gebete zu Ende sprach.